Für Elizabeth Schaefer, die die Serie ins Leben gerufen
und mich als Lektorin und Freundin begleitet hat.

Dieses Buch ist allen gewidmet, die helfen, Ariels Meer
zu schützen – also auch dir, wenn du dich nachhaltig
ernährst und Plastikmüll vermeidest.
– L. B.

Prolog

Im Vorland des Ibrianischen Gebirges …

Cahe Vehswo war draußen auf dem Feld, um einen Holzzaun zu reparieren. Es ging weniger darum, die Wölfe auszusperren, als die dummen Schafe einzusperren, damit auch die Kinder sie hüten konnten, die sich gerne ablenken ließen.

Es war ein wunderbarer Tag. Alles leuchtete. Die Kiefern waren von der Sommerhitze noch nicht ausgetrocknet und morsch geworden, und die dunkelgrünen Blätter der Laubbäume rauschten im Wind. Die Berghänge waren von Blumen übersät, hier und da ergossen sich kleine Wasserfälle. Die Wolken am Himmel waren besonders fluffig.

Die einzige falsche Note in dieser Sinfonie der Natur war ein merkwürdiger Gestank, der aus der Tiefebene heraufwehte und nach verbranntem Fleisch oder Müll oder Moder roch.

Alle in dem kleinen Weiler waren aus den Häusern gekommen, um Arbeiten unter freiem Himmel zu erledigen. Sie reparierten die Rankgitter in den Weingärten, hackten Holz oder säuberten die Käsefässer. Niemand beklagte sich – noch nicht –, das Leben in diesem abgelegenen Hügelland gefiel ihnen.

Dann bemerkte Cahe etwas Ungewöhnliches, das sich über die alte Königstraße näherte. Es war ein Trupp Soldaten, der sehr diszipliniert ritt und marschierte. Ihre Knöpfe schimmerten golden in der Sonne, und ihre Uniformjacken waren ungewöhnlich sauber. Sie sahen aus, als würden sie an einer Parade teilnehmen. Doch ihre grimmigen Gesichter und stolzen Mienen und die merkwürdige Fahne, die sie präsentierten, machten diesen Eindruck zunichte.

Ein Befehl ertönte, und die Männer blieben stehen. Der Hauptmann in seiner leuchtend blauen Jacke mit der dazu passenden Mütze ritt auf Cahe zu, gefolgt von dem Mann mit der Flagge.

„He, Bauer“, rief er ihm ziemlich unhöflich zu. „Ist das hier das Dorf Serria?“

„Nein“, wollte Cahe schon erwidern, erinnerte sich dann aber an die längst vergessene Regel, wie man mit uniformierten Männern umzugehen hatte, vor allem, wenn sie bewaffnet waren. „Ich bitte um Entschuldigung, mein Herr, aber dieser Ort liegt noch ein Stück weiter entfernt auf der anderen Seite des Teufelspasses. Dieses Dorf hier nennt sich Adamsfelsen.“

„Spielt keine Rolle“, sagte der Hauptmann. „Wir nehmen das Dorf und das dazugehörige Land im Namen von Tirulia in Besitz!“

Das Wort „Tirulia“ schrie er so laut, dass es als Echo von den umliegenden Bergen zurückgeworfen wurde. Es hallte über die Felder, die Olivenhaine und die wenigen verstreut herumstehenden Rinder. Die Dorfbewohner hielten bei ihrer Arbeit inne und schauten sich um.

„Ich bitte erneut um Entschuldigung, mein Herr“, sagte Cahe höflich. „Aber wir gehören zu Alamber, und dorthin zahlen wir auch unsere Steuern.“

„Was immer ihr vor unserer Ankunft getan habt, interessiert mich nicht. Von jetzt an seid ihr Bürger von Tirulia und damit Untertanen von Prinz Eric und Prinzessin Vanessa.“

„Nun ja, ich weiß allerdings nicht, wie der König von Alamber darüber denkt“, warf Cahe ein.

„Das muss dich nicht weiter interessieren“, entgegnete der Hauptmann kühl. „Der König von Alamber wird bald nur noch Erinnerung sein, weil Alamber als Provinz dem Reich Tirulia einverleibt wird.“

„Sie sagten Tirulia?“, überlegte Cahe und lehnte sich gegen den Zaun, um seine Worte möglichst beiläufig erscheinen zu lassen. „Das Land kennen wir. Wir kaufen dort unseren Stockfisch und verkaufen ihnen unseren Käse. Die Frauen dort tragen Schürzen mit geflochtenen Bändern. Perde, der Sohn von Javer, hat sein Glück dort unten auf einem Fischerboot gemacht und ist zurückgekommen, um eins unserer Mädchen zu heiraten.“

„Wirklich interessant“, sagte der Hauptmann und ließ die Zügel seines Pferdes los, um über seinen Schnurrbart zu streichen. „Und was willst du mir damit sagen?“

Cahe deutete auf die Flagge, die im Wind flatterte. „Das da ist nicht die Fahne von Tirulia.“

Statt der Sonne, des Meers und eines Schiffs auf blauem Untergrund zierte diese Fahne ein schwarzer Oktopus mit stechenden Augen. Der Tintenfisch mit seinen vielen Tentakeln wirkte fast lebendig, als wäre er bereit, sich alles zu schnappen, was in seine Nähe kam.

„Prinzessin Vanessa dachte, es sei an der Zeit … das Wappen des Hauses Tirulia zu erneuern“, verteidigte der Hauptmann seine Flagge. „Wir stehen noch immer in den Diensten von Tirulia, wo Prinz Eric die Regierungsgeschäfte für seine Eltern, das rechtmäßige Herrscherpaar, führt.“

„Ich verstehe.“

Ein weiterer Dorfbewohner wollte sich zu Wort melden, aber Cahe legte ihm warnend eine Hand auf den Arm. „Was können wir also für euch tun? Ihr habt Gewehre. Auch wir haben welche – um auf die Jagd zu gehen. Aber wir stellen sie immer weg, bis die Wildschweine aus den Eichenwäldern herunterkommen. Wir werden jedenfalls unsere Steuern nicht zweimal bezahlen. Aber wie Sie schon sagten, gehören wir jetzt zu Tirulia.“

Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und musterte Cahe skeptisch, als fürchtete er, ausgetrickst zu werden. Doch der Bauer schaute ihn freundlich an.

„Du hast eine weise Entscheidung getroffen“, sagte der Hauptmann schließlich. „Lang lebe Tirulia.“

Die Einwohner von Adamsfelsen stimmten wenig begeistert in seinen Ruf ein: Lang lebe Tirulia.

„Wir werden wieder auf diesem Weg zurückkommen, nachdem wir Serria unterworfen haben. Ihr solltet eure besten Häuser für uns vorbereiten, denn wir werden über ganz Alamber triumphieren!“

Der Hauptmann stieß einen unverständlichen Schrei aus, der sehr militärisch klang, und trabte zurück zu seinen Männern. Der Mann mit der Flagge folgte ihm hastig.

Als sie außer Hörweite waren, schüttelte Cahe den Kopf.

„Ruf die Leute zusammen“, sagte er seufzend. „Sag allen Bescheid … wir müssen die Frauen und Mädchen in die Berge schicken, damit sie Pilze und sonstige Nahrungsmittel sammeln. Wir brauchen Vorräte für einige Wochen. Die jungen Männer sollen mit den Schafen fortgehen, damit sie nicht eingezogen werden. Oder sie gehen auf die Jagd. Und alle sollen sich ein gutes Versteck für ihr Gold und ihre Wertsachen suchen und sie vergraben.“

„Aber warum hast du eingelenkt?“, fragte der andere Mann. „Wir könnten doch jemanden nach Alamber schicken. Wenn wir uns den Soldaten verweigert hätten, müssten wir all das gar nicht tun. Jetzt stehen wir da wie Feiglinge, die ihre Frauen und Kinder verstecken …“

„Ich habe es getan, weil ich den Gestank bemerkt habe, den der Wind zu uns trägt. Riechst du das nicht?“ Cahe deutete mit dem Kopf nach Süden.

Hinter dem nächsten Hügel, dort, wo die Berge von Veralen in die Ebene übergingen, waberten dicke Rauchschwaden. Sie waren größer und dichter als die von Freudenfeuern. Schwarzer Rauch und Asche stiegen auf, und sie kündeten von Unheil.

„Garhaggio?“, fragte jemand ungläubig. Es sah so aus, als würde der Rauch von dort kommen. So viel dichter Rauch konnte nur bedeuten, dass das Dorf und seine Umgebung einer regelrechten Feuersbrunst zum Opfer gefallen waren.

„Sie haben dem Hauptmann ganz offensichtlich eine andere Antwort gegeben“, sagte Cahe.

„Was für eine sinnlose Zerstörung!“, klagte eine der Frauen. „Prinz Eric und Prinzessin Vanessa müssen wirklich sehr böse Menschen sein!“

1. KAPITEL

Eric

Eric wachte auf.

Er hatte wieder diesen Traum gehabt.

Das passierte ihm in den merkwürdigsten Momenten – zum Beispiel, wenn er mit seinem Chefkoch Louis das Menü fürs nächste Festmahl besprach. Oder wenn er mit dem Schatzmeister des Schlosses über die Entwicklungen im internationalen Bankgeschäft diskutierte. Oder wenn seine hübsche Prinzessin nicht müde wurde, von ihren kleinen Intrigen zu erzählen.

Zugegeben: Es passierte immer dann, wenn er gelangweilt war oder müde wurde. Wenn es stickig war in einem Zimmer und er kaum noch die Augen offen halten konnte.

Oder kurz vor dem Einschlafen in seinem Bett, in dem Moment zwischen Wachen und Träumen. Immer wenn er diese Engelschöre hörte, die eine unglaublich schöne Hymne anstimmten. Dann lag er wie gelähmt im Halbschlaf, unfähig, aufzuspringen und alles aufzuschreiben, bevor er es wieder vergaß.

Aber manchmal träumte er nicht von Chören, sondern von so etwas: dass er gar nicht mit der schönen Prinzessin Vanessa verheiratet war. Dass ein schrecklicher Irrtum passiert war. Das es da noch eine andere schöne junge Frau gab, die keine Stimme hatte und trotzdem singen konnte.

Nein …

Es war eine schöne junge Frau, die singen konnte, aber ihre Stimme an dem Tag für immer verloren hatte, an dem Eric eingeschlafen war. Seitdem suchte ihn dieser Traum heim.

In einer anderen Welt gab es Meerjungfrauen.

Auch er hatte einst eine von ihnen gekannt. Ihr Vater war König der Meere gewesen. Erics Prinzessin war eine böse Hexe. Er selbst hatte nach etwas Großem gestrebt, war aber hereingelegt worden. Sein jetziges Leben und diese Träume waren das Ergebnis einer Intrige …

Panik ergriff ihn, und er senkte den Blick. Vor ihm lag ein Blatt mit einer Partitur. Er hatte er die Arme darauf verschränkt und seinen Kopf auf sie gebettet. Hatte er Tinte verschüttet? Ein paar Noten verschmiert? Dann wäre alles ruiniert …

Voller Angst hielt er das Blatt ins Mondlicht. An der Stelle, wo der Chor einstimmen sollte, prangte ein kleiner Fleck, aber das war nicht schlimm.

Seine Augen wanderten von der Partitur zum Mond, der durch das geöffnete Fenster schien. Ein heller Stern stand neben ihm am Himmel. Eine leichte Brise wehte und bewegte die Äste eines Baumes, die laut und vernehmlich über die Mauern des Schlosses kratzten. Der Wind brachte den Duft von Sandelholz, Orangen, Sand und Staub mit sich. Alles trockene Dinge, die nichts mit dem Meer zu tun hatten.

Wieder schaute Eric auf seine Komposition und versuchte, sich den Ozean vorzustellen, die blauen Wogen, den Salzgeruch.

Dann tauchte er die Feder ins Tintenfass und begann voller Eifer weiterzuschreiben, ohne Unterbrechung bis zum Morgengrauen.

2. KAPITEL

Scuttle

Es sah aus, als hätten sich alle Bewohner von Tirulia im Amphitheater eingefunden. Alle Plätze waren besetzt, angefangen bei den mit Samt bezogenen Sofas der Adeligen ganz vorn bis hin zu den hohen Steinbänken ganz weit hinten. In den umliegenden Straßen drängten sich die Menschen. Niemand wollte die Uraufführung der neuesten Oper von Prinz Eric, dem Exzentriker, versäumen.

Für diesen festlichen Tag hatten sich alle besonders bunt gekleidet und geschmückt. Die Palastwachen hatten ihre Stiefel blank geputzt und standen in den Gängen, um zu verhindern, dass die Zuschauer sich um die Plätze stritten. Verkäufer liefen umher und boten den kalten weißen Perlwein an, für den Tirulia berühmt war. Dazu gab es leckere Häppchen: in Olivenöl getunkte Brotscheiben mit dreieckigen Käsestückchen, Papiertüten mit knusprig gebratenem Baby-Oktopus, Spieße mit kandierten Kastanien, die im Sonnenlicht glänzten.

Von oben betrachtet sah es aus wie ein buntes Mosaik. Ein Anblick, an dem sich eine alte Möwe namens Scuttle erfreute.

Er und einige seiner Enkel und Urenkel, die auf ihn aufpassen sollten, hockten auf einem Balken über den billigsten Plätzen ganz hinten im Theater. Während die jüngeren Ausschau nach Krümeln hielten, die jemand fallen ließ, begnügte Scuttle sich damit, das bunte Treiben zu beobachten und vor sich hin zu murmeln. Nur eine Möwenenkelin hockte neben ihm und versuchte zu verstehen, was er zu dem Spektakel zu sagen hatte, das die Menschen dort unten veranstalteten.

Überall waren opulente Kostüme zu sehen, das Orchester war in seiner vollen Besetzung erschienen, die Bühnenaufbauten waren akribisch genau gemalt worden und wirkten mehr als nur realistisch: Wenn der Prinz sein neues Stück aufführte, wollten alle ihren Wohlstand zur Schau stellen.

Und als der Prinz Arm in Arm mit seiner schönen Prinzessin erschien, um seinen Platz in der königlichen Loge einzunehmen, jubelte die Menge ihm enthusiastisch zu. Manche nannten ihn einen Träumer, andere hielten ihn für melancholisch, weil er immer abwesend und wehmütig dreinblickte. In diesem Moment allerdings schien Eric sich über die Zuneigung zu freuen, die sein Volk ihm entgegenbrachte. Er winkte ihnen mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen zu.

Vanessa verzog das Gesicht zu ihrem typischen rätselhaften und leicht irritierenden Grinsen und zog ihn auf den Platz neben ihr. Mit der anderen Hand strich sie über das Halsband mit dem Nautilus-Anhänger, den sie immer trug – ein merkwürdig schlichtes Schmuckstück für eine extravagante Prinzessin.

Das Orchester begann zu spielen.

3. KAPITEL

La Sirenetta, eine musikalische Fantasie in drei Akten

In einem verzauberten Königreich am Meer sehnt sich ein hübscher, trauriger Prinz (Tenor) nach jemandem, mit dem er seine Musik und sein Leben teilen kann. Während er mit seinen Freunden auf einer festlich geschmückten Segeljacht seinen einundzwanzigsten Geburtstag feiert, erhebt sich ein furchtbarer Sturm. Der Prinz wird über die Reling ins Meer geschleudert und wäre ertrunken, wenn nicht eine junge, hübsche Meerjungfrau mit der Stimme eines Engels (Erster Sopran) eingegriffen hätte.

Nachdem er sich von dem Vorfall erholt hat, erklärt der Prinz, er wolle keine andere zur Frau nehmen als dieses hübsche Mädchen, das ihn gerettet hat.

Dann erscheint eine andere schöne, junge Frau (gleicher erster Sopran, aber anderes Kostüm), die zwar genauso leuchtend rote Haare wie die Meerjungfrau hat, aber stumm ist. Deshalb kann sie nicht die Person sein, der seine Liebe gilt. Aber nachdem sie einige Tage miteinander verbracht haben, verliebt er sich doch in sie.

Dann betritt die Rivalin die Szene. Eine schöne Frau (Kontra-Alt) bringt dem Prinzen ein Ständchen und singt das gleiche Lied, mit dem die kleine Meerjungfrau ihn bezaubert hat, woraufhin er das hübsche stumme Mädchen wieder vergisst.

(Anmerkung: Die Kontra-Altistin ist eine vollbusige Frau, die beim Publikum sehr beliebt ist. Sie bekommt tosenden Applaus, wenn sie auftritt, und lächelt verschlagen.)

Der Prinz ist in ihren Bann geschlagen und bittet sie, ihn zu heiraten.

In einer Nebenbemerkung bekennt die zukünftige Prinzessin gegenüber dem Publikum, dass sie in Wahrheit eine mächtige Hexe ist. Sie will sich an der Meerjungfrau rächen, deren Vater sie vor vielen Jahren aus seinem Reich verbannt hat. Die Meerjungfrau wiederum wird ihre Stimme für immer verlieren, wenn es ihr nicht gelingt, den Prinzen zu heiraten, was sie versprochen hat.

Der Sonnengott (Bariton) besingt die Tragödie der sterblichen Existenz, die er Tag für Tag vor Augen hat, wenn er das Treiben der Menschen auf der Erde betrachtet. Außerdem singt er von dem Glück der unsterblichen Meerjungfrauen und wie die Liebe sie töricht werden lässt, aber auch erhöht. Dank einer raffinierten Mechanik schwebt er über die Bühne und „geht unter“, während die Balletttänzer auftreten und ein Zwischenspiel aufführen, bevor das große Finale beginnt: die Hochzeitsszene.

Der Prinz und die falsche Prinzessin treten in prächtigen Gewändern auf und singen ein Duett – der Prinz singt von Liebe, während die Prinzessin von Eroberung singt. Das stumme Mädchen schaut ihnen traurig dabei zu.

Als Prinz und Prinzessin gerade die letzten Worte ihres Eheversprechens rezitieren, erscheint Triton, der König der Meere (Bass), in seiner grünen und goldenen Rüstung, während lauter Trommelwirbel ertönt. Er und die Hexe attackieren und beschimpfen einander und wogen auf den Meereswellen hin und her. Schließlich hebt der König seinen dreizackigen Speer, um sie aufzuspießen.

Da deutet die Hexe auf seine jüngste und liebste Tochter, die als stummes Menschenkind traurig in der Ecke steht. Gleichzeitig hält sie mit der anderen Hand ein Papier mit einem Vertrag in die Höhe.

Triton gibt sich geschlagen und tauscht sein Leben gegen das der kleinen Meerjungfrau ein. Die Hexe stößt einen schaurigen Fluch aus, eine Explosion ertönt, und inmitten einer Wolke aus Theaterrauch wird Triton in einen hässlichen kleinen Polypen verwandelt, den die Hexe triumphierend in die Höhe hält.

(Es handelt sich um eine Puppe, die die Kontra-Altistin so hält, dass es aussieht, als würde er sich bewegen, was das Publikum hörbar nach Luft schnappen lässt.)

Tritons Tochter verwandelt sich wieder in eine Meerjungfrau und springt traurig ins Meer. Der Prinz und die falsche Prinzessin heiraten. Die falsche Prinzessin stimmt triumphierend ein Lied für den kleinen Polypen an, der einmal Triton war, und erfreut sich an dem Gedanken, ihn für immer in einem großen Goldfischglas in ihrem Zimmer aufzubewahren.

Der Mond (Mezzo-Sopran) geht auf und singt eine federleichte Version der Arie der Sonne, die jedoch das unvermeidliche, traurige Scheitern in der Liebe behandelt und die Frage stellt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die kleine Meerjungfrau sich mit ihrem Leben auf dem Grund des Ozeans zufriedengegeben und auf das Abenteuer der Liebe verzichtet hätte.

4. KAPITEL

Scuttle

Das Publikum war hingerissen. Mag sein, dass das Thema der Oper zu märchenhaft, ihr Ende zu düster und das Arrangement einen Hauch zu einfach war im Vergleich zu den Werken echter Komponisten, die ihr Dasein in zugigen Dachkammern fristeten. Aber das spielte keine Rolle. Nie zuvor hatten Beifall, Jubel, Fußgetrampel und Pfeifen so begeistert geklungen wie an diesem Abend. Zahlreiche Rosen wurden mit so viel Enthusiasmus auf La Sirenetta und die Meereshexe geworfen, dass sie Gefahr liefen, sich an den Dornen zu verletzen.

Das Publikum verlangte lautstark eine zweite Aufführung.

„Vielleicht sollten wir es tun“, verkündete Eric. „Mit freiem Eintritt für alle Bürger der Stadt zum Ausklang des Sommers am St.-Madalberta-Tag!“

Der Jubel wurde noch lauter.

Die Adeligen auf ihren Plätzen in der Nähe der königlichen Loge bemühten sich, ihre Begeisterung mit der angemessenen Zurückhaltung auszudrücken, und schauten das königliche Paar gleichzeitig neugierig an. Man musste schon blind sein, um die Ähnlichkeit zwischen Vanessa – der wunderschönen Frau des Prinzen – und der Hexe zu übersehen. An diesem Abend würden sie in ihren Stadthäusern bei heißer Schokolade und Brandy über die in den Liedtexten versteckten Anspielungen diskutieren.

Aber die brünette Prinzessin lächelte breit und lachte herzlich über den Inhalt der Oper.

„Eric“, sagte sie schmeichelnd. „Das war wirklich unglaublich. Und großartig. Woher nimmst du nur die Ideen für derartig verrückte Geschichten?“

Kokett ergriff sie seine Hand und stolzierte durch die Menge, strahlend wie eine Mutter, die ihren talentierten Jungen vorführt. Ihre beiden Diener liefen eilfertig hinter ihr her, wachsam und jederzeit bereit zuzuschlagen, wenn es notwendig wäre.

Unter den vielen hundert Zuschauern, die dem Spektakel beigewohnt hatten, war nur einer verwirrt von dem, was er gesehen hatte.

Scuttle stand stocksteif da, was er normalerweise nicht tat. Die Oper hatte zwei sehr bedeutende Dinge enthüllt. Und obwohl er so zerstreut war, wie es bei einer Möwe normalerweise der Fall ist – womöglich sogar mehr als das –, erkannte er bei seinem intensiven Nachdenken etwas, was allen anderen entgangen war.

„PRINZ ERIC ERINNERT SICH AN DAS, WAS GESCHEHEN IST!“, rief er mit einem Mal aus.

Das war die erste Erkenntnis, auf die man ziemlich schnell kommen konnte.

„Obwohl er verhext wurde!“

Scuttle war dabei gewesen, als die Meerjungfrau an Land gegangen war und es nicht geschafft hatte, Erics Herz zu gewinnen. Die Sonne war untergegangen, und er hatte stattdessen Vanessa geheiratet. Scuttle hatte den Kampf zwischen den uralten Mächten mit eigenen Augen gesehen. Er hatte gesehen, wie der Ozean getobt und die Wellen sich geteilt hatten, als Triton seine Kräfte entfesselt hatte. Er hatte miterlebt, wie der König der Meere sein Leben für das seiner Tochter geopfert hatte und wie er von Ursula, der Meereshexe, vernichtet worden war. Das rothaarige Mädchen war wieder zur Meerjungfrau geworden und traurig davongeschwommen, für immer ihrer Stimme beraubt. Ursula alias Vanessa blieb mit Eric verheiratet und regierte nun das Königreich am Meer, ohne auf die wenig hilfreichen Ratschläge ihres hypnotisierten Ehemannes zu achten.

„Genauso ist es“, murmelte Scuttle. „Und Eric ahnt etwas. Aber wie kann das sein?“

Und was war die andere Sache?

Diese wichtige Angelegenheit?

Diese überaus wichtige Angelegenheit?

Womöglich das Wichtigste überhaupt?

„Der Ozean tobte, und die Wellen teilten sich, als Triton seine Kräfte entfesselte“, wiederholte Scuttle, dem es schmeichelte, große und bedeutende Worte auszusprechen. Seine Möwenenkel rollten mit den Augen und flogen davon. Bis auf eine, die sitzen blieb und ihn neugierig anschaute.

„Und der König der Meere opferte sein Leben für das seiner Tochter, und Ursula zerstörte ihn. GENAUSO WAR’S!“

Scuttle kreischte, sprang vor Begeisterung in die Luft und flatterte mit den Flügeln. Die wenigen noch verbliebenen Zuschauer hielten sich die Hände über den Kopf, weil sie fürchteten, es könnte etwas herabfallen.

„KÖNIG TRITON LEBT!“, jubelte er.

„Entschuldige bitte?“, fragte die einzige Möwe, die noch neben ihm saß, höflich.

„Verstehst du denn nicht?“ Scuttle wandte sich ihr zu und deutete mit dem Schnabel zur Bühne. „Wenn alles, was hier gerade aufgeführt wurde, der Wahrheit entsprach, dann hält Ursula Triton gefangen! Er ist nicht tot! Auf geht’s, Jonathan. Wir müssen einige Nachforschungen anstellen.“

„Ich heiße Jona, Urgroßvater“, korrigierte ihn die junge Möwe freundlich.

Aber das schien Scuttle nicht weiter zu interessieren.

Energiegeladen wie schon lange nicht mehr, breitete Scuttle seine Flügel aus und erhob sich, um zum Schloss zu fliegen. Seine Urenkelin folgte ihm schweigend.

Als der König und die Königin von Tirulia zu dem Entschluss gekommen waren, ihren Kindern die Verhaltensweisen und Regeln des Erwachsenenlebens beizubringen und – was noch wichtiger war – ihnen nahezulegen, den Palast zu verlassen, hatte Prinz Eric sich ein Schloss am Meer ausgesucht, um fortan dort zu leben.

Die schweren Steinquader, aus denen die Mauern gebaut waren, hatten eine helle Farbe und waren freundlicher anzuschauen als der graue Granit der alten Festung. Darüber hinaus hatte Erics Großvater eine von Rundbögen gestützte Aussichtsplattform erbauen lassen, die an ein römisches Aquädukt erinnerte. Die beiden höchsten Türme waren an die Architektur östlicher Städte angelehnt, und den dritten krönte kein Dach, sondern eine Pergola, über deren Balken sich Wein und Jasmin rankten. Der große Speisesaal war nach der neuesten Mode mit einem Panoramafenster ausgestattet, das vom Boden bis zur Decke reichte.

Alle Räume und Zimmer – bis auf die der Dienerschaft – hatten Meeresblick.

Die Bewohner des Schlosses wussten das zu schätzen. Genau wie die Bürger der Stadt, die gern damit angaben, und die Besucher aus Bretland, die auf ihren Besichtigungstouren immer wieder anhielten, um etwas in ihr Skizzenbuch zu zeichnen.

Die fliegenden Bewohner des Königreichs brachten den Schlossfenstern eine besondere Wertschätzung entgegen. Die Möwen wussten genau, wo die Küchen lagen. Deren Fenster waren ihr bevorzugtes Ziel. Gekochte Muschelschalen mit Resten von Muschelfleisch, vertrocknete Brotstücke, verdorbenes Fleisch oder verfaultes Obst … All das wurde ohne Bedenken vom Küchenpersonal aus den Fenstern geworfen und landete in einer versteckten Ecke der Bucht – vorborgen allerdings nur den Blicken der Menschen. Die Tiere kannten diese Ecke sehr wohl – und liebten sie.

Und sie wussten ebenfalls, dass Herzogin Gertrude, eine Cousine von Eric, von allem entzückt war, was fliegen konnte, weshalb sie stundenlang an ihrem Fenster stand und Möwen, Tauben, Spatzen, ja sogar Bussarde anlockte, die auf ihrer Hand landeten, um sich füttern zu lassen. Dabei fiel natürlich einiges zu Boden.

Auch der ibrianische Botschafter Iase, der ständig in der Angst lebte, er könnte vergiftet werden, warf immer wieder Speisen, die ihm serviert wurden, aus dem Fenster und vermehrte so das Festmahl für die Vögel.

Nur was aus dem Fenster von Prinzessin Vanessa nach unten fiel, war mit größter Vorsicht zu genießen. Denn es war entweder scharf oder wirklich vergiftet.

Scuttle fand einen Platz auf dem Sims eines offenen Fensters. Seine Urenkelin setzte sich neben ihn.

„He, ist ja cool hier“, sagte sie und schaute sich neugierig um.

Möwen mögen ein bisschen zerstreut sein und manchmal auch gierig bis zum Exzess, aber sie konnten auch geduldig warten. Manchmal saßen sie stundenlang am Strand, bis das Wasser zurückwich und sie nach Essbarem Ausschau halten konnten. Sie warteten auf die Rückkehr der Fischerboote, darauf, dass der Wind die Richtung änderte – oder eben darauf, dass die Menschen ihren Müll wegwarfen, damit sie darin nach Leckerbissen suchen konnten.

Jona legte den Kopf zur Seite und sah zu, wie eine Kammerzofe einen Nachttopf ins Meer entleerte.

„Und da beschweren sich die Menschen immer über unsere Angewohnheiten“, nörgelte sie.

„Schsch“, mahnte Scuttle, und sie hielt den Schnabel.

Schließlich wurde ihre Geduld belohnt. Vanessa tänzelte ins Zimmer und befahl ihren beiden Dienern, draußen zu warten.

„Bis später, Jungs“, schnurrte sie. Die Männer verbeugten sich. In ihren bunt geschmückten Uniformen und mit den Federhüten sahen sie aus wie Zwillinge. Ihre Kleidung war teurer als die der anderen Bediensteten im Schloss.

Die Prinzessin begann, sich zu entkleiden. Sie zog die Handschuhe aus, warf den Umhang ab und legte den Hut beiseite. Auf ihrem seidigen braunen Haar saß eine goldene Krone, geschmückt mit Juwelen und den Federn seltener Vögel. Vanessa warf sie achtlos auf das Bett. Sie summte eine der Arien der Oper vor sich hin, die der Meerjungfrau. Dann erhob sie ihre Stimme und sang, so laut sie konnte. Die Möwen prallten zurück. Ihre Federn sträubten sich.

Das klang ganz und gar nicht nach dem Gesang einer Meerjungfrau.

Zwar war es die Stimme von Arielle, und sie traf auch die Töne. Aber sie sang zu laut und ohne Gefühl, konnte die einzelnen Töne nicht in Einklang bringen. Als hätte man einem talentierten, aber unerfahrenen Kind angeordnet, das Lied einer Frau anzustimmen, die um ihren verstorbenen Geliebten trauerte.

Scuttle bemühte sich, unbewegt zu erscheinen. Zwar waren Möwen musikalisch nicht sonderlich begabt, aber Arielles Stimme aus dem Mund der Hexe klang ziemlich blasphemisch.

Vanessa lachte, schnurrte und machte andere Geräusche, die Arielle niemals in den Sinn gekommen wären. „Hat dir das gefallen, mächtiger König der Meere? Dieses kleine Liedchen der liebeskranken kleinen Meerjungfrau?“

„Ich sehe weit und breit keinen mächtigen König der Meere“, flüsterte Jona ihrem Urgroßvater zu. „Vielleicht ist sie geisteskrank?“

Scuttle antwortete nicht. Er beugte sich vor und spähte ins Zimmer, suchte jede Ecke nach Triton ab, die er vom Fenster aus überblicken konnte. Aber er entdeckte nichts, was nach Meer aussah, nicht mal ein Aquarium, in dem ein Polyp Platz gefunden hätte.

Vanessa blieb vor einer überwältigenden Sammlung von Fläschchen und Schmuckstücken stehen, alles Objekte ihrer Eitelkeit: nach Moschus riechende Parfüme in Glasampullen, exotische Öle in Krügen aus rosa Marmor und jede Menge Schminkpinsel, mit denen man eine ganze Armee von Prinzessinnen hätte pudern können. Das Einzige, was sie nicht besaß, war eine Dienerin, die ihr bei der Körperpflege half. Sie machte einen Kussmund vor dem Spiegel und verschwand dann in ihrem Wandschrank. Offenbar bewahrte sie dort etwas Wichtiges auf.

Die beiden Möwen streckten sich und beugten sich vor, um sie weiter beobachten zu können, konnten aber nach wie vor nichts sehen.

„Es tut mir so leid, dass du diese wundervolle Oper versäumt hast, Königlein“, rief Vanessa im Dunkeln. Nach einer Weile kam sie zurück. Nun trug sie ein rosa Seidengewand. Und jetzt sahen die Möwen, dass sie in dem weiten Ärmel ein Fläschchen versteckte. „Aber ich denke, Eric wird sie noch einmal aufführen. Nicht dass du dann dabei sein darfst! Wirklich zu schade! Es war sehr fantasievoll. Das Stück handelte von einer kleinen Meerjungfrau, die ihren Prinzen an eine hässliche alte Hexe verliert. Ein richtiges Flittchen.“

Sie hielt inne … riss den Mund weit auf und brach in schallendes Gelächter aus. Es klang hässlich und gemein und nicht im Geringsten nach einer Meerjungfrau.

Vanessa hielt das Fläschchen ins Licht, das durchs Fenster drang – und die beiden Möwen hielten die Luft an.

Es war eine schmale Ampulle, wie Wissenschaftler sie für ihre Experimente benutzten. Sie war mit einem Klumpen Wachs verschlossen und mit Wasser gefüllt … und mit etwas so Grässlichem, wie Scuttle und Jona es noch nie gesehen hatten.

Eine dunkelgrüne glibberige Masse mit vagen pflanzenähnlichen Umrissen füllte den Großteil der Ampulle aus. Sie klebte mit einem knubbeligen Ende am Boden des Gefäßes. Anstelle eines Kopfes hatte das Etwas Tentakel, die umherwaberten, und ganz oben waren zwei winzige Augen zu sehen. Ein hässlich geformter Mund hing schlaff herab. Die schaurige Karikatur wurde vervollkommnet durch zwei dünne Anhängsel, offenbar die Überreste des einst beeindruckenden weißen Vollbarts des Königs.

Jona wandte sich ab, um nicht würgen zu müssen.

„Er ist es!“, hätte Scuttle beinahe ausgerufen, konnte sich aber gerade noch beherrschen, als ihm einfiel, dass die Hexe die Sprachen aller Tiere verstand, genau wie Arielle.

Vanessa wirbelte herum und kniff misstrauisch die Augen zusammen.

Jona überlegte nicht lange. Sie pickte nach ihrem Urgroßvater und tat so, als wollte sie ihm einen Happen abjagen.

Scuttle schrie auf. „Was soll denn …?“

„DAS IST MEIN FISCH!“, kreischte Jona.

Ihr Urgroßvater starrte sie begriffsstutzig an. Dann verstand er.

„Was? Oh, ja, klar“, sagte er und zwinkerte ihr zu. „Nein … Urenkelin … das ist … mein … Fisch!“

Beide glitten vom Fenstersims und flatterten kreischend davon wie ganz normale Möwen.

Vanessa rannte zum Fenster und stellte erleichtert fest, dass dort nur ein paar Möwen herumflatterten, die sich um irgendwelche Abfälle stritten. Sie fletschte die Zähne und drehte sich wieder um.

„Das war wirklich sehr schlau von dir“, lobte Scuttle seine Urenkelin.

„Und was nun?“, fragte Jona neugierig.

„Na, was schon? Jetzt müssen wir Arielle suchen.“

5. KAPITEL

Atlantica

Ganz tief, unter dunkelgrünen Wellen, auf denen die hölzernen Rümpfe der Schiffe wie Spielzeugboote trieben, lag ein ganz anderes Königreich.

Korallenriffe erstreckten sich wie Wälder über den Grund, beleuchtet von der Sonne, deren Strahlen bis in die Tiefe vordrangen. Wälder aus Seetang bewegten sich träge im Meeresstrom hin und her. Die langen Blätter wirkten weich und nachgiebig, waren aber fest und hatten mitunter messerscharfe Ränder. Sie reckten sich nach oben der Sonne entgegen und erzeugten durch Fotosynthese Sauerstoff, genau wie ihre pflanzlichen Verwandten an Land.

Hier unten gab es Berge und Schluchten. Und genau wie auf dem trockenen Land strömten auch hier Flüsse die Hänge hinab, nur dass sie aus kalten Strömen bestanden, die durch wärmeres Wasser flossen. Auf dem Grund lagen kleine Geysire, aus denen heißes Wasser quoll, erwärmt von der glühenden Lava im Erdinneren. Es war so heiß, dass nur ganz besondere winzige Kreaturen in der Nähe dieser Quellen existieren konnten, die ihre Energie von austretenden Gasen empfingen und nicht von dieser weit entfernten gelben Lichtquelle dort oben.

Überall gab es Tiere, genau wie an Land.

Kleine Fische schwammen in riesigen Schwärmen umher – Heringe, Sardinen und Makrelen mit ihren silbrig glänzenden Leibern – und schimmerten wie Millionen Diamanten. Sie bewegten sich harmonisch, als wären sie ein einziges Tier.

Größere Fische leuchteten in allen Farben des Regenbogens, Rot und Gelb und Blau und Orange und Violett und Grün. Manche waren bunt gemustert wie Clowns – Dragonerfische, Putzerfische, Grundeln und Sägebarsche.

Seehechte, Alsen, Saiblinge, Merlane, Kabeljaue, Schollen und Meeräschen gehörten schon zur Mittelklasse.

Die größten Einzelgänger, Zackenbarsche, Riemenfische, Katzenhaie, Riesenhaie und Thunfische, die sehr groß und sehr alt werden konnten, schafften dies nur, wenn sie die Boote, Netze und Angeln der Menschen mieden. Die großen Raubtiere des Meeres, die ganz am Ende der Nahrungskette standen, wurden in ihrer Gefährlichkeit nur übertroffen von Wesen jenseits der Oberfläche, die noch hungriger und unersättlicher waren als die gierigsten Meeresbewohner.

Allerlei Nicht-Fische, die in den Ozeanen lebten, komplettierten die Meerespopulation: Oktopusse mit riesigen Tentakeln, die sich ausbreiten und zusammenziehen konnten, hübsche Quallen, die wie Feen aussahen, Hummer und Seesterne, Seeigel und Schnecken … und lustige raupenähnliche Wesen, die über den Meeresboden schwebten und in allen Farben und Formen existierten.

Alle diese Kreaturen wachten, schliefen, spielten und schwammen umher und lebten ihr ganzes Leben lang unter dem Meer, unbeeindruckt von dem, was jenseits ihrer Welt geschah.

Aber es gab noch andere Tiere in diesem Reich, eigenartige Tiere, die in beiden Welten zu Hause waren, im Wasser und in der Luft. Robben und Delfine, Schildkröten und der seltene Finnwal kamen gelegentlich in die Tiefe, um zu jagen oder sich zu unterhalten, und verschwanden dann wieder hinter dieser merkwürdigen Membran, die den Ozean von allem Übrigen trennte. Natürlich waren sie wunderbar – aber nicht allen konnte man ohne Weiteres trauen.

Die eigenartigsten Wesen jedoch lebten in einer Stadt, die sie selbst gebaut hatten, in einem Königreich auf dem Meeresgrund.

Hier waren die Bewohner nicht durch Dächer vom Wasser getrennt, in dem sie lebten. Sie konnten sich ungehemmt in alle Richtungen bewegen. Ihre Welt war offen und luftig – besser gesagt ozeanig –, eine Stadt, erbaut zum Vergnügen und nach den Launen ihrer Architekten. Hübsche Zäune führten die Besucher an Orte, die nur der Hauch einer Idee waren. Säulengänge ohne Türen öffneten sich in Räume, die übereinanderlagen. Treppen waren hier nicht nötig. Säulen, so dünn und fein wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle, kennzeichneten die „Straßen“, die zwischen Sälen hindurchführten, dekoriert mit zierlichen Türmchen. Alles schimmerte weiß oder blassrosa oder orange von den Farben der Korallen, die einen sanften Glanz über alles legten, als befände man sich im Innern einer Muschel.

Diese ganze Schönheit war das Ergebnis von Tausenden von Jahren, in denen Kunstfertigkeit, Frieden und Geduld gewirkt hatten. Und das Ergebnis war vollkommene Abgeschiedenheit von der übrigen Welt. Atlantica war eine Welt, die kein Mensch sich vorstellen konnte und die nur wenige im Augenblick des Ertrinkens zu Gesicht bekamen. Sie hatte sich seit Jahrhunderten nicht verändert, war großartig und für die Ewigkeit gedacht.

Die edlen Kreaturen, die diese Unterwasserwelt erbaut hatten und regierten, wurden sehr alt und hatten keine anderen Interessen, als Schönheit zu erzeugen und zu bewahren.

Jedenfalls war es lange Zeit so gewesen.

Nun aber wurde Atlantica von einer Königin regiert, die die andere Welt gesehen hatte und von ihr beeinflusst worden war. Sie musste mit den Folgen leben – bis in alle Ewigkeit.

6. KAPITEL

Arielle

Die übliche Menge hatte sich um den Thronhimmel versammelt: Meeresbewohner jeder Art, darunter einige Delfine, die gelegentlich zur Oberfläche schwammen, um nach Luft zu schnappen, ein einsamer Riemenfisch, eine kleine Gruppe von Groppen. Die meisten Anwesenden waren allerdings Meermänner und -frauen, denn die Königin hielt heute das Ritual der Juni-Fluten ab, eine der wichtigsten offiziellen Feierlichkeiten.

Wie gerne wäre sie ganz woanders gewesen.

Könige und Königinnen mussten sich regelmäßig ihrem Volk präsentieren, das gehörte zu ihrem Beruf. Die meisten Zeremonien ließen sich erledigen, indem man an einen bestimmten Ort schwamm, königlich auftrat, ernste Blicke austauschte und Kinder anlächelte. Aber wenn man anlässlich einer Feier eine Rede halten sollte …

… und nicht sprechen konnte …

Annio wurde zum ausführenden Priester des Rituals ernannt. Also wird er es sein, nicht Laiae, der aus dem Hades-Brunnen schöpfen soll.

Das sagte sie mit den Händen und buchstabierte den Namen des Priesters sorgfältig in alten Runen.

Sebastian und Fabius und der Seepferdchen-Bote Threll hatten sich am Rande der Menge positioniert und sprachen laut aus, was Arielle in Zeichensprache erklärte. Die drei und die Schwestern von Arielle waren die Einzigen, die es auf sich genommen hatten, die alte Zeichensprache des Meeres zu lernen. Aber nur der Fisch, die Krabbe und das Seepferdchen hatten sich bereit erklärt, die Worte zu übersetzen.

Keiner hatte eine besonders laute Stimme – so wie ihr Vater –, weshalb nicht alle hören konnten, was sie sagten.

Einmal hatten sie versucht, Fabius’ Stimme mit der Hilfe eines Muschelhorns zu verstärken, aber das war eine Katastrophe gewesen. Er hatte einfach lächerlich geklungen.

In einer perfekten Welt hätten Arielles Schwestern diese Aufgabe übernommen. Sie waren mit ihr zusammen aufgewachsen und hatten ähnliche Stimmen. Außerdem waren sie Prinzessinnen, weshalb man ihnen eher zugehört hätte.

Aber es war ihnen zu anstrengend.

Und es war nun einmal die besondere Eigenschaft ihrer Schwestern, zu viel Anstrengung zu vermeiden. Selbst die Privilegien, die sie als Nachfolgerinnen genossen hätten, konnten sie nicht umstimmen.

Darum musste Arielle sich in Zeichensprache verständlich machen, und ihre Übersetzer übersetzten. Die Versammelten hörten also verschiedenen Stimmen zu, die für sie sprachen. Außerdem schauten sie die Übersetzer an und richteten ihre Fragen an sie, was das Durcheinander noch verschlimmerte.

„Welcher Annio denn? Der ältere?“

„War mein Kind in der engeren Auswahl, die liebliche Ferestia?“

„Um welche Uhrzeit denn?“

Arielles einzige Antwort auf die vielen Fragen, die von allen gleichzeitig gestellt wurden, war ein lautes Signal mit dem goldenen Muschelhorn, das sie als Symbol ihrer offiziellen Funktion um den Hals trug. Tatsächlich aber kam sie sich eher wie ein Schiffskapitän vor und nicht wie eine Königin.

Ich werde euch die Einzelheiten auf Tafeln mitteilen, die ich an den üblichen Orten für Bekanntmachungen aufstellen lasse, gab sie erschöpft in ihrer Zeichensprache bekannt. Das wäre dann alles.

Nachdem ihre Assistenten es ausgesprochen und alle darüber nachgedacht hatten – es fühlte sich an wie das Warten auf den Donner nach dem Aufflammen eines Blitzes –, murmelten die Versammelten ihre negativen und positiven Kommentare und gingen auseinander.

Arielle sank zurück in ihren Thron, stützte sich müde auf ihren Arm und nahm damit unbewusst die gleiche Haltung ein wie ihr Vater nach einem anstrengenden Tag. Threll flitzte von einem herumstehenden Meermenschen zum anderen, um mögliche Verständnisfragen zu beantworten. Er war ein guter Bote und hatte sich überraschend schnell in seine neue Rolle hineingefunden. Fabius hielt sich weiter hinten auf und unterhielt sich mit einem Fisch, den Arielle nicht kannte.

Sebastian krabbelte zu ihr und sprang hoch, um sich auf ihre Armlehne zu setzen.

„Die Saga am Ende des Ritus dürfte ein außergewöhnliches Ereignis werden“, sagte er aufgeregt und lief mit den Scheren gestikulierend im Krebsgang auf der Armlehne hin und her. „So viele Talente sind dabei. Mit großer Begeisterung! Es könnte nicht besser sein. Die Sardinen sind perfekt synchronisiert, die Trompetenfische spielen großartig. Alles ist ideal. Nun ja, da wäre nur eine Sache, die es noch schöner machen könnte … wenn du deine Stimme wiederhättest.“

Arielle rutschte ungeduldig auf ihrem Thron hin und her, aber die kleine Krabbe ließ sich nicht beirren. Zwar konnte Sebastian ihre Zeichen interpretieren, ihre Lippen lesen und ihre Stimmung entschlüsseln – aber nur wenn er sich darauf konzentrierte.

„Was für ein Verlust für die Welt …“ Er legte ihr eine Zange auf die Schultern und bemerkte endlich ihren verkniffenen Gesichtsausdruck. „Oh, äh, aber im Gegenzug haben wir natürlich die wunderbarste Königin der Welt bekommen.“

Die wunderbarste Königin der Welt senkte ihren Dreispitz und überlegte, ob sie ihn für einige Minuten in eine Seegurke verwandeln sollte, als Strafe für das, was er gerade gesagt hatte.

Aber er hatte ja nur ausgesprochen, was sie selbst gelegentlich dachte: ob sie überhaupt zur Königin geeignet war. Schließlich war sie gar nicht dafür vorgesehen gewesen.

Als sie vor fünf Jahren zu ihren Schwestern zurückgekehrt war, ohne Stimme und verzweifelt über das, was ihr zugestoßen war, hatte sie erwartet, dass man sie bestrafen würde. Stattdessen hatte ihre Familie sie zur Herrscherin über Atlantica gemacht. Diese Ernennung war einmalig, denn normalerweise hätte sie als die Jüngste erst nach dem Tod ihrer sechs Schwestern einen Anspruch auf den Thron gehabt.

„Du bist verantwortlich für den Mord an unserem Vater“, hatten sie gesagt. „Daher ist es nur gerecht, wenn du von nun an seine Verantwortung übernimmst.“

Insgeheim fragte sich Arielle, ob es sich dabei weniger um eine Strafe gegen sie als um eine Erleichterung für die anderen handelte. Keine ihrer Schwestern wollte sich dieses Amt aufladen. Als Prinzessinnen konnten sie den ganzen Tag spielen und singen, sich hübsche Muschelkleider anfertigen lassen, Kronen tragen und auf Paraden glänzen … ohne jemals wirklich etwas Anstrengendes tun zu müssen. Arielle schaute ihren Schwestern bei ihren Vergnügungen zu und wunderte sich über die Kluft, die sich zwischen ihnen auftat. Sie war die Jüngste und auch, wie manche behaupteten, die Hübscheste von allen – früher war sie sogar einmal die Sorgloseste von allen gewesen –, und nun saß sie auf dem Thron und beneidete ihre Schwestern.

Die Meermenschen verehrten ihre Königin, auch wenn sie nicht sprechen konnte und immer traurig wirkte. Vielleicht gerade deswegen. Dichter und Musiker schrieben Epen und Balladen, die von ihrem Schicksal erzählten, von der Liebesgeschichte, die beinahe ein Königreich zerstört hätte.

Das alles gefiel ihr nicht.

Auch die Aufmerksamkeit der Meermänner missfiel ihr. In der guten alten Zeit, als sie noch unschuldig gewesen war, hatten die jungen Männer sie überhaupt nicht wahrgenommen. Jedenfalls nicht die jungen Meermänner.

Jetzt war sie gezwungen, sie zu beobachten, auf sie aufzupassen und ihre Motive zu ergründen. Zumeist ging es darum, die Königin zu heiraten, um selbst König zu werden.

Ha, dachte sie bitter. Wenn die wüssten, wie anstrengend es ist zu regieren.

Sie war kaum in ihre neue Funktion geschwemmt worden, da verstand sie auch schon, warum ihr Vater immer so ungehalten gewesen war. Er hatte mit strenger Hand geherrscht und nur selten gelächelt. Mit seinem versteinerten Gesicht und dem langen Bart hatte er wie ein alter Gott ausgesehen und seine Untertanen mal finster, mal forschend angestarrt. Sie und ihre Schwestern hatte ihn oft geneckt, um ihn zum Lächeln zu bringen. Hatten versucht, ihn von seinen Pflichten abzuhalten, um mit ihm zu spielen. Aber meistens hatten sie sich mit der Teilnahme an offiziellen Empfängen zufriedengeben müssen – zum Beispiel dieses eine Fest, das Arielle hatte ausfallen lassen, woraufhin das ganze Unheil begonnen hatte.

Wie gern würde sie ihm sagen, dass sie ihn verstand. Regieren war eine anstrengende Aufgabe. Herrscher wurden schnell misstrauisch, ernst und grüblerisch.

Dabei könnte es eine so einfache Aufgabe sein, denn das Meervolk und ihre Verbündeten waren sorglos und fröhlich.

Jedenfalls bis eine Bande räuberischer Wolfsbarsche in den Garten einer ihrer Cousinen eingedrungen war.

Oder der Großmeister der Haie darauf bestanden hatte, die Jagdgründe seines Volks bis zum Grauen Canyon auszuweiten.

Und dann war auch noch ein Korallenriff überraschend ausgebleicht, ohne dass jemand einen Grund dafür benennen konnte. Und die Diamantschildkröten konnten ihre angestammten Laichplätze nicht erreichen, weil dort inzwischen Häuser standen. Nicht zu vergessen, dass die Menschen es geschafft hatten, eine ganze Delegation aus der Nordsee einzufangen und aufzuessen. Außerdem war die Anzahl der Fischerboote so groß geworden, dass sie gegen die uralten ungeschriebenen Gesetze zwischen der Meereswelt und der Trockenen Welt verstießen.

Trotz dieser vielen dringenden Probleme beklagte sich ihre Cousine Yerena noch immer über die Wolfsbarsche und ihre „hässlichen Gesichter“.

Arielle bekam schon schlechte Laune, wenn sie nur daran dachte.

Abgesehen von der grundsätzlich schlechten Laune gab es noch eine andere Ähnlichkeit zwischen dem König und seiner Tochter. Jede Freude, die Triton genossen hatte, sogar wenn es um seine Töchter gegangen war, wurde überschattet von der Trauer über den Tod seiner Frau.

Arielles Leben war geprägt von Trauer und Schuldgefühlen, weil sie am Tod ihres Vaters schuld war.

Sie räusperte sich, dieses Geräusch konnte sie noch erzeugen, und beugte sich vor, um die Krabbe zurechtzuweisen, als sie sah, wie Fabius auf sie zuschwamm.

Ihr alter Freund, der Kofferfisch, war größer und umfangreicher geworden, seit sie zuletzt gemeinsam zur Oberfläche geschwommen waren. Er trug eine Medaille um den Hals, die seinen Rang signalisierte. Der aufgedruckte Dreispitz bedeutete, dass er Zugang zum inneren Kreis der Königin hatte. Aber im Gegensatz zu den hübschen kleinen Fischchen und Seepferdchen, die ihr als Diener zuarbeiteten, warf er sich nicht in die Brust, damit jeder die Goldmünze sehen konnte. Trotz des großen Wissens, das er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte, blieb er der grundsolide Fabius.

„Meine Königin!“

Er hielt vor ihr an, nahm Sebastian nicht weiter zur Kenntnis und verbeugte sich, wie es sich ziemte, auch wenn Arielle das gar nicht verlangte, jedenfalls nicht von ihm und Sebastian.

Arielle schaute ihn aufmerksam an.

Junge Dame?Tot.

Arielles Haar schwebte nicht mehr frei: Die Kosmetik-Krabben hatten es zu einem Zopf geflochten und auf ihrem Kopf unter der Krone zusammengerollt. Sie trug aquamarinblaue Ohrringe, die leuchteten, aber nicht aufblitzten. Ihr Äußeres war streng und gemessen. Ihr einziges Zugeständnis an ihre Jugend war der goldene Ring in der oberen Partie ihres linken Ohrs.

„Junge Dame“, na schön. Sie musste gar nicht protestieren, indem sie Zeichen machte. So kannst du nicht mehr mit mir sprechen, kleine Krabbe. Ich bin jetzt Königin.

Sebastian seufzte und klang erschöpft. „Es tut mir leid, dass ich einfach so das Wort ergriffen habe. Es packt mich immer wieder. Natürlich ist es nicht gut, nach oben zu gehen … es hat nie etwas Gutes gebracht. Ich will ja nur, dass du nicht wieder verletzt oder enttäuscht wirst.“

Arielle schenkte ihm ein winziges Lächeln und tippte ihm freundlich auf den Rücken. Manchmal vergaß sie einfach, dass Sebastian immer übertreiben musste. Aber dabei hatte er immer ihre Interessen im Sinn – oder was er dafür hielt.

Aber jetzt war sie erwachsen und Königin, und ihre Interessen waren für ihn nicht von Belang. Sie machte dem Seepferdchen ein Zeichen, das herangeschwommen kam und mit zitternden Flossen ergeben auf ihren Befehl wartete.

Threll, teile dem königlichen Rat bitte mit, dass ich mir heute Nachmittag freinehme. Fabius wird mich begleiten. Bis zu meiner Rückkehr ist Sebastian für alles verantwortlich. Aber während meiner Abwesenheit sollen keine Entscheidungen getroffen werden.

„Jawohl, Eure Majestät.“ Das Seepferdchen verbeugte sich und sauste davon.

„Meine Königin, auch wenn ich geschmeichelt bin …“, begann Sebastian.

Aber Arielle hatte sich schon erhoben und strebte der Oberfläche entgegen.