Von der Heydens erster Fall
Erleben Sie mit Wilhelm von der Heyden die Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei im Berlin des 19. Jahrhunderts!
Berlin, 1855: Wilhelm von der Heyden steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums, als er Zeuge einer Explosion wird. Die Fenster der gegenüberliegenden Wohnung sind zerstört, eine Frau hängt leblos im Zaun. Um ihr zu helfen, eilt er an den Unglücksort – und gerät selbst in Verdacht. Der Wachtmeister hat sein Urteil schon gefällt, der Chef der Kriminalpolizei ist jedoch von Wilhelms Beobachtungsgabe begeistert und stellt ihn ein. Talentierte neue Mitarbeiter werden in der noch jungen preußischen Ermittlungsbehörde dringend benötigt. Doch Fingerspitzengefühl ist gefragt, denn bald schon führen die Ermittlungen Wilhelm und seine Kollegen in die höchsten Kreise …
Ralph Knobelsdorf, Jahrgang 1967, wurde in Löbau/Sachsen geboren. Der Informatikkaufmann studierte in Halle an der Saale Philosophie, Jura und Geschichte mit dem Schwerpunkt Deutschland im 19. Jahrhundert. Nach Tätigkeiten in Werbe- und Internetagenturen arbeitet er gegenwärtig in einem Unternehmen der ITBranche. Mit Des Kummers Nacht legt er sein Debüt als Autor historischer Kriminalromane vor. Der begeisterte Eishockeyanhänger und bekennende Liebhaber von Downton Abbey lebt mit Frau und zwei Kindern in Erfurt.
RALPH KNOBELSDORF
DES
KUMMERS
NACHT
VON DER HEYDENS
ERSTER FALL
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano
unter Verwendung von Motiven von
© getty-images: Colin Utz | EyeEm;
© Arcangel: Derek Adams
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-0380-2
luebbe.de
lesejury.de
Hier der Freude reiches Streben,
Dort des Kummers Nacht,
Das ist das Berliner Leben,
Wie es weint und lacht!
David Kalisch (1820–1872)
Für Petra, Henriette und Luise.
Ein Traum. Es musste ein Traum sein. Nie sonst war das Licht an einem sonnigen Sommertag so diffus, niemals würde er keinen Windhauch spüren, obwohl sich die Wellen auf dem See kräuselten und die Blätter in den Bäumen bewegten. Und niemals konnte es so vollkommen still sein. Kein Geräusch war zu hören, wenn er seinen Fuß in den schlammigen Untergrund setzte, kein Rascheln kam vom Schilf, das er mit den Händen zerteilte. Doch wenn es ein Traum war, warum brannte dann die Sonne so heiß auf seiner unbedeckten Schulter? Warum schnitt das Schilf so schmerzhaft in seine nackten Beine? Und warum war er überhaupt in der Lage, darüber nachzudenken, ob er sich in einem Traum befand oder nicht? Warum wusste er, dass er das alles schon mehrmals erlebt hatte?
Der kahle Baum auf der Landzunge war nicht mehr weit weg. Er wusste, dass er eigentlich nur über einen langen schmalen Pfad, umgeben von dichten, hohen Brombeersträuchern, zu erreichen war, er aber näherte sich durch das dichte Schilf der Uferseite. Was er dort wollte, wusste er nicht mehr oder hatte es noch nie gewusst, aber er musste dorthin, unbedingt. Sah er dort Menschen? Undeutliche Bewegungen?
Er spürte, dass sich von hinten etwas näherte. Jetzt hörte er Schilf rascheln und etwas, das an Schritte in tiefem Morast erinnerte. Wasser plätscherte. Also nun doch Geräusche? Aber warum nur diese, nichts sonst? Rief da jemand?
Der Waldrand, von wo er gekommen sein musste, war schon ziemlich weit entfernt, und nichts war zu sehen, keine Bewegung, selbst das Schilf stand komplett still. Dennoch diese matschenden Schritte, noch entfernt, doch sich nähernd. Da rief doch jemand, oder nicht?
Er lauschte. War es sein Name? Nicht der richtige Vorname, eher eine Kurzform. Anglisiert natürlich, das war heutzutage modern. Hieß er so? Aber wer rief da? Und wo war der Rufer? Ein Mann, so viel war sicher. Stellte er eine Gefahr dar? Doch warum rief er ihn dann bei seinem Namen, wenn es denn sein Name war? Aber wen sollte der Unbekannte sonst meinen, hier in dieser sonnenbeschienenen Einsamkeit?
Vielleicht die Menschen unter dem riesigen abgestorbenen Baum vor ihm, die der Rufer möglicherweise gesehen hatte. Seltsamerweise schien der Baum nun weiter entfernt zu sein als noch vor einem Augenblick, obwohl er sich die ganze Zeit in diese Richtung bewegt hatte. Also doch ein Traum, in Wirklichkeit kam es nicht vor, dass man sich zu einem festen Punkt bewegte, der sich dennoch entfernte. War es Panik, die langsam in ihm aufstieg? War es Panik, die ihm das Atmen schwer machte und den Puls rasend? Seinen Herzschlag würde er noch eine Weile ignorieren können, aber diese Beklemmung … Warum fiel das Atmen immer schwerer, und warum wurde die rufende Stimme immer lauter?
Das Atmen hörte auf, der Druck auf der Brust war nicht mehr auszuhalten. Er –
»Hermann Friedrich Wilhelm von der Heyden!«
Er schlug die Augen auf. Weiß. Er sah nur weiß. Und hörte Geräusche. Und spürte einen Lufthauch, der über seinen schweißnassen Körper strich.
Mit einem Ruck setzte er sich auf. Sofort war der vertraute Kopfschmerz da. Er stöhnte in das Laken, das er sich über das Gesicht gezogen haben musste.
»Wieder unter den Lebenden, Willy?«
Kein Wunder, dass ihm die Stimme im Traum bekannt vorgekommen war. Johann Schmidt, anscheinend gut gelaunt und im Vollbesitz seiner Kräfte. Warum eigentlich? Hatte er ihn nicht erst gestern fast volltrunken nach Hause gebracht? Oder vielmehr vorhin? In der Nacht, vor viel zu kurzer Zeit?
Er räusperte sich. Er räusperte sich noch einmal. Erst dann war er in der Lage zu sprechen. »Um Himmels willen, Johann! Wie spät ist es zum Teufel?«
»Gleich halb zwölf. Und meine Großmutter sagte immer, man soll nicht vor Mittag fluchen und danach erst gar nicht anfangen.«
Wilhelm brummte. Der Schmerz war geradezu gigantisch. Wenn er sich nicht bewegte, würde er dann aus den Schläfen, dem Hinterkopf, dem Nacken, den Schultern verschwinden oder nachlassen, wenigstens für einen kurzen Moment? »Wie kann man nur so gut gelaunt sein? Nach einer solchen Nacht? Johann, wie machst du das?«
»Sonnenschein, frische Luft und drei rohe Eier im Glas. Deine Wirtin hat mich hereingelassen, wir wollten doch um drei Uhr unter die Linden.«
Wilhelm stöhnte.
»Wieder Kopfschmerzen?« Johanns Stimme klang nun leiser und sanfter. »Und wieder der Albtraum?«
»Ja und ja«, murmelte Wilhelm.
Johann lachte leise. »Dann hat es wohl wenig Sinn, heute Morgen deine Fähigkeiten zu prüfen, oder? Was könnte ich jetzt verändert haben?«
»Das wird schon gehen.« Wilhelm setzte sich langsam auf. Er öffnete die Augen, schloss sie wieder und öffnete sie nach einigen Augenblicken erneut. Langsam, sehr langsam sah er sich in dem kleinen Zimmer um. Das Fenster stand offen, Sonnenschein und eine Brise bewegten die dünne Gardine. Neben dem Bett stand ein Eimer mit Wasser, Gott sei Dank unbenutzt. Sein Magen meldete sich. »Die Vase mit den Blumen stand auf der linken Seite des Tisches, außerdem waren es fünf und nicht vier Grasnelken. Frau Brenke zieht sie im Garten und achtet penibel auf die Anzahl. Das Bild von Anna hing schon gestern schief, allerdings nach rechts. Außerdem war der Waschtrog gestern nicht mit Wasser gefüllt.«
Johann pfiff leise durch die Zähne, nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. Er blickte aus dem Fenster und sagte dann: »Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Drei von vier, und das in deinem, gelinde gesagt, jämmerlichen Zustand. An dir wird etwas verloren gehen, wenn ich auch noch nicht weiß, was genau.«
Wilhelm legte beide Hände in den Nacken und begann, sachte den Kopf hin- und herzudrehen. »Es ehrt dich, dass du an meiner beklagenswerten Situation Anteil nimmst. Es wundert mich immer wieder, dass dir anscheinend niemals Gleiches widerfährt. Rohe Eier, wie?«
»Mit etwas Inhalt«, antwortete Johann. »Pfeffer, Kräuter aus dem Garten und ein winziger Schuss Cognac.«
»Beneidenswert.« Wilhelm massierte vorsichtig seinen Nacken. »Wenn du mit Nummer vier die Jacke meinst, die hatte ich gestern auf den Boden geworfen, und du hast sie aufgehängt. Aber das war gestern oder vielmehr heute früh, und das zählt nicht. Es gibt einen Unterschied zwischen ›jetzt‹ und ›früher‹.«
Johann starrte ihn an. Langsam schüttelte er den Kopf und lächelte. »Du solltest damit auftreten, irgendein Varieté könnte dich gut gebrauchen.«
»Nicht ohne Kaffee. Hast du nicht von Kaffee gesprochen und, wenn nein, warum nicht?«
»Weil uns dieses teure Vergnügen erst heute Nachmittag zusteht und wir es uns Unter den Linden gönnen werden, jetzt, wo unser Studium zu Ende ist und wir gestandene Männer werden.«
Johann griff in seine Tasche und holte eines der neumodischen Rauchwerke heraus, die er Zigarette nannte und von einem deutschen Fabrikanten in Sankt Petersburg bezog. Bürgersohn einer Familie mit weitreichenden Handelsbeziehungen halt, was nutzte ihm da sein alter, armer Adel.
»Frau Brenke lässt dir übrigens ausrichten, dass sie dir unten ein umfangreiches Frühstück bereitet hat. Das soll – so ihre Worte – für den Tag genügen. Sie ist zu ihrer Schwester gegangen und wird erst spät am Abend zurückkehren.« Johann zog aus der anderen Tasche eine Schachtel mit Streichhölzern hervor, der letzte Schrei, mit rotem Phosphor, bei dem man nicht in Gefahr geriet, seine Kleidung und sich selbst spontan zu entzünden. Er bezog sie direkt vom Fabrikanten in Schweden – natürlich.
Wilhelm unterdrückte ein Seufzen. Er würde wohl bei einer gelegentlichen Zigarre und einer Kerze bleiben. Im nächsten Augenblick drangen ein Knall von splitterndem Glas, ein halber Schrei und ein undefinierbares dumpfes Geräusch in sein Ohr und mischten sich mit seinem Kopfschmerz.
Johanns Hand mit dem brennenden Streichholz erstarrte auf dem Weg zum Mund. Er fuhr mit weit aufgerissenen Augen auf, ließ das Streichholz fallen und wandte sich tonlos an Wilhelm: »Das wirst du jetzt nicht glauben.«
»Was ist geschehen?« Wilhelm wandte sich zum Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schien im zweiten Stock ein Fenster explodiert zu sein. Ein Rahmen fehlte komplett, der andere hing traurig in nur noch einer Angel.
Johann drehte sich zu ihm. »Zieh dich an, mein Freund. Wie es scheint, ist soeben eine Frau aus dem Fenster gestürzt.« Er ging eilig zur Tür und wandte sich noch einmal um. »Oder sie wurde gestoßen. Mach dich auf, Willy. Ich warte drüben auf dich.«
Sie lag ausgebreitet auf den lilienförmigen Dornen des gusseisernen Zauns. Zwei Spitzen ragten aus ihrem Rücken, Blut rann die Stäbe hinunter und verteilte sich auf dem Gehsteig. Schwarze Haare, lang und lockig, und ungewöhnlich langgliedrige Finger mit etwas, das wie Spritzer verschiedener Farben aussah, waren das Einzige, was Wilhelm auffiel, ehe er rasch den Blick abwandte.
»Ich habe eine Decke dabei«, sagte er, das Offensichtliche betonend, »und es wäre besser, wenn du die Zigarette ausmachst.«
»Natürlich«, sagte Johann, »wie unsensibel von mir.«
»Das meine ich nicht. Seit rund fünfzig Jahren gibt es Gasbeleuchtung und etwa zehntausend Anschlüsse in Berlin. Wir haben zwar keinen, aber da oben gibt es immerhin ein herausgeblasenes Fenster.«
Johann trat die Zigarette aus, nahm Wilhelm die Decke aus der Hand und legte sie behutsam über die Frau. »Keine Lebenszeichen mehr«, sagte er leise. »Ich habe einen Jungen auf die nächste Wache geschickt. Die Polizei sollte bald hier sein.«
Wilhelm nickte. »Ich denke, ich suche den Haupthahn. Es wäre fatal, wenn weiter Gas ausströmen sollte. Vielleicht bleibst du besser hier und passt auf, dass sich niemand der Lei…, dem Opfer … Du weißt schon, was ich meine?«
»Schon recht.« Johann sah die Straße entlang. »Zum Glück sind nicht viele Menschen unterwegs, einen Auflauf können wir nun wirklich nicht gebrauchen.«
Die Haustür war schwarz und ziemlich schwer. Wilhelm drückte sie auf und sah sich nach der Gasleitung um. Auf dem ersten Treppenabsatz sah er Rohre, die aus dem Keller zu kommen schienen. Er schnüffelte, aber kein ungewöhnlicher Geruch stieg in seine Nase. War Gas geruchlos? Er hatte keine Erfahrungen damit, weder zu Hause auf dem Gut noch bei seiner Vermieterin gab es einen Anschluss.
Die Tür zum Keller befand sich auf der rechten Seite und war nur angelehnt. Hatte jemand vergessen abzusperren, oder war es im Haus üblich, die Tür offen stehen zu lassen? Wilhelm wusste so gut wie nichts über das Haus, obwohl es dem Zimmer, in dem er seit zwei Jahren logierte, gegenüberlag. Er meinte, sich zu erinnern, dass Frau Brenke, gestandene Witwe und Vermieterin, auch über diese Nachbarn in langschweifigen, hektischen Monologen zu erzählen wusste, wie sie es über alle Bewohner der Straße den Block hinauf und hinunter mehrmals getan hatte. Und er erinnerte sich auch daran, dass er nie richtig zugehört und nur an strategisch möglicherweise wichtigen Stellen genickt oder eine belanglose Bemerkung gemacht hatte. Jetzt bedauerte er seine Versäumnisse und nahm sich vor, Frau Brenke am Abend ausführlich zu befragen – nachdem er ausgiebig Bericht erstattet hatte. Frau Brenke würde mit absoluter Sicherheit darauf bestehen.
Er konzentrierte sich. Hörte er oben einen Hund winseln?
Im Keller entdeckte er ein Rohr, das aus der Decke kam und auf halber Höhe in der Wand verschwand. Das musste die Gaszufuhr sein. Kurz über dem Knick befand sich ein Schieber, den er versuchsweise bewegte. Er glaubte, ein leichtes Zischen zu vernehmen, und schob den Hahn zurück. Das Zischen verstummte. Um sich zu vergewissern, wiederholte er die Prozedur: Schieben, Zischen, Schieben, Stille. Das Gas war offenbar abgestellt.
Wilhelm überlegte. Vielleicht wäre es angebracht, oben in der Wohnung nachzusehen. Ihm wurde heiß. Gab es womöglich weitere Opfer oder Verletzte?
Er rannte eilig nach oben, nahm mehrere Stufen auf einmal und schaute sich im Treppenhaus um. Er zählte drei Etagen, auf denen vermutlich jeweils zwei oder drei Wohnungen lagen. Er klopfte an die erste Tür. Als keine Reaktion erfolgte, wiederholte er die Prozedur an jeder Tür, bis er vor der Wohnung stand, in der die Explosion stattgefunden haben musste. Unschlüssig blieb er stehen. Bislang hatte niemand geöffnet. Die Explosion war nicht zu überhören gewesen, und er hielt es für sicher, dass die Bewohner auf die Straße gegangen wären oder zumindest nachgesehen hätten, was einen solchen Lärm verursachte. Es war also wahrscheinlich, dass sich niemand im Haus befand. Man könnte später bei den anderen Wohnungen noch einmal nachsehen, hinter dieser Tür lag aber womöglich ein Verletzter. Oder Schlimmeres.
Die Tür sah stabil aus. Kein Rauch drang aus den Ritzen, ein Feuer war also nicht zu vermuten. Sicherheitshalber prüfte Wilhelm den Türknauf. Kalt. Er drehte ihn, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. »Hallo? Ist jemand in der Wohnung?« Wilhelm rief drei Mal und lauschte am Holz. Nichts. Wo blieb die Polizei?
Am Treppenabsatz befand sich ein Fenster. Es ging auf die Straße hinaus, und Wilhelm konnte Johann erblicken, der versuchte, der Toten ins Gesicht zu schauen, und dazu die langen Haare zur Seite schieben musste. Auf der anderen Straßenseite blieb ein offensichtlich gut situiertes Paar stehen. Der Mann hatte schützend den Arm um seine Begleiterin gelegt, die die Faust vor den Mund gepresst hatte. Angestrengt hinüberblickend sprachen sie miteinander. Davon abgesehen war die Straße leer, nichts bewegte sich.
Wilhelm ging zurück zur Tür und trat gegen das Schloss. Die Tür erbebte und gab schließlich dem dritten entschlossenen Stoß nach, flog herum und prallte gegen die Wand. Glas ging zu Bruch.
Er gelangte in einen kleinen Flur, dessen Mobiliar aus einer kleinen Garderobe, einem Schirmständer und einem Spiegel bestand, in dem sich ein Loch auf Höhe des Türknaufes befand. Zahlreiche Risse gingen von ihm aus. Ein Bild an der Wand zeigte die Skizze einer schönen jungen Frau mit offenen Haaren und einer Rose in der Hand. Ihre Bluse war geöffnet, doch das Bild endete, bevor mehr zu sehen war, als eintretenden Gästen zugemutet werden konnte.
Rechts führte eine halb geöffnete Tür in eine Badestube mit Holzzuber, Waschschüssel mit Krug und einem kleinen gusseisernen Ofen. Wilhelm warf nur einen kurzen Blick auf den Luxus – niemand. Er rief erneut und erhielt abermals keine Antwort.
Neben dem Bad führte der Flur weiter um die Ecke, zwei Türen schlossen sich an. Die eine führte zu einer kleinen Küche, die andere zu einem mondänen Schlafzimmer, das von einem riesigen Bett dominiert wurde. Anscheinend mochten die Bewohner riesige Tücher, die als Vorhänge drapiert waren. Ein großer Kamin beherrschte eine Wand, die andere wurde von einem dunklen Schrank eingenommen. Ein Paravent versperrte teilweise den Blick auf das Fenster. Auch hier war niemand.
Wilhelm kehrte um und öffnete den Zugang zum Zimmer links der Eingangstür. Hier ging es spartanisch zu: ein Bettkasten, ein Schrank, ein Nachtschränkchen mit Petroleumleuchte, ein Stuhl vor einem kleinen Schränkchen mit geöffnetem Deckel. Darin eine Wasserkaraffe und eine Schüssel, daneben ein sauberes Handtuch. Das Zimmer eines Dienstmädchens, nahm Wilhelm an und öffnete die Tür zum Salon.
Geld, dachte er als Erstes, hier hat jemand viel Geld hineingesteckt. Kostbare Läufer orientalischen Stils lagen auf dem ebenso kostbaren Parkett, Rosenholz vielleicht oder Palisander. Ein riesiger Kronleuchter hing über einem Tisch, locker umgeben von blau bespannten Sesseln und einem Sofa. Eine passende Ottomane stand vor einem der beiden Fenster, das andere war geöffnet. Die weiße Stuckdecke ging in ebenfalls weiße Wände über, die kostbare französische Wandbehänge zur Geltung brachten. Auf der rechten Seite rahmten sie einen gusseisernen Ofen, der von einer Siegesgöttin gekrönt war. Eine eingelassene Tür führte vermutlich ins Schlafzimmer. An der gegenüberliegenden Wand standen ein Aufsatzsekretär und eine weitere Sitzgruppe, die nah an einer weiteren Tür abschloss, die zu einem letzten Zimmer zur Straßenfront führen musste. Durch sie waren Stöße von Papier hereingeweht. Rechts der Eingangstür boten zwei verglaste Bücherschränke ihren augenscheinlich kostbaren Inhalt dar.
Der allgemeine Eindruck von Vornehmheit und Eleganz wurde nur in der linken Ecke des Zimmers gestört. Hier befanden sich eine zugehängte Staffelei, ein unaufgeräumter Sekretär, eine Decke mit zahllosen Farbspritzern und durcheinanderliegende Bildbände. Es roch leicht nach frischer Farbe. Wilhelm ging zur letzten Tür.
Kein Mensch war im Zimmer, das mit zwei Fenstern auf die Straße blickte. War das Schlafzimmer von weiblicher Hand geprägt, hatte hier offensichtlich ein Mann das Sagen. Die Decke war zwar in Pastelltönen gehalten, doch die Wände waren, von einem breiten Stucksims abgesehen, in moderner dunkelgrüner Farbe gehalten, die das Mobiliar dezent zur Geltung brachte. Rechter Hand standen zwei schwere Ledersessel vor einem Kamin und umrahmten einen kleinen Beistelltisch. Während die Explosion den Sesseln nichts hatte anhaben können, von einigen Brandlöchern abgesehen, war der elegante kleine Tisch umgeworfen und hatte ein Schachbrett samt Figuren teilweise unter sich begraben. Neben dem weißen, wieder mit Stuck verzierten Kamin standen ein Bücherregal und ein Regal mit zahlreichen Flaschen und Rauchutensilien. Einige Flaschen waren heruntergefallen, mindestens zwei zerbrochen. Der Duft von Hochprozentigem mischte sich mit einem leichten Brandgeruch und etwas, das Wilhelm an den Pulverdampf aus seiner Dienstzeit erinnerte. Was war hier nur geschehen?
Wilhelm blickte sich weiter um. Die Einzelteile einer Wasserpfeife lagen verstreut auf dem Boden. Gegenüber, auf der anderen Zimmerseite, stand ein wuchtiger Eichenschreibtisch vor einem Bücherregal, das die gesamte Breite der Wand einnahm. Bücher und Folianten standen, anscheinend säuberlich sortiert, in ordentlichen Reihen hinter gesprungenem Glas. Im unteren, offenen Teil waren Akten und ein eingelassener Safe untergebracht. Farblich aufeinander abgestimmte Läufer lagen unter beiden Tischen und ließen genügend Sicht auf das aufwendig verlegte zweifarbige Parkett. Zwischen den beiden Fenstern, die zur Straße hinauswiesen, wirkte ein kleiner Sekretär verloren, der als Ablage zu dienen schien. Sämtliche lose Papiere waren im Zimmer verteilt, ein Globus und eine Büste des österreichischen Kaisers waren auf den Boden gefallen. Der Globus war aus seiner Fassung gebrochen, dem Kaiser fehlte das rechte Ohr. Über dem Sekretär hing, nunmehr schief und angesengt, ein Ölporträt, das dieselbe Dame zeigte wie die Skizze im Flur. Das Fenster rechts neben ihr war komplett herausgerissen, die schweren Vorhänge mitsamt der Stange heruntergefallen. In halber Höhe war etwas zu sehen, das Wilhelm für einen Blutfleck hielt. Das linke Fenster hingegen war erstaunlicherweise völlig unversehrt. Vor dem Sekretär, dessen helles Holz versengt war, lag ein kleiner Amboss mit passendem Hammer. Daneben befanden sich kleine Teile, die zu einem Uhrwerk gehören mochten.
Wilhelm kniete sich nieder und nahm den seltsam anmutenden Amboss in die Hand. Von der kostbaren Wanduhr, die dem Porträt genau gegenüber hing und auf ein kleines Sofa herabsah, konnten er und die anderen Teile nicht stammen, denn sie hatte die Explosion intakt überstanden, sah man von ihrem Glas ab, das ebenfalls gesprungen war.
Lautes Trampeln genagelter Stiefel drang an sein Ohr, Stimmen, zunächst im Flur und gleich darauf im Salon.
»Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«, ertönte gleich darauf eine scharfe Stimme, deren Autorität durch heftiges Schnaufen nur unwesentlich gemildert wurde. Sie gehörte zu einem grotesk dicken uniformierten Schutzmann, der schwitzend seinen Tschako vom hochroten Kopf nahm. Sein kurzer Schnauzbart war ebenso feucht wie seine Haare. Es machte den Eindruck, als seien er und sein Kollege, den Wilhelm im Hintergrund mit jemandem streiten sah, den ganzen Weg von der Wache bis hierher gerannt. Der Aufstieg zur Wohnung schien dem Mann den Rest gegeben zu haben.
»Mein Name ist von der Heyden, ich wohne im Haus gegenüber.« Wilhelm richtete sich auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass mittlerweile vier Uniformierte vor dem Haus standen und mit einem großen hageren Mann sprachen, der anscheinend Anweisungen erteilte. »Ich habe die Wohnung aufgebrochen, um zu sehen, ob sich hier vielleicht Verletzte aufhalten. Im ganzen Haus habe ich bisher niemanden angetroffen, es wäre daher –«
»Mir sieht das eher nach Schnüffeln aus«, unterbrach ihn der Schutzmann.
»Und Anweisungen erteilen hier nur wir«, ergänzte sein Kollege, der nun mit Johann das Zimmer betrat. War der eine Polizist einfach fett und ziemlich kurz geraten, war der zweite größer und stämmiger. Zusammen gaben sie ein eindrucksvolles Bild ab. Wilhelm fühlte sich an Karikaturen erinnert, die hier und da an den neuen Litfaßsäulen zu sehen waren, die in ganz Berlin binnen weniger Wochen aus dem Boden geschossen waren.
»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass mein Freund nach dem Gashahn gesehen hat.« Johann wirkte genervt. Unsichtbar für die Schutzmänner verdrehte er demonstrativ die Augen.
»Uns wird immer viel erzählt«, erwiderte der Mann ungerührt, schob die Daumen hinter das Koppel, trommelte mit den Fingern auf dem Schloss und richtete sich hoch auf. »Sie haben geschnüffelt! Haben Sie auch etwas an sich genommen?«
»Natürlich nicht.« Wilhelm war empört. »Ich bin, wie gesagt –«
»Dazu kommen wir später! Auf der Wache werden Sie genug Gelegenheit haben, uns Ihre Version der Geschichte zu erzählen.«
»Und Sie leeren auf der Stelle Ihre Taschen«, ergänzte der erste Polizist, der langsam wieder zu Atem kam. Sein Kopf nahm allmählich wieder eine normale Farbe an.
»Ich muss doch aber protestieren!«, mischte sich Johann erneut ein. »Immerhin haben wir die Polizei rufen lassen.«
»Das wird sich alles aufklären«, sagte eine ruhige Stimme an der Tür. Die Schutzmänner fuhren herum und nahmen augenblicklich Haltung an. Im Rahmen stand ein schlanker Mann mit kurzen dunklen Haaren und sorgfältig gekämmtem Schnurrbart. Ausgeprägte Geheimratsecken wiesen auf ein mittleres Alter hin. Ruhig blickte er umher und ließ seinen forschenden Blick schließlich auf dem Sekretär ruhen. Es machte den Eindruck, als würde seiner Aufmerksamkeit nur wenig entgehen.
Eben noch unten Anweisungen erteilt, jetzt bereits hier oben, dachte Wilhelm beeindruckt.
»Kriminalsekretär Vorweg«, stellte sich der Mann mit einem kurzen Nicken vor. »Und die Herren sind …«
»Ein Herr von der Heyden, nach eigener Aussage wohnhaft im Haus gegenüber«, beeilte sich der dicke Polizist mitzuteilen.
»Und ein gewisser Johann Schmidt, Adresse noch nicht festgestellt«, fügte der größere hinzu.
»Danke, Kwiatkowski. Danke, Grothe.« Vorweg sah sich um. »Schauen Sie nach, ob sich noch andere Personen im Haus befinden, und sorgen Sie dafür, dass niemand diese Wohnung betritt.«
Die Schutzmänner salutierten und stürmten eilig hinaus. Vorweg fuhr mit seiner Musterung des Raumes fort.
»Und Sie befinden sich an einem mutmaßlichen Tatort, weil …« Vorweg ließ den Satz als Frage ausklingen, ohne Wilhelm und Johann besonders zu beachten. Er schritt durch das Zimmer, hob ein Stück Papier auf, blieb kurz vor dem Porträt stehen und strich mit der Hand über den schwarzen Fleck auf dem Sekretär. Kurz roch er an den Fingern, dann entnahm er der Tasche seines Dreiteilers ein Tuch, säuberte sich die Hand und sah fragend auf.
»Wie wir bereits den Schutzmännern mitgeteilt haben, haben wir nach dem Gas und weiteren Personen gesehen, die möglicherweise noch im Haus waren«, sagte Wilhelm.
Vorweg nickte. »Und dazu mussten Sie die Tür eintreten, wie?« Er ging weiter umher. »Ich werde mich jetzt noch etwas umsehen. Wie wäre es, wenn Sie mir in der Zwischenzeit die Geschichte von Anfang an erzählen? Ich rechne in den nächsten Minuten mit dem Eintreffen meines vorgesetzten Kriminalinspektors und wäre dankbar, wenn ich ihm dann bereits einige Informationen zukommen lassen könnte. Das verstehen Sie doch sicher, meine Herren?«
Während Vorweg weiter umherging, hier etwas aufhob, dort etwas betrachtete, berichteten Wilhelm und Johann, was seit der Explosion geschehen war. Vorweg sah sie nicht an, unterbrach sie nicht, stellte keine Zwischenfragen, sondern fuhr unbeirrt mit der Inspektion des Tatorts fort. Eine unangenehme Stille breitete sich aus, als die beiden Freunde mit ihrer Erzählung zum Abschluss kamen und noch immer keine Reaktion des Kriminalbeamten folgte.
Schließlich räusperte sich Vorweg und fragte: »Der Gashahn war also bereits abgestellt, wie?«
Wilhelm nickte. Bevor Vorweg weitersprechen konnte, kam der dicke Polizist eilig ins Zimmer. »Kriminalinspektor Lüdenscheid ist eingetroffen. Er befindet sich in Begleitung des Herrn Kriminaldirektors. Sie kommen soeben die Treppe hoch«, verkündete er außer Atem, wandte sich in Richtung Tür und nahm Haltung an.
»Von Herford?«, murmelte Vorweg und richtete sich auf.
Zwei Männer betraten den Raum und quittierten das Salutieren des Schutzmannes mit einem kurzen Nicken. Der erste Mann trug einen Dreiteiler, hatte schütteres Haar und finstere Augen, die das bartlose Gesicht beherrschten. Der andere Mann mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Halbglatze und grauer Schnurrbart vermochten nicht, den Eindruck von Stärke und Dynamik zu zerstreuen. Hellwache Augen nahmen das Chaos im Zimmer zur Kenntnis, registrierten die beiden Freunde und blieben auf Vorweg ruhen. Leutselig trat der Mann auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Vorweg, ich grüße Sie«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Eine schöne Bescherung haben wir hier, was? Bin zufällig auf Lüdenscheid getroffen und gleich mitgekommen. Basisarbeit hautnah erleben, Sie wissen schon. Was gibt es zu berichten?«
Vorweg setzte zu einer Antwort an, doch Lüdenscheid kam ihm zuvor. »Herr Direktor«, schnarrte er mit einem tiefen Grollen, »ich denke nicht, dass wir diese Angelegenheit vor Zivilisten besprechen sollten.«
Der Kriminaldirektor lachte und zog seine Uniform glatt. »Keine Bange, Inspektor. Vor diesen Männern können wir offen reden. Wie geht es uns denn so, junger Mann?« Von Herford trat auf Wilhelm zu und schlug ihm auf die Schulter. »Bin eigentlich auf dem Weg ins Ministerium, daher das Lametta«, fuhr er fort und erwiderte den Gruß Wilhelms mit einem Nicken. Dann registrierte er die verwunderten Blicke seiner Untergebenen. »Lüdenscheid, nun schauen Sie nicht so! Das ist Wilhelm von der Heyden, der Sohn eines meiner ältesten Freunde. Habe ihn etwas unter meine Fittiche genommen, nicht dass es nötig gewesen wäre. Hat bei mir Kriminalwissenschaften belegt, und das zusätzlich zum Strafrecht. Könnte ein brillanter Kopf werden. Was hat Sie eigentlich hierher verschlagen?«
Während Lüdenscheid missgelaunt brummte, verfolgte Vorweg den Auftritt seines höchsten Vorgesetzten stumm und aufmerksam.
Wilhelm berichtete noch einmal, was geschehen war. Vorweg rührte sich ebenso wenig wie sein vorgesetzter Inspektor, während Herford nachdenklich an seinem Schnauzbart zog.
»Eine Bombe also?«, fasste er zusammen.
»Ganz recht, Herr Direktor«, sagte Vorweg ruhig. »Die Bombe stand vermutlich auf dem Sekretär, die Reste eines Uhrwerks könnten ein Zeitzünder gewesen sein. Und ich nehme an, dass der Täter selbst das Gas abgedreht hat, damit nicht das ganze Haus in die Luft fliegt.«
»Der Kamin dort drüben wird mit Gas betrieben«, ergänzte Wilhelm.
Während Lüdenscheid erneut brummte, sah Vorweg ihn finster an. »Das Opfer muss hier am Fenster gestanden haben, als die Bombe explodierte. Die Sprengwirkung war ziemlich stark, aber eine große Hitzeentwicklung ist nicht zu verzeichnen. Mir ist noch nicht ganz klar, wie so etwas geschehen kann.«
»Die Bombe war in einem Päckchen.« Wilhelm sah auf einige Fetzen Packpapier, die angekohlt auf dem Fußboden lagen. »Ich nehme an, dass die Dame hereinkam und das Fenster öffnete –«
»Sie nehmen an?« Lüdenscheid schob sich vor und hatte offensichtlich vor, den vorlauten jungen Mann in seine Schranken zu weisen. Vorweg beobachtete interessiert, wie Herford nur knapp den Arm hob und Lüdenscheid stehen blieb.
»Fahren Sie fort, Wilhelm«, sagte der Direktor.
»Als die Bombe explodierte, wurde das Opfer nach rechts geschleudert und stieß wohl mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen.« Wilhelm wies auf den Blutfleck. »Der Explosionsdruck muss sie so weit angehoben haben, dass sie nach dem Aufprall zurück in Richtung Fensterbank und anschließend aus dem Fenster hinausfiel. Viel Sprengstoff kann aber nicht vorhanden gewesen sein. Es gibt hier viel brennbares Material, und das hätte bestimmt Feuer gefangen.«
»Knallzucker?«, ließ sich Johann vernehmen.
»Wie bitte?«, fragte Lüdenscheid, zunehmend ungehalten über die Anwesenheit der beiden Zivilisten.
»Es könnte Knallzucker gewesen sein«, fuhr Johann fort. »Das ist ein Gemisch aus sechzehn Teilen konzentrierter Schwefelsäure, acht Teilen Salpetersäure und einem Teil Rohrzucker. Der Teig wird geknetet und anschließend gekühlt. Irgendwann wird das Gemisch hart und explodiert bei harten Schlägen schnell und rückstandslos.«
»Auszulösen etwa mittels eines Ambosses«, schloss sich Wilhelm den Ausführungen an.
Sichtlich beeindruckt nickte Herford. »Ihr Freund scheint ebenso brillant wie Sie zu sein, mein lieber Wilhelm. Vielleicht sollten wir auch für ihn eine passende Verwendung suchen. Apropos, Wilhelm – haben Sie sich mein Angebot überlegt?«
Unsicher sah Wilhelm in die Runde. »Ich habe mit meinem Vater noch nicht im Detail über meine Zukunft gesprochen. Vom Polizeidienst ist er jedenfalls nicht begeistert.« Ihm entging nicht, wie Vorweg aufmerkte und ihn aufmerksam musterte.
»Darüber reden wir später. Nehmen Sie sich ein Beispiel an der Beobachtungsgabe der jungen Männer, meine Herren«, wandte Herford sich an seine Kollegen. »Was wissen wir über das Opfer?«
»Laut Pass eine Österreicherin. Beatrice Gräfin Wassilko von Kerecki«, sagte Vorweg und reichte Herford ein Dokument. »Sie wohnt hier mit einem Josef Baron Holly auf Mersdorf aus Schlesien. Er ist ebenfalls Österreicher.« Ein weiteres Dokument wurde Herford in die Hand gedrückt.
Lüdenscheid zog tief die Luft ein.
Herford starrte ungläubig auf die Pässe. »Meine Güte«, sagte er schließlich. »Das ändert die Sachlage natürlich.« Er reichte die Papiere an Lüdenscheid weiter.
»Unterzeichnet sind beide Pässe übrigens ebenfalls von einem Kerecki«, fügte Vorweg hinzu. »Die Namen sind mir unbekannt, dennoch muss ich von einer Verwandtschaft ausgehen.«
»Das stimmt. Die Kereckis sind ein uraltes Geschlecht mit Verbindung in die höchsten Kreise des Hofes in Wien.« Herford schüttelte unwirsch den Kopf. »Diesen Leuten gehört faktisch die Bukowina, und einer von ihnen ist Staatssekretär im Wiener Außenministerium.«
»Dann wird der wohl die Pässe unterschrieben haben«, meinte Vorweg.
»Davon ist auszugehen.« Herford nickte, überlegte lange und straffte sich schließlich. »Vorweg, durchsuchen Sie mit den Schutzmännern die Wohnung. Alles, was geschrieben ist, will ich auf meinem Schreibtisch haben. Notizbücher, Kalender und so weiter. Gedruckte Bücher fallen, wie ich ausdrücklich betonen möchte, nicht in diese Kategorie.« Herford musterte den dicken Schutzmann, der stramm salutierte. »Ich möchte nicht wieder ein Drama wie letztes Jahr erleben. Eintausendundfünfzig Bände! Als Beweismaterial! Mein Gott!«
Herford schien sich in Rage zu reden und bemerkte erst jetzt Wilhelms und Johanns Blicke. »Ein Fall aus dem letzten Jahr. Unsere Freunde von der Schutzwache haben doch tatsächlich Bücher als schriftliches Beweismaterial gesichert und auf die Wache geschleppt. Zwei Zimmer waren tagelang nicht zugänglich!«
Herford atmete durch. »Aber ich will mich nicht aufregen«, fuhr er ruhiger fort. »Jetzt stehen wir vor einem anderen Problem.«
Er sah sich im Zimmer um und fasste schließlich einen Entschluss. »Ich ziehe die Sache an mich. Vorweg, Sie sind für den Tatort verantwortlich. Die Wohnung bleibt gesperrt und wird bis auf Weiteres bewacht. Sie sammeln alle interessanten Hinweise und bringen sie direkt zu mir. Suchen und finden Sie diesen Mersdorf. Rapport morgen neun Uhr in meinem Büro. Lüdenscheid, Sie übernehmen den Fall in der Neuenburger Straße, ich will Vorweg hier dabeihaben. Dieser Fall hat ab sofort oberste Priorität.«
Herford ging zur Tür und drehte sich noch einmal um, während Lüdenscheid einen finsteren Blick auf Vorweg warf. »Wilhelm, ich möchte Sie morgen in meinem Büro sehen, sagen wir gegen zehn Uhr? Und auch Sie, Johann. Ihre Fähigkeiten werden möglicherweise in einem höheren Interesse benötigt. Kommen Sie, Lüdenscheid, ich muss ins Ministerium.«
Die Männer verließen den Raum. Als ihre Schritte im Flur verklangen, sah Wilhelm Vorweg an. »Dürfen wir uns auch empfehlen?«
Vorweg nickte bedächtig. »Ihre Adressen habe ich. Und wir sehen uns augenscheinlich morgen früh wieder. Das könnte interessant werden, meinen Sie nicht?« Er wandte sich an den Polizisten und befahl ihm, seine Kollegen von der Straße zu holen. Dann drehte er sich zum Fenster. »Noch hier, meine Herren?«