Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2021

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Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2021

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0194-6

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0217-2 (EPUB), 978-3-7495-0219-6 (PDF), 978-3-7495-0218-9 (EPUB für Kindle).

Dieses Buch erscheint parallel als E-Book.
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Vorwort

Im vorliegenden Buch möchten wir Ihnen einen Ansatzpunkt, viele Ideen und einige Tools dafür vorstellen, wie Sie Ihre gewohnte Supervisionspraxis ergänzen können – um Elemente, die sie zu einer Praxis machen, die traumasensibel genannt werden kann. Traumasensibilität, so unsere Überzeugung, die sich in zwei Jahrzehnten Lehrtätigkeit und Supervision gefestigt hat, ist in allen supervisorischen Ansätzen, in allen Feldern unserer Arbeit von unschätzbarem Wert. Sie fördert die Verarbeitung von belastenden Erfahrungen und erleichtert den Umgang mit Krisen.

Dies ist kein Lehrbuch für eine traumaspezifische Supervisionsausbildung, sondern ein Buch für alle, die schon Erfahrung im supervisorischen Handwerk gewonnen haben, dies aber um einige neue Pfeiler erweitern wollen, um dem allfälligen Thema Traumatisierung gerecht zu werden, ohne Expert*innen in Traumadiagnostik und -behandlung zu sein oder werden zu müssen.

Dass dies bedeuten kann, liebgewordene Gewohnheiten, Methoden oder Sichtweisen zu hinterfragen oder gar zu verändern, sei hier warnend vorangestellt.

Seit der ersten Idee hat sich das Thema des Buches und damit das Buch selbst verändert und entwickelt. Das geschah entlang der uns umgebenden Realitäten. Ursprünglich wollten wir die traumasensible Arbeit, wie wir sie in dem neuen Curriculum für ausgebildete Supervisor*innen vermitteln, darstellen und zusammenfassen. Das Buch sollte zum einen ein kleines Nachschlagewerk für die Kolleg*innen aus den Weiterbildungen sein, um das Gelernte noch einmal aufrufen zu können. Zum anderen hätte es für gestandene Supervisior*innen eine Möglichkeit bieten können, sich den Tools und der Grundhaltung, die wir vermitteln wollen, anzunähern und sich eingehender mit den Fragestellungen und Herausforderungen traumasensibler Arbeit auseinanderzusetzen. Viele Menschen nutzen ja auch unser weiterbildungsbegleitendes Handbuch Traumakompetenz erfolgreich als Nachschlagewerk für „Neulinge“ und „alte Hasen“ (Hantke & Görges 2012).

Doch schnell war klar: Dieser Ansatz reicht nicht mehr, wir müssen weiter und anders denken. Da ist zum einen das, was unter dem Schlagwort „Klimawandel“ zusammengefasst werden kann. Auswirkungen menschlichen Handelns, die sich in anderen Ländern und Gegenden bereits sehr viel deutlicher zeigen als bei uns: Überschwemmungen, Stürme, Trockenheit, Brände, Heuschreckenplagen etc. In die Planungen zu diesem Buch fielen zum anderen ein weiterer langer und sehr heißer Sommer und die Aktivitäten von Fridays for Future und Extinction Rebellion. Wir hatten den zwingenden Eindruck, unsere Arbeit in einen neuen Rahmen stellen zu müssen.

Welche Rolle wollen wir einnehmen? Es kann ja nicht angehen, dass wir den Umgang mit unserer Zukunft auf private Entscheidungen wie Flugverzicht und eine Umstellung auf vegane Ernährung reduzieren. Wo kommt unsere Profession, der traumasensible, hypno-systemisch geleitete Diskurs ins Spiel? Wie lässt sich die Klimawende in unserer Arbeit abbilden? Wie lässt sich die Permanenz von Krisen und Umwandlungsprozessen, in denen kein Status quo mehr fixiert werden kann, traumasensibel wahrnehmen, darstellen und supervisorisch begleiten? Wie kann man einen Über-Blick gewinnen, wenn nach und nach unsere gewohnten Lebensgrundlagen wegbrechen?

Diese Veränderungen treffen uns – wieder einmal – nicht alle gleich. Ständiger Wandel und existenzielle Bedrohung sind nur für einen kleineren Teil der Menschheit neue Herausforderungen. Der weit größere Teil ist bereits permanent mit unabsehbaren Veränderungen und lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert – und oft genug hängen diese von Entscheidungen und dem Lebensstil des kleineren Menschheitsteils ab. Ob als Geflohene aus allen Kontexten vertrieben oder als Reisbäuerin hinweggeschwemmt: Welche Copingstrategien haben diese Menschen entwickelt? Was können wir lernen, wenn wir den Kontakt aufnehmen – zu unseren eigenen Privilegien und Positionen und zu denen, die oft genug davon abhängig sind bzw. darunter leiden? Können wir noch gemeinsam lernen, wenn wir uns der Unterschiede bewusster sind? Können wir lernen, sie zu nutzen?

Wir müssten uns zunächst der Notwendigkeit stellen, unsere eigene limitierte und limitierende Position wahrzunehmen: als mittelständische weiße Bio-Deutsche mit Hochschulzugang – „Mehrheitsgesellschaft“ und immer noch diskursbestimmend. Wir müssten uns der Limitiertheit unserer Ansätze und Möglichkeiten klar werden und mit der Angst umgehen, die das verursacht; uns Offenheit erarbeiten und einen Umgang mit Infragestellung, Schuldgefühlen, Privilegien. Nachfragen, ob wir fragen dürfen, welche Bewältigungsmechanismen uns helfen könnten, ob wir uns etwas abschauen dürfen …

Angesichts dieser Themen und Fragen scheint das Thema Supervision weit hinten zu stehen. Wie soll in einem Szenario, das sich jeder Einschätzung und Einordnung in Gewohntes verweigert, Übersicht entstehen und eine Draufschau möglich sein?

Wir zweifelten also generell am Sujet und zogen die ersten neuen Samen auf der Fensterbank, als das Coronavirus sich selbstständig machte. Wir kauften Solarpaneele. Gummistiefel für die Enkel. Gute Fahrräder. Stellten die Weiterbildungen auf online um und richteten uns ein. Eine neue Normalität wurde etabliert und wir gehörten zu denen, deren Ressourcen und Privilegien Anpassung ermöglichten. Das meiste ging weiter. Auch die Supervision.

Gerade noch hatten wir versucht uns vorzustellen, wie die ganz große Krise supervisorisch konzeptualisiert werden könnte, und schon waren wir mittendrin: In einer bis dato noch sehr leichten Form, einer scheinbar homöopathischen Dosis der zu erwartenden Krise(n), in der wir unsere eigene Reaktion wahrnehmen und die unseres Klientels beobachten und begleiten konnten. Traumasensible Supervision in der Krise war jetzt in allen unseren Arbeitskontexten präsent, denn plötzlich war alles unsicher: das Setting, die Art des Kontakts, die benötigten Ressourcen und die Frage, wo das alles hinführen soll.

Im Tun selbst, in der Suche wurde deutlich: Längst hatten wir die Spur aufgenommen, den Zusammenhang im Handeln hergestellt. Supervison in der Krise muss traumasensibel sein. Denn in unserem Verständnis heißt traumasensibel vor allem, präventiv zu handeln, Traumafolgestörungen zu verhindern. Die dissoziationsbasierte Traumatheorie, die wir Ihnen hier vorstellen möchten, ist vor allem eine Theorie der Verarbeitung. Krisen fordern unsere Verarbeitungskapazitäten heraus. Hier entscheidet sich, ob eine Neuorientierung gelingt. Hier entscheidet sich aber auch, wie wir mit den Symptomen aus der Überforderung umgehen.

Wenn die Krise alle umfasst, ein Ende nicht in Sicht ist, muss Supervision neu gedacht und auf neue Weise durchgeführt werden. Der analytische Blick muss neu definiert werden, wenn ein Überblick nicht möglich ist. Wir müssen den Bestand überprüfen, die Lagerware aussortieren und zielgerichtet neue Ressourcen hereinnehmen und ausprobieren.

Damit wollen wir hier anfangen. Wir wissen nicht, wie das alles aufzulösen ist. Wenn diese Zeilen geschrieben sind, werden sie kein endgültiges Konzept abgeben. Es ist ja gerade das Wesen der Krise, dass wir uns immer wieder neu bestimmen. Was Sie hier lesen ist also – Stand heute – unser Beitrag in einem neuen Diskurs, und unser Augenmerk wird darauf liegen, wie wir eine Krise, deren Ende nicht absehbar ist, traumasensibel fassen können, wie trauma- und krisensensible Standards formuliert werden können, die offen bleiben für Veränderung. Ausgangspunkt dieser Annäherung sind wir selbst, mit unseren jeweiligen Standpunkten. Wir können keine Antworten erwarten, wenn wir nicht bereit sind, uns infrage zu stellen bzw. stellen zu lassen. Und mit der traumasensiblen Brille betrachtet: Wir können nicht integrieren, wenn wir uns nicht klar werden, was unsere alten Muster sind – soziopolitisch wie traumaassoziiert.

Was Sie in diesem Buch finden

Es geht uns darum, den Supervisionsprozess um grundlegende Variablen eines ressourcenorientierten Verständnisses dessen zu bereichern, was die neuere Traumatheorie und -praxis an Erkenntnissen bereithält. Diese Erkenntnisse beziehen sich nicht nur auf Menschen, die eine traumaassoziierte Diagnose bekommen haben. Denn: Die dissoziationsfundierte Traumatheorie, die die Diskurse seit etwa 30 Jahren zunehmend bestimmt, ist keine Störungs-, sondern eine Verarbeitungstheorie. Und egal, was in unserem Leben passiert: Wir verarbeiten – wir alle.

Mit diesem Buch wenden wir uns an diejenigen, die in der Beratungs-, Coaching- und Supervisionsarbeit vor allem indirekt mit Menschen arbeiten, die hohen Belastungen ausgesetzt waren und / oder es noch sind. Doch in vielen Fällen gehören auch Ihre Supervisand*innen zu diesen Belasteten, aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen oder eigener Hintergründe und Zusammenhänge. Auch Sie selbst sind nicht gefeit gegen Überlastung, haben Ihre eigenen Motive für diese Arbeit. Und je tiefer sich die Krisen auch in unsere Gesellschaften fressen, desto deutlicher wird es zu einer Querschnittsaufgabe, Verarbeitung fördern und Traumatisierung vorbeugen zu können.

Wir selbst sind seit vielen Jahren als Supervisor*innen und ebenso lange als Weiterbildner*innen in traumasensibler Arbeit tätig. Unsere Supervisionsprozesse definieren wir schon lange als traumazentrierte Supervision, weil ein Bezug zur Theorie der Verarbeitung von Belastungen für uns eine notwendige Basis fast aller Prozesse ist. Denn schließlich soll Supervision genau dies gewährleisten: ein leichteres, flüssigeres, integrierteres Handeln. Ein Handeln ohne dissoziative Prozesse, traumatheoretisch benannt. Doch dazu später.

Für uns selbst war der Einstieg in die traumazentrierte Supervision zunächst noch themenzentriert und unsere Praxis war am jeweiligen Auftrag aus dem spezifischen Setting orientiert. Irgendwann merkten wir: Keins unserer Angebote können wir uns mehr ohne den neuen Blick auf Verarbeitung vorstellen, ohne den Blick, den die Dissoziationstheorie bereitstellt. Immer weniger ging es dabei um Fallverstehen oder theoretisches Wissen zu bestimmten Störungsbildern, immer zentraler wurde die Erkenntnis, dass wir mit der Anwendung der neueren Traumatheorie ein grundlegenderes Verständnis für menschliche Verarbeitungsprozesse in der Hand haben. Und genau darum geht es in diesem Buch.

Wir werden uns zunächst mit der Supervision beschäftigen, mit dem Fokus, herauszufinden, wie unser Vorverständnis der Draufschau und des Überblicks sich öffnen kann, um neue Wege der Verarbeitung zu finden. Wie könnten Differenzen einbezogen werden? Wie könnte die Idee, ergebnisoffen in die Supervision zu gehen, vereinbart werden mit den Prämissen aus einer traumasensiblen Theorie? Was eine traumazentrierte von der von uns hier vorgeschlagenen traumasensiblen Arbeit unterscheidet, ist der Fokus auf die Verarbeitung und nicht so sehr der Fokus auf die Störung.

Warum wir das so wichtig finden und was die Unterscheidung zwischen der alten störungsspezifischen Herangehensweise und der weiter gefassten Traumasensibilität sein kann, erläutern wir Kapitel 2.3 (Trauma – Krise – Belastung). Sie finden hier ein Grundverständnis der Dynamiken, die aus unverarbeiteter Belastung entstehen und die wir ganz allgemein Traumafolgestörungen nennen wollen. Und hier wird es spannend. Traumafolgestörungen basieren auf dem Einsetzen eines Mechanismus, der in der beraterischen und supervisorischen Praxis noch viel zu wenig Beachtung findet: Dissoziation. Letztere zu verstehen kann uns vor allem helfen zu erkennen, wie sich Verarbeitung fördern lässt.

Die komplexen neurologischen Zusammenhänge haben wir stark komprimiert. Wir stellen Ihnen Modelle vor, deren Alltagstauglichkeit sich in den letzten zwanzig Jahren oft erwiesen hat. Sie geben Ihnen Anhaltspunkte für die Einordnung symptomatischer Prozesse und dissoziativer Phänomene, ohne dass Sie zu Expert*innen für Traumadiagnostik werden müssen. Wir werden Ihnen dazu das Zusammenspiel zwischen evolutionär sehr alten Strukturen unseres Körpers und sehr wichtigen neueren Beteiligten wie der Großhirnrinde erläutern. Letztere steht für Verständnis, Wille, Einsicht und Regulierung und – das haben Sie selbst schmerzlich erfahren – sie ist nicht alles, was uns ausmacht.

Diese sensible Zusammenarbeit zieht sich durch alles Weitere. Wir sind als Menschen deshalb so fragil und störanfällig, weil wir sehr anpassungsfähig sind. Wir adaptieren unsere Umwelt und sind doch abhängig von ihr. Wir übernehmen Muster, auch und gerade aus Strukturen unserer Kindheit. Wir formen uns aus dem, was wir verdauen, in Sprache, Werten, Privilegien und Belastungen. All das bestimmt den eigenen Standpunkt. Wenn wir gemeinsam nach neuen Wegen suchen, könnten wir Möglichkeiten finden, uns und anderen klarzumachen, was wir selbst im Gepäck haben, an hinderlichen, traumaassoziierten Mustern ebenso wie an Fähigkeiten und Copingstrategien, Privilegien oder Unterdrückungserfahrungen, in denen wir gelernt haben.

Wir stellen Ihnen dann trauma- und krisensensible Standards für die Arbeit vor. Sie sind schon lange die Basis unserer Arbeit, aber erst in diesem Buch formulieren wir sie aus. Es zeigt sich, was die Dissoziationstheorie für den Alltag zu bieten hat. Doch wenn man davon profitieren will, geht es nicht ohne Veränderung.

Und wieder sind Sie der Ausgangspunkt. Durch Ihre Präsenz entsteht Raum. Es geht darum, …

In vielen Übungen und Beiträgen zu einzelnen Aspekten Ihrer Arbeit setzen wir in übersichtlichen Portionen die Standards für die supervisorische Tätigkeit um. Hier finden Sie

Für die Anleitungen haben wir eine gleichbleibende Struktur gewählt: eine kurze Übersicht, die Nutzungsmöglichkeiten für Supervisor*innen, Supervisand*innen und deren Klient*innen und dann – meist für den Teamkontext – ausgeführt.

Ein Fazit schließlich schafft den Ausblick. „Um Optimist zu sein, muss man auch Aktivist sein heutzutage.“1 Fangen wir einfach als Supervisor*innen an.

Den eigenen Standpunkt und die eigenen Privilegien zu hinterfragen, ist schwierig. Manche Standpunkte sind so selbstverständlich, dass wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Verfremdung, Übertreibung, Regelbruch oder Verlassen der ausgetretenen Pfade können einen Perspektivwechsel ermöglichen und einen Anlass für die Diskussion mit anderen bieten. Dazu sollen die zufällig in den Text geworfenen Kugeln ™ mit Fragen, Anregungen und Zumutungen dienen. Vielleicht mögen Sie ja einiges ausprobieren.


1  Der Regisseur Falk Richter am 26.8.2020 in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur (Studio 9) zu seinem Stück „Five Deleted Messages – die Pandemie als kafkaesker Albtrauma“ vor der Eröffnung des Kunstfests Weimar am 27.8.2020.

3. Standortbestimmung

3.1 Der Standpunkt bestimmt die Perspektive

Der Ausgangspunkt unserer Annäherung an andere, an unsere Arbeit, an Theorien und an Krisensituationen sind immer wir selbst, mit allem, was uns als Menschen und Professionelle ausmacht. Das sind unsere individuellen und beruflichen Hintergründe, die Erfahrungen der Familie, des Zusammenhangs, der kulturellen Umfelder, in denen wir herangewachsen sind, die sozioökonomischen, ökologischen, gesundheitlichen und klimatischen Bedingungen, in die wir geboren wurden und die wir im Lauf unserer Jahre verändert (erlebt) haben.

Auch die Fragen, die wir stellen, erwachsen aus dieser Perspektive. Wir arbeiten mit den Methoden, die sich aus unserer Sicht bewährt haben und uns für die Klient*in passend erscheinen. Dabei bleiben wir notwendigerweise in dem Rahmen, den wir erlernt haben. Oft verlassen wir die Grundlagen, die uns in den ersten Jahren vor allem nonverbal als kulturelle und sprachliche Übereinkünfte mitgegeben wurden, kaum, reflektieren sie nur im Not- oder Ausnahmefall, mit Sicherheit erst mit zeitlichem Abstand. Etwas anders zu tun bedarf der Entscheidung, der Auseinandersetzung und der Notwendigkeit, seien sie persönlicher, ökonomischer oder intellektueller Natur.

Raum und Zeitwahrnehmung sind wesentliche Kriterien unserer Weltwahrnehmung, der Selbstverständlichkeiten, mit denen wir in die Welt gehen. Diese individuellen Erfahrungen sind so frühe Mitteilungen unserer Bezugsgruppen, Kultur und Gesellschaft an uns, dass wir sie zeitlebens erst dann hinterfragen, wenn wir anderen Wahrnehmungen begegnen, uns von ihnen infrage stellen lassen.

In den letzten Jahren wurde im Zuge der neu aufgegriffenen Sexismus- und Rassismusdebatten auch die Frage nach den Privilegien der Herrschaftskultur, wie auch immer und wie jeweils unterschiedlich definiert, aufgegriffen. Wir wollen hier keine politisch-philosophischen Diskurse führen, aber wir wollen aufgreifen, was sich aus unserer Wahrnehmung dieser Diskurse für das traumasensible supervisorische Handeln ergibt.

Standort und Standpunkt entwickeln sich aus den frühen Erfahrungen und dem Hineinwachsen in unsere Umgebung. Wir nehmen Rollen ein und setzen uns ins Verhältnis. Wir haben sichere Ausgangspunkte oder prekäre Lebensverhältnisse. In keinem Fall sind wir allein überlebensfähig. Wir definieren uns – bewusst oder unbewusst – durch einen Platz in unserer Gesellschaft, der sich neben dem Platz anderer Menschen und anderer Positionen befindet. Vielleicht auch oberhalb der Positionen anderer? Unterhalb? Wer definiert die Perspektive, wer die Ordnung? In jedem Fall setzt sich unser Blickpunkt – im übertragenen wie im ganz konkreten Sinn – aus dem zusammen, was in unseren Standpunkt eingeflossen ist. Jede Perspektive ist einzigartig, und doch nutzt sie gemeinsam mit anderen die Strukturen unserer Gesellschaften, strukturiert sie dadurch immer wieder neu.

Gehen Sie morgens ohne Zahlungsmittel aus dem Haus.

Wir definieren gesellschaftliche Positionen, Perspektiven und Standpunkte mithilfe unterschiedlichster Kategorien: Klasse / Kaste / Schicht, Geschlecht / Gender, Rasse / Ethnie / Hautfarbe, Wohnort, Herkunft, Sprache, Alter, Gesundheitsstatus, kognitive Fähigkeiten, Bildungsniveau, Privilegien, Familienstand / Familiengröße, Sucht / Abhängigkeit, Zugang zu Produktionsmitteln, Kapital, Eigentum, Glück, Freiheit, Verfügung über die eigene Arbeitskraft, Zugang zu Waffen, Kraft / Macht / Position innerhalb einer Gruppe, Zugang zu kognitiven und körperlichen Fähigkeiten und deren Entwicklung, Zugang zu Nahrungsmitteln / Wasser / Luft etc. Diese Begriffe sind für die Eigendefinition unterschiedlich wichtig, und die Fremddefinition wird andere Begriffe aufrufen, als wir es in der Selbstbeschreibung tun. Wir brauchen die Konfrontation mit anderen Positionen, um unsere eigene erfassen zu können. Es muss von irgendwoher eine Verunsicherung meiner Welt und Wahrnehmung passieren, sonst kann ich nicht wahrnehmen, wie ich wahrnehme.

Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht dem Erwarteten und Erwartbaren entsprechen. Deshalb führen sie dazu, dass ich meinen Standpunkt und meine Erwartungen reflektieren und mich fragen kann, wie sie sich zusammensetzen und was sie an Ressourcen für mich und andere bereitstellen können. Nur, was ich im Hier und Jetzt wahrnehme, kann ich verändern. Aber will ich das?

Für mich (H.-J. G.), der als weißer, mittelständischer mitteleuropäischer Mann aufgewachsen ist, ist eine solche Veränderungsmotivation nicht sehr naheliegend. Da unsere Gesellschaft patriarchal und kapitalistisch strukturiert ist, legt sie mir nahe, meine Privilegien zu nutzen statt sie mit der Übernahme anderer (fremder) Perspektiven infrage zu stellen oder womöglich gar auf meine eigenen Privilegien zu verzichten. Ein Verzicht käme dem Zurückweisen einer Mahlzeit gleich, die ich jederzeit wieder erhalten kann und nur zum Wohle meiner eigenen Gesundheit oder eines Mit-Essers an einen anderen Platz verschiebe. Der Handelnde bleibe immer ich.

L. H.: Können wir überhaupt auf unsere Privilegien verzichten? Die grundlegendsten Privilegien sind ja schwer veränderbar: Hautfarbe, Geschlecht, Alter, körperliche Verfassung, Herkunft, Staatsangehörigkeit. Sie gewähren uns in unterschiedlicher Weise den Zugang zu Glück, Essen, Arbeit, Wasser, Luft, Gesundheit und Bildung.

Alle scheinbar veräußerbaren Privilegien ergeben sich aus der unterschiedlichen Bewertung der primären Privilegien: Dir als weißem Mann wird immer wieder der Hauptpart an unseren gemeinsamen beruflichen Tätigkeiten zugeschrieben, auch wenn ich den Löwinnenanteil erdenke und verdiene – einfach, weil da noch ein Mann ist. Dann muss es wohl letztlich an ihm liegen. Mich als alternde Frau umgibt kein Nimbus des Best Agers. Dafür sinkt mit dem Alter die alltägliche Angst vor Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung. Beides kennst du nicht. Und wir beide haben aufgrund unserer normgerechten Körper und weißen Haut noch nie erfahren, wie es sich anfühlt, mit permanenten Anfeindungen und Abwertungen im Alltag – ohne Ansehen der Person – umgehen zu müssen. Wir sind zum privilegierten Zeitpunkt in einem der reichsten Länder der Erde geboren und allein deshalb mit einer Unmenge von Privilegien ausgestattet worden, die wir verdammt schwer auflösen können.

Auf dieser Grundlage sind wir die geworden, die wir sind, und der einzige – wenn auch unleugbare – Hauptwiderspruch ist der zwischen Mann und Frau. Wir sind psychosozial-ökonomisch-ökologische Gewinner*innen, ohne diesen Kampf jemals gefochten zu haben.

Sollten wir diese Privilegien nicht nutzen, um die Handlungsspielräume auch der Menschen zu erweitern, die in unserer Gesellschaft mit weniger Möglichkeiten ausgestattet sind? Ist das dann Pater- oder Maternalismus? Ist es nicht so, dass wir einfach nicht rauskommen aus dem Spiel und deshalb mit offenen Karten spielen müssen?

Ausgangspunkt traumasensiblen Handelns ist immer die eigene Präsenz, die eigene Orientierung im Raum; wir werden das in den Standards noch einmal aufgreifen. Eine gelingende Selbstverortung ist folglich unabdingbar. Nur indem wir uns klar machen, welche Einflüsse unsere Wahrnehmung definieren und was sie für unser Sein und unsere Möglichkeiten in der Welt bedeuten, können wir uns in den unterstützenden Kontakt mit anderen begeben, die andere Hintergründe haben. Uns der eigenen Perspektive klar zu werden, heißt wahrzunehmen, was sie einschränkt. Und den eigenen Standpunkt klar zu machen, heißt das Terrain zu übersehen, das wir einnehmen, aber auch unsere Grenzen definieren zu können. Erst dann können wir an diese Grenzen gehen und Kontakt zu denjenigen aufnehmen, die auf der anderen Seite stehen, gemeinsame Gebiete erklären, Zugehörigkeiten verhandeln, gemeinsame Unternehmungen planen. Dass dies bei aller Selbstbewusstheit kein einseitiger Akt sein kann, versteht sich von selbst. Wie beschränkt unsere Mittel dazu sind, macht schon die Einengung durch die Begrifflichkeiten der von uns internalisierten Sprache deutlich. Wir können sie nur im Austausch erweitern.

3.2 Frühe Entwicklung

Unser Gehirn und seine Verknüpfungen entwickeln sich maßgeblich im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren. Der Hippocampus ist erst mit Ende des dritten Lebensjahrs vollständig entwickelt, das Zusammenspiel mit der Großhirnrinde braucht Jahre, bevor es ausreichend erprobt ist. Das korrespondiert im Übrigen mit der Wahrnehmung, dass unsere Erinnerung nicht sicher vor das dritte Lebensjahr zurückreicht. Das egozentrische Weltbild verliert sich erst um den Schulbeginn herum, abstraktes Denken wird erst möglich, sobald die Koordination zwischen den verschiedenen Gehirnregionen optimiert ist. Viele und entscheidende Jahre unseres Lebens basiert unsere Orientierung in der Welt auf nonverbaler Kommunikation und Rückversicherung durch einen Blick auf andere. Sind sie ruhig, bleiben wir es auch.

Die Entwicklung des Gehirns und die der Kooperation von Denker*in und Häschen ist störanfällig und bedarf der stetigen Unterstützung und Regulation von außen durch die erwachsenen Bezugspersonen. Ein Baby merkt nicht, dass es Hunger hat. Das, was wir später Hunger nennen, überfällt es unangekündigt und Schreien ist sein einziger Ausweg. Hoffnung hat eine Vorstellung von Zukunft zur Voraussetzung, sodass die Abhängigkeit von der zügigen und angemessenen Beantwortung des Schreis absolut ist. Relativierung kann es nur geben, wenn man Unterschiede ausmachen kann. Wenn niemand kommt, bleiben nur Hilflosigkeit, Einsamkeit und Schmerz. Erst wenn die Beantwortung des Schreis zuverlässig hunderte Male stattgefunden hat, kann die vertraute Stimme aus dem Nebenzimmer („Ich komme gleich“) ein paar Sekunden Innehalten auslösen, bevor der Schrei sich erneut Bahn bricht, weil mehr als Zögern noch nicht geht. Gelingende Selbstberuhigung setzt jahrelanges Training voraus, und die Qualität der Trainer*innen ist, wie wir wissen, hier entscheidend. Wir lernen nur am Beispiel, wie das Häschen beruhigt werden kann.

Abbildung 8: Das Häschen beruhigen (aus: Hantke & Görges 2012; Grafik: Kai Pannen)

Der Ressourcenbereich eines Menschen ist wie bei jedem Säugetier im Kindesalter von der Qualität der Versorgung abhängig. Eine Regulation von Spannung und Affekten ist für Babys und Kleinkinder zunächst nur von außen möglich, durch fürsorgliche Erwachsene oder größere Kinder. Selbstberuhigung oder eigene Anregung ist auf ein Schaukeln des Körpers, das Fingerlutschen oder Schreien beschränkt. In dem Maß, wie die Erwachsenen die Aufgabe der Regulierung übernehmen, lernt das Kind, sie auf sich selbst anzuwenden, wenn es weit genug entwickelt ist. Die Denker*in entwickelt sich genauso, wie die Reaktionen des Säugetierkörpers sich an die jeweilige Normalität anpassen. Im besten Fall wächst ein breiter Ressourcenbereich. Doch jede Notfallreaktion macht ihn wieder schmaler.

Sprechen Sie einen Tag lang auch dann nicht, wenn Sie angesprochen werden.

Je besser die Zusammenarbeit zwischen Denker*in und Häschen funktioniert, desto eher kommen wir auch in komplexen Lebenssituationen mit den Anforderungen zurecht. Empathie, die Fähigkeit, mich in das Erleben meiner Supervisand*innen einzufühlen, setzt zunächst voraus, dass mein Körper in der Lage ist, die Signale von außen aufzugreifen, die Häschen-zu-Häschen-Kommunikation herzustellen. Habe ich diese Einstimmung selbst früh erfahren, so wird mein Körper automatisch Signale meines Gegenübers auffangen, die im nächsten Schritt durch meine Denker*in bewusst interpretiert werden. Ich werde unterscheiden, ob diese Reaktion ein altes Schema meinerseits darstellt oder eine nonverbale Botschaft der Supervisandin oder des Supervisanden sein mag, die ich dann verbal erfragen kann.

Was Zeit- und Raumwahrnehmung angeht, so sind wir bei unserer Geburt ein völlig unbeschriebenes Blatt. Säuglinge existieren im Zustand des absoluten Erlebens oder der absoluten Dissoziation. Nur wir Erwachsenen können die Existenz von kleinen Kindern als Zentrierung im Hier und Jetzt erleben, weil wir andere Zeitwahrnehmungen kennen. Kleinkinder nehmen das wahr, was sie jeweils spüren, sehen, schmecken, hören, riechen und vielleicht auch ahnen. Aber sie ordnen nicht in jetzt und nachher ein, sie kennen keine Zeit danach, keinen anderen Ort, an den sie sich wünschen können. Das zu entwickeln, dauert lange fünf bis sieben Jahre und ist in der Theorie des Egozentrismus (siehe Kap. 3.3) von Piaget gefasst und durch viele Forscher*innen nach ihm in neue Zusammenhänge gestellt und differenziert worden.

Wenn wir ressourcenorientiert an die frühe Entwicklung von Menschen herantreten, dann muss diese extreme Verletzlichkeit und Unvoreingenommenheit der ersten Jahre unserer Art zu etwas nutze sein. Und schnell werden wir die Antwort in Kultur, Sprache, Ausdifferenzierung und Komplexität menschlicher Weltpassung finden: Um all das mit aufnehmen zu können, um die unterschiedlichen Habitate bewohnen zu können, in denen Menschen überleben, um die kulturellen Leistungen nachvollziehen zu können, die in den unterschiedlichen Lebensräumen entwickelt wurden, braucht es eine lange Zeit der Einführung und Erprobung. Nicht nur die des Körpers (wird er überleben?), sondern auch die des Geistes: Welche Tugenden und Geisteskräfte werden hier gefordert? Welche Gesellschaft sucht hier ihre Fortführung? Welches Ziel ist mit dem Dasein verbunden?

Das alles sind keine Lehrinhalte, die auf Großhirnrindenebene eingespeist werden könnten wie verschiedene Seiten einer Wissenssammlung, sondern elaborierte Programme zur Beherrschung von Kälte, Atmung, Konzentration, Gedächtnis, Kontakt, Sprache, Anbautechniken, Naturverständnis usw. Sie werden zusammen mit der Sprache der Körper zum ersten Mal absorbiert. Und in Lautsprache übersetzt differenzieren sie Wahrnehmung und Bewertung.

Unsere Sprache ist die Vermittlerin zwischen Individuum und Kultur, sie formt durch Grammatik und Art ihrer Konstruktion unsere Wahrnehmung der Welt und verändert durch diese Wahrnehmung gleichzeitig Welt und Sprache. Mithilfe der Sprache, die in unserer Umgebung gesprochen wird, wachsen wir in die uns umgebende Kultur und deren Regeln. Tabus sind Sachverhalte und Regeln, für die es keine Worte gibt, weil sie verschwiegen werden. Jede*r weiß um sie, doch keine*r kann sie benennen. Was besprochen wird, was begriffen werden kann, erfahren wir im Spracherwerb, in enger Verknüpfung zwischen der entstehenden Denker*in und dem sich ausdifferenzierenden Häschenkörper.

Ich werde also in diesen ersten Jahren sehr wesentlich Teil der mich umgebenden Strukturen. Und werde mich mein Lebtag nicht gänzlich daraus befreien können. Ich mag die Inhalte tauschen, den Kontext verändern, die alten Werte über Bord werfen, mich gegen Gewordenheiten auflehnen. Unter normalen Umständen wird mein Körper sich entspannen, wenn ich die mir vertraute Sprache höre, werden meine Füße das Gras meiner Kindheit an den Füßen wiedererkennen und ich werde schmunzeln, wenn ein Marmeladenglas der Marke gleicht, die ich als Kind heimlich aus dem Vorrat geholt habe. Selbst da, wo frühe Gewalt den Alltag strukturiert hat, bleibt doch die Anpassungsleistung des Körpers, der überlebt hat, die Grundlage meines Wohlgefühls. Das Vertraute ist es, das uns unwillkürlich anzieht – nicht immer zu unserem Nutzen.

Es ist also nicht unbedeutend, was uns in den ersten Jahren umgeben, man sagt auch oft: geprägt hat. In den ersten Jahren wird unsere Raum- / Zeitwahrnehmung zusammen mit der Substanz gebildet, die dafür in unserem Gehirn zuständig ist, dem Hippocampus. Was wir in diesem Zeitraum erlebt haben, werden wir suchen, wird unser Körper als vertraut wahrnehmen, wird sein Bezugssystem.

Ich habe in meinen ersten fünf Jahren mit fünf Menschen auf 50 Quadratmetern gewohnt. Wir drei Kinder hatten ein gemeinsames Zimmer, meine Eltern schliefen im Wohnzimmer, das in der Nacht umgebaut wurde. Man musste leise sein, weil die Nachbarn sonst mit dem Besen an die Decke klopften. Unser Mobiliar bestand fast nur aus Obstkisten, und mein Bruder kannte alle Kennzeichen der Autos, die auf dem Platz neben dem Haus parkten.

Inzwischen habe ich sehr viel mehr Platz zur Verfügung, und ich liebe es, allein zu sein. Aber am liebsten kuschele ich mich in eine Ecke, wenn meine Familie zusammenkommt. Bei einem Streit mache ich noch immer die Fenster zu. Bei einem Auto fällt mein erster Blick aufs Nummernschild und ich kann es schwer aushalten, nicht zu wissen, welche Stadt damit bezeichnet wird. Ich kann feststehendes Mobiliar nicht leiden, alles muss beweglich sein und viele Möglichkeiten der Nutzung aufweisen.

Und es fällt mir immer noch schwer, nicht wütend zu werden, wenn Gegenstände oder gar Essen sorglos behandelt werden.

Was dürfte in Ihrer Supervision auf keinen Fall passieren? Stellen Sie sich vor, es passiert.

Das Missverständnis der Idee einer frühen Prägung ist deren angebliche Unveränderbarkeit. Selbstverständlich können wir diese unwillkürlichen Vorlieben und Impulse verändern. Allein, es braucht einen langen Atem dafür und viel Engagement. In Krisen greifen unsere Hasenkörper gerne auf die alten Sichtweisen zurück. Oft ist es schmerzhaft oder lästig, mit den alten Mustern konfrontiert zu sein, wenn das Häschen doch wieder schneller als die Denker*in ist. Machen wir uns auf die Suche nach den Ressourcen in den alten Reaktionen, sie sind ja Teil unserer Krisenkompetenz.

3.3 Egozentrismus

Es ist ein merkwürdiges und im Erwachsenenalter kaum einsichtiges Phänomen, wie Kinder bis zum Vorschulalter die Welt wahrnehmen. Noch bis ins sechste, manchmal siebte Lebensjahr hinein sind sie unfähig, die Perspektive anderer vollumfänglich einzunehmen.

Vielleicht protestieren Sie nun angesichts der hochintelligenten, wachen und sprachlich elaborierten Wohlstandskinder, die Sie umgeben: Meine Tochter kann das, natürlich kann sie unterscheiden, was ich von meinem Platz aus sehe und wie sich das von ihrer Wahrnehmung unterscheidet. Suchen Sie doch einfach mal im Internet unter den Stichworten „Drei-Berge-Versuch“ und „Egozentrismus“. Dort finden Sie immer wieder Eltern, die versuchen zu beweisen, dass ihre Kinder intelligent genug sind, die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Und doch ist das vor dem Alter von ca. fünf bis sechs Jahren nicht zu schaffen. – Um welche Aufgabe geht es?

Auf einem Tisch stehen drei Berge, davor und daneben unterschiedliche kleine Tiere und Spielsachen, sodass die Figürchen nicht von allen Plätzen aus gleichzeitig wahrgenommen werden können. Das Kind kann das Modell von allen Seiten betrachten, sich auch auf die verschiedenen Stühle setzen und beschreiben, was es jeweils wahrnimmt. Dann wird es wieder auf seinen Ausgangsstuhl platziert, der*die Erwachsene nimmt einen anderen Stuhl ein und fragt das Kind, was es von seinem eigenen Platz aus sieht. Natürlich weiß es das und berichtet dementsprechend. Fragt man es jedoch, was denn der*die Untersucher*in von ihrem*seinen Platz aus wahrnimmt, benennt es bis zum Alter von ca. fünf bis sechs Jahren aber durchweg nur die eigene Sichtweise.

Es gibt eine ganze Forschungsrichtung, die sich mit dem Übernehmen fremder Perspektiven und der Konzeptbildung bei Kindern beschäftigt, die Theory of Mind.

Was sagt uns das? Es lässt uns erahnen, wie eng verknüpft die Wahrnehmung von anderen mit unserer eigenen Perspektive auch später, vor allem in Krisenzeiten, bleiben muss. Wie wesentlich es ist, den eigenen Standpunkt zu bestimmen – und das Relativieren dieses Standpunkts zur täglichen Übung zu machen. Und es hat weitere Implikationen, die wir im nächsten Kapitel betrachten.

3.4 Ausgangspunkt Familiendynamik – das Traumaviereck

Ein Teil der alten Gewordenheit sind die Dynamiken, die wir selbst in unseren Herkunftskontexten erlebt haben. Wir nehmen sie zusammen mit unseren supervisorischen Tools mit in den Beratungsalltag, und sie treffen dort auf die Dynamiken der Supervisand*innen, die wiederum die Spannungsmuster der Klient*innen aufgenommen haben und in die Supervision tragen. Prämisse für den Ausstieg aus diesen Dynamiken (den wir später in Teil III beschreiben) ist, uns über die eigenen Gewordenheiten und Spannungsmuster klarzuwerden, um Traumadynamiken verstehen und nutzen zu können.

In meinen Supervisionsprozessen passiert es mir immer wieder, dass ich am liebsten alles hinschmeißen und weglaufen würde. Immer dann, wenn sich im Team die Rollenverteilung in den Konfliktmustern wiederholt, muss ich sehr an meinem Außenkontakt arbeiten, damit ich nicht in Hilflosigkeit, fast einem Gefühl von Agonie versinke. Ich weiß schon, dass ich da lange Abende im Familienkreis vor mir sehe, in denen Flucht verboten und Brettspielen erzwungen war. Aber ich komme nur dagegen an, wenn ich an diesen Stellen sofort aufstehe und alle sich umsetzen lasse. Am besten suche ich mir dann einen Platz am Flipchart. Der Kleinen in mir signalisiert das erwachsene Überlegenheit.

Abbildung 9: Traumaviereck (aus: Hantke & Görges 2012; Grafik: Kai Pannen)

In Bezug auf die eigenen, in der Kindheit strukturierten und in späteren Ereignissen weiterentwickelten Spannungsmuster beziehen wir uns auf das Modell des Traumavierecks, um durch Notfallreaktionen und Hochspannungssituationen entstandene Muster zu beleuchten. Und darin finden wir ein Schema, die Verwicklungen des eigenen Körper-Geist-Zusammenhangs mit anderen Körper-Geist-Zusammenhängen im Raum zu beschreiben, Dynamiken zu erfassen und damit eine Grundlage zu gewinnen, auf der wir uns distanzieren und eine neue Position einnehmen können. Um dann neu zu entscheiden: Was will ich tun? Ich welche Richtung will ich mich bewegen, ohne mich von der Familie, Gruppe, Dynamik zwingen zu lassen?

Teil unseres Gewordenseins ist die Art der Beziehungsgestaltung, die wir im Kontakt mit unseren ersten Bindungspersonen bzw. der sie umgebenden Welt gelernt haben. Hier geht es zum einen um die Art der Beziehung, die wir erlebt haben, die Art der Bindung, die wir haben aufbauen können. Zum anderen, und das ist die enger traumasensible Betrachtungsweise, die wir hier vorschlagen, geht es um die Dynamiken, die wir erlebt haben, die Art und Weise des Umgangs und die Rollenverteilung in Spannungssituationen. Wenn wir Ihnen hier das Traumaviereck vorstellen, damit Sie sich selbst darin verorten, dann geht es nicht darum, dass Sie sich nun die Traumata ansehen müssen, die Sie – vielleicht – innerhalb der Herkunftsfamilie erlitten haben. Es gibt auch dann, wenn Sie eine nette und bergende Kindheit erlebt haben, sich wiederholende Situationen, in denen Sie eine bestimmte Rolle eingenommen haben, die mit den Positionen in diesem Analyseschema beschreibbar sind. Es geht also eher um eine offene Betrachtung von Spannungsmustern und Einladungen, die Ihre Reaktionen geprägt haben: Gehen Sie eher in die Ober- oder in die Unterspannung? Ducken Sie sich eher weg oder regen Sie sich auf? Welche Rolle nehmen Sie innerhalb einer Gruppe ein?

Wir speichern als Kinder alle Umgebungsstrukturen als Teil unserer eigenen Erfahrung: Das haben wir in der kurzen Erklärung zum Egozentrismus betrachtet. Und wir speichern sie nicht als etwas, das unterschiedlichen Akteuren zugeordnet ist, sondern nehmen alles auf, wir selbst stehen im Mittelpunkt. Wir passen uns körperlich, emotional und sprachlich, im Fragen, im Austausch, in intensiver Beschäftigung mit einem Buch, mit einem Bild, im eigenen Spiel und kreativen Tun in unsere Umwelt und die dortigen Gepflogenheiten ein. Wir nehmen sehr lange nicht wahr, dass andere Menschen andere Motive haben als wir, dass Handlungen nicht auf uns bezogen sein können, dass etwas, was in unserer Welt existiert, nicht überall genauso ist. Wir wachsen in unsere Umwelt hinein, passen sie uns an, passen uns ihr an. Akkommodation und Assimilation hat Jean Piaget, der Schüler Pierre Janets, das genannt (Piaget 1959).

Färben Sie Ihr Haar bunt.

Schon die ruhigen Formen des sozialen Lernens bilden Verhalten und Muster aus. Kommen Gefahr, Abruptheit, Unvermitteltheit in Kombination mit Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit hinzu, so wird dieses Muster genauso abgespeichert wie die individuelle Reaktion auf eine belastende Erfahrung. Oft ist diese Spannungsdynamik im ruhigen Alltag gar keine Option. Im Moment der Krise und der Verunsicherung kommt sie aber urplötzlich und oft unerwartet zum Tragen.

In Familie Sonnenschein sind Mama, Papa, der große Tim und die kleine Lucy im Allgemeinen ein gutes, eingespieltes Team. Mama ist beruflich außer Haus, Papa viel im Homeoffice, das Kochen übernimmt meist er, und Lucy hilft dann gerne. Tim zieht sich lieber zurück und ist genervt, wenn Lucy seine Bücher durch die Wohnung trägt. Aufs Abendessen freuen sie sich alle, und hinterher kommt sogar Tim aus seinem Zimmer und genießt die Spiel- und Planungsatmosphäre vor dem Schlafengehen.

Wenn Mama zu Hause bleiben muss, weil Lucy krank ist oder der Arbeitgeber mal wieder auf Kurzarbeit umstellt, ändert sich das Bild. Mama fühlt sich eingesperrt, Papa macht nichts mehr richtig. Und warum zieht sich Tim immer zurück? Lucy hängt ihr zu eng am Bein und Papa könnte auch mal den Mund aufmachen! Je stärker Mamas Spannung steigt, desto höher wird auch Lucys. Papa und Tim stellen sich tot, was Mamas Anspannung verstärkt. Letztlich ist es meist Lucy, die ihre Spannung nicht mehr regulieren kann, sich an einer unscheinbaren Stelle verweigert. Mama hält dagegen, Papa stellt sich dazu, weiß aber nicht, was er machen soll. Mama schreit, Tim kommt aus dem Zimmer und zerrt Lucy weg, schon fängt er sich eine Ohrfeige. Mama erschrickt, Tim stapft heulend in sein Zimmer, Mama stellt sich davor, halb flehend, halb begründend schreit sie weiter durch die Tür. Lucy weint, Papa nimmt sie auf den Arm.

Na ja, Sie kennen das. Und Sie können sich vorstellen, dass es einen Unterschied macht, ob Sie als Supervisor*in in Krisensituationen Tims Vorgeschichte haben oder die von Lucy.

Bezeichnen wir die Position der Mutter in dem kleinen Drama als die Täterin. Lucys, aber auch die Tims Rolle ist die des Opfers, mit sehr unterschiedlichen Reaktionen. Tim ist aber zunächst auch Retter für Lucy, wobei der Vater vor allem eine hilflose Randposition einnimmt. In unserem Bild wäre er der Mitwisser, der – aus welchem Grund auch immer – die Dynamik laufen lässt und hinterher die Scherben aufsammelt (Lucy auf den Arm nimmt).

Stellen wir einige Hypothesen darüber auf, was passieren könnte, wenn diese vier Personen Supervisor*innen werden würden – einmal nur von dieser Situation ausgehend. Und natürlich ist das in keiner Weise zwangsläufig, sondern einfach ein Gedankenspiel. Sie werden an sich selbst überprüfen, welche Rollen Sie „gerne“ einnehmen und womit das zusammenhängen könnte.

Die Mutter – woher auch immer sie die eigene Not im Umgang mit Spannung und fehlender Fluchtmöglichkeit hat – würde in einer angespannten und unübersichtlichen Situation vielleicht eher mit erneuter Anspannung reagieren und könnte sich im Vorfeld unklarer Supervisionssituationen um die eigene Entspannung und um Gelassenheitsübungen kümmern.

Der Vater würde vielleicht gar nicht Supervisor werden. Seine Bereitschaft, sich mit Spannungsfeldern auseinanderzusetzen, scheint nicht so sehr ausgeprägt. Falls er dennoch diese Laufbahn einschlägt, wird er das Team eher machen lassen und dafür sorgen, dass alle gut versorgt aus dem Raum gehen.

Tim hätte in Krisensituationen sicher eher mit widersprüchlichen Impulsen zu kämpfen, Fluchttendenzen könnten sich mit schnellen Parteinahmen abwechseln. Und Lucy würde sich beim Auftauchen der Teamleitung, die versucht, den Ablauf an sich zu reißen, so sehr anspannen, dass sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig ist.

Ist klar geworden, was wir mit dieser Übung bezwecken?

Wir sollten uns unserer erlernten Positionen bewusstwerden und vorbauen, um sie nicht in Endlosschleifen zu reproduzieren, wenn wir als Erwachsene in ähnliche Muster geraten. Bei uns, den Supervisand*innen oder deren Kund*innen. Denn Spannungsmuster sind die Währung der Häschen. Und die stehen in regem Austausch, auch wenn die Großhirnrinden-Denker*innen noch meinen, die Metaebene nie verlassen zu haben. 70 % der Interaktion, auf die wir reagieren, ist nonverbal … (siehe auch Hantke & Görges 2019, S. 47).

Es sind die klassischen Rollen antiker Dramen, in die wir da eingeladen werden. Wir nennen sie Täter*in, Opfer, Retter*in und Mitwisser*in, die vier Ecken unseres Traumavierecks. Der neuzeitliche Hintergrund dieser Bezeichnung stammt aus der Transaktionsanalyse, in der Stephan Karpman im Dramadreieck drei Rollen beschrieb: Verfolger, Opfer und Retter.16