Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2021

Originalausgabe: Educare con la Comunicazione Nonviolenta
© Esserci Edizioni 2010
www.centroesserci.it

Übersetzung: Petra Quast

Coverfoto: © franckreporter – iStock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2021

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0103-8

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0238-7 (EPUB), 978-3-7495-0240-0 (PDF), 978-3-7495-0239-4 (Kindle).

3. Was ist in meinem Gegenüber lebendig?

Lassen Sie uns nun die andere Hälfte des GFK-Prozesses erkunden. Zur Vorbereitung darauf möchte ich Sie bitten, noch etwas aufzuschreiben. [Ausgangspunkt ist wieder die Situation, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Beginn des Workshops ausgewählt haben, s. Seite 8.]

Stellen Sie sich bitte vor, Sie gehen zu der Person, öffnen Ihr Herz und offenbaren ihr die Dinge, die Sie bisher aufgeschrieben haben: Sagen Sie der Person, was sie getan hat, das Ihnen nicht gefällt, wie Sie sich fühlen, was Ihre Bedürfnisse sind, und stellen Sie eine klare Bitte.

Dann möchte ich, dass Sie eine Vermutung darüber anstellen, wie die Antwort des anderen ausfallen könnte. Was wird die andere Person Ihrer Meinung nach antworten, wenn Sie so mit ihr sprechen?

Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie als Giraffe kommunizieren können, unabhängig davon, welche Art der Sprache die andere Person verwendet. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, wie der andere antwortet, wenn wir es schaffen, die Giraffenohren aufzubehalten. Tatsächlich besteht die zweite Hälfte des Prozesses der Gewaltfreien Kommunikation darin, jede Botschaft, die uns erreicht, als Ausdruck der Gefühle und Bedürfnisse der anderen Person zu verstehen. Mit den Giraffenohren hören wir einfach nur das, was im Herzen des anderen Menschen lebendig ist, auch wenn es in einer Weise ausgedrückt wird, die wie ein Angriff, eine Kritik oder ein Urteil klingen kann.

Schreiben Sie jetzt bitte auf, wie die andere Person Ihrer Meinung nach antworten könnte.

Lassen Sie uns nun hören, wie man Ihnen antworten könnte, wenn Sie Ihr Herz öffnen und dann eine Bitte stellen. Wie würde die andere Person reagieren?

T: Ich freue mich, auf dieser Ebene zusammenzuarbeiten.

MBR: Sie gehen also davon aus, dass die andere Person, wenn Sie Ihr Herz öffnen, Lust hat, mit Ihnen zu kooperieren.

T: Sie schweigt.

T: Sie sagt Nein.

MBR: Ich bin froh, dass Sie uns diese Situationen zur Verfügung stellen, denn dadurch können wir viel lernen. Wenn die andere Person schweigt, lädt uns die GFK dazu ein, das Schweigen nicht als ein solches zu hören. Mit unseren Giraffenohren lauschen wir darauf, welche Gefühle und Bedürfnisse im Schweigen enthalten sein könnten. Wenn der andere Nein zu uns sagt, hören wir seine Gefühle und Bedürfnisse oder versuchen zumindest, sie zu erahnen. Die Gefühle und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler zu verstehen bedeutet nicht, dass wir unsere eigenen aufgeben müssen. Es bedeutet vielmehr, zu zeigen, dass wir an unseren eigenen und gleichzeitig an ihren Bedürfnissen interessiert sind.

Wenn wir ein Nein als eine Form der Ablehnung verstehen oder wenn wir anfangen, den anderen dafür zurechtzuweisen, dass er Nein gesagt hat, ist es unwahrscheinlich, dass wir einen Weg finden werden, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Es gilt unbedingt sicherzustellen, dass während des Prozesses die Absicht auf die Bedürfnisse aller Beteiligten ausgerichtet bleibt.

Zu welchen Bedürfnissen sagen die Schülerinnen und Schüler Ja?

T: Sie sind schlau, sie wollen es sich leicht machen!

W: Auuuh!

MBR: Dies ist eine Interpretation des Schülerverhaltens. Wir wollen stattdessen eine Verbindung zu ihren Bedürfnissen herstellen. Möchte es jemand versuchen?

T: Vielleicht brauchen sie Verständnis?

MBR: Das gefällt mir. Vielleicht ist es ein anderes Bedürfnis, aber wenn wir versuchen, auf diese Weise miteinander in Verbindung zu kommen, legen wir sehr wahrscheinlich den Grundstein für eine Beziehung, die auf Vertrauen und gegenseitigem Verständnis beruht. Das gilt auch dann, wenn unsere Vermutung nicht vollständig zutrifft. Selbst wenn wir das Bedürfnis des anderen nicht präzise treffen, wird die Qualität unserer Präsenz es ihm erlauben, tief in sich selbst hineinzuspüren und uns mitzuteilen, was in ihm lebendig ist. Er könnte zum Beispiel antworten: „Nein, ich brauche Respekt, oder ist das zu viel verlangt?“

3.1 Uns mit dem verbinden, was in uns oder im anderen lebendig ist

Wir können unbesorgt darüber sein, ob wir hier perfekt sind und die Gefühle und Bedürfnisse der anderen Person genau erraten. Wir wollen nur unsere Menschlichkeit manifestieren und unsere Absicht, mit dem Leben in Verbindung zu bleiben. Die GFK lädt uns ein, jeweils eines dieser beiden Dinge zu tun: Uns mit dem zu verbinden, was entweder in uns oder in der anderen Person lebendig ist.

T: Entschuldigen Sie, aber was könnte das Bedürfnis eines Schülers sein, der zu seinem Klassenkameraden sagt: „Mach Platz, du Idiot!“

MBR: Gerade dann, wenn Menschen am meisten Verständnis brauchen, kommunizieren sie manchmal auf eine Weise, die es schwierig macht, ihnen das zu geben, was sie brauchen. Die GFK zeigt, wie man auf jede Botschaft mit Empathie reagieren kann. Sie ermutigt uns, zu lernen, die Gefühle und Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen, wie auch immer diese aussehen. Welche Bedürfnisse manifestiert der Schüler, der mit seinem Klassenkameraden auf die von Ihnen beschriebene Weise kommuniziert? Möchte jemand versuchen, eine Verbindung zu den Bedürfnissen des Jungen herzustellen?

T: Er will seine Muskeln zeigen und tyrannisieren!

W: Auuuuh!

MBR: Mein Freund, der Wolf, meldet, dass dies nicht gerade das ist, was wir in der GFK als Bedürfnis bezeichnen! Möchte es noch jemand versuchen?

T: Die Jugendlichen von heute sind es gewohnt, sich gegenseitig so zu behandeln!

W: Auuuuuuh!

MBR: Das ist eine Analyse der Situation, die uns von den Bedürfnissen wegführt, die die Person im gegenwärtigen Moment manifestiert.

T: Versucht er, Respekt zu bekommen?