Vorwort
Wenn ein Menschenleben durch die Hand eines Mörders ausgelöscht wird, reißt dieser mit seiner Tat immer das Leben anderer mit ins Verderben. In erster Linie das der Opferfamilie, aber auch das seiner eigenen Angehörigen. Denn kaum ein Täter denkt daran, welch Leid er auch den Seinen zufügt, wenn er als Mörder für lange Zeit ins Gefängnis muss und seine Familie von ihrem sozialen Umfeld stigmatisiert wird. Dieser unheimlichen Macht der Täter steht die Ohnmacht der Opfer gegenüber. In den meisten Fällen ahnen sie nicht, welches Unheil sich da hinter ihrem Rücken zusammenbraut. Hinterher wird für diese Menschen, egal ob direkt oder indirekt betroffen, nichts mehr so sein, wie es einmal war.
Die Verzweiflung, die sich bei Hinterbliebenen und Angehörigen breitmacht, wird noch verstärkt, wenn die Hintergründe und Geschehnisse einer Tat nicht aufgeklärt worden sind. Denn nichts ist für Angehörige auf beiden Seiten schlimmer als quälende Ungewissheit. Falls überhaupt, kommen diese Menschen erst dann zur Ruhe, wenn sie erfahren haben, was wirklich geschehen ist …
Damit sind wir bei der Aufklärung. Morde geschehen aus Habgier, Befriedigung des Geschlechtstriebes, Mordlust und anderen, auf niedrigster sittlicher Stufe stehender Beweggründe wie Neid, Hass oder Rache und sind vergleichbar mit Explosionen, durch die Bestehendes in tausend Teile zerrissen wurde. Ermittlern fällt die gesetzliche Aufgabe zu, die Einzelteile zu suchen, zu sichern und gleich einem Puzzle wieder zusammenzusetzen. Dabei kann nie wieder jener Zustand hergestellt werden, wie er vorher war. Es bleiben immer Lücken und Risse. Also handelt es sich stets um Fragmente, die der Justiz zur Beurteilung und Entscheidung vorgelegt werden. Nur wenn die Staatsanwaltschaft ein vollständiges Bild erkennt, wird sie Anklage erheben, und nur wenn das Gericht ohne Zweifel der Argumentation der Anklagebehörde folgt, wird es verurteilen. Andernfalls greift der Grundsatz »in dubio pro reo« (»im Zweifel für den Angeklagten«).
Nach schweren Verbrechen ziehen zunächst die Opfer alle Aufmerksamkeit auf sich, und die Ermittlungen nehmen logischerweise bei ihnen ihren Anfang. Sobald jedoch der oder die Täter vor Gericht stehen, richtet sich der Fokus hauptsächlich auf sie. Auf den ersten Blick scheint das ungerecht zu sein, da das Opferleid scheinbar vernachlässigt wird. Dass bei der Urteilsfindung Persönlichkeitsbilder, Fragen der Mitschuld und die Folgen für die Opfer einbezogen werden, wird dabei gerne übersehen. Allerdings sind Opfer nicht per se die Guten und Täter nicht immer die Bösen. »Man muss kein böser Mensch sein, um böse Taten zu begehen«, sagte ein renommierter Gerichtspsychiater in einem Interview. Dem kann ich als Praktiker nur beipflichten, möchte aber vorsichtshalber gleich anfügen: »Auch gute Menschen dürfen nicht morden, und auch noch so böse Menschen darf man nicht ermorden.«
Es gibt keine wie auch immer geartete Berechtigung für die Ermordung von Menschen, auch wenn unsere Rechtsordnung bekanntlich Rechtfertigungsgründe für vorsätzliche Tötungen vorsieht: Man denke an Notwehr, Nothilfe oder rechtfertigenden Notstand, wie zum Beispiel den finalen Rettungsschuss. Kriegshandlungen, Terrorismus oder den sogenannten Tyrannenmord nehme ich ausdrücklich aus, weil ich als Mordermittler ausschließlich für die Bearbeitung von Tötungsdelikten im zivilen Alltag ausgebildet war. Dass ich auch meine Sicht der Dinge einfließen lasse, hat damit zu tun, dass man Ermittlungsarbeit besser nachvollziehen kann, wenn man die Gedanken und Einschätzungen kennt, die Grundlage von Entscheidungen waren. Die bereits erwähnte Vielschichtigkeit der Opferrollen beschreibe ich in einem ausführlichen Kapitel, das ich mit sicherlich sehr nachdenklich machenden, authentischen Beispielen unterlegt habe.
Für die Aufklärung von Verbrechen sind Informationen unverzichtbar. Und wie bekommt man diese? In erster Linie durch Gespräche. Im Kontext mit Straftaten nennt man solche Gespräche »Vernehmungen«. Trotz bestehender Aussage- und Wahrheitspflicht in offiziellen Vernehmungen sind wir Ermittler mit der schwierigsten Herausforderung konfrontiert, der wir uns immer wieder gegenübersehen: der Trennung von Wahrheit und Lüge und dem Erkennen von Irrtum und Vorurteilen. Wobei Letztere hartnäckiger sein können als die Lüge selbst. Denn wer sich irrt, glaubt, was er sagt, denn niemand irrt sich vorsätzlich, und was Vorurteile betrifft, so wusste schon Albert Einstein: »Es ist leichter, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil.« Vorurteile sind in der Regel im Gegensatz zu bewussten Lügen nicht rechtswidrig, sofern sie nicht ehrabschneidend und damit strafrechtlich relevant sind. Wie man die Lüge erkennt und Lügner entlarven kann und wie das in einem Rechtsstaat geschehen darf, darüber berichte ich im Kapitel »Lügen«.
Kriminalromane und -filme, bei denen am Ende nicht die Aufklärung steht, sind bei den Konsumenten nicht beliebt, wie mir einige Fernsehschaffende erklärt haben. Warum? Weil Leser, Zuhörer und Zuschauer nicht nur mit menschlicher Neugier ausgestattet sind, sondern weil sie auch möchten, dass am Ende das Gute siegt und die Täter ihre gerechte Strafe erhalten. Diese Einstellung finde ich natürlich positiv, entspricht sie doch auch meinem Gerechtigkeitsempfinden. Da es sich hier aber um ein Sachbuch handelt, in dem es nichts zu verklären, aber einiges zu erklären gibt, habe ich ganz bewusst auch solche Fälle ausgewählt, die aus polizeilicher Sicht zwar als aufgeklärt galten, aber dennoch ungesühnt blieben, weil entweder die Beweise gar nicht erst für eine Anklage ausreichten oder weil am Ende ein Freispruch stand. Das ist eben auch eine Wahrheit, die man nicht verschweigen muss.
Aus rechtlichen Gründen wurden Namen und sonstige personenbezogene Angaben sowie örtliche und zeitliche Gegebenheiten verändert. Es handelt sich also um reale Fälle, die aber entsprechend abgewandelt wurden, um keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen.
Josef Wilfling