Die Autorin

Amanda Kissel – Foto © privat

Amanda Kissel ist das Pseudonym der Autorin Ursula Kissel. Sie wurde in Neustadt an der Weinstraße geboren. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie heute mitten im Pfälzer Wald und arbeitet als Lehrerin. Mehrere ihrer Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Ihr erster Roman "Apollonias Kiste" erschien 2018.

Das Buch

Das Glück liegt oft genau da, wo man es am wenigsten erwartet

Nach dem Tod ihres ungeborenen Kindes verliert Theresa den Boden unter ihren Füßen. Ohne Freund und ohne Job kehrt sie gebrochen zurück in ihre Heimatstadt und bezieht wieder ihr Kinderzimmer bei ihrer Mutter. Der einzige Lichtblick: Sie kann jetzt wieder ihrem Hobby, dem Nähen, nachgehen und beginnt, im Stoffladen ihrer Tante zu arbeiten. Dort, zwischen Nähgarn und Nadel fühlt sie sich endlich wieder angekommen. Und auch der Blick aus dem Schaufenster gefällt ihr, läuft dort ihr attraktiver Nachbar Romain über den Platz … Als auch ihr Bruder wieder nach Hause zieht und die beiden Geschwister eine vor Jahren vergrabene Flaschenpost mit ihren geheimsten Träumen finden, beschließen sie, sich endlich ihre Jugendträume zu erfüllen. Doch das ist schwieriger als gedacht und schon bald muss Theresa sich entscheiden: Will sie den Träumen der Vergangenheit nachjagen oder liegt das Glück nicht direkt vor ihrer Tür?

Amanda Kissel

Der traumhafte Stoffladen

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
November 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-394-0

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Widmung

Für Rolf und Ruth

Kapitel 1


Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und es roch nach Herbst, Rauch und Erde. Theresa umklammerte ihren Koffer, sie wollte ihn nicht auf der feuchten, mit Laub bedeckten Treppenstufe abstellen. Die oberen Ecken der Haustür waren voller Spinnweben, wie jedes Jahr, wenn der Altweibersommer sich dem Ende zuneigte.

Das Haus war nicht besonders groß und lag in einer ruhigen Straße, die von Platanen gesäumt war. Das Gestein war kaum noch sichtbar, denn es war über und über mit Efeu überwuchert. Die Regentropfen perlten von den Blättern. Von jeher war das Haus für Theresa ein sicherer Hafen gewesen, ein Ort, an den man immer wieder zurückkommen konnte.

Auf dem Klingelschild, das neu beschriftet worden war, wie ihr schmerzlich auffiel, stand: Adelheid Rehberg. Sie holte tief Luft und läutete.

Nach einer Weile regte sich etwas im Inneren des Hauses, dann wurde die Tür geöffnet und eine Frau Mitte fünfzig blickte sie erstaunt an.

»Hallo … Was für eine Überraschung! Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«

Theresa biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Adelheid Rehberg, von allen nur Ada genannt, ließ den Blick zu dem großen Koffer schweifen. Dann zog sie Theresa zu sich heran und umarmte sie. Theresa schloss die Augen und atmete das vertraute, altmodische Parfum ihrer Mutter ein. Sie war so froh, endlich zu Hause zu sein.

»Komm erst mal herein, was stehst du denn da draußen im Regen herum. Warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du kommst? Du hast Glück, dass wir freitags früher Schluss machen und ich schon zu Hause bin«, sagte ihre Mutter, nahm ihr den Koffer aus der Hand und stellte ihn im Flur ab. »Mein Gott, ist der schwer – hast du dein ganzes Hab und Gut darin?«

Beinahe hätte Theresa bejaht, aber sie wollte ihre Mutter nicht gleich mit ihren Neuigkeiten überfallen.

»Komm in die Küche. Ich koche uns erst mal einen Kaffee. Du siehst durchgefroren aus.« Ada ging in die Küche voraus, in der sich seit Jahren nichts verändert hatte. Noch immer beherrschte der große runde Tisch mit den vier Holzstühlen den Raum. Hier hatten sie in ihrer Kindheit Mahlzeit um Mahlzeit eingenommen, alle vier Familienmitglieder zusammen. Es war tröstlich, sich auf ihren alten Platz zu setzen und dem Regen zuzuhören, der gegen die Fensterscheiben plätscherte. Es war ein trüber Nachmittag, und Ada machte Licht an, während sie sich um den Kaffee kümmerte.

Theresa betrachtete sie von hinten; ihre Mutter trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse, ihr Standard-Outfit für das Finanzamt, bei dem sie arbeitete. Der konservative Eindruck wurde von der blauen Strähne zunichte gemacht, die in ihr dunkles kurzes Haar gefärbt war. Theresa mochte die blauen Haare nicht besonders, aber sie verliehen ihrer Mutter etwas Rätselhaftes, hoben sie von anderen ab.

Ada stellte zwei dampfende Kaffeebecher auf den Tisch und setze sich ihr gegenüber.

»Nun erzähl mal«, forderte sie sie auf und musterte sie voller Besorgnis. »Du kommst doch nicht einfach ohne Grund an einem Freitagnachmittag mit einem riesigen Koffer und ohne Voranmeldung nach Hause geschneit. Was ist passiert?«

Theresa holte tief Luft. »Matthias hat mich verlassen und ich habe meinen Job verloren.«

Sie senkte den Blick und starrte in ihren Kaffeebecher. Trotzdem spürte sie die entsetzten Augen ihrer Mutter auf sich ruhen.

»Was?«

»Matthias hat gestern Abend mit mir Schluss gemacht, deshalb habe ich heute meine Sachen gepackt und bin hierhergekommen.« Ihre Stimme brachte nur ein Flüstern heraus.

»Aber was ist vorgefallen?«, fragte Ada besorgt.

Theresa hatte sich die Ärmel ihres dunkelgrünen Langarmshirts bis über die Hände gezogen und tupfte sich damit die Tränen weg, die ihr aus den Augen quollen. »Es ging einfach nicht mehr.«

Ihre Mutter schob sich ratlos ihre blaue Haarsträhne aus der Stirn. »Die Trennung ging von ihm aus, oder?«

Theresa nickte unglücklich.

»Hat er eine andere?«

»Nein …«

»Habt ihr gestritten?«

Theresa schüttelte den Kopf.

Ada seufzte. »Vielleicht sieht alles in ein paar Tagen wieder ganz anders aus. Vielleicht überdenkt er alles nochmal und merkt, dass er dich doch noch will. Was meinst du?«

»Das wird nicht passieren«, sagte Theresa mit Nachdruck.

»Und was ist mit deiner Arbeit?«, fragte Ada mit gerunzelter Stirn. »Es hatte doch so gut angefangen bei Schirmer&Söhne. Du warst doch fast am Ende deiner Probezeit.«

Theresa hatte nach Abschluss ihres BWL-Studiums als Treasurer in einem kleinen Unternehmen in Frankfurt, das Autoteile herstellte, gearbeitet. Sie hatte sich dort schnell eingelebt und wurde bald vom Seniorchef Wilhelm Schirmer und seinem Sohn Fridolin als zuverlässige Mitarbeiterin geschätzt.

»Sie waren doch immer so zufrieden mit dir«, fügte Ada eindringlich hinzu und zog Theresa die Hand vom Gesicht weg, um ihr in die Augen sehen zu können. »Das ändert sich doch nicht von einem Tag auf den anderen.«

»Es ist eben passiert«, murmelte Theresa, wich dem Blick ihrer Mutter aus und starrte aus dem Fenster, an dem Rinnsale von Regen herabliefen. »Irgendwann waren sie nicht mehr zufrieden mit mir.«

»Hast du Fehler bei der Arbeit gemacht? Hast du falsch kalkuliert? Haben sie durch dich Geld verloren?«

Ada war lauter geworden, man merkte ihr deutlich ihre Ungeduld an.

Doch Theresa schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir leid, Mutti. Wirklich. Ich kann im Moment nicht drüber reden. Es geht nicht. Lass mir etwas Zeit.«

Milder gestimmt nahm ihre Mutter ihre Hand und streichelte sie zärtlich. »Na gut. Dann will ich dich nicht drängen. Du erzählst mir alles, wenn du dich in der Lage dazu fühlst.«

»Danke«, schniefte Theresa. »Kann ich eine Weile hierbleiben?«

Sie glaubte, ein leichtes Zögern wahrzunehmen, doch dann sagte Ada: »Natürlich. Du kannst dich wieder in deinem alten Zimmer einrichten. Was ist jetzt mit eurer Wohnung in Frankfurt?«

»Matthias wird weiterhin darin wohnen. Alleine.«

Theresa stand auf, stellte ihren leeren Kaffeebecher in die Spüle und nahm im Flur ihren Koffer. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, hielt sie einen Moment erschrocken inne. Es befand sich nur noch die kleine Samtcouch darin, die zwei Sessel waren verschwunden und hatten einem Crosstrainer und einem Rudergerät Platz gemacht.

»Was ist das?«

»Wonach sieht es denn aus?«, fragte Ada unwirsch.

»Hast du aus unserem Wohnzimmer einen … Fitnessraum gemacht?«

»Fitnessraum – nun übertreib mal nicht. Es steht immer noch die Couch da und fernsehen kann man auch noch. Ab und an gibt es eben Veränderungen im Leben.« Ein verletzlicher Zug lag um die Lippen ihrer Mutter. »Dein Vater ist vor einem Dreivierteljahr gestorben. Du und dein Bruder denkt wohl, ich würde jetzt nur noch mutterseelenallein in diesem Haus herumsitzen und Däumchen drehen. Aber das tue ich nicht. Man muss vorausschauen und sich andere Aufgaben suchen im Leben.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Theresa. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint.«

Beide blickten zu dem gerahmten Foto ihres Vaters, das auf dem Bücherregal neben dem Rudergerät stand. Theresa bemerkte aus dem Augenwinkel heraus, dass ihre Mutter rasch eine Träne wegblinzelte, bevor sie sich abwandte und in die Küche zurückging.


Eine enge Treppe mit weißgestrichenem Holzgeländer führte in die oberen Räume. In ihrem alten Kinderzimmer hatte sich nichts geändert. Es empfing sie mit den gelb gemusterten Vorhängen, die sie als Teenie selbst genäht hatte. Der Regen trommelte nun stärker gegen das Fenster, das den Blick auf einen Himmel mit zusammengebauschten grauen Wolken freigab.

Sie stellte ihren Koffer ab und sah sich um. Im Bücherregal standen ihre französischen Bücher, die sie für die Schule hatte lesen müssen – Molière, Camus, Gide, Voltaire, Stendhal und so weiter. Auch der Rest der Dekoration verriet, dass sie als junges Ding eine absolute Frankreichliebhaberin gewesen war. Über dem Bett hingen ein Poster vom nächtlichen Paris, eines vom Eiffelturm und eines von leuchtenden Lavendelfeldern in der Provence. Auf dem Regal stand ein Foto ihrer Brieffreundin Aurore aus La Rochelle, die sie mehrere Jahre hintereinander mit dem deutsch-französischen Schüleraustausch besucht hatte. Sie schloss die Augen, vergaß für einen Moment ihren Kummer und ließ ihre Gedanken zurückschweifen zu endlosen Feldern mit blühenden Sonnenblumen, duftenden Heuballen … Auf einem dieser Heuballen wurde sie vor zwölf Jahren in der Julihitze zum ersten Mal geküsst, von Nicolas, dem Bruder ihrer Austauschpartnerin. Noch heute erinnerte sie sich an den Geschmack seiner Lippen, er schmeckte nach der selbstgemachten Himbeerlimonade seiner Großmutter und ihren Zitronentartelettes.

Sie gab sich einen Ruck und kehrte fast gegen ihren Willen in die Gegenwart zurück. Das alles war lange her, heute war sie siebenundzwanzig Jahre alt, Nicolas hatte sie seit diesem letzten Sommer vor zwölf Jahren nie wieder gesehen, und überhaupt schien es ihr, als wäre dies alles mehr als ein ganzes Menschenleben her.

Sie öffnete ihren Koffer und ging ins angrenzende Bad, das sie während ihrer Jugend mit ihrem kleinen Bruder Friedrich geteilt hatte, um ihren Kulturbeutel auszupacken. Kurz sah sie in den Spiegel über dem Waschbecken, aber ihr Anblick gefiel ihr nicht. Ihre Haut war blass und fleckig vom Weinen, die grauen Augen rotgerändert, und die braunen, welligen Haare hingen ihr zerzaust um die Schultern.

Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und glättete ihre Haare mit den Händen so gut es ging. Zurück in ihrem Zimmer nahm sie ihre Kleidung aus dem Koffer und legte sie in den Schrank. Auf dem Tisch unter dem Fenster stand noch immer ihre alte Nähmaschine, die sie von ihrer Großtante Babette zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Neben Frankreich war das Nähen eine weitere Leidenschaft von ihr gewesen. Sie hatte sich sämtliche Röcke und T-Shirts selbst geschneidert und war von den meisten Mädchen ihrer Klasse bewundert worden, da sie ausschließlich Unikate trug. Gerne hätte sie das Nähen zu ihrem Beruf gemacht, hätte ihre Mutter nicht …

»Theresa!«, rief Ada von unten. »Ich hab dir doch bei unserem letzten Telefonat erzählt, dass es Tante Babette nicht so gut geht. Geh doch mal die nächsten Tage bei ihr vorbei.«

»Hatte ich sowieso vor«, gab Theresa zurück und strich über die Nähmaschine. Ob sie noch einwandfrei funktionierte? Sie hatte seit mindestens sechs, sieben Jahren nicht mehr damit genäht, ihr hatte während des Studiums schlichtweg die Zeit gefehlt.

Nachdem alle Kleider verstaut waren, blieb nur noch der gelbe Plüschhase im Koffer. Wehmütig zog Theresa ihn heraus und drückte ihn an sich. Sofort begannen die Tränen wieder zu fließen, und sie legte sich gekrümmt auf das Bett, den Hasen fest umklammert. Es war eigentlich nicht ihr Hase, er sollte ursprünglich für jemand anderen sein. Aber er war seinem wahren Besitzer nie gegeben worden, und nun war er ein Waisenhase.


Als sie am Samstagmorgen nach einer schlaflosen Nacht herunterkam, trainierte ihre Mutter auf dem Crosstrainer. Sie trug eine neonfarbene Leggings und ein T-Shirt, die beide leuchteten wie ein oranger Textmarker.

»Frühstück steht in der Küche«, sagte Ada atemlos und wischte sich mit einem Handtuch die Stirn ab. »Übrigens – heute Abend kommt meine Bridgerunde.«

»Wer?«, fragte Theresa. Ihre Mutter hatte nie zuvor Bridge gespielt.
»Na, die Damen, mit denen ich mich jeden Samstagabend zum Bridgespielen treffe. Emma, Marlene und Hedwig. Möchtest du mitspielen?«

»Nein, nein«, sagte Theresa schnell. Ihr stand der Sinn überhaupt nicht nach Gesellschaft, sie wollte alleine sein, reglos auf dem Bett liegen und den gelben Hasen im Arm halten.

»Gut.« Ein kurzer Anflug von Erleichterung flog über Adelheids Gesicht, aber Theresa hatte ihn dennoch wahrgenommen. Unbehagen machte sich in ihr breit; sie hatte ihre Mutter ohne Vorwarnung überfallen und drang in ihr Leben ein, das sie sich nach dem Tod ihres Vaters neu aufgebaut hatte. Sie wusste, wie viel Kraft es ihre Mutter gekostet haben musste.

Sie trank in der Küche im Stehen eine Tasse Kaffee und aß ohne Appetit einen trockenen Toast, bevor sie noch mal ihren Kopf ins Wohnzimmer steckte.

»Ich gehe zu Tante Babette in den Laden.«

»Gute Idee, tu das«, keuchte ihre Mutter, die inzwischen ihr Tempo erhöht hatte. »Und rede ihr mal ins Gewissen, dass sie Arbeit abgeben muss: Sie hört weder auf ihre Ärztin noch auf mich.«


Theresa ging die Straßen Neustadts in Richtung Stadtzentrum entlang und sog die klare Herbstluft ein. Sie war ein paar Monate nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen, und die engen Gassen mit den Fachwerkhäusern und Höfen, den weinumrankten Mauern und dem Kopfsteinpflaster erschienen ihr malerischer denn je. Wie jeden Samstagmorgen herrschte lebhaftes Treiben in der Kleinstadt, die Cafés und Bistros waren voller Menschen, die hier lange und ausgiebig frühstückten.

Bald erreichte sie den kleinen Platz, auf dem sich das Stoffgeschäft ihrer Großtante namens Samt & Seide befand. Ihr Herz zog sich zusammen, sie wusste nicht recht, ob vor Freude oder Wehmut, weil sie schon so lange nicht mehr hier gewesen war. Das Geschäft war ihre gesamte Jugend hindurch ihr liebster Ort gewesen. Neben dem schmalen Haus ihrer Tante befand sich ein hipper Friseur namens Rapunzel, der Feinkostladen Geschmackssache und eine Chocolaterie. Die Läden existierten bereits seit Jahrzehnten. Gegenüber jedoch war offenbar eine neue Bar eröffnet worden. Chez Romain prangte in schnörkelloser Schrift über der massiven Haustür aus dunklem Holz. Das klang französisch. Neugierig spähte sie durch ein Fenster, aber dahinter war alles dunkel, und so steuerte sie, an dem Brunnen in der Mitte des Platzes vorbei, das Samt & Seide an.

Das Schaufenster war ungewohnt nachlässig gestaltet. In ihrer Jugendzeit hatte Theresa ihrer Tante oft geholfen, originelle Kreationen auszustellen, die die Leute anzogen. Eines ihrer Modethemen war Märchen gewesen; dazu hatte Tante Babette Prinzessinnenkleider aus prächtigen Samt- und Seidenstoffen geschneidert, die sie den Schaufensterpuppen angezogen hatten. Ein mit üppigem Purpur überworfener Stuhl als Thron sowie eine Leinwand im Hintergrund, die mit einer undurchdringlichen Dornröschenhecke bemalt war, bildeten die übrige Deko. Die Passanten hatten lange davor verweilt, um jedes Detail in sich aufzunehmen.

Ein anderes Thema hatte Unterwasserwelt geheißen. Tante Babette hatte Nixenkostüme mit langen Meerjungfrauenflossen aus schillernden Stoffen gezaubert, riesige Muscheln und Seesterne aus Pappmaché von der Decke baumeln lassen.

Es stimmte sie traurig, wie das Schaufenster jetzt aussah. Außer ein paar achtlos hingeworfenen Stoffballen war es leer. Tante Babette musste es wirklich schlecht gehen, wenn sie sich nicht mehr darum kümmerte – andererseits hatte sie die siebzig weit überschritten, war es nicht klar, dass die Kräfte irgendwann nachließen? Es war ein Wunder, dass sie den Laden überhaupt noch allein führte.

Theresa trat durch die Glastür ein und wurde vom melodischen Bimmeln der Ladenglocke empfangen. Sofort fühlte sie sich wieder wie zu Hause und Erinnerungen stürmten auf sie ein. Fast jeden Tag war sie nach der Schule zu Tante Babette in den Laden gegangen, hatte im Hinterzimmer erst ihre Hausaufgaben gemacht und ihr dann geholfen. Ihre Tante hatte nie geheiratet und freute sich über ihre Gesellschaft. Ada war bis nachmittags im Finanzamt gewesen und froh, dass ihre Tochter im Laden unterschlüpfen konnte. Bereits mit zehn Jahren konnte Theresa Röcke und Kleider nähen; sie nähte Kissen, Taschen und Stofftiere. Ihre Kreationen waren nie in dezenten Farben gehalten, sondern ein aufregendes Wirrwarr aus Mustern und Formen, leuchtenden Farben, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassten, auf den zweiten jedoch eine schillernde Harmonie bildeten.

Gedankenverloren strich sie über Baumwoll-, Samt- und Jerseystoffe, bis es im Hinterzimmer hinter dem Verkaufsraum raschelte und sie schnell aufsah.

»Theresa!«, rief Tante Babette strahlend und kam schwerfällig auf sie zu. Sie breitete die Arme aus und drückte ihre Großnichte an ihren wogenden Busen. Wie immer trug sie einen unförmigen, selbstgenähten Kittel, der mit pinkfarbenen Flamingos bedruckt war und ihr schweres Übergewicht kaschierte, und hatte die grauen Haare unordentlich zu einem Dutt zusammengefasst. »Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist! Deine Mutter hat mir nichts verraten.«

»Ich bin ganz spontan gekommen«, sagte Theresa und löste sich langsam aus der Umarmung ihrer Tante, die sich so tröstlich anfühlte.

»Du siehst blass aus«, stellte Babette fest und musterte sie gründlich. »Und unglücklich. Was ist los?«

Wie immer hielt sich ihre Tante nicht mit Small Talk auf. Theresa seufzte.

»Ich habe meine Arbeit verloren und Matthias hat mit mir Schluss gemacht. Deswegen bin ich heimgekommen.«

»Ach, du grüne Neune!«, rief Babette entsetzt. »Das verlangt nach einer Krisensitzung. Du musst mir alles erzählen.«

Gerade hatte eine Frau mit zwei Kindern das Geschäft betreten und schaute sich bei den Jerseystoffen mit Feuerwehr- und Drachenmotiven um. Freundlich, aber resolut komplimentierte Babette sie zum Ausgang. »Tut mir sehr leid, wirklich, aber wir haben gerade eine absolute Familienkrise, die sofortiges Einschreiten erfordert. Wenn Sie bitte …«

Die Frau sah sie erstaunt an, nahm aber ihre Kinder an die Hand und ging zur Tür. »Ja, nun, das kann ja durchaus mal vorkommen.«

»Wenn Sie wiederkommen, gebe ich Ihnen zur Entschädigung einen großzügigen Rabatt«, versprach Tante Babette, schloss die Tür hinter ihr und hängte ein Geschlossen-Schild auf.

»Du musst wirklich nicht wegen mir schließen, Tante Babette«, wandte Theresa ein. »Ich wollte nur kurz nach dir sehen, ich kann auch heute Abend wiederkommen und dann …«

»Papperlapapp«, sagte die Tante scharf und stapfte ihr voran die Treppe hoch ins Obergeschoss, wo sie ihre Wohnung hatte. Theresa bemerkte, wie schwer es ihr fiel, die Stufen zu erklimmen, sie keuchte wie ein kaputtes Ventil.

In ihrer kleinen Küche, die den verblichenen Charme der Siebzigerjahre hatte – über der Spüle waren geblümte Kacheln, die Schränke waren giftgrün – knallte Babette eine Cognacflasche auf den Tisch und stellte zwei Gläser dazu.

»Aber Tante Babette«, protestierte Theresa, »doch nicht am Vormittag … Und außerdem – darfst du das überhaupt?«

Sie ließ den Blick über die diversen Tablettenschachteln und -röhrchen schweifen, die am Ende des Tisches auf einem Haufen lagen.

Babette atmete schwer. »Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen, oder wie man so sagt. Ich war noch nie jemand, der bei schlechten Neuigkeiten ein gepflegtes Tässchen Tee trinkt, das weißt du doch.«

Theresa ergab sich in ihr Schicksal und sah zu, wie ihre Tante großzügig einschenkte. »Trotzdem. Mutti hat mir gesagt, dass es dir gesundheitlich nicht gut geht. Und wenn ich mir diese vielen Medikamente ansehe … Du solltest besser auf dich achten.«

»Hat sie dich geschickt, um mit mir zu schimpfen?«, fragte Tante Babette und verzog das Gesicht. »Das kann sie sich sparen. Mit Mitte siebzig ändere ich meine Gewohnheiten bestimmt nicht mehr, da kann sie sagen, was sie will. Hier, möchtest du eine Weinbrandpraline? Bedien dich.«

Genüsslich schob sie sich drei Pralinen nacheinander in den Mund, während Theresa nur auf die Schachtel starrte, als würde sie ihr Übelkeit verursachen.

»Meine Ärztin ist sowieso der Meinung, ich mache es nicht mehr lang«, sagte Babette unbekümmert. »Also kann ich auch die guten Seiten des Lebens genießen, meinst du nicht? Einen schönen Cognac, exquisite Schokolade, ab und an mal eine kubanische Zigarre, und sonntags den Tatort. Aber genug von mir alter Schachtel. Erzähl mir, was passiert ist.«

»Nun ja«, begann Theresa unbehaglich. »Das habe ich ja schon. Mit Matthias ist es aus, und meine Arbeit habe ich auch verloren.«

»Sei froh, dass du diesen kleinen Lackaffen los bist«, sagte Babette verächtlich. »Ohne ihn bist du besser dran. Ich konnte ihn noch nie leiden. Wie er auf meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag in diesem rosa Hemd aufgetaucht ist wie ein kleines Mädchen …«

Theresa schwieg bedrückt. Bis jetzt vermisste sie Matthias nicht, doch wenn sie an den Grund der Trennung dachte, vergrößerte sich der Kloß in ihrem Hals und sie glaubte, zu ersticken vor Kummer.

Zum Glück war Tante Babette so in ihrer Empörung gefangen, dass sie gar nicht daran dachte, nach den Gründen zu fragen.

»Noch Cognac? Und nimm dir eine Praline, die sind köstlich. Ich habe sie aus der Chocolaterie nebenan. Dort bekomme ich Rabatt, besonders wenn ich mehrere Schachteln gleichzeitig kaufe. Es geht nichts über gute Geschäftsbeziehungen zur Nachbarschaft. Und was war mit deiner Arbeit in dieser Schirmfabrik?«

Theresa musste gegen ihren Willen lächeln. »Es war doch keine Schirmfabrik. Die Eigentümer hießen nur Schirmer. Ich … Es, äh, ist etwas kompliziert …«

Sie druckste noch ein wenig herum, weil sie um nichts in der Welt über das Thema sprechen wollte und nicht wusste, was sie stattdessen an Belanglosigkeiten sagen konnte. Doch ihre Tante kam ihr mit ihrer Ungeduld zuvor.

»Ganz ehrlich, Theresa – der Job war absolut nichts für dich. Das habe ich von Anfang an gewusst, deshalb überrascht es mich nicht, dass nichts Dauerhaftes daraus wurde. In diese Finanzwelt gehörst du nicht.«

Insgeheim stimmte Theresa ihr zu, doch sie schwieg, um nicht wieder diese uralte Diskussion über ihr Berufsleben zu entfachen. Babette schob sich eine weitere Praline in den Mund.

»Dieses ganze BWL-Studium war doch eine Farce. Da hat dich deine Mutter in eine Richtung gedrängt, die nicht die richtige für dich war. Es ist schön, dass sie ihren Job als Finanzbeamtin mit so viel Leidenschaft ausübt …« An dieser Stelle lachte sie trocken, hustete daraufhin aber so heftig, dass Theresa aufsprang und ihr ein Glas Wasser eingoss. Babette winkte mit zittriger Hand ab und kippte ihren Cognac hinunter.

»Deine Mutter ist eine leidenschaftliche Finanzbeamtin«, fuhr sie dann fort, als wäre nichts gewesen, »aber du bist anders gestrickt. Du hättest Schneiderin werden sollen wie ich. Bei mir hättest du eine Ausbildung machen können. Oder überall sonst. Alle hätten dich mit Kusshand genommen, du konntest ja bereits mit zehn Jahren perfekt nähen. Stattdessen hast du dich dein halbes Leben lang mit Zahlen beschäftigt – Zahlen!« Sie spie das Wort aus, als wäre es etwas Unanständiges. »Dein Talent, deine Leidenschaft für Mode, für das Kreieren sind dabei auf der Strecke geblieben!«

Sie hatte sich völlig verausgabt und hustete wieder kräftig.

»Das hört sich nicht gut an«, sagte Theresa besorgt und klopfte ihr hilflos auf den Rücken.

»Ach was, Unkraut vergeht nicht«, keuchte Babette, nahm mit zittrigen Fingern eine Tablette aus einer der Schachteln, schluckte sie und spülte sie mit Cognac hinunter.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist …«

»Komm, hör auf, meine Krankenschwester zu spielen. Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: diese Stelle als Trash …«

»Treasurer«, half Theresa aus.

»Ja, wie auch immer. Was immer das sein soll. Diese Arbeit ist nicht das richtige für dich.«

Theresa drehte ihr Cognacglas in den Händen. »Ich bin den Job ja sowieso los.«

»Hm. Und was hast du jetzt vor?«

Theresa stützte den Kopf in die Hände. Nach den Ereignissen der letzten Wochen fühlte sie sich unendlich müde und kraftlos; ihr fehlte die Energie, um Pläne zu schmieden. Es war anstrengend genug, einfach den Tag durchzustehen.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Babette und musterte sie scharf. »Du könntest eine Weile hier im Laden bei mir arbeiten. Ich bin zu alt und zu krank, um alles alleine zu schaffen. Sie dich nur um. Das Vorratslager sieht aus wie Sau, und der Zustand des Schaufensters hat dich gewiss schockiert.«

»Ach nein, das ist nicht so …«

»Papperlapapp«, schnitt ihr Babette das Wort ab. »Du musst nichts beschönigen. Meine Buchhaltung ist ein einziges Chaos. Aber für dich als Betriebswirtschaftlerin wäre es bestimmt ein Leichtes, da durchzusteigen und alles wieder auf Vordermann zu bringen. Ohne die Hilfe deiner Mutter bei der Steuererklärung wäre ich eh schon lange im Knast wegen schmuddeliger Buchführung … «

Theresa starrte ihre Tante an; ihr Herz klopfte freudig beim Gedanken an die Arbeit im Stoffladen.

»Ich hatte bis letzte Woche noch eine Aushilfe«, erzählte Tante Babette. »Aber es ging auf Dauer nicht gut mit ihr. Das arme Ding war Kettenraucherin, sie musste halbstündlich vor die Tür, um ihrem Laster zu frönen, egal, ob gerade Kundschaft da war oder nicht. Außerdem dünstete sie einen widerlichen Zigarettengeruch aus, und die Stoffe rochen bereits nach ihr. In meinem Geschäft stank es wie in einer verrauchten Spelunke, stell dir das mal vor!«

»Oh je«, murmelte Theresa.

»Ja, nicht wahr? Wer möchte schon Stoffe kaufen, die nach durchzechter Nacht stinken? Ich musste diese Frau loswerden, bevor sie mir alle Kunden vergraulte. Deshalb kommst du mir wie gerufen, Theresa. Viel zahlen kann ich dir nicht, aber du kannst dich nach Herzenslust an den Stoffen, an meinen Spirituosen und meinen Süßigkeiten bedienen. Vielleicht möchtest du ja wieder mit dem Nähen anfangen?«

»Danke für das tolle Angebot«, sagte Theresa gerührt. »Ich meine, du bist meine Rettung! Ohne dich würde ich nur zu Hause rumsitzen und mich in meinem Elend suhlen. Und ich kann jeden Euro gebrauchen. Ich freue mich richtig, wieder hier mit dir zusammenzuarbeiten. Genauso wie früher.«

Sie umarmte ihre Tante.

»Wann soll ich anfangen?«

»Am Montag?«

»Gut. Ach, übrigens …« Theresa stand auf und blickte durch das schmale Küchenfenster hinüber zu dem alten Fachwerkhaus, das seit Neuestem das Chez Romain beherbergte. »Was ist das für ein neues Lokal da gegenüber? Als ich das letzte Mal hier war, war noch diese Pizzeria in dem Gebäude.«

Babette sah ihr über die Schulter und sagte abfällig: »Keine Ahnung, das ist irgend so eine Bar. Es gibt da anscheinend vor allem Cocktails, was Richtiges zu essen haben die wohl nicht. Die Bar gehört so einem seltsamen Typen. Er scheint aber kein Franzose zu sein, wie der Name vermuten lässt. Keine Ahnung, wo genau er herkommt. Auf jeden Fall hat er regen Frauenverkehr.«

Theresa lachte auf. »Du bist ja bestens informiert.«

»Natürlich. Ich habe recherchiert. Ich will schließlich wissen, wer sich in meiner Nachbarschaft so niederlässt. Begleitest du mich bei Gelegenheit mal rüber, auf einen Cocktail? Ich würde mich gerne mal da drüben umsehen.«

»Okay«, willigte Theresa ein, obwohl ihr insgeheim so gar nicht der Sinn nach Ausgehen stand.


Da sie sonst nichts zu tun hatte und die Aussicht darauf, zu Hause trübsinnig in ihrem Kinderzimmer zu sitzen, nicht sehr verlockend war, blieb sie gleich einige Stunden im Laden und machte sich nützlich. Da es wieder zu regnen begann, blieb die Kundschaft weitgehend aus. Tante Babette schloss das Samt & Seide früher als sonst, wünschte ihr einen schönen Sonntag und schloss die Ladentür hinter ihr ab.

Unschlüssig stand Theresa im Regen; dicke Tropfen zerplatzten auf der Oberfläche des Brunnens in der Mitte des Platzes und zogen Kreise um sich. In der Bar gegenüber war noch alles dunkel, sie öffnete erst um siebzehn Uhr, wie auf dem silbernen Türschild zu lesen war. Sie spannte ihren Schirm auf und schlenderte hinüber, um durch die Fenster zu sehen, doch außer einem finsteren Raum erkannte sie wenig.

Gemächlich ging sie nach Hause. Ada befand sich in der Küche und bereitete ein paar Schnittchen und Getränke für ihre Bridgerunde vor.

»Wie war es bei Babette?«, fragte sie, während sie kleine Happen mit Lachs und Ei belegte.

»Gut. Sie hat mir angeboten, bei ihr im Laden zu arbeiten.«

Als sie den Blick ihrer Mutter sah, fügte sie rasch hinzu: »Natürlich nur, bis ich etwas anderes gefunden habe.«

»Ach so.« Ada wirkte erleichtert. »Du hast ja nicht jahrelang BWL studiert, um dann in einem Laden zu stehen und Stoffe zu verkaufen.«

»Aber das macht mir gerade am meisten Spaß. Ich habe heute schon ein bisschen mitgeholfen.« Sie behielt die Tatsache, dass ihr diese Arbeit auch vor zehn Jahren bereits Freude bereitet hatte, für sich, um keine erbitterte Diskussion mit ihrer Mutter anzuzetteln.

»Du solltest gleich am Montag anfangen, dich nach interessanten Stellen umzusehen«, riet ihr Ada und legte Frischhaltefolien über die Schnittchen. »Du kannst ja mit den Zeitungsannoncen und mit dem Internet anfangen. Ich höre mich auch mal um.«

»Mhm. Mal sehen«, gab Theresa unverbindlich zurück und wandte sich ab, damit ihre Mutter ihren gequälten Gesichtsausdruck nicht sah. Nach den letzten Wochen brauchte sie Zeit, um wieder zu sich zu kommen, sie konnte nicht einfach am Montag durchstarten, als wäre nichts gewesen.

Sie löffelte schnell einen Joghurt, um nach oben verschwinden zu können. Adelheids Bridgerunde wollte sie nicht unbedingt begegnen, sie sehnte sich plötzlich nach der Einsamkeit und Stille ihres Zimmers. Der Tag im Samt & Seide war zwar schön, aber auch anstrengend gewesen, und sie merkte, wie ausgelaugt sie sich fühlte.

Vom oberen Stockwerk aus hörte sie, wie die Freundinnen ihrer Mutter eintrafen und sich geräuschvoll begrüßten. Sie schienen guter Stimmung zu sein und richteten sich um den Küchentisch herum ein.

»Schicke neue Louis Vuitton-Tasche, Emma«, sagte Adelheid zu einer ihrer Freundinnen. »Ich hoffe sehr, es ist kein Fake aus China?«

»Ach, Ada«, seufzte die Angesprochene, »lass die Finanzbeamtin in dir doch mal Feierabend machen.«

Theresa duschte lange, putzte sich die Zähne und schlüpfte in ihr Nachthemd, um sich dann auf dem Bett zusammenzurollen, den gelben Hasen an sich gedrückt, als könne er ihr Trost schenken.

Die Bridgedamen wurden immer ausgelassener; es schien Alkohol zu fließen, Gelächter hing im Raum. Eine der Freundinnen bekam einen Telefonanruf, denn Theresa vernahm, wie sie am Fuße der Treppe offenbar mit ihrem Mann redete.

»Marlene«, rief ihre Mutter aus der Küche. »Du weißt schon, dass du als Freiberuflerin das Handy unter gewissen Umständen absetzen kannst, oder?«

Die Bridgefreundinnen lachten sich kaputt und klirrten mit ihren Gläsern.

Theresa verfiel in einen unruhigen Schlaf. Wilde Träume vermischten sich mit dem schrillen Lachen der Bridgedamen. Später schrak sie aus einem schrecklichen Albtraum auf und saß kerzengerade im Bett, den Hasen immer noch unter den Arm geklemmt. Es herrschte eine undurchdringliche Dunkelheit, das Haus lag in völliger Stille. Auch in ihrem Traum hatte sie gerade geschlafen und war davon aufgewacht, dass sich eine feuchte, dunkle Blutlache zwischen ihren Beinen ausbreitete.

Ihr war so übel, dass sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Sie stand zittrig auf, stürzte ins angrenzende Badezimmer und erbrach sich in die Toilette.

Als es vorbei war, kniete sie Minuten lang auf den kühlen Fliesen, ohne sich zu rühren. In ihr herrschte eine schreckliche Leere, die sich womöglich nie wieder füllen würde.

Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie die Kraft aufbrachte, sich hochzurappeln, sich das Gesicht eiskalt abzuwaschen und wieder in ihr Bett zu gehen. Die Angst, der Traum könnte zurückkehren, hielt sie wach.

Da klingelte es an der Haustür. Das Geräusch zerriss die Stille der Nacht, sodass sie erneut auffuhr. Sie tastete nach ihrem Smartphone und schaute auf die Zeitanzeige: Es war nach Mitternacht. Das Herz trommelte in ihrer Brust; irgendetwas musste passiert sein, denn wer läutete um diese Zeit?