Brigitte Jäger-Dabek
Polen
Ein Länderporträt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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1. Auflage, September 2013 (entspricht der 3. Druck-Auflage von Dezember 2012)
©Christoph Links Verlag GmbH, 2003
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Satz: Agentur Siegemund, Berlin / Ch. Links Verlag
Karten S. 2 und 38: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-86284-235-3
Unbekannter Nachbar Polen
Einleitung
Die Lage in Mitteleuropa
Land der Gegensätze
Vielfalt und Reichtum
Armenhaus Nordosten
Warschau, die Boomtown
Das Hochgebirge
Polens Geschichte
Die Piastendynastie (960–1370)
Die Jagiellonen (1370–1572)
Die Adelsrepublik (1572–1795)
Volk ohne Staat (1795–1918)
Die Zwischenkriegsrepublik (1918–1939)
Der Zweite Weltkrieg (1939–1945)
Die Volksrepublik (1945–1980)
Solidarność und das Ende der sozialistischen Ära (1980–1989)
Die Nachwendezeit: Von der Solidarność zur Post-Solidarność
Kulturvolk Polen
Die Kultur des Messianismus
Literatur: Asche oder Diamant?
Malerei und patriotische Mission
Musik: mehr als nur Chopin
Film: Wajda und anderes
Polen und Deutsche in ihrer gemeinsamen Geschichte
Mythen, Nationalismen und Kalter Krieg
Die schwierige Freundschaft mit der DDR
Die neue Normalität nach der Wende
Helmuty: Das Deutschlandbild der Polen
Autodiebe und polnische Wirtschaft: Das Polenbild der Deutschen
Polen in der EU
Wechselbilder: Polen und die EU
Polnische Wirtschaft
Bauern und Landwirtschaft
Deutsche Ängste: Kommt die Migrantenwelle?
Polnische Ängste: der Ausverkauf des Bodens
Brüche und Umbrüche
Gesellschaft im Wandel – Polen A und B
Der schwierige Start: überflüssige Jugend?
Die Rolle der Kirche
Jedwabne und das neue polnische Selbstbild
Postkommunisten, Fundamentalisten und Post-solidaristen: Die politische Gegenwart
Phänomen Łapówka – Kriminalität, Schmuggel und Korruption
Alltag in Polen
So lebt Jan Kowalski
Bekanntschaft braucht ein Pole
Als Deutscher in Polen
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Kontaktadressen
Basisdaten
»›La Pologne? La Pologne? Schrecklich kalt dort, nicht wahr?‹ fragte sie mich und atmete erleichtert auf. Es gibt jetzt so viele von diesen Ländern, dass es am sichersten ist, über das Klima zu sprechen.
›Oh ja‹, möchte ich entgegnen, ›die Dichter meines Landes schreiben in Handschuhen. Ich behaupte nicht, sie zögen sie niemals aus; wenn der Mondschein wärmt, dann schon. In ihren Strophen, vom lauten Getöse skandiert, denn nur Getöse dringt durch das Heulen der Stürme, besingen sie das einfache Leben der Seehundhirten. Die Klassiker wühlen mit Tintenzapfen in den festgetretenen Dünen. Der Rest, die Dekadenten, beweint das Schicksal der kleinen Sterne aus Schnee. Wer sich ertränken will, muss zum Beil greifen, um eine Wake zu schlagen. So ist das, meine Liebe.‹«1
Ja, so ist das. Und seit den 60er Jahren, als die polnische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska (1923 – 2012) diese Zeilen schrieb, hat sich an der Ahnungslosigkeit der Europäer gegenüber Polen nicht viel verändert.
Mit schöner Regelmäßigkeit ging ein Aufschrei durch meinen Freundes- und Bekanntenkreis, wenn ich auf die Frage, wohin ich im Sommer fahre, »nach Polen« antwortete. Die Heimat meiner Familie hätte ich doch nun gesehen, die 22 Jahre nach Kriegsende eher zufällig wiedergefundenen Verwandten besucht, und das müsse es nun sein.
Als ich einige Zeit später auch noch verkündete, einen Polen heiraten zu wollen, hielten mich alle für ein wenig verrückt. Und man war erstaunt, dass mein Zukünftiger nicht keuleschwingend und in Felle gewandet auftrat und er auch noch abstritt, dass in seiner Heimatstadt Warschau die weißen Bären auf den Straßen herumliefen.
Mit Enthusiasmus hatte ich von Polen erzählt, von der tollen Landschaft geschwärmt und den offenen, überwältigend gastfreundlichen Menschen in ihrer so schwierigen Lebenssituation in den 70er und 80er Jahren. Hören wollte das kaum jemand, alles was östlich der Elbe lag, interessierte meine westdeutschen Altersgenossen nicht. Polen wurde irgendwo kurz vor Sibirien verortet, war aber dennoch nicht weit genug entfernt, um exotische Reize zu verströmen, außerdem galt Polen als rückständig, arm und langweilig, manchen auch als deutschfeindlich.
So gab es, als mein Mann und ich uns Jahre später trennten, immer noch Zeitgenossen, die meinten, unsere Scheidung sei darin begründet, dass Polen und Deutsche eben doch nicht so richtig miteinander könnten.
Im Westen zeigten allenfalls die politisch Interessierten eine gewisse Anteilnahme an den Geschehnissen im August 1980 und der Solidarność-Gründung. Manche erinnerten sich auch meiner Polenkontakte, als die großen Paketaktionen und Hilfssendungen Anfang der 80er Jahre liefen. Spenden beruhigt, man hat ja geholfen, aber sich genauer informieren? Das passierte genauso wenig, wie sich auch Spender für die Sahelzone nicht interessieren, wenn sie für Dürreopfer Geld geben.
Da die Polen bis auf die Kriegsrechtszeit 1981 ins westliche Ausland reisen konnten, hatte ich natürlich regelmäßig Besuch von dort, nicht nur die Schwiegereltern, auch Verwandte und Freunde in meinem Alter kamen. Dadurch erhielten die aus dem Fernsehen bekannten Probleme des Landes plötzlich ein Gesicht. Wie die meisten meiner Landsleute zugeben mussten, ein meist sympathisches Gesicht. Das zumindest bewirkte in meinem Umfeld erste Nachdenklichkeiten, und mancher Bekannte schaute nun hin, wenn im Fernsehen Berichte aus Polen liefen.
Die aus eigener Kraft errungene politische Wende in Polen ging an Deutschland Ost und West relativ unbemerkt vorüber, hier war ein jeder von den Umwälzungen im eigenen Land gefangen. Als die Mauer am 9. November 1989 fiel, war Bundeskanzler Kohl in Warschau zu Besuch, beim damals ersten demokratisch legitimierten Ministerpräsidenten des Ostblocks, dem katholischen Intellektuellen Tadeusz Mazowiecki.
Die Westorientierung in der alten Bundesrepublik färbte auch auf den Ostteil ab; selbst die Verlegung des Machtzentrums vom Rhein im Westen in das östliche Berlin erweiterte die Perspektive kaum. Dass Polen tatsächlich unser Nachbar ist, drang in manche westdeutsche Gegend noch nicht so recht durch, dabei liegt die polnische Grenze keine 100 Kilometer und gerade mal eine Autostunde von Berlin entfernt. Inzwischen gibt es die Europa-Universität »Viadrina« in Frankfurt (Oder), intensiven Jugendaustausch und freundschaftliche Beziehungen auf höchster Ebene. Trotzdem bleibt Polen für die meisten Deutschen der unbekannte Nachbar, bedacht mit Klischees. Während die Franzosen die raffiniertesten Liebhaber sein sollen, die Deutschen die Ordnung in Person sind und die Engländer angeblich vor hintergründigem Humor sprühen, gelten Polen gemeinhin als faul bei der Arbeit und fleißig beim Mitnehmen fremden Eigentums. Erst die Überwindung solcher tief verwurzelter Vorurteile macht ein echtes Kennenlernen möglich.
Zwischen der Ebene offizieller Kontakte, geförderter Begegnungen, institutionalisierter Treffen und dem Alltag im Verhältnis beider Völker zueinander besteht immer noch eine große Diskrepanz. Um sie zu überwinden, genügt es aber nicht, jede normale Handlung zwischen Deutschen und Polen als Versöhnungstat zu bezeichnen, die dann auch noch meist von deutscher Seite ausgeht. »Versöhnungskitsch« nannte der deutsche Journalist und langjährige Polenkorrespondent Klaus Bachmann dieses verkrampfte Streben nach Normalität. Er gab zu bedenken, was der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1992 bei seinem Besuch in Warschau gesagt hatte: »Versöhnen können sich nur Polen mit Deutschen, nicht umgekehrt. Das wäre ja sonst so, als fordere der Täter das Opfer zur Versöhnung auf.«2
So bleibt das deutsch-polnische Verhältnis eine Herausforderung, solange wir nicht gelernt haben, ganz selbstverständlich im Alltag miteinander umzugehen, solange die Grenze an der Oder nicht genauso wenig trennend ist wie die am Rhein.
Wie viele von uns kennen einen Franzosen oder Schweizer, einen Belgier, Holländer oder Schweden. Aber wer kennt schon einen Polen?
Es wird Zeit für eine kleine Brücke über die Oder, die ich mit diesem Buch bauen möchte. Kommen Sie einfach mit, schauen Sie mal herein bei unserem unbekannten Nachbarn und lernen Sie Polen ein bisschen besser kennen und verstehen.
Vom polnischen Publizisten Adam Krzemiński stammt der Ausspruch: »Polen will zurück nach Europa.«3 Sie werden fragen: wieso zurück? Polen liegt doch in Europa, oder nicht? Womit wir bei einem nicht ganz unkomplizierten Fragengeflecht wären.
Was ist eigentlich Europa? Einfach nur ein geographischer Raum? Und wenn ja, wie weit reicht er? Ist dieses Europa ein Kontinent mit überwiegend natürlichen Grenzen, der sich im Osten irgendwo in den Weiten Sibiriens verliert? Ist Europa ein Kulturraum? Oder doch vielmehr, wie Philosophen behaupten, eine Idee?
Drei Viertel aller Deutschen meinen, die Grenze europäischer Kultur verliefe am Ural. Diese Grundthese des deutschen Bildungsbürgertums, die beinhaltet, dass Europa nicht nur ein geographischer, sondern gleichzeitig ein Kulturraum ist, kommt bei unseren Landsleuten auch heute noch wie aus der Pistole geschossen. Fragt man weiter, werden alle bestätigen, dass Polen zu diesem Europa gehört.
Die Frage, warum Polen zurück nach Europa will, findet auf diesem Weg also keine Antwort.
Endgültig schwierig wird es bei der Einteilung in Ost-, West- oder Mitteleuropa. Die Deutschen sehen sich klar als Land der Mitte, mehr als drei Viertel aller Deutschen betrachten sich als Mitteleuropäer. Auf die Frage, wer denn zu Mitteleuropa gehöre, was Mitteleuropa ausmache und von den anderen Teilen des Kontinents unterscheide, folgt allerdings schnell das große Schweigen.
Einigen wird man sich lediglich darauf, dass auch Mitteleuropa nicht nur ein geographischer, sondern ein Kulturraum ist, ohne allerdings Näheres bestimmen zu können.
Eine heute noch verbreitete Definition stammt aus dem Jahr 1915 und ist von Friedrich Naumann in seinem Buch »Mitteleuropa« dargestellt worden. Demnach umfasst Mitteleuropa den Raum des Deutschen Reiches und der österreichisch-ungarischen Monarchie. In der Weiterführung sind auch die Nachfolgestaaten der beiden nach dem Ersten Weltkrieg aufgelösten Monarchien mitteleuropäische Länder, also selbstverständlich auch Polen.
Das Problem dieser Definition ist aber, dass der gemeinsame, reiche Kulturraum, aus dem sowohl das heutige Deutschland als auch das heutige Polen hervorgingen, nicht mehr existiert. Nach dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel4 ging dieses Mitteleuropa mit dem Holocaust an den hier ansässigen Juden unter, in dem verschiedene Kulturen sowohl in der Diaspora als auch in Mischzonen gelebt hatten, mit einerseits dem Deutschtum und andererseits dem Judentum als integrativen Kräften und Deutsch als Lingua franca.
Nach 1945 spaltete der Kalte Krieg Europa in Ost und West, die Teilung grub sich fest in die Köpfe ein und wirkt bis heute nach. Für uns in der Bundesrepublik Geborene begann Osteuropa an der Oder, und spätestens dort endete die bekannte Welt. Tatsächlich aber waren Oder und Neiße nie die Grenze zu Osteuropa, weder kulturell noch sprachlich oder historisch.
Die Oder-Neiße-Grenze war bis zur politischen Wende 1989 eine ideologische Grenze, die von beiden Seiten aus politische Blöcke mit geographischen Räumen gleichsetzen sollte. Der Ostblock wurde so mit Osteuropa gleichgesetzt. Eine Mitte konnte es nicht geben zwischen den beiden Extremen. Der Eiserne Vorhang rückte im Empfinden des Westens die Grenzen Europas plötzlich vom Ural westwärts bis an die Oder. Vom Westen aus gesehen gab es zwischen Warschau und Wladiwostok kaum noch einen Unterschied.
Wir hatten es so sehr verinnerlicht, nach Westen zu sehen, möglichst bis über den Atlantik, dass wir unsere östlichen Nachbarn immer im Rücken hatten und anscheinend grundsätzlich hinter uns sahen – und wir wurden uns fremd.
So gesehen erscheint die Frage, warum Polen zurück nach Europa will, in einem neuen Licht. Die Forderung Krzemińskis betrifft vor allem ein Ende der Ausgrenzung jener Staaten, die bis zur Wende hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Fast 45 Jahre lang waren sie ein weißer Fleck im Bewusstsein der westlichen Welt, ihr kultureller, historischer und zivilisatorischer Beitrag zu dem, was Europa ausmacht, wurde nicht zur Kenntnis genommen, totgeschwiegen in einer Zeit, in der Europa so weit nach Westen rückte, dass es fast in Amerika ankam. Wo lag da Polen?
Zwar verlief der Eiserne Vorhang eigentlich nicht an der Oder, sondern an der Elbe, aber trotzdem wurde im Kalten Krieg ein Unterschied gemacht. Die DDR wurde nicht als souveräner Staat angesehen und als eine vorübergehende Fußnote der Geschichte betrachtet, eine Art zeitweilig ausgegliederter Außenposten der Bundesrepublik. Da sich die BRD in ihrem Selbstverständnis aber immer als Teil Mitteleuropas einschätzte, gehörte die DDR zwar nicht als Staat, weil nicht existent, wohl aber die Bevölkerung der DDR in ihren kulturellen und historischen Wurzeln zu Mitteleuropa. In eine ähnliche Kerbe hieben die rhetorischen Übungen des »dreigeteilt niemals« der Nachkriegsjahrzehnte, mit denen Parteien jeglicher Couleur in der Bundesrepublik ein vereintes deutsches Reich in den Grenzen von 1937 forderten.
Was aber bildet seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Mitte Europas? Wenn wir Mitte sagten, meinten wir – je nach Standpunkt – den Westen des Ostens oder den Osten des Westens. Das galt wie für alle Ostblockländer auch für Polen, der Aphoristiker Stanisław Jerzy Lec schrieb damals: »Auch uns nennt man im Westen den Osten und im Osten den Westen.«5 Die Mitte Europas war längst in einzelne nationale Kulturen zerfallen, es existierte keine gemeinsame Kultur eines nationenübergreifenden Raumes mehr.
Wie viel unserer Kultur stammt aus einer Region, die noch weit, weit jenseits des Eisernen Vorhangs lag! Das verbindet uns Deutsche mit den Polen, denn bedeutende Zentren beider Kulturen liegen außerhalb der Staatsgrenzen. Aber wer wollte bestreiten, dass Joseph Roth, Paul Celan oder Rose Ausländer deutschsprachige mitteleuropäische Kultur geschaffen haben? Sie stammten aus der Bukowina und Galizien, dem Raum Lemberg – Czernowitz – Brody, der heute zur Ukraine gehört, bis zum Ersten Weltkrieg aber Bestandteil der österreichischungarischen Monarchie war. Nicht nur deutschsprachige Kunst und Kultur bereicherte Europa, auch jiddische Literaten kamen aus dieser Region. Kaum zur Kenntnis gelangte bei uns, dass daneben bedeutende polnischsprachige Künstler aus Lemberg kommen, beispielsweise die Schriftsteller und Dichter Zbigniew Herbert, Adam Zagajewski und Stanisław Jerzy Lec. Nirgends wird so deutlich wie am Beispiel Lemberg, das heute L’viv heißt, was Mitteleuropa einst bedeutete: Der Name des Kontinents bezeichnete immer eher einen Raum unterschiedlicher, sich gegenseitig in reicher Vielfalt beeinflussender Kulturen, als ein geographisch eng umrissenes Gebilde, und in diese Mitte gehörte auch Polen.
In ihrem Selbstverständnis sehen die Polen den östlichen Rand Mitteleuropas an der eigenen Grenze zur Ukraine und zu Weißrussland. Dort nämlich endet die Zugehörigkeit zum westlichlateinischen Kulturkreis. Sie selbst sind seit mehr als 1000 Jahren katholisch und nach Rom orientiert. Außerdem bedienen sich die Polen des lateinischen Alphabets, während die Russen kyrillisch schreiben und orthodox sind.
Diese Trennlinie zwischen Westslawen und Ostslawen bewerten die Polen in erster Linie als zivilisatorisch und nicht als ethnisch bedingt, woran auch die jahrzehntelange zwangsweise Eingliederung in den Ostblock nichts änderte.
Selbstverständlich ist Polen ein mitteleuropäisches Land, und nicht Polen muss an Europas Türen klopfen, sondern Europa sollte begreifen, wie viel kulturellen Reichtum Polen uns zu bieten hat.
Mittlerweile leben wir in einem Europa der neuen Grenzen, die – außer auf der Balkanhalbinsel – friedlich zustande kamen. Auf diesem Kontinent wird sich eine neue Mitte bilden. Geographisch gesehen liegt der Mittelpunkt Europas ohnehin viel weiter im Osten, als wir denken, nämlich in der Nähe von Wilna (Vilnius) in Litauen. Das geistige Zentrum wird sich dort bilden, wo sich politische Macht und kulturelle Elite ballen, und auch das wird vermutlich östlicher sein als bisher.
Wenn man die Oder in Richtung Osten überquert hat, bemerkt man als Erstes: Hier gibt es noch Platz, das Land scheint wenig bevölkert. Die Zahlen bestätigen diesen Eindruck. Polen, das mit fast 313 000 Quadratkilometern größer ist als Großbritannien oder Italien und fast so groß wie die Bundesrepublik, hat nur halb so viele Einwohner wie Deutschland. Außerhalb der Ballungsgebiete, vor allem im Nordosten und den Bergen des Südens, gibt es sogar einige Landstriche, die fast menschenleer und unberührt zu sein scheinen.
Polens traumhafte Naturräume ziehen jährlich fast 13 Millionen Touristen an, von denen die meisten mehr erhoffen als nur die preiswerten Märkte und den günstigen Friseurbesuch. Die abwechslungsreichen Landschaften passen in ein von Ost nach West verlaufendes Streifenmuster. Von Nord nach Süd folgen der Ostseeküste die Gebiete der Moränenlandschaften Pommerns und Masurens, die durch die Weichsel voneinander getrennt sind. Nach Süden hin schließen sich die Tiefebenen Großpolens (Wielkopolska) und Masowiens an, und die Berggürtel der Sudeten und Karpaten westlich und östlich der Oder vervollständigen das Muster.
Diese verschiedenartigen Landschaften werden von mindestens ebenso verschiedenen Menschen mit vielfältigen Traditionen und Mentalitäten bewohnt. Wie überall gibt es auch unter Polen Bissigkeiten und Vorurteile gewissen Regionen und ihren Bewohnern gegenüber.
Die Warschauer werden als laut und poltrig angesehen, immer etwas großspurig und arrogant, überdies gelten sie als die wildesten, risikofreudigsten und rücksichtslosesten Autofahrer im Land. Die Krakauer hingegen sollen besonders kultiviert leben, und man erkennt ihnen deutliche Überreste des südlich heiteren Charmes zu, den die Habsburger Monarchie hinterließ. Die Großpolen der Region Wielkopolska wiederum gelten ob ihres Geizes als die Schotten Polens, während die Masuren als rückständig und die Bergbewohner der Beskiden, die Goralen, als Hinterwäldler bezeichnet werden.
Dass Polen kein Warmwasserland ist – die Ostsee erreicht im Gegensatz zu den Seen selten 20 Grad Celsius – und, im kontinentalen östlichen Klimaraum liegend, kalte und schneereiche Winter hat, mag man noch vermuten. Wie heiß die kurzen Sommer sind, weiß schon kaum jemand. Stabile Wetterlagen mit über 30 Grad Hitze sind nicht eben selten, auch dieser Aspekt spricht für einen Urlaub.
Von den zehn im Mai 2004 der Europäischen Union (EU) beigetretenen Staaten ist Polen das bei weitem größte Land, fast so groß wie die restlichen neun zusammen. Entsprechend ist seine Bedeutung: Einerseits wird Polens Stimme Gewicht haben im neuen Europa, andererseits ist das aufstrebende Land ein Markt mit riesigen Potenzialen im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich.
Es überrascht wohl niemanden, dass Polen, das immer noch in der Transformation zur Demokratie und Marktwirtschaft steckt, ein Land der Gegensätze ist. Immer noch geht die Rede von Polen als Agrarland mit einer rückständigen Landwirtschaft, und Medien zeigen die große Armut und dörfliche Idylle vergangener Zeiten. Oft möchte man meinen, hinter jedem klapprigen Pferdefuhrwerk ist ein Kamerateam her.
Polen bietet malerische Natur: einsame Landschaften im Nordosten des Landes, breite Strände an der 500 Kilometer langen Ostseeküste mit Dünenlandschaften von außerirdischer Schönheit, ruhige weite Ebenen in der Mitte und im Süden alpine Hochgebirgsregionen mit wunderbaren Ski- und Wandergebieten.
Aber Polen ist auch Industriestandort. An rauchenden Fabrikschloten und modernsten Tankstellen zuckelt ein von einem Pferd gezogener Heuwagen vorbei. Polens leistungsfähige Werften stellen Hightech-Schiffe her und haben der Seefahrt die modernen Technologien für Luxus-Großsegler beschert. Daneben schaukeln marode, uralte Fischerkähne auf den Wellen. In pulsierenden Städten findet der Besucher lebendige Zentren, um später die ländliche Abgeschiedenheit zu genießen.
Polen hat eine hoch industrialisierte Landwirtschaft auf endlosen Flächen mit riesigen Maschinenparks und Klitschen mit der Fläche eines mittleren Reihenhausgartens, die nicht für den Markt, sondern allenfalls für den Eigenbedarf produzieren.
Ja, Polen ist ein Land der Gegensätze, das gilt besonders für das enorme Gefälle von der Hochglanzmoderne Warschau zu ländlichen Räumen, in denen die Zeit im 19. Jahrhundert stehen geblieben zu sein scheint. Es lohnt sich, diese Extreme einmal etwas näher zu betrachten.
Die Landschaft ist hügelig, auf kurvenreicher Straße geht es kilometerlang auf und ab durch dichte Wälder. Ab und zu blitzt es silbern zwischen den Bäumen hindurch – ein See. Immer wieder wird die Straße zur Allee und führt durch dicht belaubte grüne Tunnel. Dazwischen weite, satt gelbe Felder und Seen, bis man nach Stunden in das nächste traumverlorene Dorf kommt, und über allem der hohe, weite Himmel mit den weißen Pustewolken.
Masuren, einst ein Teil Ostpreußens, liegt im Nordosten Polens direkt an der Grenze zum russischen Kaliningrader Gebiet und gehört heute zur Woiwodschaft Warmia i Mazury, die kurz Mazury (Masuren) genannt wird. Zu weiten Teilen entspricht die erst seit 1999 in den heutigen Grenzen bestehende viertgrößte Woiwodschaft Polens immer noch dem Klischee der abgeschiedenen Idylle. Mit nur 1,46 Millionen Einwohnern ist sie nur halb so dicht besiedelt wie das übrige Polen.1
Noch heute ist Masuren ein ländlich geprägter Raum, 40 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land und mehr als ein Viertel bezieht das Einkommen aus Ackerbau und Viehzucht. In dieser grünen Lunge Polens gibt es nur zwei größere Städte, Elbląg mit 100 000 und die Hauptstadt Olsztyn mit 180 000 Einwohnern.
Der Bauboom scheint Olsztyn noch viel mehr als Elbląg aus allen Nähten platzen zu lassen, Hochhäuser schießen rings um das Zentrum wie Pilze aus dem Boden. Die Innenstadt wird immer schicker, ein Laden nach dem anderen eröffnet.
Also geht es Masuren doch gut? Weit gefehlt, der Aufschwung ist kaum über Olsztyn hinausgekommen, Stadt und Land driften immer mehr auseinander, und je weiter man sich von Olsztyn nach Norden oder Osten entfernt, desto trüber wird die Lage. Werden in der gesamten Woiwodschaft noch 75 Prozent des polnischen Lebensstandards erreicht, sind es an der russischen Grenze gerade 50 Prozent.
Die Arbeitslosenstatistiken liefern hier regelmäßig neue Negativrekorde. Bei einer Arbeitslosenrate um die 11,8 Prozent in ganz Polen sind es in Masuren 21,1 Prozent. Hätte nicht die Regionalmetropole lediglich 7,9 Prozent Arbeitslose, sähe die Quote noch fürchterlicher aus, denn fünf Kreise der Woiwodschaft verzeichnen über 30 Prozent Beschäftigungslose.
Grund für diese katastrophale Lage ist die Strukturschwäche der Region. Der Prozentsatz der kollektivierten landwirtschaftlichen Fläche war hier besonders groß, fast 40 000 Arbeitsplätze auf den Staatsgütern PGR (Państwowe Gospodarstwo Rolne) fielen nach der Wende ersatzlos weg, weil sich keine Investoren fanden. Nirgends in Polen ist die Zahl der Arbeiter in der Industrie geringer und die der in der Landwirtschaft tätigen Menschen höher, die Anzahl der Höfe mit durchschnittlich knapp sieben Hektar nirgends so klein. Wer keinen Ackerbau betreibt, arbeitet fast ausschließlich in der Lebensmittelherstellung, im Tourismus und in der Möbelproduktion, nennenswerte Industrie gibt es außer in Olsztyn und Elbląg nicht.
Trostlos sieht es dort aus, wo die großen Staatsgüter das Wirtschaftsleben bestimmten. Sie sind leicht zu erkennen, die alten PGR-Dörfer, mit ihren tristen, maroden Plattenbauten, die seit wer weiß wie langer Zeit keine Renovierung gesehen haben. Die PGR war oft einziger Arbeitgeber weit und breit, in einer ganzen Siedlung ist die Zahl derer, die heute noch Arbeit haben, meist an den Fingern einer Hand abzuzählen.
Mit geringer Schulbildung, oft ohne richtige Berufsausbildung sind diese Arbeitskräfte, hinter denen nicht selten kinderreiche Familien stehen, am Markt nicht zu vermitteln. Hoffnungslosigkeit und der zermürbende Kampf ums Überleben bestimmen den Alltag, an dem Familien zerbrechen und Kinder unter die Räder kommen.
Immer mehr junge Leute fühlen sich überflüssig in Masuren, nicht nur Schulabgänger, sondern zunehmend auch Hochschulabsolventen. Die jüngsten Statistiken bestätigen, dass jeder zehnte Arbeitsuchende einen Hochschulabschluss vorweisen kann und jeder dritte eine höhere Schulbildung. Viele Jugendliche haben übervölkerte Modeberufe gewählt, weil es keine funktionierende Beratung gibt. Auch fehlen dem Woiwodschaft-Arbeitsamt die Mittel für eine gezielte Förderung neuer Arbeitsplätze.
Bisher ist diese Region von allen seit 1989 amtierenden Regierungen mehr als stiefmütterlich behandelt worden. Versprochen wurde der Region allerdings schon vieles. Wie Professor Eugeniusz Niedzielski, Wirtschaftsexperte an der Universität Olsztyn, meint, besteht ohne Hilfe von außen keine Chance, das wirtschaftliche Missverhältnis zu anderen Regionen abzubauen, da das Wachstumstempo der besser entwickelten Regionen nun einmal schneller sei.
Doch nicht Masuren allein, der ganze ländliche Raum von Polen B ist zu einem Archipel der Überflüssigen geworden, denn jeder zweite polnische Arbeitslose wohnt auf dem Land.
Dabei ist Masuren nur ein Beispiel von vielen im ganzen nordöstlichen und östlichen Polen, das mittlerweile als Polen B bezeichnet wird. Abhilfe versprachen schon viele Politiker, passiert ist bis 2004 wenig. Der EU-Beitritt mit seinen Subventionsmitteln, die nun seit 2004 stetig gerade auch in die unterentwickelten Regionen fließen, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer. In den regionalen Unterzentren, also den kleineren Städten in den Woiwodschaften, zeigen sich durch starke regionale Selbstverwaltungen eine optimierte Nutzung der EU-Fördermittel, und viele selbst inszenierte Mikro-Booms, die auch Arbeitsplätze schufen. Manche vor wenigen Jahren noch verschlafene Provinzstädte sind kaum wiederzuerkennen. Das westmasurische Ostróda mit seinen 36 000 Einwohnern ist so ein Beispiel. Das Gesicht der Stadt mit der Traumlage an mehreren Seen ist völlig verändert worden mit einer Wasserskianlage, mehreren Hotelbauten, einem Sportpark, dessen Zentrum ein ultramodernes Fußballstadion bildet und einem spektakulären Amphitheater mit Seeblick. Nicht nur von den EU-Fördertöpfen profitierte man, auch das gewaltige Investitionsprogramm anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2012 half. Doch wirklich voran geht es nur dort, wo vereinzelte Investoren oder die Tourismusförderung Arbeitsplätze aufs Land bringen, denn die umliegenden Dörfer profitieren kaum von den neuen Regionalzentren.
Warschau steht im Stau, kilometerlange Schlangen auf den breiten Straßen sind zum Alltag geworden in Polens Hauptstadt. Im Kriechtempo schleichen die Blechlawinen entlang der Weichsel an der malerischen Kulisse der Altstadt vorbei. Eindeutig, Warschau ist das Symbol des neuen Polens und der Motor für Polen A, die Welt westlich der Weichsel und der großen Städte des Landes.
Die Entwicklung des Straßennetzes und die Nahverkehrsplanung hinken dem Aufschwung hinterher, auch wenn ein weiterer Ausbau der Metro Erleichterung verspricht. Die Weichselbrücken bilden immer noch das größte Verkehrshindernis der Stadt. Die vielen Lkws aus ganz Europa zeigen: Hier herrscht Goldgräberstimmung. Jeder will dabei sein, keiner den großen Boom verpassen.
Polens Hauptstadt verändert sich in atemberaubendem Tempo. Warschaus Silhouette wird längst nicht mehr nur vom Kulturpalast im stalinistischen Zuckerbäckerstil dominiert. Er hat mit seinen 234 Metern Höhe nun Konkurrenz von modernen Hotelund Bürotürmen bekommen, in deren Glasflächen sich die Stadt spiegelt.
Warschau ist eine einzige Baustelle – die größte Europas. Alles, was außerhalb der Altstadt liegt, ist in Umgestaltung. Riesenkräne, breitere Brücken, neue Hochhäuser und renovierte Einfamilienhäuser wandeln täglich das Gesicht Warschaus.
In dieser jungen Stadt – ein Drittel der Warschauer ist unter 24 – ist alles im Fluss, hierher strömen Menschen, um voranzukommen. Dadurch ist Warschau aber auch eine Stadt der Kontraste geworden, bei allem Glanz und Glitter der Yuppie-Generation gibt es auch das hässliche Gesicht, zerfallende Armeleuteviertel mit großen sozialen Problemen, die von der Stimmung des Aufbruchs nicht erreicht wurden. Schickeria und Armut, S-Klasse und Maluch (der kleine polnische Fiat) existieren nebeneinander, und an den Schnittstellen herrscht ein zunehmender Verdrängungswettbewerb.
Bei aller Rasanz der Veränderungen steht die Altstadt in scheinbar unerschütterlicher Ruhe am Westufer der Weichsel. Doch auch hier hielt die Moderne Einzug, alles ist bunter, schicke Läden, teure Boutiquen und Szenekneipen wurden eröffnet. Die Altstadt ist noch immer das Wichtigste in Warschau, auf sie sind alle Polen stolz.
Warschau ist im engsten Wortsinn auferstanden aus Ruinen. Nach der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg war die Stadt völlig zerstört. In einem gigantischen Kraftakt nahm ganz Polen mit einer Welle der Hilfs- und Spendenbereitschaft den Wiederaufbau nach Plänen aus dem 18. Jahrhundert in Angriff. Diese detailgetreue Aufbauarbeit honorierte die UNESCO, indem sie die Warschauer Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes aufnahm.
Wer heute den quadratischen Marktplatz der Altstadt sieht, mag kaum glauben, dass es dort zu Kriegsende nur Ruinen gab. Dieser Teil des alten Warschau war schon 1953 wieder erstanden. Als Vorlagen dienten Gemälde Canalettos aus dem 18. Jahrhundert. Reich verzierte Bürgerhäuser stehen hier auf gotischen Grundmauern und sind teilweise mit den charakteristischen doppelt gestuften Dächern versehen. Hinter den abwechslungsreichen Fassaden findet der Besucher viele Läden, Restaurants und Kawiarnias, die polnischen Kaffeehäuser, in denen sich das bunte Treiben auf dem Marktplatz bei einem Espresso herrlich genießen lässt.
Aber auch hier, wie in allen Seitenstraßen, ist Baustelle an Baustelle. Selbst historische Gebäude der Altstadt sind von riesigen Werbeplanen verhüllt, notwendige Renovierungen werden zu großen Teilen mit den so erzielten Einnahmen finanziert, unbekümmert versucht man, jede Fläche zu Geld zu machen.
Der berühmte Königsweg führt entlang historischer Gebäude vom Königsschloss in der Altstadt zum Belvedere-Palast im königlichen Łazienki-Park. Sein erster Teil, die Krakauer Vorstadt Krakowskie Przedmieście, ist ein Prachtboulevard, an dem sich die repräsentativen Kirchen der Stadt, die prunkvollen Adelspaläste und die Universität befinden. In Höhe des Staszic-Palais’ heißt der Königsweg bezeichnenderweise Neue Welt (Nowy Świat). Prächtige Bürgerhäuser aus dem 19. Jahrhundert, immer mehr Banken, Kaufhäuser und schicke, teure Läden zieren diese Einkaufsstraße, die zu einer der beliebtesten Europas zählt.
Um den Kulturpalast herum spielt sich großstädtisches Leben ab, denn Warschau ist nicht nur Polens politisches und wirtschaftliches Zentrum, sondern mit 1,7 Millionen Einwohnern auch die größte Stadt des Landes. Hier pulsiert das moderne Polen mit den bekanntesten Hotels und dem Bahnhof, wuselig, geschäftig, laut – genau so, wie auch die Warschauer von ihren Landsleuten gesehen werden. Der Gedanke an Warschau erweckt zwar patriotische Wallungen und Stolz in vielen Polen, die wahre Liebe aber gehört Kraków (Krakau) mit seinem südlich lässigen Charme.
Längst sind Märkte, wie Europas größter Basar im Stadion 10-lecia im Stadtteil Praga nur noch eine Erinnerung. Wo kürzlich noch der Basar stand, kann man nun das schicke neue Nationalstadion bewundern, das zur Fußballeuropameisterschaft 2012 gebaut wurde, die Polen zusammen mit der Ukraine ausrichtete. Allenfalls zwei Ecken weiter im Rozyckiego Bazar kann man zumindest als Tourist noch das Flair der Nostalgie atmen, Einheimische trifft man hier kaum. Einkaufsmeilen in der Innenstadt, ein Mix von Super- und Hyperstores, Warenhäusern, kleinen Läden und schicken Boutiquen sind nicht nur Symbole des Kommerzes, sondern auch Ausdruck des Lebensgefühls einer selbstbewussten Bürgergesellschaft. Der alte Basar hätte nicht mehr in das neue, zur EURO 2012 auf Hochglanz polierte Stadtbild gepasst. In dieser Stadt ist fast nichts mehr, wie es vor der Wende war, ein Wandel, der manch älteren Warschauer zu überfordern droht.
Ein wenig Manhattan an der Weichsel erstrebt Polens Hauptstadt, und nicht nur die in den Himmel wachsenden Bürotürme sollen einen Hauch Wallstreet-Atmosphäre vermitteln, Warschaus Entwicklungsplan hat das ehrgeizige Ziel, die Millionenstadt zur Wirtschaftsdrehscheibe des östlichen Mitteleuropa zu machen.
Warschau ist Zentrum der größten polnischen Woiwodschaft Mazowieckie (Mazowien), einer wirtschaftlich gut gestellten Region mit höherem Wachstum und niedrigerer Arbeitslosigkeit als der Landesdurchschnitt. Allen Dezentralisierungsmaßnahmen zum Trotz ist Polens Hauptstadt der Investitionsschwerpunkt des Landes, hier werden die wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen getroffen. Die Aufschwungwirtschaft in attraktiver Businessumgebung schöpft obendrein den Arbeitsmarkt immer noch fast voll aus, in Warschau gibt es nur knapp sechs Prozent Arbeitslose, polenweit sind es mit 17 Prozent fast dreimal mehr.
Dieses Wachstum braucht Immobilien, und so sind Bürobauten in Warschau immer noch ein guter Investitionstipp. Zwar stiegen die Leerstände im letzten Jahr auf 15 Prozent, aber das betrifft ausschließlich Räume in älteren Gebäuden. Aufzüge, Klimaanlagen und ähnlichen Komfort bieten noch weniger als die Hälfte der angebotenen Büros.
Dass Polen nicht nur Mittelgebirge, sondern auch Hochgebirge hat, ist in der alten Bundesrepublik so richtig erst durch die Erfolge des Skispringers Adam Małysz bekannt geworden. Allenfalls Zakopane hatte man schon wahrgenommen, wenn auch dieser Ort nur Kulisse der faszinierenden Weltcupduelle von Małysz, Schmitt und Hannawald war.
In der DDR allerdings galten Zakopane und die Hohe Tatra als Traumziele. Selbst das Sandmännchen des DDR-Fernsehens reiste stilecht auf einem Schlitten ins befreundete Polen zu den Goralen, benannt nach ihrem Wohnort in den Bergen, und erzählte den Kindern zwischen Krakau und den Beskiden seine Geschichten.
Zakopane ist Polens Wintersporthauptstadt und hat sich sogar um die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2010 beworben. Die 40 000 Einwohner leben auf 900 Meter Höhe am Rande des Nationalparks Hohe Tatra und damit in Polens am höchsten gelegener Stadt.
Die Berge der Hohen Tatra sind eine Art Westentaschen-Alpen. Auf einer Fläche von 50 Kilometer Länge und 15 Kilometer Breite findet man alle Schönheiten, die ein Hochgebirge haben kann: versteckte Täler, traumhafte Ausblicke, unberührte Schneefelder, aber auch mehr als 50 Skilifte und gepflegte Loipen. Sechs Millionen Besucher zählt die Tatra jährlich, die Sportkapazitäten sind aber deutlich eingeschränkt, denn ein großer Teil der Hohen Tatra ist seit 1952 Nationalpark, der bereits unweit der Stadtgrenze Zakopanes beginnt. Selbst auf Zakopanes Hausberg Kasprowy Wierch (1955 Meter) werden mit Europas ältester Seilbahn stündlich nur 210 Touristen befördert.
Die Bergromantik vieler Flachlandbewohner, die deutsche Familien Jahr für Jahr nach Bayern oder Österreich lockt, zieht auch unzählige Polen in die Hohe Tatra. Sie kommen oft mit den Nachtzügen aus den Städten, um wenigstens für ein verlängertes Wochenende zu bleiben.
Dieses Verhältnis inniger Liebe zur Tatra gehört zur polnischen Kultur und hat etwas von religiöser Verehrung an sich. Tatsächlich hat ja vieles in Polen mit dem Glauben und der katholischen Religion zu tun, und so werden auch Prozessionen und Pilgerfahrten in die Tatra organisiert. Nur eines trübt die Beziehung von katholischem Glauben und der Liebe zum polnischen Bergland: Adam Małysz ist evangelisch.
Sicher ist es in der Tatra urwüchsiger und stiller als in den Alpen, mit weniger Schickimicki und mehr unverbauter Natur. Auch dominiert hier ein ganz anderer, spezieller Architekturstil mit schönen jugendstilverzierten Holzhäusern, der bald nach dem Ersten Weltkrieg sogar verbindlich vorgeschrieben wurde. Dennoch, auch hier wird gnadenlos vermarktet. Zakopanes Krupówki-Straße, die Flaniermeile der Stadt, ist die längste Einkaufsstraße Polens und mündet in den Goralenmarkt, auf dem es alle erdenklichen Souvenirs zwischen Kunstgewerbe und Kitsch gibt, die nur irgendwie mit den Goralen, den alteingesessenen Bewohnern dieser Bergregion, zu tun haben.
Ähnlich wie die Tiroler Bergbauern in den Alpen werden die Goralen als Staffage für das pittoreske, folkloristische Ambiente missbraucht. An allen Ecken sieht man sie in ihrer traditionellen Tracht mit weißen, gewalkten Schafwollhosen und Jacken, weißen Leinenhemden, ärmellosen Lederwesten und schwarzen, breitkrempigen Filzhüten. Sie waren immer Bauern und Schäfer, ihre reichen Traditionen und Bräuche wurden seit dem 15. Jahrhundert von den Walachen verwandten Nomadenstämmen beeinflusst, die vom Balkan zugewandert waren. Das ist bis heute in ihrer Musik zu hören, die deutliche Balkananklänge hat. Die Tanzmelodien erinnern an den Oberkrainer, die Volksmusik Sloweniens. Die Goralenmusik ist in Polen überaus populär. Ursprünglich charakteristisch waren mehrstimmig lyrisch-traurige, aber auch lustige Gesänge und Dudelsackspiel, das in den volkstümlichen Versionen durch Streicher ersetzt wurde.
Auch in Polen gibt es den Unterschied zwischen Volksmusik und volkstümlicher Musik, wenn auch nicht so klar wie in Deutschland. Es scheint alpinen Hochgebirgen gemein zu sein, dass sie von Flachländern ebenso romantisch verklärt werden wie ihre Bewohner. Sie gelten als bodenständig, urig und ein wenig rückständig, was sie in ihren heute gar nicht mehr so abgeschiedenen Tälern im Grunde nicht mehr sind. Wie bei uns die schuhplattelnden Trachtenkapellen der Alpenbewohner werden die Goralen jedoch instrumentalisiert, sie dienen den Sehnsüchten nach heiler Welt in malerischer Kulisse. In der Tatra sollen schließlich auch Touristen um ihr Geld erleichtert werden, und dafür muss die Kultur der Goralen herhalten – Hauptsache, die Atmosphäre ist konsumfreundlich. Gleichzeitig sind die Goralen selbst damit ausgelastet, den Bergen ihren Lebensunterhalt abzuringen.
Die heute Wielkopolska (Großpolen) genannte Region zwischen Wisła (Weichsel) und Warta (Warthe) ist das Stammland des späteren polnischen Staates. Dort siedelte der von westeuropäischen Chronisten erstmals im 10. Jahrhundert erwähnte slawische Stamm der Polanen. Hauptort der Polanen war das Anfang des 8. Jahrhunderts als wehrhafte Burgsiedlung gegründete Gniezno (Gnesen), wo die Piasten herrschten. Die Herkunft dieses Herrschergeschlechts liegt im Dunkeln. Der Legende nach sei der Bauernjunge Piast einst zum Herrscher der Polanen berufen worden, denn er habe zwei Fremde gastlich aufgenommen, die der König zuvor abgewiesen hatte. Diese Fremden aber seien Engel gewesen, die ihm eine große Zukunft prophezeiten. Tatsächlich wurde Piast im 8. Jahrhundert zum König erhoben und regierte weise und gerecht – behauptet zumindest diese Überlieferung.
Jedenfalls gelang es den Polanen rasch, ihr Territorium zu erweitern, und ihr Staat umfasste bald das ganze heutige Zentralpolen und grenzte im Westen und Südwesten an bereits christianisierte Gebiete.
Der erste historisch verbürgte Piastenfürst hieß Mieszko, der vermutlich aber bereits der dritte Herrscher seines Geschlechtes war und von 960 bis 992 regierte. Von vielfältigen Kontakten mit seinen europäischen Nachbarn inspiriert, äußerte er schon bald nach Regierungsantritt den Wunsch, mit seinem Volk in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
Allerdings dürfte Mieszkos Taufbegehren hauptsächlich seinem Streben entsprungen sein, das Herzogtum an Europa anzuschließen und die Abhängigkeit vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu beenden. Nach einer vernichtenden Niederlage seiner Heere an der Oder war Mieszko nämlich dem deutschen Kaiser Otto I. tributpflichtig geworden. Später hingegen entwickelte sich Mieszko weit mehr zum freundlich gesonnenen, verlässlichen Partner denn zum Vasall des Heiligen Römischen Reiches.
Der Eheschließung Mieszkos mit der böhmischen Prinzessin Dobrawa im Jahre 965 folgte dann im Jahre 966 die Taufe, ein wichtiges Datum im polnischen Geschichtsverständnis, markiert der Ostermontag 966 doch den Beginn der katholischen Tradition des Landes. Von diesem Moment an war die Macht in Polen eng mit dem katholischen Kirchenapparat verbunden, Polen war nun der östliche Vorposten der lateinischen Welt.
Ab 974 nahm Mieszko, der in zweiter Ehe eine deutsche Markgrafentochter geheiratet hatte, sogar an den kaiserlichen Hoftagen teil und stieg in der Reichshierarchie vom tributpflichtigen Vasallen zum Lehnsmann des Deutschen Reiches auf. Der Kaiser entlohnte die Treue der Piasten, ließ sie im Osten gewähren und ihr Territorium gewaltig erweitern.
Vertieft wurde die Westbindung der Piasten dadurch, dass Mieszko im Jahre 990 sein Land dem Heiligen Stuhl unterstellte und somit an Papst und Kaiser gebunden war.
Mieszko starb 992, sein Sohn Bolesław I. Chrobry der Tapfere folgte ihm auf den Thron und führte die bewährte Freundschaftspolitik gegenüber dem deutschen Kaiserreich fort. Gleichzeitig bemühte er sich um die Christianisierung benachbarter Völker. Beide Interessen konnte Bolesław vereinen, nachdem der von Kaiser Otto III. ob seiner Frömmigkeit hoch geschätzte Adalbert von Prag bei Missionierungsversuchen im baltischen Pruzzenland erschlagen worden war. Bolesław ließ den Leichnam des böhmischen Bischofs, der später heilig gesprochen wurde, in Gnesen beisetzen. Noch einmal trug die Loyalität der Piasten dem Deutschen Reich gegenüber Früchte, als Kaiser Otto III. eine Pilgerfahrt zu den Gebeinen des Bischofs unternahm.
Im Akt von Gnesen befreite Otto III. im Jahre 1000 das Piastenreich von allen Tributpflichten und trug damit zur Konsolidierung des jungen Staates bei. Auch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Piasten und dem Kaiserreich wurden erneuert, als Bolesławs Sohn Mieszko II. eine Nichte Ottos heiratete. Doch die Eintracht sollte nur noch kurze Zeit währen.
Ottos Nachfolger Heinrich II. regierte ab 1002, setzte aber die Allianz mit den Piasten nicht fort und versuchte, sein Reich zu Ungunsten Polens nach Osten auszudehnen, es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Bolesław allerdings erwies sich als weit stärker denn erwartet und marschierte seinerseits nach Westen. Bis tief nach Böhmen und Bayern führten ihn seine drei Westfeldzüge. Im Frieden von Bautzen musste Heinrich 1018 die Westgrenze Polens anerkennen und die Eroberung der Lausitz, Mährens und Pommerns legalisieren. In einem weiteren Feldzug – diesmal nach Osten – eroberte Bolesław die zum Kiewer Reich gehörenden Gebiete um die Flüsse Bug und San.
Auf dem Höhepunkt seiner Macht war er 1025, als er die Schwäche des Deutschen Reiches nutzte und mit Billigung des Papstes die Königswürde annahm. Das erste polnische Großreich hatte seine weiteste Ausdehnung erreicht, als Bolesław Chrobry kurz darauf starb.
Doch sein Reich sollte keinen Bestand haben. Die folgenden Generationen der Piasten verzeichneten einen Wechsel von Landgewinn und -verlust, und nur einzelnen Herrschern war die Königswürde vergönnt. Einzig Groß- und Kleinpolen, Masowien und Schlesien gehörten im Mittelalter dauerhaft zum polnischen Staatsgebiet.
König Każimierz I., als Enkel Bolesławs seit 1034 auf dem Thron, verlegte seine Residenz nach Krakau, das während der nächsten 500 Jahre Hauptstadt sowie geistiger und kultureller Mittelpunkt des Landes sein sollte.
Die Macht der Piastenherrscher schwand im 11. Jahrhundert in dem Maße, wie die des Adels zunahm, der eine Dezentralisierung der Macht anstrebte. Das polnische Reich driftete auseinander, der absolutistische Anspruch der Piasten ließ sich gegen die vom erstarkenden Adel angestrebte Selbstständigkeit nicht länger durchsetzen. Polen drohte in einzelne, einander bekriegende Herzogtümer zu zerfallen.
Das Testament Bolesławs III. stellte einen letzten Kompromiss dar. Er forderte darin eine Senioratsverfassung, die gleich nach seinem Tod 1138 in Kraft trat und vorsah, dass der jeweils Erstgeborene der Dynastie, der Senior, die absolute Herrschaft erbte. Seine Rechte umfassten Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Münzrechte und Heerführung. Der Raum Krakau mit dem südlichen Großpolen sowie Pommern waren dem Senior unmittelbar unterstellt. Das restliche Reich, also Teile Großpolens sowie Kleinpolen, Schlesien und Masowien teilten die übrigen Piastenabkömmlinge untereinander auf.
Die inneren Konflikte, die zum Auseinanderdriften der polnischen Provinzen geführt hatten, waren damit allerdings nicht beseitigt. Der Adel wurde selbstständiger und stärker, es gab keine Adelshierarchie im Lande, die übergeordnete einende Zentralgewalt fehlte. Polen zerfiel in einzelne Provinzen, die sich ihre Autonomie einzig dank der Schwäche ihrer Nachbarn erhalten konnten. Zur gleichen Zeit zerbrach das Kiewer Großfürstentum, und die Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in unzählige Fürstentümer setzte ein.
Die Teilfürstentümer in Polen sollten fast 200 Jahre überdauern. 1180 verschwand mit der Senioratsverfassung noch der letzte Anschein der Gesamtstaatlichkeit. Trotzdem blühten Wirtschaft und Kultur auf.
Ein goldenes Zeitalter des Friedens war aber auch diese Zeit nicht. Die östlichen Nachbarn des Herzogtums Masowien, heidnische baltische Stämme, ließen sich nicht friedlich christianisieren. Alle Kreuzzugsversuche des masowischen Herzogs Konrad scheiterten kläglich, der baltische Stamm der Pruzzen brachte der Christianisierung erbitterten Widerstand entgegen.
So bat Herzog Konrad von Masowien 1226 den Deutschen Ritterorden um Hilfe. Die geistlichen Ritter im weißen Mantel mit schwarzem Kreuz strebten nach einem festen Gebiet, und im Kuschwitzer Privileg sicherte Konrad 1230 dem Orden die Übereignung der eroberten Pruzzenterritorien sowie das Kulmer Land am rechten Weichselufer zu. Ordensgroßmeister Herrmann von Salza ließ seinen Landmeister Herrmann Balk die Weichsel überschreiten und nach Osten vorrücken. 1234 gab Papst Gregor IX. in der Bulle von Rieti seinen ausdrücklichen Segen zu diesem Geschäft auf Kosten der Pruzzen.
Inzwischen wandte sich die Aufmerksamkeit der Menschen einer ganz anderen Bedrohung zu. Die zur Großmacht aufgestiegenen Mongolen versetzten 1240 halb Europa in Angst und Schrecken, als sie von Kiew über Ungarn bis nach Polen eine Spur der Verwüstung hinter sich ließen. Krakau, Sandomierz (Sandomir) und Wrocław (Breslau) wurden zerstört. Erst bei Legnica (Liegnitz) in Schlesien konnte 1241 das von Deutschen verstärkte polnische Heer die Bedrohung für die christliche Welt abwehren, allerdings nicht, weil es den Mongolen eine schwere Niederlage beibrachte, sondern weil diese sich zurückzogen, nachdem ihr Großkhan gefallen war.
Der Deutsche Orden eroberte das Pruzzenland und sicherte seine Territorien durch den Bau von Burgen an allen strategisch wichtigen Plätzen. Bald waren die Pruzzen unterworfen, wenn auch 1242 und 1260 noch einmal Aufstände aufflackerten. Das Ordensland konsolidierte sich, wurde zum modernen und effektiven Staat und wuchs zu einer Militärmacht, die Masowien und den anderen polnischen Teilfürstentümern zunehmend bedrohlich erschien.
Pommerellen, westlich des Weichselunterlaufs gelegen, war bis 1295 selbstständiges Herzogtum. Der letzte Herzog Swantopolk starb 1266. An den Erbfolgekriegen zwischen seinen Söhnen Mestwin und Wartisław beteiligten sich sowohl Polen als auch der Deutsche Orden, denn die Lage des Herzogtums war verlockend. Polen ging es um einen freien Zugang zum Meer, der Orden erstrebte eine Landverbindung zum Deutschen Reich.
Zwar siegte Mestwin, da er sich aber nicht nur von Polen, sondern auch von den Brandenburgern bedrängt sah, schenkte er 1282 Pommerellen dem polnischen Herzog Przemysław II. Mit Mestwins Tod im Jahre 1294 trat Przemysław in Pommerellen die Herrschaft an und wurde 1295 zum polnischen König gekrönt, nur ein halbes Jahr später jedoch ermordet.