Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Danksagung

Impressum neobooks

Kapitel 01


Die Insel am anderen Ende des Meeres zerfiel. Mit brachialer Gewalt trennte ein unsichtbarer Riese Stücke davon ab, als wäre das Land nur ein trockener Kuchen, den es zu verspeisen galt. Donnernd und schäumend versank das Gestein in den Fluten. Die Abendsonne tauchte die fallenden Körper in rote Schatten.

Kira hatte längst begriffen, dass sie nichts tun konnte, trotzdem wollte sie sich nicht abwenden. Die Insel erinnerte sie an einen gigantischen Pilz aus Stein. Von dessen Schirm rutschten allmählich die Gebäude einer Kleinstadt. Das Mädchen hatte sich schon manches Mal gefragt, wie stabil der niedrige, dürre Hals dieser Insel sein konnte. Die Antwort schnürte ihr die Kehle zu.

Kira wollte näher herangehen, doch die Füße berührten bereits den Rand ihrer Heimat. Viele Meter unter ihnen trug der Ozean einige Überreste der Nachbarinsel an die Klippen. Das bedrohliche Tosen übertönte beinahe die Stimmen der Erwachsenen, die sich seit den Morgenstunden auf dem Marktplatz gegenüberstanden, um einander lautstark zu beschimpfen. Einige Gassen trennten sie von Kira, weshalb sie die zerbrechende Insel vermutlich nicht hörten. Allerdings war es wahrscheinlicher, dass sie zu abgelenkt waren.

Sie überlegte, ob die Erwachsenen verstummen würden, wenn sie tatsächlich neben ihr stünden und sehen könnten, wie ihre Nachbarn starben. Auch ihre Insel hatte schon gebebt, aber bislang hatte sie gehalten.

Mittlerweile konnte das Mädchen die Ruinen und das Gestein kaum voneinander unterschieden. Es beunruhigte sie, dass sie keine Hilferufe hören konnte, daran war das brüllende Meer schuld. Die Menschen, die gemeinsam mit den Trümmern in die Tiefe fielen, waren bloß Schemen. Nun brach ein gewaltiges Stück von der Insel ab. Gischt stob auf, als der Felsbrocken auf den Ozean traf.

In einer Mischung aus Furcht und Faszination legte Kira den Kopf schief. Einer ihrer langen roten Zöpfe rutschte über die rechte Schulter. Sie waren ungleichmäßig geflochten, viel zu eilig. Ihre Eltern hatten heute nicht viel Zeit für sie erübrigen können. Vielleicht fragten sie sich nicht einmal, wohin ihre Tochter verschwunden war. Kira knetete ihre Finger und schürzte nachdenklich die Lippen. Ihre alten, schwarzen Lackschuhe waren von Staub bedeckt, einer der knielangen Strümpfe hatte den Halt verloren und war bis zum Knöchel hinabgerutscht. Die hellblaue Bluse lugte zerknittert aus dem grauen Rock, in den sie gestopft worden war.

Wie lange ihre Eltern brauchen würden, um sie an der schmalen Klippe zwischen den Häuserschluchten zu finden? Es war wohl die beste Lösung, zum Marktplatz zurückzukehren, um ihnen die Suche zu ersparen. Anderseits würden sie ihr sowieso nicht glauben, wenn sie von der sterbenden Insel berichtete. Außerdem war das Chaos viel zu faszinierend.

Der steinerne Pilz in der Ferne verlor in diesem Moment die Hälfte seines Schirmes. Sie konnte Straßen erahnen, die für Sekundenbruchteile zu einem Murmellabyrinth wurden. Menschen, Bäume und viele kleine Gegenstände rutschten abwärts und schlugen gegen die Gebäude, bevor alles in sich zusammensackte.

Niemand wusste genau, ob Kiras Heimat auch wie ein Pilz aussah. Unzählige Male hatte sie danach gefragt, immer wieder gab es ausweichende Antworten. Bekannt war nur, dass die Insel zu hoch war, um hinunter ans Meer zu gelangen. Außerdem war sie zu klein für zwei Völker.

Mitten in den lauter werdenden Stimmen und dem Getöse der alles verzehrenden Fluten ertönte ein Knirschen. Kira fuhr herum und entdeckte einen Jungen, der ein oder zwei Jahre älter war als sie. Sie kannte ihn nicht, aber seine dunklen Haare verrieten ihr, dass er wahrscheinlich ein Ruaner war.

»Wow«, entfuhr es ihm. Er blieb hinter Kira stehen und starrte auf die zerfallende Insel. Ein Wohnhaus rutschte ab und versank zwischen den Wellen. »Wir sollten den Erwachsenen Bescheid sagen!«

»Dann geh doch.« Kira blickte stur geradeaus und betete, dass der Junge kehrtmachte und sich als Lügner beschimpfen ließ. Stattdessen sprach er unbeirrt weiter.

»Meinst du, das kann auch mit uns passieren?« Er zeigte mit beiden Händen auf die Insel, als würde eine nicht ausreichen. Seine Stimme war nervig, und das lag nicht nur daran, dass er laut sprechen musste. Kira blähte die Backen und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Dabei bemerkte sie einen schwarzen Ohrring an seinem linken Ohr, was sie eigenartig fand. Verschorfte Schrammen an seinen Handgelenken und den Knien unterhalb der blauen Shorts ließen sie vermuten, dass er oft stürzte. Der Gedanke ans Fallen erinnerte Kira an die Frage des Jungen.

»Bestimmt passiert das mit uns, wenn die Erwachsenen so weitermachen!«, rief sie und wandte den Blick wieder ab. Sie glaubte tatsächlich, dass ihre Insel zerbrechen konnte. Ihre Eltern sprachen manchmal vom Kippen, wenn sie glaubten, dass Kira im Hinterhof spielte und nicht zuhörte.

»Ich finde das total übertrieben«, kommentierte er laut. »Mein Vater ist auch dabei, aber ich glaube, er ist der Einzige, der …«

»Sei bitte mal ruhig, ja?« Kira trat weiter vor, ohne den Blick von der Insel zu lösen. Sie näherte sich einem kleinen Vorsprung zu ihrer Rechten, der mit vertrockneten Grasbüscheln übersät war. Der Wind pfiff hier so stark, dass alle anderen Geräusche übertönt wurden. Nur die nervige Stimme des Jungen wollte nicht verstummen.

»Für wen hältst du dich, hm? Du bist bestimmt … erst sieben Jahre alt?«

»Ich bin acht!«, brüllte Kira. In der Ferne stürzte ein weiterer Brocken in die See. Offenbar hatte der unsichtbare Riese nicht vor, etwas von der Insel übrig zu lassen – er wurde sogar noch gefräßiger.

»Und ich bin schon zehn!«, rief der Junge, ohne seinen Platz zu verlassen. »Du solltest auf mich hören!«

»Du weißt doch, Amerikaner hören nicht auf Ruaner«, murmelte sie den Lärm hinein. Sie hatte das von ihrem Vater, er betonte das bei jeder Gelegenheit. Seit die Diskussionen auf dem Marktplatz andauerten, konnte sie ihn am Frühstückstisch kaum ertragen. In gewisser Weise war es ein Glücksfall, dass die Erwachsenen heute so früh zu Streiten begonnen hatten, dass sie morgens nicht einmal essen konnten. Kira überlegte, welches der beiden Völker die Debatte zuerst unterbrechen würde, weil alle hungrig wurden.

»Hey, Aaron! Da steckst du!«

Ein gebräunter Junge mit krausem Haar tauchte zwischen den Ruinen auf. Kira verlor jegliche Hoffnung, das Spektakel in Ruhe beobachten zu können. Bevor Aaron etwas erwidern konnte, schrie der andere Junge auf. Kira glaubte zunächst, dass er gestolpert war, doch als sie sich umdrehte, stand er noch immer verdattert auf beiden Füßen.

»Die Insel! Die bricht ja zusammen!«

Seine Stimme war noch greller als Aarons. Kira hielt sich demonstrativ die Ohren zu, nahm ihre Hände aber herunter, als Aaron den Mund öffnete.

»Ja, Marv!«, rief dieser genervt. »Die Erwachsenen haben es noch nicht bemerkt!«

»Die streiten zu laut, um es zu hören«, meinte Kira, aber der Krach verschluckte ihre Worte. Marv schüttelte aufgeregt den Kopf. Angst spiegelte sich in seinen Zügen.

»Sie müssen es sehen!«

Ohne ein weiteres Wort stürmte er davon, wobei er beinahe über die Überreste eines umgekippten Maschendrahtzaunes stürzte. Kira hoffte, dass Aaron es ihm gleichtat. Stattdessen blieb er stehen und betrachtete den steilen Rand der Insel.

»Hey, Mädchen!« In seiner Stimme lag plötzliche Sorge. »Magst du nicht zurückkommen? Das sieht gefährlich aus!«

»Hol mich doch«, entgegnete sie. »Ich habe einen Platz in der ersten Reihe!«

»Die erste Reihe wird immer in Mitleidenschaft gezogen, das weiß jeder!«

»Was für ein Blödsinn«, rief Kira. »Geh einfach. Du nervst.«

Aaron verschränkte die Arme. »Ich will die Insel aber auch untergehen sehen.« Der Wind brauste auf und schlug gegen seine Shorts.

»Dann halt einfach die Klappe!«

Kira spürte seinen gebannten Blick im Rücken, als sie einen weiteren Schritt nach vorne tat. Sie stand nun fast am Ende des Vorsprungs, ihr kleiner Körper wurde von aufgebauschten Wolken umrahmt.

»Du hältst dich für besonders mutig, oder?«, grummelte Aaron, seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser.

Kira genoss den Augenblick der Ruhe und beugte sich nach vorne, um einen Blick auf den unteren Rand der Insel zu erhaschen. In diesem Moment zitterte die Erde, Kira verlor das Gleichgewicht. Es war, als wäre ein Mehlsack in ihrer Magengrube aufgetaucht, der sie hartnäckig nach unten zog. Ihre Arme wirbelten durch die Luft, die dünnen Beine schwebten über dem Abgrund. Da war nichts mehr unter ihren Füßen. Noch ehe sie nach etwas greifen konnte, spürte sie Hände an ihrem Bauch. Jemand ging einige Schritte rückwärts und stellte sie auf ihre geleeweichen Füße. Der Boden darunter zitterte immer noch. Eine tiefe Schramme zog sich an Kiras Schienbein entlang, vor lauter Schreck brach sie in Tränen aus.

»Papa!«, rief Aaron entgeistert.

Kira sah verwundert auf und betrachtete den Mann, der sie gerettet hatte. Er beugte sich über sie und hob sie hoch, wobei er beruhigende Worte flüsterte. Vorsichtig entfernte er sich von der Kante, während Kiras Schluchzen lauter wurde.

»Alles ist gut, ja? Beruhig dich, ich habe dich.«

An einer der umliegenden Häuserwände blieb Aarons Vater stehen und setzte sie behutsam auf den Boden. Ihre blassen Wangen kribbelten, Tränen zogen feine Linien über ihr Gesicht.

»Das war knapp, was hast du dir nur dabei gedacht? Wäre ich nicht gewesen, wäre das übel ausgegangen! Pass das nächste Mal bitte besser auf.« Er atmete tief aus und schien trotz allem erleichtert zu sein. »Wie heißt du?«

Der Mann klang harsch und nett zugleich, als wäre ihm bewusst, dass er Kiras Schmerz mit seinen belehrenden Worten nur verschlimmerte. Er sah Aaron ähnlich, allerdings trug er eine moderne Brille mit runden Gläsern und einen dunkelgrünen Schal über seinem Mantel. Sein Bart ließ ihn wie Käpt‘n Brummbär aus Kiras Lieblingsgeschichten wirken, aber das behielt sie für sich.

»K-Kira«, brachte sie zusammen mit einigen Tränen hervor.

»Sehr erfreut, Kira. Ich bin Augustin, Aarons Papa.« Der Mann lächelte, sein Gesicht legte sich in gutmütige Falten.

»D-danke, dass Sie mich gerettet haben«, wimmerte sie. Noch immer klammerte sie sich an Augustins Ärmel.

»Hör mal, ich könnte niemanden abstürzen lassen!« Seine Empörung war echt. Augustin hob kurz den Kopf, um Aaron einen Blick zuzuwerfen, doch der sah wieder hinaus aufs Meer. Auch er war kreidebleich und zitterte. Sein Vater verzog für einen Sekundenbruchteil das Gesicht, dann wandte er sich wieder Kira zu.

»Du bist aber ein Ruaner«, meinte sie.

»Na und?«

»Die Ruaner lassen die Amerikaner sterben.«

Augustin wich so plötzlich zurück, dass sich Kiras Finger ruckartig aus dem Stoff lösten.

»Was erzählst du für einen Unsinn? Ich möchte gar nicht wissen, wer dir das beigebracht hat, Kira. Wir mögen uns zwar manchmal nicht, aber niemand sollte andere Menschen sterben lassen, weil sie aus einem anderen Volk stammen!«

»F-find ich auch.«

»Dann sag so etwas bitte nicht.«

Das Mädchen antwortete nicht, biss sich kopfschüttelnd auf die Unterlippe und zerdrückte zwei weitere Tränen. Augustin hockte sich direkt vor sie, während er geschäftig in seinen Manteltaschen wühlte.

»Okay, Kira. Ich habe eine Idee …«

Mit einem Mal hielt er ein kupferfarbenes Teleskop in den Händen, das mit türkisen Ranken versehen war. Es verschwand beinahe in seinen großen Händen. Mit einem Lächeln überreichte er es ihr, doch Kira hatte Mühe, das filigrane Werkzeug zu halten, weil sie immer noch zitterte.

»Das ist ein Taschenteleskop. Es ist praktisch, wenn man Dinge beobachten will, die weit weg sind, zum Beispiel die Sterne oder einen Streit. Damit musst du nicht so nahe an den Rand gehen.« Er nickte nach hinten, in die Richtung der zerbrechenden Insel.

»Papa, die Insel zerfällt«, meinte Aaron zögernd. »Wundert dich das gar nicht?« Allmählich war er nicht mehr blass, sondern scharlachrot im Gesicht.

Augustin erstarrte für einen Moment, blinzelte verwirrt und schien erst jetzt zu verstehen, was die Kinder an diesem Ort verloren hatten. »Ich fürchte, ich war etwas abgelenkt«, stammelte er. Seine Augen weiteten sich, die Kinnlade entglitt ihm nahezu. Der Schirm des steinernen Pilzes war beinahe verschwunden. »Wir müssen sofort zum Marktplatz, Kinder.«

Schon hatte er sowohl Aaron als auch Kira an den Händen gepackt. Das Mädchen klammerte sich an ihr Geschenk und schluchzte leise. Blut rann erneut an ihrem Bein herunter und wurde erst am unteren Ende von dem gummilosen Strumpf aufgehalten. Der Weg zum Marktplatz war kurz, führte jedoch um acht Häuserecken herum. Das alte Kopfsteinpflaster wies Löcher auf, in denen sich Regenwasser sammelte. Es war der erste Regen seit Monaten gewesen und hatte die Streitigkeiten ausgelöst. Die Ruaner waren überzeugt, dass die Amerikaner ihr Wasser stahlen – und umgekehrt.

»Marv hat uns gewarnt«, keuchte Augustin. »Die anderen wollten ihm nicht glauben, zum Glück vertraue ich den Freunden meines Sohnes.«

»Was werden die Erwachsenen tun?«, wimmerte Kira.

»Sich aufregen«, antworteten Augustin und Aaron wie aus einem Mund. Sie liefen durch einen halb zerstörten Bogen, der sich zwischen zwei efeubedeckten Häusern spannte. Dahinter lag der ovale Marktplatz der Insel, der von alten Gebäuden gesäumt war. Mehr als die Hälfte davon war eingestürzt, Bretter und Steine stapelten sich vor herausgebrochenen Türen. Die lauten Stimmen der Männer echoten hundertfach über das Pflaster. Flüche quollen wie blubbernder Schlamm aus der Menge.

Geradeaus ragte ein silberner Turm in die Luft, dessen Spitze violett im Abendlicht schimmerte. Davor waren die schwelenden Schornsteine einer verletzten Stadt zu sehen. Die Bretterbuden auf dem Platz waren verschlossen, denn heute war niemand hergekommen, um einzukaufen. Obwohl die Schatten länger wurden, wollte offenbar keine der beiden Parteien den Streit vertagen.

»Der Junge hatte recht!«, verkündete Augustin laut. Vier Dutzend Erwachsene drehten gleichzeitig die Köpfe. Für einen Moment sah Augustin aus, als wäre er über diese Reaktion überrascht.

»Was soll das heißen?« Aus der Menge trat ein hochgewachsener, blonder Mann hervor, der den Gang eines Hahns besaß.

»Dass ich recht hatte, Khan Elliott!«, rief Marv, der sich irgendwo im Gedränge verbarg. »Die andere Insel bricht auseinander wie ein rostiges Schiff!«

Der blonde Mann strich mit einer Handbewegung sein glänzendes Haar zurück und betrachtete Augustin und die beiden Kinder aus zusammengekniffenen Augen. Sein Fuß wippte unruhig auf und nieder.

»Kira!«, rief eine weitere Stimme aus der Menge. Ein fülliger Mann bahnte sich einen Weg durch die Menschen und stolperte zu dem Mädchen. Eugene Solomon entriss sie ihrem Retter so ruckartig, dass Kira Mühe hatte, das Teleskop festzuhalten. Mit einem feindseligen Blick, der einer ungeduldigen Schlange gleichkam, taktierte ihr Vater den Ruaner und wollte gerade einen abschätzigen Kommentar ablassen, als Augustin den Kopf schüttelte und beharrlich weitersprach.

»Khan Elliott, es ist wahr«, verkündete er. »Sie können selbst zu dem Vorsprung am Ende dieser Gasse gehen und es überprüfen. Auf dem Ozean zerbricht eine Insel.«

Ein Raunen ging durch die Anwesenden, dann wurde es still. Ein fernes Grollen war zu vernehmen, ähnlich eines nahenden Gewitters. Einige legten den Kopf in den Nacken, konnten jedoch nur vereinzelte Wolken am rot leuchtenden Himmel erkennen.

»Das ist die Insel«, beharrte Augustin. In seinem Blick glomm Wut auf. »Geht sie euch ansehen, na los!«

Für wenige Sekunden hielten alle inne, dann kam Bewegung in die Menge. Sowohl Ruaner als auch Amerikaner liefen auf die kleine Gasse zu, während Kira in Eugenes Armen warten musste. Ihr Vater blieb stehen und wetterte leise vor sich hin. Erneut flogen derbe Flüche durch die Luft. Ein Amerikaner fiel keuchend zu Boden, als ihn eine beleibte Ruanerin mit beiden Händen vor seine Brust stieß. Ein junger Amerikaner mit ungeschickt kombinierter Kleidung, bestehend aus einer spiegelnden Sonnenbrille, Rollkragenpullover und einer braunen Cordhose, zückte ein Jagdmesser, das die gesamte Menge erstarren ließ. In diesem Moment gab der Boden unter ihren Füßen ein beunruhigendes Geräusch von sich. Es klang, als glitt ein Elefant eine zu enge Rutsche hinunter.

»Sofort stehen bleiben, allesamt!«, fluchte Khan Elliott. Er richtete erneut seine Frisur, obwohl sich seit dem letzten Mal rein gar nichts verändert hatte. »Wir können nicht gleichzeitig dorthin gehen, es würde die Insel kippen lassen.«

»Das ist idiotisch, warum sollten wir kippen?«, rief jemand. Ein anderer brüllte: »Du hast es sogar selbst bemerkt, dämlicher Amerikaner!«

»Ruhe jetzt!« Khan Elliott fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als wolle er auf diese Weise eine Biene verscheuchen. »Ich gehe allein nachsehen.«

»Das kannst du vergessen!« Eine glasklare Stimme erhob sich und zerschnitt die Menge wie ein heißes Messer. »Du glaubst doch nicht, dass die Amerikaner hier das Sagen haben, oder?«

Basílissa Hana von Ruan trat hervor, ihr blondes, wildes Haar zu unzähligen Zöpfen geflochten. Sie trug einen bodenlangen, dunkelgrünen Rock mit so starken Falten, dass man sich daran schneiden konnte. Der Khan und die Basílissa schienen aus zwei völlig unterschiedlichen Epochen zu stammen, und doch gingen sie demselben Beruf nach: Sie waren die Herrscher ihrer winzigen Völker.

»Ich meinte, dass ich als einziger Amerikaner nachsehen werde«, korrigierte sich Elliott kläglich. »Hana, du kannst natürlich mitkommen.«

»Das will ich wohl meinen.«

Die Herrscherin der ruanischen Bevölkerung erhielt vereinzelte Jubelrufe. Sie trat zu dem Khan und warf einen gefälligen Blick über ihre Schulter. Niemand wagte es, zu widersprechen. Vereinzelt gingen die Bürger zurück an den Platz, an dem sie vor dem gemeinsamen Aufbruch gestanden hatten, offenbar aus Angst, die Insel durch ihre bloße Anwesenheit erneut zu erschüttern. Der Khan und die Basílissa wandten ihrem Volk den Rücken zu und verschwanden leise diskutierend zwischen den Häusern.

»Wie kann es sein, dass wir kippen? Hier ist nicht der Mittelpunkt der Insel, oder?«, rief ein amerikanischer Jugendlicher. Er deutete anklagend auf den silbernen Turm, der aus den größtenteils zerstörten Häusern ragte. »Der Tower ist unser Mittelpunkt, er hat schließlich das Feld in einem gleichmäßigen Radius erstellt!«

»Was du nicht sagst«, kommentierte eine Ruanerin spottend. »Aber du vergisst, dass die Häuser und Hügel an unterschiedlichen Orten zu finden sind. Das hier ist kein Teller, auf dem alle Kartoffeln gleichmäßig verteilt sind, verstehst du das nicht?«

Der Jugendliche hob spöttisch eine Augenbraue und sah aus, als wäre es die Frau, die dringend mit einer Kartoffel verglichen werden musste. Noch ehe er den Mund öffnen konnte, bebte der Boden erneut. Alle hielten inne, einige zogen ihre Arme eng an die zitternden Körper.

»Oh je, oh je!«, rief eine Frau, die mit wehendem Haar und laut klackernden Schuhen auf der amerikanischen Seite verschwand.

»Es wird Zeit, dass die Grenze gezogen wird«, rief jemand lautstark aus der Menge.

»Ja, dann muss ich dich nicht mehr ertragen, Findus!«

»H-hört doch mal auf zu streiten!« Kira wand sich in den Armen ihres Vaters und sah aus, als würde sie die Dickköpfe jeden Moment wie ein übermütiger, aber wütender Welpe anspringen.

»Kira, sei still!«, zischte Eugene, der sie nun noch stärker festhielt. »Benimm dich!«

»Sie hat recht.« Augustin trat an seine Seite und zwinkerte Kira zu. »Die Kinder sind wenigstens vernünftig.«

»Hören Sie auf, meine Tochter anzustarren«, giftete Eugene und drehte sich von Augustin weg, als würde er sein liebstes Spielzeug vor ihm beschützen.

»Mein Papa hat Kira gerettet, Mister!«, ging Aaron dazwischen. Sein schwarzer Ohrring zitterte dabei. »Sie wäre sonst von der Klippe gefallen!«

Etwas in Eugene schien zu zerbrechen. Kira stellte sich vor, dass es sich dabei um ein Glas weißer Farbe handelte, denn im nächsten Moment war seine wutverzerrte Miene erbleicht.

»Ist das wahr?«, fluchte er. »Kira! Du sollst nicht am Rand der Insel spielen, wie oft soll ich dir das noch verbieten?!« Seine Worte nahmen an Fahrt auf, jetzt sah er Aaron zum ersten Mal in die Augen. »Hast du mit diesem ruanischen Jungen gespielt?«

»Nein, Papa!«, beteuerte sie, eilig den Kopf schüttelnd. Einer ihrer Zöpfe schlug dabei in Eugenes Gesicht, was Augustin kurz grinsen ließ. »Ich wollte, dass er weggeht! Ich wollte nur die Insel sehen, die zerbricht!«

»Kind, die Inseln können nicht zerbrechen. Du und deine blühende Fantasie!« Er warf Augustin einen kumpelhaften Blick zu, der in etwa »Kinder, nicht wahr?« bedeutete, ehe ihm einfiel, dass Augustin ein Ruaner war.

»Ich habe es auch gese—«, begann Aaron, doch sein Vater ließ ihn verstummen, indem er ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte.

»Shh«, machte er. »Es ist zwecklos.« Augustin zwinkerte Kira zu, dann schob er Aaron nachdrücklich von den Amerikanern fort. Während sie den beiden nachsah, schloss Kira ihre Hände fester um das Teleskop.

»Woher hast du das?« Eugene beugte sich vor und betrachtete kritisch die filigranen Malereien im Metall. »Hat dir das dieser Spinner gegeben?«

»Gefunden«, haspelte Kira. Sie schluckte schwer und sah Eugene an, ohne sich zu bewegen. Er war wie ein übergroßes Spinnenwesen, das sie in einen klebrigen Kokon gewickelt hatte. Eugene wusste, dass sie log, aber er hatte keine Gelegenheit, darauf einzugehen.

»Die Grenze verläuft nicht genau durch das Auffangbecken, das wäre absurd!«

Die Köpfe auf dem Markt drehten sich in Richtung der Gasse, aus der Khan Elliott und Basílissa Hana streitend zurückkehrten. Obwohl sie sich große Mühe gaben, stets eine gewisse Erhabenheit auszustrahlen, war davon im Moment wenig übrig. Der kräftige Wind an der Kante hatte Elliotts Frisur vollkommen zerstört. Der Khan schüttelte gerade den Kopf.

»Es muss sein, sonst zetert ihr weiterhin ständig herum, dass wir euch das Wasser wegnehmen würden.«

Hana blieb stehen und öffnete ihren zartroten Mund einige Male, dann ließ sie genervt die Wut aus ihrer Nase entweichen und hob den Kopf.

»Volk von Ruan, Volk von Amerika!«, rief sie und stemmte die Arme in die Hüften. »Es ist wahr! Unsere Nachbarinsel ist gerade zerbrochen und zu großen Teilen im Meer versunken. Das ist jedoch kein Grund zur Beunruhigung!«

Alle Anwesenden, egal ob Amerikaner oder Ruaner, waren wie erstarrt. Niemand glaubte der Basílissa ein Wort, nicht einmal ihre eigenen Bürger.

»Kein Grund zur Beunruhigung?«, wiederholte Eugene. »Ihr habt selbst gesagt, dass die Inseln nicht zerbrechen können! Wer weiß, was die dort drüben falsch gemacht haben – vielleicht haben sie sich nur falsch bewegt? Niemand weiß, wohin wir noch gehen können! Wir müssen unsere Völker auf den beiden Hälften lassen. Wenn wir weiterhin planlos umherlaufen, wird das üble Konsequenzen haben.«

»Ach, denen glaubst du?«, grummelte Kira. Sie strampelte unruhig und versuchte erneut erfolglos, sich aus dem starken Griff ihres Vaters zu lösen. »Lass mich los!«

»Damit du wieder beinahe eine Klippe herunterfällst? Das kannst du vergessen, Kind! Und jetzt benimm dich endlich, das ist ja kaum auszuhalten.«

»Wie war das?« Hana trat näher und betrachtete Kira eingehend. Besorgt sah sie dabei zu, wie sich das Mädchen erfolglos abmühte. Das Blut an ihrem Bein war noch nicht getrocknet. »Du wärst beinahe von der Kante gefallen?«

»W-war mein Fehler, es tut mir leid!«, jammerte Kira. Sie gab auf und hing schlapp in Eugenes Armen. »Mich hat euer Streit gestört, ich … wollte das nicht mehr hören. Als ich ganz nah am Meer war, habe ich nicht mehr verstanden, worüber ihr streitet.«

Die anderen Erwachsenen lauschten Kira schweigend. Sie waren regelrecht ergriffen, obwohl sie ahnten, dass es keine Viertelstunde dauern würde, bis sie erneut einen Streit begannen. Spätestens beim nächsten Regen würde alles von vorne losgehen.

»Mädchen, bitte! Wir streiten uns ab sofort nicht mehr.« Die Basílissa beugte sich zu Kira vor und ignorierte den spöttischen Blick von Khan Elliott. »Erwachsene sind manchmal doof, oder? Die streiten sich oft. Wir haben beschlossen, dass wir noch heute eine Grenze ziehen. Ihr Kinder werdet sie nicht mehr übertreten, und die gefährlichen Bereiche werden wir mit Zäunen absperren.«

Kiras Augen weiteten sich vor Schreck. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Elliott schnitt ihr das Wort ab.

»Also, meine Damen und Herren – die Grenze zwischen Ruan und Amerika läuft durch den Marktplatz, den Tower und das Regenauffangbecken. Auf der ruanischen Seite sorgen die Getreidefelder für die Grundnahrung, die Amerikaner werden auf ihre Gewächshäuser zugreifen. Es ist sinnvoll, dass wir den regelmäßigen Markt fortführen, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Die verbleibenden Medikamente werden je nach Bedürfnissen verteilt.« Khan Elliott sah sich nach Beifall heischend um, niemand reagierte. Der Schreck saß noch immer in allen Knochen.

»Ich weiß, es ist heute etwas viel«, beschwichtigte Hana. »Die Tatsache, dass eine Insel zerbrechen oder kippen kann, ist beängstigend. Aber wir können das Problem in den Griff bekommen, wenn wir uns voneinander fernhalten. Die vergangenen neun Monate haben gezeigt, dass wir nur so fortbestehen können – wir haben akzeptiert, dass wir uns nicht akzeptieren können.« Ausnahmsweise schienen der Khan und die Basílissa einer Meinung zu sein, was seit der Katastrophe beinahe nie vorgekommen war. Kira fragte sich, wie sie so ruhig bleiben konnten.

»Unser besonderes Augenmerk legen wir auf die Kinder«, pflichtete der Khan der Basílissa bei. Er deutete auf Kira, die bleich vor Entsetzen die Luft anhielt. »Sie sind unsere Erben. Sollten wir keine Rettung bekommen, müssen wir uns darauf einstellen, mit ihnen die menschliche Rasse fortbestehen zu lassen.« Ein spöttisches Grinsen überfiel ihn. »Nun, wenn die ruanischen Kinder wild herumlaufen, ist das natürlich nicht mein Problem. Aber – Amerikaner! – wir sind gezwungen, unsere Kinder nicht mehr mit denen von der anderen Seite spielen zu lassen!«

Hana warf ihm einen abschätzigen Blick zu, ihre Fäuste ballten sich. »Es reicht allmählich«, zischte sie. »Lass es nicht wieder eskalieren.«

»Bitte, bitte«, machte Elliott und hob abwehrend beide Hände. Eine seiner öligen Haarsträhnen rutschte ihm in die Stirn. »Lasst uns die Grenze ziehen. Habt ihr Farbe, Ruan?«

»Das ist nicht wirklich euer Ernst!«, rief Augustin. Mit wehendem Schal trat er zwei Schritte vor und bedrohte den Khan mit seinem Zeigefinger. »Ihr wollt tatsächlich die letzte Möglichkeit begraben, Frieden zwischen unseren Völkern zu schaffen?«

»Frieden?«, wiederholten Elliott und Hana synchron.

»Ich bitte dich, Augustin«, spottete die Anführerin der Ruaner. »Wir hatten genügend Zeit, um zu verstehen, dass es nicht funktioniert. Vielleicht sitzen wir noch lange auf dieser Insel fest – und jeder weitere Tag mit den Amerikanern ist eine Qual.«

»Beruht auf Gegenseitigkeit«, merkte Elliott an. Er schaffte es nicht, die Strähne zurück zu den anderen zu streichen. Immer wieder glitt sie ihm in die Stirn, was ihn offenbar ebenso wahnsinnig machte wie die Anwesenheit der Basílissa. Kira konnte beide nicht leiden.

Da zog Aaron seinen Vater am Ärmel. Er sah zu ihm hinauf und schüttelte sanft den Kopf. »Hör auf, Papa. Selbst Kira hat gesagt, dass sie nichts mit mir zu tun haben will.«

»Ja, weil du feige bist!«, kommentierte Kira lautstark, wobei sie vergaß, dass das Geschenk, das sie noch immer umklammert hielt, von Augustin stammte.

»Das reicht jetzt!« Eugene drehte sich um und trug die fluchende Kira davon. Sie konnte nur noch sehen, wie Elliott die Arme verschränkte und erst zu Augustin, dann zu Hana sah.

»Also, was ist?«, fragte der Khan. »Habt ihr noch Farbe?

Kapitel 02


Die Grenze leuchtete als helle Linie auf dem Marktplatz, noch ehe der Rest der benachbarten Insel in die Fluten gestürzt war. Kira saß in ihrem Zimmer fest. Ihr Vater hatte ihr verboten, zurück an die Kante zu gehen. Sie wohnten eine schmale Gasse vom Marktplatz entfernt, die Stadt versperrte die Sicht zum Meer. Wenn Kira sich Mühe gab, konnte sie allerdings ein kleines Stück der weißen Farbe sehen, die zwischen den Häusern aufblitzte. Dafür musste sie sich auf ihren wackeligen Schreibtisch stellen, was ihr ein mulmiges Gefühl gab. Die Erinnerung an ihren Sturz ließ sie schnell wieder heruntersteigen.

Misstrauisch betrachtete sie den Tisch, als wäre er schuld an der ganzen Situation. Da er sich erwartungsgemäß nicht rührte, gab sie auf und sah sich gelangweilt im Zimmer um. Bis unter die Decke standen Bücherregale, denn ihre Mutter nutzte den Raum als Bibliothek. Kira konnte nicht lesen, und sie mochte den Geruch der alten Seiten nicht. Emilia Solomon hingegen meinte, es gäbe auf der Insel kaum etwas Wertvolleres. Wenn sie mit Kiras Vater sprach und den Schatz im oberen Stockwerk erwähnte, wusste Kira nie, ob ihre Mutter die Bücher oder ihre Tochter meinte.

Wut kroch in ihr hoch, verstopfte ihre Kehle wie ein widerspenstiges Wort. Am liebsten wäre sie Kreise gelaufen, bis sie sich beruhigt hatte, doch das Zimmer war zu schmal dafür. Also warf sich Kira auf das Bett und wollte gerade ihr Gesicht in den Kissen vergraben, als ihr das kupferne Taschenteleskop entgegenrollte und an den Kopf schlug.

»Au«, fluchte sie, rieb sich die Schläfe und betrachtete das schöne Werkzeug skeptisch. Warum hatte Augustin es ihr gegeben? Es sah viel zu wertvoll aus, um es grundlos zu verschenken. Außerdem hatte er ihr heute das Leben gerettet, warum machte er ihr danach ein zweites Geschenk? Noch dazu war sie eine Amerikanerin.

Kira sprang vom Bett und griff nach dem Teleskop. Es hatte drei kleine Beine, damit es sicher auf dem Schreibtisch stehen konnte. Sie richtete das Okular aus und sah gespannt durch die große Linse. Alles, was sie sah, war das zerschlagene Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Es war winzig und stand auf dem Kopf. Kira zog ihren Kopf ruckartig zurück und betrachtete das Gerät verwirrt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihren Fehler zu bemerken. Nervös drehte sie die größere Linse in Richtung der Fensterscheibe, atmete tief durch und wagte einen erneuten Blick.

Jetzt sah sie alles richtig herum, das Fenster war gigantisch. Sie konnte die fein verästelten Risse in der Scheibe sehen, die sie an einen kahlen Baum erinnerten. Sanft bewegte sie das Teleskop. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, dann entdeckte sie tatsächlich das weiße Stück Grenze.

Kira blähte die Nasenflügel und wich von dem Teleskop zurück. Hatte sie gerade richtig gesehen? Schnaubend beugte sie sich vor und drückte die große Linse leicht nach unten. Tatsächlich! Genau in der Mitte ihres Sichtfeldes stand dieser dunkelhaarige Zehnjährige und sah zu ihr hoch.

»Frechdachs«, grummelte sie und sprang auf. Kira schnappte sich ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, und stürmte aus dem Zimmer. Auf dem Flur erinnerte sie sich, dass ihr Vater ihr Hausarrest erteilt hatte, also lauschte sie aufmerksam. Endlich vernahm sie sein vertrautes Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer die hölzerne Treppe hinaufdrang. Gleichzeitig hörte sie ihre Mutter in der Küche mit Geschirr klappern. Kira lächelte, wobei sie angestrengt ihre Zunge zwischen den

Zähnen einklemmte. Sie schlich zur Treppe und nahm jedes Mal eine Stufe, wenn ihr Vater ausatmete. Dabei gab er ein tiefes, schnodderiges Dröhnen von sich, das die Insel durchaus kippen lassen könnte. Kira war aus der Haustür gehuscht, ehe Eugene zehn Mal am Untergang ihrer Heimat gearbeitet hatte.

Noch immer war es warm draußen. Der Wind pfiff unangenehm zwischen den Häusern hindurch und fuhr unter ihre Kleidung. Die meisten trugen trotz der Hitze, die sich in den vergangenen neun Monaten kaum verändert hatte, Schals und langärmelige Jacken. Der Wind brachte Staub mit sich, der gegen die Haut prasselte.

Kira schlenderte möglichst gelassen zu Aaron hinüber, obwohl ihr Herz schneller schlug. Sie fand den Jungen ziemlich unheimlich. Warum stand er dort und starrte? Hatte sie ihm nicht deutlich genug gesagt, er solle verschwinden? Eigentlich hatte sie damit nicht nur den Rand gemeint, sondern jeden Ort auf der gesamten Insel.

»Hey, die Insel ist groß. Warum stehst du ausgerechnet hier?«, begrüßte sie ihn möglichst lässig, wobei sie ihre Arme unkoordiniert baumeln ließ. Bis auf den Jungen waren lediglich zwei Menschen auf dem Platz. Ein Schreiner hämmerte an einem der Marktstände herum und ein ruanisches Mädchen lief zwischen den Gassen auf der anderen Seite umher, ohne in die Nähe der Grenze zu kommen.

»Du bist frech«, entgegnete Aaron. Er krempelte die Ärmel seines dunkelroten Pullovers hoch, als wäre das eine Drohung. »Wollte nur sehen, ob du mit dem Teleskop zurechtkommst.«

Kira musterte ihn von oben bis unten und stellte fest, dass er mit der Schuhspitze auf der Grenze stand.

»Ja, komme ich. Ich bin schon groß.«

»Du bist sieben.«

»Ich bin acht, hörst du nicht zu?« Kira zwängte die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. »Du bist ein ganz schön feiges Huhn, Aaron.«

»Das hast du schon einmal gesagt.«

Während Kira sich weiter über die Grenze lehnte, wich Aaron einen halben Schritt zurück und hob die Hände, als wäre sie ein schnüffelnder Jagdhund.

»Kannst du das mal lassen?«, fluchte er.

»Feiges Huhn! Traust dich nicht mal über die Grenze!«, stichelte Kira weiter.

»Ja, weil die Grenze ganz frisch gestrichen ist.« Aaron deutete auf den Boden, die Farbe glänzte kaum noch.

»Ach was«, spottete Kira. »Dann pass auf!«

Sie hob angriffslustig die Arme und ging einen langsamen und großen Schritt vorwärts, direkt über die Linie. Überrascht schnappte Aaron nach Luft und wankte. Schon stand er genau auf der Grenze, blickte hinab und stellte verärgert fest, dass die Farbe klebrig war. Dann erkannte er Kiras süffisantes Grinsen.

»Du hast gehört, dass sich die Erwachsenen um uns sorgen«, meinte Aaron finster. Er löste seinen Fuß vom Weiß und trat zurück auf die ruanische Seite, wobei er dünne Spinnweben aus Farbe hinterließ. »Machen wir es ihnen nicht noch schwerer.«

»Zwei Worte!«, höhnte Kira. Aaron stöhnte und rollte mit den Augen, bevor sie weitersprach. »Feiges Huhn!«

»Ich bin über die Grenze gegangen, was willst du denn noch?«, entgegnete er.

»Was wohl.« Kira blähte die Backen und funkelte ihn wütend an. »Ich möchte wissen, warum mich dein Papa heute gerettet hat.«

»Mein Papa ist nett. Er hält nichts davon, dass sich unsere Völker streiten.« Aaron lächelte schelmisch. »Oder hast du etwa nicht zugehört?«

»Das meinte ich nicht«, widersprach Kira. »Eigentlich wollte ich nicht wissen, warum er mich gerettet hat, sondern warum du es nicht getan hast. Du warst doch gleich da und hättest mich auffangen können.« Innerhalb weniger Worte klang sie traurig.

Aaron erstarrte.

»Tut mir leid«, brachte er hervor. »Ich wollte dir helfen, aber—«

»Ich verstehe schon« giftete Kira. Mit einem großen Schritt trat sie zurück auf die amerikanische Seite, um sich vor Aaron aufzubauen. »Dein Leben als feiges Huhn hat dich daran gehindert.«

Mit diesen Worten stapfte sie davon. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich noch einmal umzudrehen, doch dann verschwand sie wie der sandige Wind in den Schatten.


***


Keine einzige Wolke zeigte sich am Himmel, stattdessen war der Mond groß und rund zu sehen. Es war früher Nachmittag, und Kira richtete das kleine Taschenteleskop akribisch auf den Schemen aus, der wie ein blindes Auge über sie wachte. Sie liebte es, wenn der Mond tagsüber zu sehen war.

Seit einer halben Stunde hockte sie mit unendlicher Geduld im Innenhof und hatte sich zum Ziel gesetzt, von Anfang an alles fehlerfrei zu machen. Sie drehte das Gerät richtig herum, putzte eifrig über die Linse und bewegte das Rohr manchmal einige Millimeter vor, um es dann wieder an die ursprüngliche Position zu rücken. Allmählich nahmen kühle Schatten den kleinen Innenhof ein, der hinter dem Haus ihrer Eltern lag. Zu ihrer Linken und Rechten erhoben sich baufällige Häuser, die seit der Katastrophe unbewohnt waren. Ein Amerikaner wühlte sich an diesem Nachmittag durch die lockeren Bodendielen des linken Hauses, wobei er sich nicht bemühte, leise zu sein. Ein metallenes Scheppern unterbrach Kiras Konzentration, sie konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Ihr Blick suchte eilig den Innenhof ab und blieb an den kleinen Gemüsepflanzen hängen, die mitunter das einzige Grün waren, das man im Zentrum der Insel finden konnte. Die meisten Bäume hatten die Katastrophe nicht überlebt. Wenn es nicht der Sturm gewesen war, der sie entwurzelt und fortgerissen hatte, dann waren es die Menschen, die im Anschluss das Holz für den Wiederaufbau benötigen. Von jeder Art war ein Baum geblieben, verteilt über die gesamte Insel. Kira wusste, wo einige zu finden waren, die meisten waren viele Gehminuten entfernt. An heißen Tagen spannten die Völker daher große Sonnensegel zwischen den Ruinen auf, damit sie statt der Bäume Schatten spendeten.

»Na, schau mal einer an!«

Kira schreckte hoch und sah in das spitze Gesicht von Celia. Sie war schon elf Jahre alt und galt als das stärkste Mädchen Amerikas. Der Kopf mit den schulterlangen, akkurat geschnitten Haaren schaute über den Bambuszaun, der den Innenhof säumte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass dort eine hungrige Krähe gelandet war, doch Celia war viel schlimmer.

»Kiiira!«, flötete sie. »Magst du nicht mit uns spielen kommen?«

Ihre dünnen, starken Finger spannten sich an der Kante des Zaunes, als wollte die Krähe sich davon abstoßen, um zu ihrem Nest zu fliegen.

»Wir hätten dich so gerne dabei. Vor allem, seit du ein hübsches neues Spielzeug hast.« Von der anderen Seite drang Gekicher herüber.

»Das ist kein Spielzeug«, sagte Kira hastig. Ihre Finger waren wie gelähmt, als sie nach dem Teleskop greifen und es unter ihrer Strickjacke verstecken wollten. Sie wusste, dass das kindisch war.

In diesem Moment hüpfte Celias schwarzes Haar auf und ab. Sie holte kurz Schwung und zog sich mit einem Ruck am Zaun hoch. In einer fließenden Bewegung sprang sie hinüber und landete sicher wie eine Katze im Innenhof.

»Bitte, Celia!«, flüsterte Kira zaghaft, auf der Suche nach einer glaubwürdigen Lüge. »Es gehört meinem Vater!«

»Ist mir egal, wem es gehört.« Celia trat näher. Obwohl der Rest ihrer Bande feige hinter dem Zaun hocken blieb, war sie ebenso bedrohlich wie fünf starke Jungen. »Du bekommst schließlich mehr Ärger, wenn es deinem Vater gehört!«

Mit diesen Worten streckte sie ungeduldig die Hand aus und machte eine vielsagende Bewegung mit ihrem Zeigefinger.

»Verschwinde, mach schon! Oder i-ich rufe meine Eltern!« So entschlossen wie möglich stellte sich Kira vor sie und funkelte böse, doch Wut war nicht das einzige Gefühl, das in ihren Augen stand. Ohne es bemerkt zu haben, hatten sich Tränen angestaut, die nur auf den richtigen Moment warteten, um ihre Wangen herunterzulaufen. Kira wusste, dass Celia ihr das Teleskop wegnehmen würde.

»PAPA!«, rief Kira über ihre Schulter. Als sie den Kopf zurückdrehte, griff Celia rabiat nach dem Teleskop und lachte. Das Schnarchen aus dem Wohnzimmer verstummte zwar, aber Kira wusste, dass es zu spät war. Ihre Finger rutschten ab und überließen Celia das kupferfarbene Gerät. Die Krähe sah das Teleskop nicht einmal an. Mit einem bösartigen Lächeln hob sie es und öffnete nacheinander ihre Finger.

»Nein!«, rief Kira. Die Linse traf genau auf die hervorstehende Kante eines Pflastersteines und zerbrach mit einem fremdartigen, beängstigend lauten Knacken. Celia grinste, als sie Kiras Tränen fließen sah.

»Tja«, murmelte sie, zuckte mit den Schultern und war wenige Bewegungen darauf hinter dem Bambuszaun verschwunden.

Kira ließ sich auf den Boden sinken und versuchte, nicht laut zu weinen. Sie hob das Teleskop auf, aber drehte es nicht, denn sie wusste, dass es zerstört war. Ihr Geschenk von Augustin, dem tapferen Vater des feigen Huhnes. Ihrem Lebensretter.

In diesem Moment wurde die Tür zum Innenhof zur Seite geschoben, Eugene tauchte darin auf.

»Hast du gerufen? Warum weinst du?« Er blieb stehen, um die Lage zu überblicken, dann beugte er sich besorgt zu ihr herunter und streichelte über Kiras Rücken. »Ach, Kind, hast du es fallen gelassen? Du bist aber auch ungeschickt.«

Kira schüttelte unter Tränen den Kopf und wagte es nicht, von Celia zu erzählen.

»Ist alles nur halb so wild«, meinte Eugene und hob sie hoch. Kira umklammerte das Teleskop und versuchte, nicht daran zu denken, wie die zersplitterte Linse aussah.

»Kannst du es reparieren, Papa?«

Eugene lachte kurz auf. »Hach, du bist süß. Du weißt doch, dass ich zwei linke Hände habe.«

Das stimmte. Überall im Haus, wo Ausbesserungen nötig waren, sah es aus, als wäre ein kleiner Junge mit seinem ersten Werkzeugkasten aktiv gewesen. Eugene schaffte es nicht einmal, ein Bild gerade aufzuhängen. Er war der Meinung, dass zwei Nägel dafür nicht ausreichten und hämmerte oft so lange Löcher in die Wände, bis Emilia ihm den Hammer wegnahm und ihn fluchend anwies, Mörtel und Farbe zu besorgen.

Diese Tatsache bekümmerte Kira so sehr, dass sie kurz überlegte, ihrem Vater das Teleskop an den Kopf zu werfen und ihn dafür anzuschreien, ein schlechter, unfähiger Mensch zu sein. Er war vor der Katastrophe ein Immobilienmakler gewesen, ihn brauchte mittlerweile niemand mehr. Die Leute bezogen die Häuser, die am wenigsten zerstört waren, und stahlen sich Möbel und Ersatzteile aus den Ruinen. Manche Häuser waren erst durch die Plünderungen unbewohnbar geworden.

Seit einem halben Jahr arbeitete Eugene jede Nacht als Wachmann in einem Lagerhaus für Lebensmittel, wodurch er tagsüber meistens im Bett, in seinem samtblauen Lieblingssessel oder auf dem Marktplatz bei einer Diskussion zu finden war. Nun trug er Kira ins Haus und redete weiter auf sie ein, doch sie hörte nicht mehr zu.

Ihr Vater setzte sie mitten im Wohnzimmer ab und streichelte ihr unbeholfen über den Kopf, dann wartete er darauf, dass Kira in ihr Zimmer ging. Schließlich rümpfte sie die Nase, machte kehrt und lief in die Küche.

»Mama«, flüsterte sie. »Mama!«

Emilia Solomon saß am Küchentisch und löste ein Kreuzworträtsel, während auf ihrem Gasherd ein Topf mit Tomaten-Kartoffelsuppe köchelte. Ihre langen, hellroten Haare waren ihr ins Gesicht gefallen, wo unzählige Sommersprossen gezählt werden wollten. Kira wusste, dass sie vier Punkte mehr als ihre Mutter besaß. Auf der Fensterbank hinter ihr standen in bunten Töpfen Emilias letzte Kräuter, daneben ruhte eine winzige Gießkanne. Das einzige Geräusch war ein sanftes Blubbern.

Ihre Augen hellten sich auf, als Emilia sie erblickte. Sie senkte den Stift und zeigte innerhalb weniger Sekunden Freude und Besorgnis zugleich. Schon schob sie den Stuhl zurück und eilte zu Kira, die ihre Tränen immer noch nicht aufhalten konnte.

»Schatz! Was ist denn passiert?«

»Die blöde Celia hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, wimmerte sie und hielt ihr das leicht zerbeulte Metall entgegen. Ihre Mutter runzelte die Stirn und ignorierte das Teleskop völlig.

»Celia? Ich dachte, du warst nicht auf der Straße, Schatz.«

»Sie ist über den Zaun geklettert, die blöde Krähe. Ich will nicht mehr draußen spielen, Mama!«

Emilia schüttelte den Kopf, nahm ihr mit einer galanten Bewegung das Teleskop ab und schloss ihre Tochter in die Arme.

»Es wird alles gut, Kira. Ich wurde früher oft geärgert, und sieh mich an. Mir geht es gut. Deine Wut wird verfliegen.«

»Die hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, zeterte Kira und trommelte mit der flachen Hand auf dem Rücken ihrer Mutter herum. »Diese fiese Krähe hat mein Teleskop einfach kaputt gemacht!«

»Ich habe schon einmal mit Celias Mutter über ihr Verhalten gesprochen, mehr kann ich nicht tun«, meinte Emilia hilflos. »Soll ich etwa Celia zur Rede stellen und züchtigen?« Sie sagte das, als käme es überhaupt nicht infrage.

Kira blähte die Nasenflügel. »Ich fände das gut.«

»Och, Schatz …« Emilia schloss sie fester in die Arme. »Die Welt kann ungerecht sein. Aber auf unserer Seite der Grenze müssen wir zusammenhalten, das weißt du doch.«

Sie verstand das alles falsch, dachte Kira. So lieb sie ihre Mutter hatte, manchmal sagte sie dumme Dinge.

»Mama, kannst du es reparieren?«

Emilia löste die Umarmung und warf einen genaueren Blick auf das Teleskop. Ihre Augen verengten sich plötzlich.

»Woher hast du das? Es ist … schön«, meinte sie, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Hat Papa es dir geschenkt?«

Kira schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Mit Eugene hatte sie abgemacht, dass sie nichts von dem Beinahe-Absturz erzählen wollten, Emilia würde sich nur unnötig aufregen. Andererseits saß ihr der Schreck so tief in den Knochen, dass sie in der vergangenen Woche nicht einmal am Markttag auf die Straße gegangen war.

»Ich habe einen Jungen getroffen«, begann sie.

»Oh«, machte Emilia erfreut. »Einen Freund?«

»Einen Ruaner.«

»Oh«, wiederholte die Mutter, dieses Mal deutlich enttäuschter. »Wie das denn?«

»Ganz zufällig. Er wollte nicht mehr weggehen. Er heißt Aaron und hat einen Papa namens Augustin.«

Kurz sah Emilia aus, als würde ihr der Name etwas sagen. Sie öffnete die Lippen ganz leicht und atmete tief ein. »Von ihm hast du das Teleskop bekommen?«

»Ja, er hat es mir einfach geschenkt! Er sagt, damit kann ich Dinge beobachten, die ganz weit weg sind. Die anderen Inseln zum Beispiel, oder die Sterne! Kennst du Aarons Papa?«

»Er ist der Optiker.«

»Was ist ein Optiker?«

»Ein Mann, der sich mit Gläsern auskennt. Von Brillen zum Beispiel, oder von deinem Teleskop. Er ist der Einzige auf der Insel, der das macht.«

Noch ehe sie diese Worte ausgesprochen hatte, zuckten Emilias Finger, als wollten sie vor ihren Mund springen und den letzten Satz verhindern. Doch schon strahlten sie zwei bettelnde Augen an.

»Dann kann Augustin das Teleskop reparieren, oder? Oder? Bitte, Mama, lass mich zu Augustin gehen!«

»Du weißt, dass du nicht auf die andere Seite der Insel gehen darfst, Schatz. Allen Kindern wurde es verboten, und das ist auch gut so.«

»Aber du darfst!«

»Ich werde nicht zu Augustin gehen.«

»Warum denn nicht?« In Kiras wütend blitzenden Augen sammelten sich schon wieder Tränen. »Ist es dir egal, was mit dem Teleskop ist?«

Emilia schüttelte den Kopf. »Ich werde deinen Vater bitten, sich darum zu kümmern. Ich kann den Herd nicht unbeaufsichtigt lassen, Schatz.«