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© 2020 Rolf Glazinski
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783750484887
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Meinen Eltern
Werner und Elisabeth
Glazinski
„Gefühle” geben bereits im Alltagsleben Anlass zu Diskussionen. Psychologen, Seelsorger und Ärzte, die sich auf professioneller Ebene um das seelische Wohl der ihnen Anvertrauten bemühen, wissen von den zunehmenden Schwierigkeiten vieler Menschen im Umgang mit ihren Gefühlen zu berichten.
Philosophische Hilfe und Orientierung in dem offensichtlich ebenso komplexen wie vulnerablen menschlichen Gefühlsleben ist also dringend geboten. Beim Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt sich jedoch leider, dass die philosophische „Tradition die Affekte bis in das 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich unter den Bedingungen ihrer Negation behandelt hat, als etwas, das besser gar nicht da wäre“1.
Der Philosoph Max Scheler (1874-1928) hat mit zweien seiner Hauptwerke „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik”2 sowie „Wesen und Formen der Sympathie”3 den Gefühlen schließlich zu einer eigenen philosophischen Wertigkeit verholfen4. Seine von Husserl beeinflussten feinsinnigen phänomenologischen Analysen des emotionalen Lebens haben auch Eingang in die Psychiatrie gefunden und bestimmen die Grundlagen der psychopathologischen Diagnostik und psychiatrischen Systematik bis in die Gegenwart mit5. Mit Recht wird Max Scheler deshalb als Philosoph der Psychiatrie6 bezeichnet.
Zum Kreis seiner Doktoranden zählt kein Geringerer als Kurt Schneider (1887-1967), der Nestor der deutschen Psychiatrie nach 19457, dessen von Scheler beeinflusstes Hauptwerk „Klinische Psychopathologie”8 bis in die zurzeit gültige Internationale Klassifikation der Erkrankungen (International Classification of Diseases, ICD 10)9 nachwirkt10. Kurt Schneiders philosophische Dissertation „Pathopsychologische Beiträge zur psychologischen Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen“11 zeigt exemplarisch, wie die Phänomenologie Max Schelers auf klinisch-psychiatrische Sachverhalte angewendet werden kann. Der Einfluss der von Scheler geprägten phänomenologischen Analysen des menschlichen Gefühlslebens auf die Prinzipien und die weitere Entwicklung des Systems der klinischen Psychopathologie wird hier erstmals erkennbar.
Den Schwerpunkt des Buches bildet deshalb die Darstellung der Zusammenhänge zwischen Max Schelers Philosophie der Gefühle und Kurt Schneiders Psychopathologie, die in wesentlichen Teilen als eine Anleitung zur psychopathologisch-psychiatrischen Diagnostik verstanden werden kann.
In Kapitel 1 wird auf die philosophischen Grundprobleme der Psychiatrie fokussiert. Es handelt sich um die Fragen nach der erkenntnistheoretischen und diagnostischen Wertigkeit von Gefühlen, das Leib-Seele Problem, die Frage nach der Erkennbarkeit des Anderen und seiner seelischen Wirklichkeit sowie das Problem der Definition und Diagnose seelischer Erkrankungen.
Kapitel II gibt einen Überblick über die Antworten, die der Philosoph Max Scheler und der Psychiater Kurt Schneider aus ihrer jeweiligen Sicht gegeben haben. Ihre erkenntnistheoretischen und metaphysischen Positionen sowie ihre daraus abgeleiteten Konzepte psychischer Erkrankungen werden dargestellt.
Kapitel III führt in das Werk Max Schelers ein und skizziert seine Phänomenologie des emotionalen Lebens.
In Kapitel IV werden Möglichkeiten und Grenzen der von Kurt Schneider vorgenommenen Anwendung der Scheler´schen Philosophie der Gefühle auf psychopathologisch relevante Sachverhalte erörtert. Im Detail wird analysiert, inwiefern Max Schelers Analyse des emotionalen Lebens12 Kurt Schneiders Konzept psychiatrischer Erkrankungen, seine Systematik pathologischer Affekte13 und emotionaler Erkrankungen14 sowie die von ihm entwickelten Kriterien zur Diagnose der Schizophrenie15 beeinflusst hat.
Kapitel V reflektiert die Ergebnisse der hier vorgenommenen Untersuchung. Einige alternative Sichtweisen auf das Verhältnis von Gefühlen, Erkenntnis und psychiatrischer Diagnostik werden kursorisch vorgestellt.
In Schlusswort und Ausblick werden die spezifischen Leistungen Max Schelers und Kurt Schneiders für die Psychopathologie nochmals gewürdigt. Auf die Notwendigkeit, die von beiden Denkern wesentlich geprägte phänomenologische Psychopathologie durch strukturpsychologische und psychodynamische Konzepte zu ergänzen, wird hingewiesen.
Die Untersuchung basiert auf der unveröffentlichten Magisterarbeit des Verfassers im Hauptfach Philosophie zum Thema „Die Bedeutung der Phänomenologie der Sympathiegefühle im Werk Max Schelers für die Pathopsychologie der Gefühle Kurt Schneiders”16 und seiner Dissertation „Zur Philosophie und Psychopathologie der Gefühle bei Max Scheler und Kurt Schneider, Systematische und historische Überlegungen”17 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln.
Herrn Professor Wolfgang Baßler18 ist der Autor zu Dank verpflichtet. Sein Hinweis auf die Bedeutung von Max Schelers phänomenologischen Analysen des emotionalen Lebens für die Psychopathologie Kurt Schneiders hat den entscheidenden Anstoß zu der sich anschließenden mehrjährigen interdisziplinären Forschungsarbeit im Grenzgebiet von Philosophie, Psychopathologie und Psychiatrie gegeben.
Wegen des anhaltenden Interesses von philosophischer, psychologischer und psychiatrischer Seite erscheinen die „Emotionen in der psychiatrischen Diagnostik”19 nach ihrer ersten Publikation im Jahr 1998 in Köln jetzt in überarbeiteter zweiter Auflage bei BoD - Books on Demand, Norderstedt. Die zweite Auflage wurde sorgfältig durchgesehen, korrigiert und an einigen Stellen ergänzt. Die Rechtschreibung wurde den geltenden Regeln behutsam angepasst.
Seit August 2018 steht auch die von Chris Charlesworth ins Englische übertragene und ebenfalls bei BoD erschienene internationale Ausgabe mit dem Titel „The Role of Emotions in Psychiatric Diagnosis“20 in dritter Auflage zur Verfügung.
Eschborn, im Februar 2020
Rolf Glazinski
1 Fink-Eitel, Hinrich (1986), S. 521.
2 Scheler, Max (1980).
3 Scheler, Max (1973).
4 Lützeler, Heinrich (1947), S. 13/14.
5 Gebsattel, Freiherr von (1928), S. 454/455.
6 Ders, ebd. S. 454.
7 Huber, Gerd (1987a), S. 177.
8 Schneider, Kurt (1987).
9 Dilling, H.; Mombour, W; Schmidt, M.H. (eds.) (1991).
10 Sims, Andrew (1991), S. 46-51.
11 Schneider, Kurt (1921a).
12 Strasser, Stephan (1956), S. 3-13.
13 Machleidt, Wielant; Gutjahr, Leopold; Mügge, Andreas (1989), S. 3.
14 Häfner, Heinz (1996), S. 547.
15 Baßler, Wolfgang (1990), S. 139-149.
16 Glazinski, Rolf (1993).
17 Glazinski, Rolf (1997).
18 Prof. Dr. phil., Dipl.-Psychologe, Psychoanalytiker, Professor und Dozent an den Universitäten Köln und Bonn sowie in eigener Praxis niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut in Köln.
19 Glazinski, Rolf (1998).
20 Glazinski, Rolf (2018).
Das erste Kapitel versucht, einen Überblick über die der Philosophie und Psychiatrie gemeinsamen Fragen zu geben, und damit zugleich, wenn auch nur im Ansatz, in die Denkweisen beider Fächer einzuführen. Eine solche Einführung ist notwendigerweise unvollständig. Sie soll auch keineswegs erschöpfend sein, sondern auch dem fachlich nicht vorgebildeten Leser die Möglichkeit geben, sich mit den notwendigen Grundlagen vertraut zu machen.
Zunächst aber sollen die geistigen Beziehungen zwischen Max Scheler und Kurt Schneider in den Vordergrund gerückt und detaillierter dargestellt werden.
Kurt Schneider hat, wie im Vorwort bereits erwähnt, nach medizinischer Promotion und Habilitation im Februar 1921 mit einer Arbeit über „Pathopsychologische Beiträge zur psychologischen Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen“21 bei Max Scheler auch zum Doktor phil. promoviert.
Seine Dissertation ist sowohl bei Springer22 als auch in der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie”23 veröffentlicht worden. Im gleichen Jahr hat Schneider eine ebenfalls durch Scheler angeregte Arbeit mit dem Titel „Bemerkungen zu einer phänomenologischen Psychologie der invertierten Sexualität und erotischen Liebe”24 publiziert. Im Hinblick auf die beiden genannten Arbeiten Kurt Schneiders schreibt Max Scheler im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches „Wesen und Formen und der Sympathie”25:
„Es ist mir endlich eine besondere Freude gewesen, dass die erste Auflage des Buches nicht nur in philosophischen und psychologischen Fachkreisen erhebliche Beachtung gefunden hat, sondern auch in den Kreisen der jungen phänomenologischen Forschungsrichtung innerhalb der Psychiatrie und Sexualwissenschaft. Der Psychiater Kurt Schneider hat in seinen ‚Pathopsychologischen Beiträgen zur psychologischen Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen‘ und in seinen ‚Bemerkungen zu einer phänomenologischen Psychologie der invertierten Sexualität und erotischen Liebe‘ meine eigenen Aufstellungen glücklich ergänzt.”26
Auch die 1920 von Kurt Schneider veröffentlichte Abhandlung „Die Schichtung des emotionalen Lebens und der Aufbau der Depressionszustände”27 wird von Scheler im Vorwort zu „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ als erfolgreiche psychologische Anwendung der „erörterten Gesetze der ‚Tiefenschichten der Gefühle´ “28 gewürdigt.
Kurt Schneider seinerseits verweist u.a. in seiner „Pathopsychologie der Gefühle und Triebe”29, die erstmals 1935 bei Gustav Thieme in Leipzig erschienen ist und später als „Pathopsychologie der Gefühle und Triebe im Grundriss”30 in Form eines Anhangs in seine „Klinische Psychopathologie”31 eingefügt worden ist, auf Scheler. Er schreibt:
„Eine eindringliche Phänomenologie der Schichtung des emotionalen Lebens verdanken wir Scheler.”32
Dietrich von Engelhardt fasst schließlich in seiner Übersichtsarbeit „Philosophische Grundlagen der Psychiatrie des 20. Jahrhundert”33 den Einfluss der von Scheler vorgenommenen Analysen des emotionalen Lebens auf Kurt Schneiders Psychopathologie wie folgt zusammen:
„Scheler wirkt mit seiner Verbindung von Lebensphilosophie, Phänomenologie und Anthropologie auf die Psychiatrie ein. Kurt Schneider bezieht die Scheler‘sche Differenzierung der Emotionalität der Gefühle auf die Depression: Die ‚vitale Traurigkeit´ auf die endogene Depression, die ‚seelische Traurigkeit´ auf die reaktive Depression. Die anthropologische Psychiatrie steht insgesamt unter dem Einfluss von Scheler.”34
Seine Feststellungen sind zwar richtig, aber keinesfalls erschöpfend. Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung sieht sich deshalb vor die Aufgabe gestellt, die Tragweite der Philosophie der Gefühle Max Schelers für die von Kurt Schneider entworfene Psychopathologie systematisch und ihrer Bedeutung entsprechend zu entfalten.
Zuvor sollen jedoch einige historische und prinzipielle Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Psychiatrie angestellt werden, um anschließend die beiden Disziplinen gemeinsamen Kardinalfragen formulieren zu können.
21 Schneider, Kurt (1921a).
22 Schneider, Kurt (1921b).
23 Schneider, Kurt (1921c), S. 109-140.
24 Schneider, Kurt (1921d), S. 346-351.
25 Scheler, Max (1973).
26 Ders, ebd. S. 15.
27 Schneider, Kurt (1920).
28 Scheler, Max (1980), S. 24/25.
29 Schneider, Kurt (1935)
30 Schneider, Kurt (1987), S. 71-83.
31 Schneider, Kurt (1987).
32 Ders., ebd. S. 71 ff.
33 Engelhardt, Dietrich, von (1982).
34 Ders, ebd. S. 8.
Die folgenden Ausführungen sind notwendigerweise unvollständig. Eine umfassende Darstellung der Beziehungen zwischen Philosophie und Psychiatrie würde ein eigenständiges Werk erfordern. An dieser Stelle sollen deshalb nur zwei Gesichtspunkte, die für das Verständnis der geistigen Beziehungen zwischen Max Scheler und Kurt Schneider von besonderer Bedeutung sind, hervorgehoben werden.
Der erste Gesichtspunkt ist allgemeiner Natur und möchte lediglich die Tatsache, dass es zwischen Philosophie und Psychiatrie wechselseitige Bezüge gibt, wieder in das Gedächtnis rufen. Eine solche Erinnerung erscheint insbesondere deshalb notwendig, weil im Gefolge der biologischen Psychiatrie, deren Erfolge in der Tat beachtlich sind, die philosophischen Implikationen des Faches eine immer geringere Rolle zu spielen scheinen. Gerade die von dem Mathematiker und Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) begründete phänomenologische Methode35, die von Max Scheler antizipiert und dank seiner Arbeiten auch in die Psychiatrie hineingetragen worden ist, hat die Psychiatrie aber methodisch außerordentlich bereichert und als Fach auch in den Geisteswissenschaften verankert.
Zwar kann im Rahmen der vorliegenden Publikation auf die von Edmund Husserl geleistete Grundlagenarbeit nicht eingegangen werden, es soll aber zumindest skizziert werden, dass und wie Max Scheler den phänomenologischen Forschungsansatz für sein Denken fruchtbar gemacht hat.
35 Husserl, Edmund (1968).
Zunächst ist festzuhalten, dass seit Hippokrates, Platon und Aristoteles Verbindungen zwischen philosophischen und psychiatrischen bzw. medizinischen Fragen existieren:
„Die Verbindung von Psychiatrie oder Allgemeiner Medizin und Philosophie reicht zurück bis in die Antike. Im Corpus Hippocraticum wie bei Plato und Aristoteles und anderen Philosophen der griechischrömischen Welt finden sich Interpretationen zum Ursachenbegriff, zur Leib-Seele-Beziehung, zur Affektenlehre, zur Personalität und psychischen Erkrankung, die in manchen Zügen auch heutigen Auffassungen noch zugrunde liegen.”36
Der Gang dieser Beziehung durch die Geschichte kann zwar nicht weiter verfolgt werden, wenn aber Philosophische und psychiatrischen Probleme enger miteinander verwoben sind, als gemeinhin angenommen, muss gefragt werden, aus welcher gemeinsamen Quelle beide Disziplinen offenbar gespeist werden. Bei dieser Quelle handelt es sich um keine geringere als die Struktur des Erkennens selbst, welche jeder Lösung eines einzelwissenschaftlichen Problems vorausliegt.
Fragen die Philosophen nach den Bedingungen der Erkenntnis, so wollen die Psychiater, wie alle anderen Vertreter einer Einzelwissenschaft, mit der ihnen zur Verfügung stehenden Methode, die letztlich nichts anderes als einen Spezialfall menschlichen Erkennens darstellt, die Probleme ihres Faches einer Lösung zuführen. Somit besteht die Möglichkeit, dass von Philosophen geprägte Elemente einer Struktur des Erkennens wissentlich oder unwissentlich Eingang in die Psychiatrie gefunden haben. Im Vorwort ihres Buches „Philosophy and Psychopathology”37 führen Spitzer und Brendan hierzu Folgendes aus:
„Perception, thought, affect, will and the like are terms which made their way from philosophy into psychology, and into present psychiatry, where disturbances of these ‚faculties´ or ‚functions´ are believed to form the most basic part of symptomatology. While these terms and many others used to prefer to symptoms of mental disorder (such as ‚self ´, ‚consciousness´, ‚drive´ and ‚identity´) may seem to be purely descriptive and theoretically ‚innocent´, they are packed with implicit assumptions, theoretical concepts, and sometimes dogmatic postulates.”38
Auf die besondere Nähe der Psychiatrie zur Philosophie macht auch der Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt aufmerksam:
„Psychiatrie hat wie jede Wissenschaft philosophische Voraussetzungen, die nicht selten in ihrer systematischen Bedeutung und historischen Herkunft unbegriffen wirksam sind. Gegenstand und Methode der Psychiatrie heben ihre Beziehung zur Philosophie gegenüber der Beziehung der anderen medizinischen Disziplinen zur Philosophie besonders hervor. Gerade die Vielfalt psychopathologischer Positionen zwischen biologischen, psychischen, sozialen und personalen Orientierungen verlangen Reflexionen auf die philosophischen Grundlagen, von denen keine dieser unterschiedlichen Positionen frei ist.“39
Der Philosoph Ernst Cassirer (1874-1945) hat auf die Bedeutung des „theoretischen Selbstbewusstseins” für alle geistigen Bemühungen und damit für jede wissenschaftliche Disziplin hingewiesen:
„So einseitig es wäre, den Ertrag der modernen philosophischen Arbeit lediglich im logischen Gebiete aufsuchen zu wollen: so deutlich lässt sich doch erkennen, dass die verschiedenen geistigen Kulturmächte, die zu dem endgültigen Ergebnis zusammenwirken, erst kraft des theoretischen Selbstbewusstseins, das sie erringen, ihre volle Wirkung entfalten können und dass sie damit mittelbar zugleich die allgemeine Aufgabe und das Ideal des Wissens fortschreitend umgestalten.”40
Entscheidend ist somit, ob und wenn ja, durch welche philosophischen Positionen das „theoretische Selbstbewusstsein“ der Psychiatrie im Sinne Cassirers mitbestimmt worden ist. Philosophie wie Psychiatrie überwinden die naive Auffassung des Erkennens und legen gemeinsam einen Erkenntnisweg frei, dessen spezifisches Merkmal in der schöpferischen Potenz des Erkennenden gesehen werden muss. An die Stelle bloßer Wiedergabe des faktisch Gegebenen tritt der Dialog mit den Dingen, anderen Menschen und des Erkennenden mit sich selbst. Den Übergang von der naiven Auffassung des Erkennens zu einem theoretischen Selbstbewusstsein hat wiederum Ernst Cassirer markiert:
„Der naiven Auffassung stellt sich das Erkennen als ein Prozess dar, in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewusstsein bringen. Die Tätigkeit, die der Geist hierin entfaltet, bleibt auf einen Akt der Wiederholung beschränkt: … schon die ersten Anfänge der theoretischen Weltbetrachtung aber erschüttern den Glauben an die Erreichbarkeit, ja die innere Möglichkeit des Zieles, das diese populäre Ansicht dem Erkennen setzt. Mit ihnen wird sogleich deutlich, dass wir es in allem begrifflichen Wissen nicht mit einer einfachen Wiedergabe des Stoffes zu tun haben, der sich uns von außen darbietet. Die Erkenntnis gewinnt eigentümliche und spezifische Züge und gelangt zu qualitativer Unterscheidung und Entgegensetzung gegen die Welt der Objekte.”41
Im Vollzug dieses Übergangs von der naiven Auffassung des Erkennens zum theoretischen Selbstbewusstsein eröffnet sich dann nach Cassirer sowohl der Weg zu den Erfahrungswissenschaften als auch zu den Geisteswissenschaften:
„Es sind keineswegs alleine die abgeschlossenen philosophischen Systeme, es sind die mannigfachen Versuche und Ansätze der Forschung, wie der gesamten geistigen Kultur, in denen diese allmähliche Umgestaltung des Ichbegriffs, wie des Objektbegriffs sich vollzieht. Alle Tendenzen, die darauf ausgerichtet sind, eine neue Methodik der Erfahrungswissenschaften zu schaffen oder aber in einem vertieften Begriff des Selbstbewusstseins einen neuen Grund der Geisteswissenschaften zu legen, gehören nunmehr mittelbar zu unserem Problem.”42
Somit kann festgehalten werden, dass die Reflexion auf die Struktur des Erkennens sowohl einen erfahrungswissenschaftlichen als auch einen geisteswissenschaftlichen Ansatz innerhalb der Psychiatrie zulässt. Folgerichtig führt der Psychiater Hans-Jürgen Möller43 aus, dass nur die wechselseitige Durchdringung des spekulativen und erfahrungswissenschaftlichen Ansatzes die Psychiatrie als Wissenschaft hinreichend charakterisiert:
„Je weniger die Psychiatrie hypothesenorientiert ist, desto mehr wird sie zu einer reinen Erfahrungswissenschaft, je weniger sie sich einer empirischen Überprüfung von Hypothesen bedient, desto mehr wird sie zu einer spekulativen Wissenschaft. Für eine empirische bzw. realwissenschaftliche Psychiatrie in dem hier definierten Sinne bleibt die Verschränkung von Deduktion und Induktion, von Spekulation, Intuition und kontrollierter Beobachtung/experimenteller Erfahrung charakteristisch.”44
Die bisherigen grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Psychiatrie verweisen bereits in sehr allgemeiner Form darauf, dass bei der Untersuchung des Verhältnisses von Max Scheler zu Kurt Schneider der Frage, ob und inwieweit Kurt Schneider durch die erkenntnistheoretische Position Max Schelers beeinflusst worden ist, besonderes Gewicht beigemessen werden muss. Gleichzeitig rückt die Frage, welche Bedeutung Max Scheler den Gefühlen für den Prozess des menschlichen Erkennens eingeräumt hat, ins Blickfeld. Zunächst soll aber die von Edmund Husserl begründete und von Max Scheler antizipierte phänomenologische Sichtweise im Überblick erläutert und ihr Weg in die Psychopathologie wenigstens holzschnittartig dargestellt werden.
Die Begegnung mit Edmund Husserl und die geistige Auseinandersetzung mit dessen „Logischen Untersuchungen“45 haben das Denken Max Schelers entscheidend angeregt.46 Erst nach der geistigen Auseinandersetzung mit der von Husserl begründeten phänomenologischen Methode hat Scheler seine beiden Hauptwerke „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik”47 sowie „Wesen und Formen der Sympathie”48„Erlebniskontakt mit der Wirklichkeit und das Ausgehen von der Wirklichkeit“49