Sarah Mayberry

JULIA COLLECTION BAND 147

IMPRESSUM

JULIA COLLECTION erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

Zweite Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,
in der Reihe: JULIA COLLECTION, Band 147 – 2020

© 2007 by Small Cow Productions PTY Ltd.
Originaltitel: „Take On Me“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Alina Lantelme
Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe TIFFANY SEXY, Band 39

© 2007 by Small Cow Productions PTY Ltd.
Originaltitel: „All Over You“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Alina Lantelme
Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe TIFFANY SEXY, Band 40

© 2007 by Small Cow Productions PTY Ltd.
Originaltitel: „Hot For Him“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Alina Lantelme
Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe TIFFANY SEXY, Band 43

Abbildungen: Harlequin Books S. A. / Jacob Wackerhausen, franckreporter / iStock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733715373

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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Drehbuch für eine heiße Affäre

1. KAPITEL

„Sadie, hör mit der Zappelei auf! Du bist eine Braut und solltest Würde ausstrahlen“, sagte Claudia.

„Entschuldige. Ich wollte nur einen Blick in den Spiegel werfen“, erwiderte Sadie.

„Das geht nicht. Nicht, bevor ich fertig bin.“ Claudia Dostis fuhr fort, das Mieder von Sadies Hochzeitskleid zu schnüren.

„Das gilt auch für deinen Kopf“, sagte die andere Brautjungfer Grace Wellington, als Sadie nickte. Grace versuchte gerade, den Schleier auf Sadies Hochsteckfrisur zu befestigen.

Claudia und Grace waren Sadies beste Freundinnen und ihre Arbeitskolleginnen, denen sie völlig vertraute. Also hielt sie die nächsten Minuten gehorsam still.

„Fertig!“, sagte Claudia endlich.

„Ich auch“, meinte Grace.

Beide traten einen Schritt zurück, musterten Sadie zufrieden und lobten sich gegenseitig für ihre Arbeit.

Sadie hob amüsiert eine Augenbraue. „Heißt das, dass ich mich jetzt anschauen kann?“

Die Freundinnen umfassten ihre Schultern und drehten sie sanft zum Spiegel um. Die Frau, die Sadie darin sah, kam ihr wie eine elegante Märchenprinzessin in elfenbeinfarbener Seide vor. Die moderne Hochsteckfrisur betonte ihren langen anmutigen Hals. Ihre helle Haut war makellos, und die großen braunen Augen wirkten dramatisch und sexy. „Du meine Güte. Bin das wirklich ich?“

„Ja, wunderschön wie immer“, bestätigte Claudia.

Das Kompliment ließ Sadie erröten, und beim unvermeidlichen Blick auf ihre Brüste runzelte sie die Stirn. Mit deren Größe werde ich wahrscheinlich nie hundertprozentig glücklich sein, gestand sie sich ein. Als Teenager hatte sie sehr darunter gelitten, dass sie in der Beziehung eine echte Spätentwicklerin war.

„Was ist los? Stimmt etwas nicht?“ Graces grüne Augen nahmen einen besorgten Ausdruck an.

„Es ist alles perfekt, danke“, beschwichtigte Sadie ihre Freundin. Inzwischen trug sie B-Cup, was durchaus okay war. Dieser Komplex aus ihrer Jugend quälte sie nur wieder, weil sie so nervös war. Als ihr Blick auf die Uhr fiel, bekam sie einen Adrenalinschub. „Ihr macht euch jetzt besser auch fertig.“

„Ich weiß nicht mehr, wie ich mich zu diesem Kleid überreden lassen konnte“, murmelte Grace, während sie das trägerlose hautenge Kleid anzog, das extra für sie angefertigt worden war. Es rückte ihre kurvenreiche Figur perfekt ins rechte Licht.

„Wir haben dich zwei zu eins überstimmt“, erinnerte Claudia sie und schlüpfte in eine kleinere Ausgabe des gleichen Kleides. Obwohl sie zierlich war, hatte sie dennoch ansehnliche Rundungen. Mit ihrer leicht oliv getönten Haut und den dunklen Mandelaugen sah sie atemberaubend aus.

„Oh nein.“

Sadie wandte ihren bewundernden Blick von Claudia ab und drehte sich zu Grace um, die inzwischen ihre Stilettos angezogen hatte. Das rote Seidenkleid setzte die sehr schmale Taille ihrer Freundin und deren sexy Hüften dramatisch in Szene. „Du siehst total heiß aus.“

Grace wurde rot. „Ich sehe wie ein zu lange gekochtes Würstchen aus. Falls eine der Nähte platzt, solltet ihr schnellstens in Deckung gehen.“

Mit einem Lachen schüttelte Sadie den Kopf. Beide Freundinnen sahen sehr schön aus. „Ich denke, wir brauchen mehr Champagner.“ Sie trat an die Anrichte und nahm die Flasche aus dem Eiskübel. Claudia war strikte Antialkoholikerin, aber Grace und sie, Sadie, hatten zusammen bereits etwas getrunken, während sie sich frisiert und geschminkt hatten. Sie hatte gehofft, damit ihre Nerven zu beruhigen.

Sie würde heiraten! Sadie dachte an Greg Sinclair, den blonden, gut aussehenden Mann, der schon bald ihr Ehemann sein würde, und seufzte glücklich, während sie den Champagner einschenkte. In ihrem Leben lief im Moment alles rund. Es war schon toll, als Script-Producerin bei der täglichen Soap Ocean Boulevard mit Grace zusammenzuarbeiten. Ihre Aufgabe war es, den Überblick über alle Figuren zu behalten und die Handlung weiterzuentwickeln und sicherzustellen, dass das Autorenteam sich an die Vorgaben hielt. Und nun gehörte auch noch Claudia als Produzentin zu ihrem Team. Besser konnte es nicht mehr werden.

Sie liebte ihren Job und hatte ihre beiden engsten Freundinnen an ihrer Seite. Und in nicht einmal einer Stunde würde sie mit einem wunderbaren, lustigen, gescheiten und gut aussehenden Mann verheiratet sein. „Kneif mich, schnell“, bat sie Grace, die ihr eins der Gläser abnahm.

„Sicher.“ Grace tat ihr den Gefallen und schlang dann einen Arm um ihre Taille. „Besser?“

Sadie grinste. „Was wäre ich ohne euch?“

Claudia gesellte sich zu ihnen und legte ebenfalls einen Arm um Sadies Taille.

„Ich liebe euch. Danke, dass ihr für mich da seid.“ Einen Augenblick lang musste Sadie wie verrückt blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten.

„Nicht weinen, Sadie“, meinte Claudia. „Als Braut kannst du dir keine verheulten Augen leisten.“

Pünktlich auf die Minute klingelte es an der Tür. Mit einem Lachen fand Sadie ihr inneres Gleichgewicht wieder. „Die Limousine ist schon da.“ Ihre Nerven flatterten.

Während der nächsten Minuten suchten sie schnell alles zusammen, was sie für die Trauung und den anschließenden Empfang brauchten. Dann schnappten sie sich den restlichen Champagner und stiegen in die Limousine. Sadie saß in der Mitte, und die Freundinnen achteten sorgfältig darauf, dass ihr Brautkleid nicht zerknittert wurde.

Als sie an der Kirche ankamen, winkte Sadies Onkel Gus, der auf dem Bürgersteig stand, ihnen wild mit beiden Armen zu und wies den Chauffeur an vorbeizufahren.

„Hallo?“ Sadie klopfte an die Glasscheibe, die den Fahrerbereich vom hinteren Teil des Wagens trennte. „War das nicht eben die Kirche?“

„Ja, aber wir sollen weiterfahren. Ich werde eine Runde drehen.“

Konsterniert starrte sie zuerst Claudia und dann Grace an. „Was ist los, zum Teufel?“

Ihre Freundinnen wirkten genauso verwirrt wie sie.

„Vielleicht warten sie auf etwas“, meinte Grace.

Sadie kam ein fürchterlicher Gedanke. Schließlich arbeitete sie fürs Fernsehen und hatte im Laufe der Jahre schon mehrmals solch eine Szene mit ausgetüftelt. Eine glückliche Braut, ein perfekter Tag – und dann das Desaster. Der Bräutigam hatte einen Autounfall, war tot oder schwer verletzt. „Können wir bitte umkehren? Ich möchte nicht um die Kirche herumfahren.“

„Aber …“

„Sie haben gehört, was die Braut gesagt hat. Drehen Sie um“, befahl Claudia.

Mit einem Seufzer wendete der Fahrer und steuerte auf die Kirche zu.

Als sie näher kamen, konnte Sadie sehen, dass jetzt ihre Tante Martha neben ihrem Onkel stand. Die beiden debattierten aufgeregt.

„Mist“, murmelte Sadie, und eine weitere Reihe von Schreckensszenarien ging ihr durch den Kopf: Die Kirche muss wegen einer Bombendrohung geräumt werden. Oder der Bräutigam stellt sich überraschend als Bruder der Braut heraus.

„Ich weiß, was du denkst, und ich weiß, womit wir unser Geld verdienen. Aber das hier ist nicht Ocean Boulevard“, sagte Grace bestimmt. „Wahrscheinlich hat der Pfarrer einfach zu viel vom Messwein getrunken.“

Sadie atmete tief durch. Grace hatte recht. Was auch immer nicht stimmen mochte – es würde sich eine Lösung dafür finden. Als die Limousine hielt, runzelte ihr Onkel die Stirn. Trotz ihrer Absicht, ruhig zu bleiben, lehnte Sadie sich hinüber zum Türgriff und ließ die Tür aufschwingen. Die Freundinnen stiegen aus.

„Was ist los?“, fragte Sadie ihren Onkel.

„Tut mir leid, Liebes“, sagte Gus.

Da wusste Sadie, dass sie mit ihren Befürchtungen richtig gelegen hatte. „Greg ist nicht hier?“

„Er hat dir eine Nachricht zukommen lassen.“ Martha überreichte ihr einen Briefumschlag.

Sadie starrte einen Moment lang darauf, bevor sie ihn mit zitternden Händen öffnete und den Briefbogen herausnahm. Die Nachricht war erschütternd kurz. Allzu viele Gedanken, wie er ihr sein Verhalten am besten erklären konnte, hatte Greg sich wohl nicht gemacht.

Liebe Sadie,

ich weiß, dass ich derjenige war, dem es nicht schnell genug gehen konnte. Aber du hattest recht. Es ist noch zu früh für eine Heirat. Keine Sorge – ich werde für alles aufkommen. Ich brauche einfach Zeit, um mir über einiges klar zu werden. Leite die anfallenden Rechnungen umgehend an mich weiter.

Dein Greg

Blinzelnd kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen an. Was war das denn? Er ließ sie vor dem Traualtar sitzen und speiste sie mit wenigen Worten ab?

„Was schreibt er?“, fragte Claudia.

Sadie gab ihr den Brief. Es herrschte Schweigen, während Claudia und Grace die Nachricht lasen und den Brief dann ihrem Onkel und ihrer Tante reichten.

„Er hat nie etwas gesagt? Irgendeinen Hinweis gegeben?“, fragte Martha verwirrt.

Claudia wurde wütend. „Sie meinen, so etwas in der Art, wie ‚Sadie, glaub bloß nicht, dass ich morgen auftauchen werde‘?“

Sadie legte ihrer Freundin beruhigend eine Hand auf den Arm. Ihre Tante konnte schließlich nichts dafür. Sie war immer für sie da gewesen, seit Sadies Eltern vor sieben Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren.

„Ich kann das nicht glauben.“ Grace überflog noch einmal die Zeilen.

Sadie warf einen Blick auf die Kirche. Drinnen warteten mehr als zweihundert Gäste. Gregs und ihre Freunde und Verwandten waren da, um ihre Hochzeit zu feiern. Sie ballte die Hände zu Fäusten, als eine Welle der Scham und des Schmerzes in ihr aufstieg. Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle aus dem Staub gemacht, so gedemütigt fühlte sie sich. Am liebsten würde sie so tun, als hätte sie Greg niemals geglaubt, als er ihr sagte, dass er sie über alles liebte und so bald wie möglich heiraten wollte.

„Lass uns gehen“, sagte Claudia entschieden und deutete auf die Limousine.

„Ja, deine Freundin hat recht, Liebes“, meinte Gus. „Du verschwindest, und wir werden allen mitteilen, dass es einen Zwischenfall gegeben hat und die Hochzeit verschoben ist.“

Sadie wusste, dass ihr Onkel es ihr leichter machen wollte, aber jeder in der Kirche würde sich die Wahrheit denken können. Es war ziemlich offensichtlich, was passiert war – der Bräutigam war nicht zur Hochzeit erschienen. Sie konnte sich vorstellen, wie drinnen alle miteinander flüsterten. Warum dauert das so lange? Wo ist der Bräutigam? Sollte er nicht vor dem Altar warten? Plötzlich kam ihr das alles schrecklich vertraut vor. Einen Moment lang erinnerte sie sich an eine Situation auf der Highschool, als sie vor ihren Mitschülern bloßgestellt und dann von ihnen verspottet und bemitleidet worden war.

„Nein, ich werde nicht abhauen.“ Sie war entschlossen, die Vergangenheit abzuschütteln, und marschierte auf die Kirche zu, bevor sie der Mut verließ.

„Du musst das nicht tun“, meinte Claudia, die Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

„Doch, ich werde es tun. Da drinnen warten meine Freunde und meine Familie.“

„Wir können es ihnen erklären“, meinte Grace, die sich jetzt an die Spitze setzte. „Lass es uns tun.“

Sadie wusste, dass alle sie bemitleiden würden. In der kühlen Vorhalle der Kirche angekommen, blieb sie stehen, weil Schmerz und Scham sie erneut zu überwältigen drohten. Aber sie musste es tun. Für sich. Also raffte sie die Schleppe ihres Kleides, um besser laufen zu können. Claudia und Grace öffneten ihr mit gequälten Gesichtern die Doppeltür.

Gut zweihundert Gäste verstummten abrupt und drehten die Köpfe nach ihr um. Die Organistin stimmte automatisch den Hochzeitsmarsch an und hörte dann schnell wieder auf zu spielen.

Sadie sah stur geradeaus, als sie, flankiert von Claudia und Grace, den Gang zum Altar hinunterging, wo Pfarrer Baker stand und sie mitfühlend musterte. Sie konzentrierte sich ganz darauf, nicht zu weinen und einfach weiterzugehen. Zu mehr war sie im Moment nicht in der Lage.

Der Pfarrer kam ihr entgegen. „Sadie, meine Liebe.“ Er reichte ihr die Hand.

„Entschuldigen Sie, dass wir Ihre Zeit verschwendet haben. Noch einen Moment bitte, dann werden wir hier verschwunden sein.“ Sie ging an ihm vorbei zum Mikrofon auf der Kanzel, schaltete es ein, holte tief Luft und blickte in die Gesichter der Gäste.

„Es tut mir leid, dass ich euch alle habe warten lassen“, begann sie. Ihr versagte die Stimme, und sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten. Dann spürte sie Graces Hand auf ihrem Rücken. Ihre Freundinnen waren hinter sie getreten. Grace und Claudia an ihrer Seite zu wissen, half ihr fortzufahren.

„Wie ihr wohl schon bemerkt habt, mangelt es uns an einem Bräutigam. Zu dumm. Ich nehme nicht an, dass jemand freiwillig einspringen will?“ Sie sah sich um. Die Leute wurden unruhig, einige lachten verlegen. „Kommt keiner in Versuchung? Schade! Dann ist es jetzt wohl Zeit, richtig zu feiern. Und ich erwarte, jeden von euch auf dem Empfang zu sehen. Greg hat mir versichert, dass er alles bezahlen wird. Also sorgt dafür, dass er eine horrende Rechnung bekommt.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und trat vom Mikrofon zurück.

Claudia war blass geworden. „Bist du sicher? Ich meine, was den Empfang angeht?“

„Ja … nein. Ich weiß nicht.“ Sadie hatte keine Ahnung, wie sie das alles durchstehen sollte, aber irgendwie würde sie es schaffen müssen.

Als sie hoch erhobenen Hauptes die Kirche verließ, war gedämpftes Gemurmel zu hören. Draußen hielt der Chauffeur der Limousine ihr die Tür auf. Sie stieg hastig ein, schnappte sich sofort die Champagnerflasche und nahm gierig einen großen Schluck.

Dylan Anderson lächelte, als er in seinem Büro das letzte Polaroidfoto von der Pinnwand nahm, um es, wie die anderen auch, als Erinnerung mitzunehmen. Es war während eines langen Nachmittags im Konferenzraum aufgenommen worden, als das Team völlig entnervt versucht hatte, Ideen zu entwickeln, um die sechzig Minuten einer Folge von The Boardroom zu füllen.

Er betrachtete die Arbeit an der erfolgreichen Serie des Privatsenders Box-Office Cable als seine bisher beste Erfahrung als TV-Autor. Das seltene Zusammenspiel eines guten Konzepts, eines sympathischen Redaktionsteams, begabter Regisseure und Schauspieler und einer ausgezeichneten Crew war ein absoluter Glücksfall gewesen.

Dennoch hatte er sich entschieden, seinen Vertrag nicht um ein weiteres Jahr zu verlängern. Natürlich war er versucht gewesen zu bleiben, da seine Arbeit konstant durch Nominierungen für TV-Auszeichnungen, tolle Kritiken und hohe Einschaltquoten anerkannt wurde. Aber er hatte große Ziele, und von denen würde er sich durch nichts und niemanden abbringen lassen.

Er strich fast zärtlich über den dicken, bereits adressierten Umschlag auf seinem Tisch. Sein Drehbuch zu einem Spielfilm, das ihn unendlich viel Zeit und Schweiß gekostet hatte, war endlich fertig. Seine Agentin konnte es jetzt verschiedenen Produktionsfirmen anbieten. Er hoffte, dass es das erste Kinodrehbuch von vielen werden würde.

Dylan war stolz darauf, die neunzig Seiten selbst geschrieben und dabei weder bei der Rechtschreibung noch bei der Grammatik einen Fehler gemacht zu haben. Als Kind hatte er sich im Vergleich zu seinen Mitschülern für dumm gehalten und war sogar von der Schule geflogen. Aber damals hatte er noch nicht gewusst, dass er unter Dyslexie, einer Lesestörung, litt. Er hatte massive Probleme beim Lesen und Verstehen von Texten gehabt.

Als Dylan merkte, dass er über seine verkorkste Jugend nachdachte, schüttelte er den Kopf. All das war lange vorbei und mittlerweile völlig unwichtig. Er legte den Umschlag auf den Karton mit seinen persönlichen Gegenständen und ging damit zur Tür. Das Team von The Boardroom hatte ihn zu einem Abendessen bei seinem Lieblingsmexikaner in Hollywood eingeladen. Dort würde er sich endgültig von allen verabschieden.

Gerade als er die Bürotür aufmachen wollte, läutete das Telefon. Mit einem Seufzer stellte er den Karton ab. „Anderson hier“, meldete er sich.

„Dylan. Ich bin es, Ruby. Hast du eine Sekunde Zeit?“, fragte seine Agentin, ließ ihn jedoch gar nicht zu Wort kommen. „Ich weiß, dass du eine Weile ausspannen wolltest, aber ich habe gerade einen sehr interessanten Anruf erhalten.“

„Vergiss es“, sagte er. „Ich bin nicht interessiert. Zumindest während der nächsten beiden Monate nicht. Dann bin ich für Jobangebote wieder offen.“

„Willst du nicht einmal hören, worum es geht?“

„Nein. Morgen wirst du mein Drehbuch auf dem Schreibtisch haben“, erklärte Dylan. „Damit wirst du ausreichend beschäftigt sein.“ Er hatte vor, die nächsten beiden Monate einige Konzepte für TV-Sendungen weiterzuentwickeln, und wollte an mehreren Drehbüchern arbeiten, für die er bereits Recherchen angestellt hatte. Er wollte erst wieder einen festen Job annehmen, wenn er den Grundstein für seinen nächsten Karriereschritt gelegt hatte.

„Schade. Dann werde ich mich nach anderen potenziellen Kandidaten umhören.“ Ruby seufzte hörbar.

„Versuch es bei Olly Jones. Ich weiß, dass er es satthat, frei zu arbeiten.“

„Ja, das habe ich auch gehört. Er hat letzte Woche bei Crime Scene unterschrieben.“

„He, das ist großartig!“ Dylan freute sich für seinen Freund und nahm sich vor, ihn anzurufen. Er wusste überhaupt nicht mehr, wann er sich das letzte Mal mit Freunden getroffen hatte.

„Okay. Dann werde ich mich wieder bei dir melden, wenn ich das Drehbuch gelesen habe.“

„Ja. Bis dann.“

„Du willst also wirklich nicht einmal wissen, welcher Job zu haben ist?“, ließ Ruby nicht locker.

„Ruby, das wird nicht funktionieren. Ich habe auch so sehr viel Arbeit vor mir.“

„Gut. Dann gestalte eben nicht Amerikas erfolgreichste tägliche Soap mit. Mir ist das egal.“

Dylan zögerte einen Moment. Jetzt war sein Interesse doch geweckt. „Du meinst Ocean Boulevard?“

„Genau die meine ich“, sagte seine Agentin. „Der hauptverantwortliche Autor des Drehbuchteams hatte einen Unfall und wird sechs Monate ausfallen. Der Job des Story-Editors ist im Moment also nicht besetzt.“

Dylan wusste, dass Sadie Post seit vier Jahren für Ocean Boulevard arbeitete. So etwas sprach sich in dem Metier herum, und er konnte nicht einmal an sie denken, ohne wütend zu werden. Eine Reihe von Bildern tauchte vor seinem geistigen Auge auf … Sadie, die ihn vor der Klasse demütigte und ihn absichtlich mit Fragen bombardierte, die er nicht beantworten konnte. Die Missbilligung des Berufsberaters, nachdem er, Dylan, von der Highschool geflogen war. Der geringschätzige Blick seines Vaters, der hinnehmen musste, dass sein ignoranter Sohn gerade mal dazu taugte, Hamburger zu verkaufen …

„Dylan? Bist du noch dran?“

„Erzähl weiter“, meinte er nach einem Moment. Vielleicht war er doch nicht so beschäftigt.

Zehn Tage später parkte Sadie ihr Cabrio auf dem für sie reservierten Platz vor den Produktionsbüros von Ocean Boulevard in Santa Monica. Sie warf kurz einen Blick in den Spiegel. Ihre blonde Mähne war zerzaust, aber das passte zur Sonnenbräune, die sie sich während ihrer allein absolvierten Hochzeitsreise in die Karibik zugelegt hatte.

Sie nahm ihre Mappe und stieg aus. Sie konnte es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. Ocean Boulevard war ihre Rettung, denn sie wusste, dass sie dafür ihre ganze Energie und Konzentration brauchen würde. Das würde ihr helfen, die nächsten Wochen und Monate zu überstehen.

Nach zehn Tagen voller Selbstmitleid hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen. Das Leben ging weiter. So einfach war das. Dass sie immer noch nichts von Greg gehört hatte, half ihr dabei, wieder auf die Füße zu kommen. Am liebsten wäre es ihr, wenn sie nie wieder etwas von ihm hörte. Dann könnte sie so tun, als wären die sechs Monate, in denen sie in ihn verliebt gewesen war, nur eine Halluzination gewesen.

Während Sadie auf das Gebäude zuging, konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit. Sie wollte ihren ersten Tag nutzen, um sich auf den aktuellen Stand zu bringen, bevor das Drehbuchteam ihr die Ideen für die Episoden der kommenden Wochen vortrug. Schnell rekapitulierte sie die Handlungsstränge der Story von vor anderthalb Wochen. Ocean Boulevard spielte in Santa Monica. Das Geschehen drehte sich um Menschen, die in einem Apartmentblock in der gleichnamigen Straße wohnten. Die jeweils einstündige Sendung lief an fünf Tagen in der Woche. Daher gab es immer viel zu tun.

Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und winkte einigen Mitarbeitern im Vorbeigehen zu, denn sie wollte nicht auf ihre geplatzte Hochzeit angesprochen werden. In ihrem Büro schaltete sie den Computer ein und klickte sich durch ihr E-Mail-Programm.

Claudia erschien in der Tür. „Ich wusste, dass du früh hier auftauchen würdest, du Workaholic.“ Sie war wie meistens ganz in Schwarz gekleidet.

„Ja, die Ferien sind vorbei.“

„Ich muss schnell etwas Geschäftliches mit dir besprechen. Reg dich nicht auf, aber Joss hatte einen Autounfall. Er hat sich das Becken gebrochen.“

Sadie schnappte nach Luft. „Oh nein. Ist er okay? Wurde noch jemand verletzt?“

„Zum Glück nicht. Ein Hund lief über die Straße, und er wollte ausweichen und ist gegen einen Baum gefahren. Es wird mindestens sechs Monate dauern, bis er wieder auf den Beinen ist. Nur gut, dass seine Krankenversicherung für alles aufkommt. Aber wir brauchen Ersatz für ihn.“

Das hatte Sadie in ihrer Sorge einen Moment lang vergessen. „Meine Güte, ja. Wir müssen einen neuen Autor finden.“ Das würde nicht einfach werden. Der Story-Editor hatte die größte Verantwortung im Drehbuchteam. Er musste mit neuen Ideen die Geschichte vorantreiben und die Einfälle und Texte der anderen beurteilen. Und er war ihr als Script-Producerin direkt unterstellt. Also war es ihre Aufgabe, möglichst schnell einen Ersatz für Joss aufzutreiben. Automatisch griff sie nach ihrem Adressbuch.

Claudia winkte ab. „Entspann dich. Ich habe mich schon darum gekümmert. Wir haben Glück.“

„Ja?“

„Du wirst ihn lieben. Er hat fünf Jahre lang in London bei verschiedenen Sendungen Erfahrungen gesammelt und zuletzt drei Jahre lang für Box-Office Cable an The Boardroom mitgearbeitet. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir ihn bekommen konnten. Aber er stand gerade zwischen zwei Verträgen und mag unsere Soap sehr.“

All das kam Sadie bekannt vor, und bei ihr begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. „Ich bin nicht sicher …“

„Da kommt er ja“, unterbrach Claudia sie. „Ihr beiden könnt euch ein bisschen unterhalten, bis alle eingetrudelt sind.“

Sadie wich das Blut aus dem Gesicht, als sie den dunkelhaarigen Mann entdeckte, der hinter Claudia auftauchte. Er sah immer noch umwerfend aus mit seinen grauen Augen, die wie damals einen großspurigen und zu selbstsicheren Ausdruck hatten. Sie sah ihn an, als wäre ihr schlimmster Albtraum wahr geworden.

Als Teenager auf der Highschool war sie heimlich in ihn verknallt gewesen, doch er hatte sie öffentlich gedemütigt. Beim Abschlussball, bei dem er aufgetaucht war, obwohl er kurz vorher von der Schule geflogen war, hatte sie ihre letzte Chance gesehen, ihm zu imponieren. Daher hatte sie in ihrer Verzweiflung ihren BH unter ihrem weit ausgeschnittenen Kleid mit Papiertaschentüchern ausgestopft, um ihren damals noch sehr kleinen Brüsten mehr Fülle zu verleihen. Dylan hatte das bemerkt und die Papiertaschentücher vor den Augen der Schulkameraden aus ihrem BH gezogen. Sie war sich nie so lächerlich vorgekommen.

Und jetzt war er der neue Hauptautor der Serie, mit dem sie eng zusammenarbeiten musste.

2. KAPITEL

Sobald Dylan Sadie Post sah, wurden all seine Erwartungen hinfällig, die er mit der Arbeit an Ocean Boulevard verbunden hatte. Nach den ersten Gesprächen mit Claudia war er fasziniert von dem Gedanken gewesen, an der Soap mitzuschreiben. Die fünf einstündigen Folgen pro Woche waren eine enorme Herausforderung, und er würde viele wertvolle Erfahrungen machen können.

Tatsächlich hatte er seine ursprünglichen Pläne einfach über den Haufen geworfen, weil Claudia ihn ohne Sadies Wissen engagiert hatte. Der Gedanke, dass Sadie Post aus ihrem Urlaub zurückkehren und ihn als den wichtigsten Drehbuchautor der Serie vorfinden würde, war schlichtweg unwiderstehlich gewesen. Denn trotz seiner beruflichen Erfolge hatte er nie verwunden, dass sie ihn auf der Highschool vor der ganzen Klasse blamiert und gedemütigt hatte.

Doch nun war Sadie nicht mehr das unscheinbare dünne Mädchen in den zu weiten Sachen mit dem schlichten, straffen Pferdeschwanz. Die Frau, die aufstand, um ihm gegenüberzutreten, war eine umwerfend schöne Amazone. Sie war groß und hatte eine blonde zerzauste Mähne wie Pamela Anderson. Ihr schlanker Körper hatte Rundungen an den richtigen Stellen, und die wurden von einem engen schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Jeans ausgezeichnet in Szene gesetzt. Außerdem hatte sie endlos lange, schlanke Beine – genauso wie er es mochte.

Einen Moment lang war er so perplex, dass er sie nur anstarrte, doch dann setzte er wieder sein Pokerface auf. Okay, dann war sie also eine sehr attraktive Frau geworden. Das änderte absolut nichts. Er hatte schon entschieden, dass er sich kühl und gelassen geben und keinerlei Anspielung auf die Highschool machen würde. Sie waren in dieselbe Klasse gegangen – mehr war nicht. Er würde Sadie nicht die Genugtuung verschaffen, ihr gemeines Verhalten von damals auch nur zu erwähnen. Hier ging es darum, die Vergangenheit zu bewältigen, und nicht darum, sie wiederaufleben zu lassen.

„Sadie, toll, dich wiederzusehen“, log er und brachte sogar ein professionelles Lächeln zustande. Er streckte ihr eine Hand hin.

Sadie zögerte, bevor sie ihm die Hand reichte. Ihre Haut fühlte sich kühl und seidig an, und er betrachtete fasziniert ihre samtbraunen Augen. Doch sofort rief er sich zur Ordnung. Dass sie große Rehaugen hatte, sollte ihm nun wirklich völlig egal sein.

„Ihr kennt euch also schon?“

Claudia sah gespannt zwischen ihnen hin und her, und Dylan nahm an, dass sie sich fragte, weshalb er das im Einstellungsgespräch nicht erwähnt hatte.

„Sadie und ich sind zusammen zur Schule gegangen“, erklärte er möglichst harmlos. Er sah Sadie in die Augen und entdeckte für einen kurzen Moment einen verletzlichen und schmerzlichen Ausdruck darin. Erneut war er irritiert und aus dem Konzept gebracht, denn er hatte erwartet, dass sie abwehrend oder gleichgültig auf ihn reagieren würde.

„Das stimmt. Dylan und ich waren auf derselben Highschool“, erklärte sie.

„Oh! Das hat Dylan überhaupt nicht erwähnt.“ Claudia sah ihn fragend an.

Er zuckte die Achseln. „Es ist doch schon so lange her. Ich wusste nicht, ob Sadie sich noch an mich erinnern würde.“ Mit Genugtuung registrierte er, dass seine ehemalige Mitschülerin sich unbehaglich fühlte.

„Ja, die Welt ist klein.“ Claudia akzeptierte seine Ausrede.

Sadie hatte sich wieder unter Kontrolle. „Ich dachte, du wärst bei The Boardroom unter Vertrag“, sagte sie und errötete, als ihr bewusst wurde, was sie damit zugegeben hatte.

Also hat sie meine Karriere verfolgt, dachte Dylan. Wahrscheinlich hat sie nur darauf gewartet, dass ich Hollywood wieder verlassen muss. „Ich hatte den Job gerade quittiert, als Claudias Angebot mich erreichte“, meinte er lässig. „Wie ich hörte, hast du Urlaub in der Karibik gemacht. Wo genau warst du?“

„In St. Barts“, meinte sie zögernd und schaute Claudia fragend an.

Dylan sah aus den Augenwinkeln, dass Claudia den Kopf schüttelte. Hatten die beiden ein Geheimnis? „Ich war vor einigen Jahren dort. Bist du getaucht?“, hakte er nach.

„Nein. Ich habe Strandurlaub gemacht, viel gelesen und Schlaf nachgeholt“, antwortete Sadie abweisend.

Er hatte vermutet, dass sie mit einer Freundin oder ihrem Freund Urlaub gemacht hatte. Doch es klang so, als wäre sie allein gewesen. Das konnte er sich bei einer so attraktiven Frau wie ihr kaum vorstellen. Natürlich musste man in Betracht ziehen, was für ein Biest sie war. Das schreckte Männer trotz ihres sexy Körpers ab. „Das klingt großartig.“

„Ja, das war es.“ Sadie hob herausfordernd das Kinn.

Hier stimmt definitiv etwas nicht, dachte Dylan. Näheres würde er schon noch herausfinden. In TV-Produktionsbüros wurde immer viel geklatscht, und wenn er es geschickt anstellte, würde er bis hin zu ihrer Schuhgröße bald alles über Sadie Post wissen.

„Dann lasse ich euch jetzt allein.“ Claudia ging zur Tür. „Sadie wird nach ihrem Urlaub wahrscheinlich auf den neuesten Stand gebracht werden müssen.“

Ohne um Erlaubnis zu fragen, machte Dylan es sich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch bequem. Es hatte ihn kurz aus der Bahn geworfen, weil aus der Bohnenstange eine sehr erotische Frau geworden war. Aber jetzt hatte er sich wieder in der Hand und würde ihr deutlich machen, mit wem sie es in den kommenden Monaten zu tun hatte.

Sadie fühlte sich zunehmend gestresst, als Dylan sich im Stuhl ihr gegenüber zurücklehnte und lässig die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Sie war verwirrt, wütend und hatte Angst. Dylan Anderson hatte mindestens fünf Jahre lang nach diesem grauenvollen Abschlussball auf der Highschool ihre Albträume beherrscht. Sie hatte ihm die Pest an den Hals gewünscht. Und jetzt saß er ihr großspurig gegenüber, schien sich pudelwohl zu fühlen und verursachte ihr Beklemmungen. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Nach Gregs Verrat war ihr Selbstbewusstsein ohnehin angeknackst. Das war einfach zu viel!

In den letzten Jahren hatte Sadie sich immer mal wieder vorgestellt, ihm zu begegnen. Aber in ihren Rachefantasien hatte sie höchstens noch Mitleid für ihn empfinden können. Denn darin hatte er immer ein kugeliges Bäuchlein und schütteres Haar oder eine Glatze gehabt. Manchmal hatte sie ihm sogar eine Zahnlücke angedichtet. Warum auch nicht, zum Teufel?

Leider hatten es die vergangenen Jahre sehr gut mit Dylan gemeint. Obwohl er immer noch schlank war, waren seine Schultern breit, und er wirkte muskulös. Seine Bizepse zeichneten sich unter dem grünen T-Shirt ab. Das schwarze Haar trug er nicht mehr rebellisch lang, sondern kurz. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Sogar die leichten Falten um seine Augen und seinen Mund machten den Mistkerl noch attraktiver.

Sie verachtete ihn. Einen Moment lang drohten ihre Gefühle Sadie fast zu überwältigen. Ihr fielen all die Dinge ein, die sie ihm hatte sagen wollen, nachdem ihre Kränkung in Zorn umgeschlagen war. Doch nach dem Abschlussball war er plötzlich verschwunden gewesen, und sie hatte angenommen, dass er nie mehr in ihrem Leben auftauchen würde. Dann hatte sie vor drei Jahren im Nachspann von The Boardroom mit Schrecken den Namen Dylan Anderson entdeckt und sich durch eine kleine Recherche vergewissert, dass er tatsachlich ihr ehemaliger Schulkamerad war. Seitdem hatte sie sich immer mal wieder darüber informiert, wo er war und was er tat, um ihn im Auge zu behalten.

Und jetzt saß er ihr gegenüber und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Zum Glück hatte Claudia ihm nichts von ihrer katastrophalen Hochzeit erzählt. Allein der Gedanke, dass er von diesem Desaster in ihrem Privatleben erfuhr, verursachte Sadie Übelkeit.

Am meisten hatte sie die lässige Art auf die Palme gebracht, mit der er erwähnt hatte, dass sie zusammen zur Schule gegangen waren und dass er nicht gewusst hätte, ob sie sich noch an ihn erinnerte. Als ob seine Grausamkeit nicht einer der zentralen Momente in ihrem Leben gewesen wäre! Der Gedanke an sein unglaublich demütigendes Verhalten damals, das für ihn anscheinend nicht der Rede wert war, gab ihr den nötigen Kick, um ihm Paroli zu bieten. Dylan Anderson würde sie nicht noch einmal derart kränken. Sie straffte die Schultern. „Ich nehme an, dass du letzte Woche hier an Bord gegangen bist, richtig?“

„Ja. Ich habe einfach da weitergemacht, wo Joss aufgehört hat. Das Team war großartig.“

Alles in Sadie sträubte sich, weil es klang, als hätte er persönlich die Leute ausgesucht und eingearbeitet.

„Ja, es ist ein tolles Team. Sehr erfahren. Es überrascht mich, dass Claudia nicht in Erwägung gezogen hat, jemanden aus dem Team zum Story-Editor aufsteigen zu lassen.“ In dem Moment, in dem sie das gesagt hatte, wusste sie, dass sie einen taktischen Fehler gemacht hatte. Zum einen war niemand aus dem Team schon so weit, unvermittelt diesen Job zu übernehmen, und nach einer Woche Arbeit mit der Redaktion wusste Dylan das auch. Zum anderen – und das wog viel schwerer – wusste der Mistkerl jetzt, dass sie ihn nicht im Team haben wollte.

Ihm war das offensichtlich egal, denn er erklärte kühl: „Ich denke, darüber wirst du mit Claudia reden müssen.“

Sadie verkniff sich das Schimpfwort, das ihr auf der Zunge lag. „Da du dich schon so gut eingelebt hast, können wir ja sofort mit der Arbeit anfangen.“

„Natürlich. Möchtest du, dass ich die Episoden der letzten Woche rekapituliere, oder hattest du Gelegenheit, die Drehbücher zu lesen, bevor du hergekommen bist?“

„Geh einfach die wichtigsten Punkte mit mir durch.“

„Okay.“

Sadie legte die Fingerspitzen aneinander und versuchte, selbstsicher und kontrolliert zu wirken. Sie würde alles tun, um diese erste Begegnung würdevoll hinter sich zu bringen.

Dylan versuchte sich zu konzentrieren, während er zu einer kurzen Zusammenfassung der Episoden der letzten Woche ansetzte. Das war nicht einfach, weil sein Blick automatisch zum Ausschnitt von Sadies eng anliegendem T-Shirt ging.

„Wir haben alle sechs Handlungsstränge weitergeführt, aber entschieden, dass das Scheidungsszenario von Kirk und Loni während der vorangegangenen Folgen genug ausgewalzt worden ist. Also haben wir Kirk in der letzten Woche prinzipiell einer Scheidung zustimmen lassen.“

Während Sadie ihm zuhörte, betrachtete Dylan ihr Gesicht. Sie hatte eine schöne Haut, die jetzt auf natürliche Art von der Sonne gebräunt war. Offensichtlich hatte sie kaum Make-up aufgelegt.

„Unsere Zukunftsplanung für Kirk und Loni sieht vor, dass sie sich wieder versöhnen werden. Wir wollen keine Scheidung“, wandte Sadie ein.

„Das habe ich gesehen. Ich dachte, wir könnten noch einige Verwicklungen einbauen, bevor wir sie wieder zusammenkommen lassen. Also hat Kirk die Scheidungspapiere unterschrieben – aber er hat sie noch nicht abgeschickt.“ Dylan stellte fest, dass Sadie ihn angespannt ansah. Sie hat hinreißende Augen, dachte er. Warum waren ihm ihre Augen nicht in Erinnerung geblieben? Anders als ihre Brüste musste sie die doch schon auf der Highschool gehabt haben.

„Und was wird ihn davon abhalten, seinem Anwalt die Papiere zu schicken?“

„Diese Woche wird Loni von einer alten Flamme besucht werden. Dass plötzlich ein Konkurrent auftaucht, wird die Sache anheizen.“ Er grinste großspurig.

„Das klingt alles sehr interessant“, meinte Sadie mit unbewegtem Gesicht. „Doch ich denke, es ist mir lieber, wenn ich die Episoden lese, anstatt sie mündlich durchzugehen. Dann wird mir keine Nuance entgehen.“ Einen Moment lang presste sie die Lippen aufeinander.

Ihr Mund ist sehr sexy, stellte Dylan fest. Erst nachträglich wurde ihm bewusst, dass er Sadie Post in Augenschein nahm, und er rief sich zur Ordnung. „Sicher. Schließlich bist du der Boss.“

Sadie hatte sich Notizen gemacht, hob bei dieser Bemerkung aber den Kopf. Sie starrten sich einen Augenblick lang an, dann sagte sie: „Der Rest des Teams ist jetzt da. Ich will dich nicht aufhalten.“

Dylan hätte schwören können, dass sie erleichtert war, was sich bestätigte, als sie aufstand, um ihm zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Er genoss es, dass sie verunsichert wirkte, und nahm sich vor, sie in den kommenden Monaten noch weit mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Anstatt auf ihren Hinweis einzugehen, blieb er sitzen, um zu sehen, wie weit er gehen konnte. Langsam ließ er den Blick über ihren Körper gleiten, um sie bewusst zu provozieren.

Doch es stellte sich heraus, dass es ihm gefiel, Sadie von Kopf bis Fuß zu mustern. Sie hatte einen anmutigen, geschmeidigen Körper mit festen Brüsten, der nackt hinreißend aussehen musste. Ihren Po hatte er bisher noch nicht gesehen, aber er wäre jede Wette eingegangen, dass er toll war. Er überlegte sich, was für Slips sie wohl trug. Vielleicht Strings?

„Weißt du, wenn ich dir auf der Straße begegnet wäre, hätte ich dich nicht erkannt.“ Dylan schaute ihr jetzt wieder ins Gesicht und registrierte zufrieden, dass sie rot wurde. Ihre Augen blitzen vor Wut. „Du hast dich ziemlich verändert.“

„Ja. Aber du bist noch ganz der Alte.“

Er wusste, dass Sadie das nicht als Kompliment gemeint hatte. Langsam stand er auf. Es machte ihm Spaß, sie zu überragen, auch wenn er nur ein paar Zentimeter größer war als sie. „Ich freue mich wirklich sehr auf die kommenden Monate, Sadie“, sagte er, bevor er ging.

Sadie hielt sich an ihrem Schreibtisch fest, als Dylan ihr Büro verließ, weil sie plötzlich weiche Knie hatte. Automatisch musterte sie ihn von hinten und betrachtete die breiten Schultern und schmalen Hüften. Die Jeans betonte seinen perfekt geformten Po. Er war so knackig und maskulin, dass wohl jede Frau ihn zum Anbeißen fand.

Jede Frau – außer ihr natürlich. Sie war für alle Ewigkeit unempfänglich für Dylans sogenannten Charme. Überwältigt ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken. Ihr war zumute, als wäre sie vom Blitz getroffen worden. Dylan war ihr Feind, sie wollte ihn nicht bei Ocean Boulevard haben. Wie hatte Claudia ihr das nur antun können? Aber natürlich wusste sie, dass es nicht Claudias Schuld war. Wenn Dylan Anderson nicht der wäre, der er war, wäre er ein echter Gewinn und ein Aushängeschild für ihr Team. Er war für eine Reihe von TV-Preisen nominiert worden und wurde in der Branche respektiert, ja sogar bewundert – sosehr ihr das auch missfiel.

Als Grace in ihr Büro kam, sich setzte und die Beine übereinanderschlug, war Sadie ungeheuer froh über die Ablenkung. Sie registrierte die violetten Stilettos, die ihre Freundin trug. „He, die sind neu!“

„Ja. Ich habe sie in einem kleinen Laden am Sunset Strip entdeckt.“

Obwohl Grace zu den Schuhen ein hellgrünes Kleid mit weißen Paspeln im Stil der Fünfzigerjahre anhatte, schaffte sie es wie gewöhnlich, dass die unmögliche Zusammenstellung irgendwie zusammenpasste. Ihr tizianrotes Haar trug sie lang mit einem sehr kurzen Pony. Sie ist ein halbes Jahrhundert zu spät geboren, dachte Sadie.

„Also, was hältst du von unserem sexy Neuzugang?“, fragte Grace.

„Ich hasse ihn!“, platzte Sadie heraus und schlug sich dann betroffen die Hand vor den Mund. Sie hatte das eigentlich für sich behalten wollen.

Ihre Freundin machte ein verblüfftes Gesicht. „Wirklich? Meine Güte, was hat er gesagt? Er war doch nur eine halbe Stunde bei dir.“

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Das gibt es doch nicht.“ Grace sah ihre Freundin aufmerksam an. „Warum spüre ich bei dir eine angestaute, panische Angst aus Teenagerzeiten?“

Plötzlich stiegen Sadie Tränen in die Augen, und sie blinzelte wild.

„He, bist du okay?“ Grace stand besorgt auf und ging um den Tisch herum, um ihre Freundin zu trösten.

Sadie hielt abwehrend eine Hand hoch. „Bitte nicht! Ich will nicht, dass er mitbekommt, wie durcheinander ich bin.“ Sie warf einen argwöhnischen Blick in den Flur, wo Dylan sich mit zwei Teammitgliedern unterhielt.

„Okay.“ Grace setzte sich wieder. „Dieser Mann macht dir ja wirklich schwer zu schaffen.“

Sadie seufzte tief. „Es ist eine alte Geschichte. Er sollte nicht mehr eine solche Macht über mich haben. Ich meine, ich bin jetzt erwachsen. Nichts von all dem spielt noch eine Rolle.“

Grace kaufte ihr das nicht ab. „Ich denke, du solltest es Claudia sagen.“

„Nein.“

„Warum nicht? Du selbst hättest diesen Schuft doch nie engagiert. Claudia wird das verstehen.“

Dass ihre Freundin Dylan bereits als Schuft eingestuft hatte, ohne die Geschichte zu kennen, tat Sadie gut. „Ich kann nicht. Was soll ich sagen? Er war in der Schule gemein zu mir, also sorge dafür, dass er verschwindet? Das geht nicht.“

„Was willst du dann tun?“

„Ich weiß es nicht. Es irgendwie hinter mich bringen, vermutlich. Er hat ja nur einen Vertrag über sechs Monate, nicht wahr?“ Im Moment kam ihr das wie eine lebenslängliche Freiheitsstrafe vor, aber sie war auch kalt erwischt worden. Wenn sie erst einmal Zeit zum Nachdenken hatte, um eine geeignete Strategie zu entwickeln, würde es ihr wieder besser gehen.

„Rede mit Claudia“, wiederholte Grace.

„Wir brauchen einen kompetenten Story-Editor. Ich möchte nicht, dass sie glaubt, mir auf Kosten der Sendung einen Gefallen tun zu müssen. Sie hat den Job als Produzentin erst seit fünf Wochen. Das wäre nicht fair.“ Plötzlich fühlte Sadie sich sehr müde und wollte nur noch eine Weile ihre Ruhe haben.

Ihre Freundin spürte das und stand auf. „Du weißt, wo du mich findest. Und in meiner untersten Schreibtischschublade liegt ein großer Vorrat an Schokolade.“

„Danke.“ Sadie lächelte Grace an, doch sobald sie allein war, runzelte sie die Stirn. Sie hatte eine echte Pechsträhne. An diesem Tag vermied sie alles, was über einen sehr kurzen und oberflächlichen Kontakt mit Dylan hinausging. Aber sie wusste, dass es nicht so weitergehen konnte.

Als Sadie nach Hause kam, war sie immer noch völlig konsterniert. Doch nachdem sie heiß geduscht, ihren bequemsten Pyjama angezogen und sich zum Abendessen eine große Portion ihrer Lieblingseiscreme und Kekse genehmigt hatte, fand sie ihr inneres Gleichgewicht allmählich wieder.

Inzwischen sah sie die Sache aus einer anderen Perspektive. Sie würde schon damit umgehen können, dass Dylan Anderson eine Zeit lang bei Ocean Boulevard arbeitete. Schließlich lag diese Sache lange zurück, und sie war jetzt eine erwachsene Frau. Die alten Verletzungen spielten keine Rolle mehr. Letztendlich war er ein Mitarbeiter wie jeder andere auch. Sadie kuschelte sich unter die Bettdecke. Ein paar Stunden erholsamer Schlaf, und sie würde der Welt wieder gegenübertreten können.

Doch dann hatte sie den Traum, der von ihren Erinnerungen handelte und der sie schon lange nicht mehr verfolgt hatte …

Die Schulstunden waren vorbei, und die anderen Kids waren schon nach Hause gegangen. Sadie wollte gerade den Umkleideraum der Mädchen betreten, hörte jedoch im Umkleideraum der Jungen nebenan jemanden singen. Als sie die Stimme erkannte, schlug ihr Herz schneller. Sie schlich hinüber und hörte Wasser rauschen. Dylan Anderson duschte und sang dabei. Ihr wurde heiß, als sie ihn sich nackt unter der Dusche vorstellte.

Wie ferngesteuert ging sie weiter zu der Reihe von Spinden, die sie vom Waschraum trennte. Normalerweise tat sie nie etwas, das so gewagt war, denn sie war eine gute und immer korrekte Schülerin. Aber jetzt stand sie im Umkleideraum der Jungen, um einen Blick auf den nackten Dylan Anderson zu erhaschen, und fragte sich, ob sie plötzlich den Verstand verloren hatte.

Dennoch ging sie weiter und hielt den Atem an, während sie vorsichtig einen Blick um die Ecke riskierte. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Das Wasser lief ihm über die breiten Schultern den Rücken hinunter und über seinen knackigen Po. Der Anblick weckte Sadies Hunger auf etwas, für das sie nicht einmal einen Namen hatte.

Die nassen Haare hingen ihm auf die Schultern, und sie verfolgte das Spiel seiner Rückenmuskeln, als er seinen Bauch wusch. Dann drehte er ihr das Profil zu. Sie musterte mit großen Augen seine Brust und ließ schnell den Blick über seinen festen Bauch bis zu der Stelle gleiten, auf die sie am neugierigsten war. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie ein männliches Glied. Beeindruckt vergaß sie zu atmen und presste unwillkürlich die Knie zusammen. Oh, Mann!

Dann drehte Dylan sich ihr ganz zu und legte den Kopf in den Nacken. Sadie nahm begierig jeden Zentimeter seines Körpers in Augenschein. Seine Oberschenkel waren durchtrainiert und seine Waden so perfekt proportioniert wie der Rest. Er hielt die Augen geschlossen, wusch sich mit der einen Hand die Brust, und mit der anderen strich er sich die nassen Haare aus der Stirn.

Er war prachtvoll, und sein Anblick war noch sehr viel besser als in ihren Fantasien. Der Gedanke, dass er sie berühren, sie an seine breite Brust ziehen und sie seine Erregung spüren lassen könnte, machte sie benommen vor Lust und Sehnsucht. Sie war so fasziniert, dass sie erst aufschreckte, als Dylan plötzlich das Wasser abdrehte und nach seinem Handtuch griff.

Hastig versteckte sie sich hinter der ersten Reihe von Spinden. Sie war überzeugt, sie würde sterben, wenn er sie erwischte. Verzweifelt sah sie sich um und bemerkte, dass seine Kleider auf der Bank vor seinem Spind lagen. Als sie hörte, dass er kam, floh sie hastig ans Ende des Gangs und kauerte sich hinter einen Behälter mit schmutzigen Handtüchern. Dort wartete sie voller Angst auf die Strafe für ihre Dreistigkeit.

Sie hörte, dass Dylan ein Deospray benutzte und sich anzuziehen begann. Offensichtlich bemerkte er sie nicht, und sie wartete regungslos darauf, dass er den Umkleideraum verließ. Aber alles blieb still. Verunsichert wagte sie einen kurzen Blick über den Rand des Behälters, um zu sehen, ob Dylan noch da war. Sofort ging sie wieder in Deckung, denn er saß bedrückt auf der Bank und hielt ein Blatt in der Hand. Sie riskierte noch einen Blick und stellte fest, dass er völlig resigniert und verstört auf das Papier starrte. Plötzlich fluchte er, knüllte das Blatt zusammen und warf es in den nächsten Mülleimer. Dann nahm er seine Lederjacke und ging hinaus.