Die Autorin

KARIN BALDVINSSON wurde 1979 in Erlenbach am Main geboren. Während ihrer mehrjährigen Tätigkeit für einen isländischen Konzern hat sie ihr Herz an einen Isländer verloren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg, doch die raue Insel wird immer ihre zweite Heimat bleiben. Unter ihrem Pseudonym Karin Lindberg hat Karin Baldvinsson schon viele Bestseller veröffentlicht.

Karin Baldvinsson

Das Mädchen im Nordwind

Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Mai 2021
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: © www.buerosued.de (Landschaft);
arcangel / © Joanna Czogala (Frau)
Karte: © Peter Palm, Berlin
Autorenfoto: © Ulrike Schmock
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ISBN 978-3-8437-2480-7

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Widmung

Wirklich tot sind nur jene,
an die sich niemand mehr erinnert.

Jüdisches Sprichwort

 

 

Für die Menschlichkeit und gegen
das Vergessen.

Prolog

2004

Den Sommer hatte sie stets am liebsten gemocht, wenn die ersten Sonnenstrahlen am Morgen den Tau von den Blättern küssten, die Vögel in den Baumwipfeln sangen und der Tag erwachte. Seitdem war viel passiert. Zu viel.

Sonnenlicht schimmerte durch die Vorhänge und warf einen sanften Schein auf das blank polierte Fischgrätparkett ihrer Wohnung in Hamburg-Altona. Im Zimmer war es still. Nur ihr Herzschlag rauschte in ihren Ohren. Sie hatte Angst, große Angst, dass sie zu lange gewartet hatte, dass sie nicht mehr in der Lage sein würde, das zu tun, was sie sich seit Jahrzehnten jeden Tag aufs Neue vorgenommen und dann doch nicht begonnen hatte. Jetzt musste es sein, denn ihr lief die Zeit davon. Beinahe hätte sie gelacht – wenn sie eins genug gehabt hatte, dann Zeit. Zeit zum Nachdenken, Zeit zu hoffen, Zeit zu trauern, aber vor allem Zeit, die Entscheidungen der Vergangenheit zu bedauern. Darin war sie eine Meisterin, sie war fast so gut darin wie im Davonlaufen.

Sie nahm den Füller zur Hand, drehte die Kappe ab und setzte die Feder auf das Papier ihres Notizbuches. Jungfräulich, dachte sie und schloss die Augen. Wo fange ich nur an? Am Anfang, hätte er zu ihr gesagt und gelächelt. Der Gedanke an ihn gab ihr Zuversicht. Nicht mehr denken, einfach machen, trieb sie sich an. Sie straffte ihren Rücken und fing an zu schreiben.

Lieber Hannes, diese Worte sind für Dich. Alles, was ich wollte, war, dass Du glücklich wirst.

Sie hatte auf Isländisch schreiben wollen, aber die Sprache war nach all den Jahren so weit weg. Wie in einem anderen Leben. Mit zitternden Fingern legte sie den Stift beiseite und rieb sich über die Stirn. Nach einigen schweren Atemzügen fuhr sie fort. Das Geräusch der kratzenden Füllerfeder durchbrach die Stille im Raum.

Es fällt mir nicht leicht, das zu Papier zu bringen, was ich zu sagen habe. Die mir verbleibende Zeit ist aller Voraussicht nach nur noch kurz, aber ich bin nicht traurig darüber. Im Gegenteil, der letzte Atemzug ist etwas, das ich nicht mehr mit Schrecken, sondern mit Freuden willkommen heiße. Vielleicht auch, weil ich mir wünsche, ich hätte nicht all die Jahre darauf warten müssen. Ich habe gelebt und war doch lange schon tot. Innerlich gestorben, nach außen lächelnd. Für die meisten Menschen ist das Ende etwas Schreckliches, für mich ist der Tod ein ewiger Wegbegleiter, der nun auch endlich mich abholt. Aber noch nicht sofort, denn ich möchte, dass Du die ganze Wahrheit erfährst. Ich bin weder Isländerin noch Deutsche, obwohl ich beides gern gewesen wäre. Aber deutsch kann ich nicht mehr sein, und Isländerin konnte ich nie werden. Ich bin seit fünfundsechzig Jahren heimatlos, aber es ist mehr als nur das. In all diesen Jahren konnte ich die Frage »Wer will ich sein?« nicht beantworten. Wie soll man das wissen, wenn man nicht einmal auf »wer bin ich?« die Antwort kennt.

Sie lächelte, während sie die nächsten Worte schrieb. Diesen Tag, der ihr Leben von Grund auf verändern sollte, hatte sie noch ganz genau in Erinnerung, während anderes im Laufe der Zeit verblasst war. Diesen Tag erlebte sie gerne noch einmal. Sie freute sich darauf, und sie spürte, wie Energie sie auf einmal durchströmte. Die Worte drängten an die Oberfläche, sie wusste, dass es ihr gelingen konnte, wenn sie sich immer wieder in Erinnerung rief, wie wunderbar alles angefangen hatte.

Es war an einem sonnigen Tag Anfang Juli, die Luft flirrte in der Mittagshitze …

Kapitel 1

Siglufjörður, Juni 2019

Sofie blinzelte gegen die tief stehende Sonne und atmete tief ein, die kühle Luft des isländischen Juniabends strömte in ihre Lungen. So rein und klar, dass ihr ein wenig schwindelig wurde. Die letzten Tage in Hamburg waren heiß und stickig gewesen. Bedrückend, aber nicht nur wegen des Wetters. Sie schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte, die aufsteigenden Gedanken zurückzudrängen. Mit einem Schlag hatte sich alles verändert. Nicht, dass es davor nur rosig und wundervoll gewesen war, aber zumindest hatte ihr die Arbeit als Tischlerin in einem kleinen Betrieb Halt gegeben – und Sicherheit. Damit war jetzt allerdings Schluss, denn die Firma gab es nicht mehr, ebenso wenig einen Job, der auf sie wartete.

Nicht jetzt, dachte sie und schüttelte den Kopf, als ob das etwas nützen wurde. Sie war hier, um sich zu erholen und auch, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen sollte. Auch mit ihrer Beziehung, in der es schon länger kriselte. Thomas war nicht begeistert gewesen, als sie den Vertrag für das Work & Travel-Arrangement unterschrieben hatte, aber das war ihr egal gewesen. Sie brauchte Zeit ohne ihn, Zeit für sich und ihre Gedanken, um herauszufinden, welchen Weg sie einschlagen wollte.

Die Schreie hungriger Möwen hallten über den spiegelglatten Fjord, die Sonne stand hoch über den Bergen und warf lange Schatten ins Tal auf das kleine Fischerdorf, das jetzt für die kommenden drei Monate ihr Zuhause sein würde. Auf den Bergkuppen blitzten weiße Stellen hervor. Sofie war schon während der Fahrt aufgefallen, dass, je nördlicher sie mit dem Bus der Sommerlinie der SPA-Norðurleið gekommen war, immer häufiger Schneeflecken auf den Gipfeln zu sehen waren. Sie lächelte schwach, während sie den kühlen Lufthauch auf ihren Wangen spürte. Sie mochte es nordisch frisch, als Hamburgerin war sie einiges gewohnt. Trotz ihrer Vorliebe für das nordische Klima war sie noch nie auf die Idee gekommen, ihren Sommerurlaub fast am Polarkreis zu verbringen, wobei man es ja nicht wirklich als reinen Urlaub bezeichnen konnte. Sie hatte einen Alibi-Job angenommen, um die lange Abwesenheit aus Hamburg vor Thomas und ihrer Familie zu rechtfertigen. Im Grunde hatte sie eigentlich gar nicht lange darüber nachgedacht, als auf einer Website das Werbefenster zu Work & Travel aufgepoppt war. Sie hatte sich ruck, zuck registriert, einige Angebote angesehen und mehr oder weniger direkt zugeschlagen. Dabei hatte sie ein spannendes Renovierungsprojekt in Andalusien und dieses hier in Siglufjörður in die engere Auswahl genommen. Der Gedanke an drei Monate Hitze und nächtliches Schwitzen, Moskitos und Sonnenbrand hatte sie schließlich schnell davon überzeugt, dass sie in Spanien schmelzen und nicht arbeiten würde. Außerdem hatte sie Island schon immer fasziniert, gerade in den letzten Jahren hatte sie einige Dokumentationen über die Vulkaninsel mit ihren sympathischen Einwohnern gesehen, die sie letzten Endes überzeugt hatten, dass sie hier hoffentlich innere Ruhe und ihren Frieden wiederfand, der in den letzten Monaten verloren gegangen war.

Jedem Ende wohnt auch ein Anfang inne, das hatte Sofie mal irgendwo gelesen. Ob es stimmte – sie wusste es nicht, würde es aber bald herausfinden. Sie hoffte, dass sie nach den drei Monaten in Island ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen konnte. Sofie schnappte sich ihren Reiserucksack und marschierte zu der Adresse, die sie sich notiert hatte. Der Schlüssel sollte in einem kleinen Schließfach liegen, für das sie eine PIN bekommen hatte, und sie spürte die gleiche freudige Anspannung wie früher, wenn sie am Nachmittag nach der Schule zu ihrer Oma gelaufen war – die den Hausschlüssel für sie unter der Hausmatte deponiert hatte. »Würde heute auch kein Mensch mehr machen«, murmelte sie und warf einen Blick in den dunkelblauen Sommerhimmel, dessen Farbe so rein war, dass sie sich erst einmal an den Anblick gewöhnen musste. In Deutschland war das Blau nie von so einer Intensität und Kraft, schon gar nicht im Sommer. Sie hatte zwar noch nicht viel von Island gesehen, trotzdem war ihr jetzt schon klar, dass sie es nicht bereuen würde, hergekommen zu sein. Jedenfalls brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, vor Hitze zu zerfließen. Sie schmunzelte und ging weiter. Siglufjörður war nicht besonders groß, ein typisches altes Fischerdorf. Alle Häuser reihten sich dicht am Ufer des lang gezogenen Fjords. Schon wenige Hundert Meter hinter dem Fjord ragten hohe, grün bewachsene Berge in den Himmel. »Oh«, stieß sie hervor, als sie die Skilifte und Lawinenschutzbauten entdeckte. In Island gab es im Winter eine Menge Schnee, trotzdem dachte sie beim Skifahren eher an die Alpen oder die Rocky Mountains. Die Menschen mussten hier früher ziemlich isoliert gelebt haben, sie konnte sich nicht vorstellen, wie schwierig es ohne Strom und Allrad-Fahrzeuge gewesen sein musste. Zum Glück musste sie das auch nicht. Sofie war zwar nicht zimperlich – in ihrem Job war das auch nicht möglich –, aber sie schätzte doch den Komfort einer guten Heizung und heißen Wassers aus der Leitung. Erneut atmete sie tief ein und fühlte, wie ein Teil der inneren Anspannung von ihr abfiel. Und dann entdeckte sie ein blassgrünes Haus, das vor sehr langer Zeit vermutlich richtig grün gestrahlt hatte. Jetzt war die Farbe an den meisten Stellen abgeblättert und verblichen. Ebenso an den ehemals weißen Fensterrahmen, die fast vernachlässigt wirkten. Sie las die Adresse auf ihrem Zettel: Hafnartún 32, dann blickte sie auf. Tatsächlich, neben der Tür prangte ein verrostetes Schild, auf dem 32 stand. Hier war es also, ihr Arbeitsplatz und die Bleibe für ein Vierteljahr.

Sie ging ums Haus herum, der Schlüsselkasten sollte sich neben der Garage befinden. Sofie gab die PIN ein, und er öffnete sich. Darin hingen drei einzelne Schlüssel, sie nahm einen heraus und schloss den Kasten wieder. Kurz darauf drehte sie den Schlüssel im Schloss und schob die Tür einen Spalt auf, ehe sie hineinging. Es roch nach Staub und abgestandener Luft. Hier war wohl schon länger niemand mehr gewesen, stellte sie fest und ließ ihren Rucksack von der Schulter gleiten. Die Holzwände im Flur waren in einem verblassten Gelb gestrichen, einige Schwarz-Weiß-Fotos hingen in Rahmen über einer alten Kommode, die ein gehäkeltes Deckchen und eine Vase mit Plastikblumen zierte. Sofie verdrehte die Augen, o Gott, das war so Achtziger, dass sie beinahe lachen musste. Andererseits, vermutlich war die Person, die hier zuletzt gewohnt hatte, schon älter gewesen, und über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten. Oder doch, je nachdem, wie man es sah. Nach den Spinnweben in den Ecken zu schließen, kümmerte sich seit geraumer Zeit niemand mehr um das Haus. Vermutlich war der Vorbesitzer gestorben oder in ein Pflegeheim umgezogen. Sofie hatte das Alter ihrer Auftraggeber nicht überprüft, sie schätzte aber, dass es sich um die Nachkommen handeln musste, die offenbar das Haus ein wenig herrichten lassen wollten, ehe sie es verkauften – oder selbst einzogen, das hatte man ihr nicht gesagt. Ihr Job war es lediglich, die Liste abzuarbeiten: Böden erneuern, Wände streichen, Schränke abbeizen und neu lackieren. Sie hatte vor, eine gute Balance zu finden, denn sie liebte ihre Arbeit, die Renovierung würde ihr sicher Spaß machen und ihren Tagen einen gewissen Rhythmus auferlegen, den sie für ihren inneren Frieden gut gebrauchen konnte. Und in ihrer Freizeit wollte sie das Land kennenlernen.

Sofie gähnte unterdrückt, dann entschied sie, ihre Bestandsaufnahme am nächsten Tag fortzusetzen, jetzt wollte sie nur noch ein heißes Bad nehmen und ins Bett. Hoffentlich war das Badezimmer einigermaßen in Ordnung, schoss es ihr durch den Kopf, als sie mit ihren Sachen die enge Holztreppe nach oben stapfte. Der Fußboden war mit einem sehr hässlichen, uralten Teppichboden ausgelegt, der vor vierzig Jahren bestimmt einmal hübsch gewesen war. Jetzt konnte man nichts mehr tun, außer das Ding rauszureißen. Vorsichtig lugte sie in die vier Zimmer, eins war kleiner als das andere. In einem standen ein kleines Bett, ein Nachttisch mit einer grünen Lampe darauf und ein kleiner Schreibtisch an der Wand, über dem eine alte Weltkarte hing. Zu ihrer großen Erleichterung stellte sie fest, dass auf der Matratze gefaltete Bettwäsche, eine Daunendecke und ein sauberes Kopfkissen lagen. Daneben stapelten sich einige Handtücher. »Halleluja«, stieß sie hervor und grinste in sich hinein, dann warf sie einen Blick ins Badezimmer. Grüne Fliesen und eine ebenso grüne Einrichtung. Definitiv Achtziger, dachte Sofie und trat näher. Die Badewanne war zwar klein, sah aber sauber aus. Zum Glück. In der Dusche stand sogar noch eine Flasche Duschgel, daneben lag eine Zahnbürste. Sie machte sich keine großen Gedanken, sondern drehte direkt den Wasserhahn der Wanne auf und schob die Vorhänge etwas zurück, um aus dem Fenster zu schauen. Großartig, dachte sie, als sie direkt auf den Hafen blickte, in dem kleine Fischerboote sanft hin und her schaukelten. Eine Entenfamilie paddelte mitten hindurch und ließ sich von den über ihr kreisenden Möwen nicht beeindrucken. Die Sonne spiegelte sich im dunklen Wasser des Fjords, die Natur wirkte herrlich unberührt und ursprünglich. Die gegenüberliegende Seite war unbebaut, hier gab es nur Gras und schwarze Felsen. Bäume oder größere Büsche suchte man vergeblich. Ein Haus mit dieser Aussicht sollte nicht leer stehen, dachte sie, aber das würde sich nun zumindest für eine Weile ändern. Zufrieden zog sie den Vorhang wieder zu und kramte in ihrem Rucksack nach einem kleinen Fläschchen Badezusatz, von dem sie etwas ins Wasser kippte. Sofort verteilte sich ein zarter Hauch von Lavendel und Zitrone im Raum. Sie atmete tief ein, dann holte sie eine Flasche Rotwein aus der Tasche, die sie in Keflavík im Duty-free gekauft hatte, da sie in irgendeinem Reiseführer gelesen hatte, dass Alkohol in Island wahnsinnig teuer war. Skandinavien eben. Leise vor sich hin summend ging sie hinunter in die winzige Küche. Auf der Fensterbank stand eine vertrocknete Pflanze. Sie öffnete die Küchenschränke auf der Suche nach Gläsern. Sie nahm ein Weinglas heraus, das leicht angelaufen, aber sauber war, und schraubte den Verschluss der Flasche auf, ehe sie sich etwas eingoss. »Prost«, murmelte sie und schaute hinaus. Ihr wurde seltsam leicht ums Herz. Statt sich einsam und fremd zu fühlen, kam es ihr eher wie ein Nachhausekommen vor. Sie wollte nicht analysieren, was das über ihr Leben in Hamburg aussagte, sondern ging wieder nach oben, um nicht den Moment zu verpassen, wenn die Wanne voll war. Mit einem Lied auf den Lippen stellte sie ihr Glas auf die Fensterbank und schlüpfte aus ihren Kleidern, ehe sie eine Fußspitze prüfend ins Wasser tauchte. Perfekt, stellte sie fest und stieg vorsichtig hinein. Mit einem wohligen Seufzen glitt sie bis zum Hals in ihr Lavendel-Zitronen-Bad und schloss die Augen. Herrlich. Erst mal entspannen, bevor sie am nächsten Tag mit der Bestandsaufnahme loslegen würde. Sie genoss das Bad, bis das Wasser kalt wurde und sie mehrfach eingenickt war. Das Glas Rotwein und die lange Reise forderten ihren Tribut, ihr Kopf fühlte sich leicht und unbeschwert an. Langsam stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab und schlüpfte in ihren Flanellpyjama. Ehe sie schlafen ging, lief sie rasch nach unten und goss sich ein Glas Leitungswasser ein. Auf dem Weg nach oben knipste sie das Licht an, da es im Flur kein Fenster gab, aber es tat sich nichts. Komisch. Sie hielt inne. Vielleicht war eine Sicherung herausgeflogen. Sofie stellte das Glas auf eine Stufe und suchte nach dem Sicherungskasten. Einen Keller hatte das Haus nicht, also öffnete sie eine Tür zu einer Abstellkammer unter der Treppe. Es roch muffig und war stockfinster. »Na toll«, brummte sie. Seufzend schüttelte sie den Kopf und holte ihr Handy. Sie wusste genau, dass sie kein Auge zumachen würde, wenn sie jetzt ins Bett ginge. Sie war noch nie gut im Warten gewesen. Sie stellte die Taschenlampenfunktion an und leuchtete in den Hohlraum unter der Treppe. Dort stapelten sich einige Kisten und Möbelstücke. Sofie war überrascht, wie viel Platz hier drin war. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, entdeckte sie den Kasten an der Wand. Aber sie bekam die Tür dazu nicht auf, weil ein Schreibtisch davorstand. Saudoof, dachte sie verärgert, da musste man doch immer mal ran! Sie schnappte sich ein paar Kisten und räumte sie aus dem Kämmerchen, dann versuchte sie, den Schreibtisch wegzuschieben, aber sie hatte nicht richtig hingesehen und statt der Platte die Schublade gegriffen, die sie nun schwungvoll herauszog. Sie riss sie aus der Vorrichtung, und der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Ein verschnürtes Bündel landete auf ihrem großen Zeh. »Au«, schrie sie und sprang zur Seite. Sie schob noch ein paar derbe Flüche hinterher und hob das Paket auf. Jemand hatte etwas in braunes Packpapier gepackt und dick verschnürt. Sie kümmerte sich zunächst um die Sicherung, dann betrachtete sie das herausgefallene Bündel näher. Das Papier war brüchig und ausgeblichen, es war nicht beschriftet. Ihre Neugier war geweckt, sie drehte und wendete es und zog schließlich an der Schleife. Sofie schnappte sich ihr Telefon und ging mit ihrem Fundstück nach oben, vergessen war der Schmerz in ihrem Zeh. Beinahe hätte sie noch das Glas Wasser auf den Stufen umgeworfen, doch zum Glück hatte sie es rechtzeitig bemerkt. Sie setzte sich aufs Bett und entfernte das Packpapier. Darin befanden sich ein Brief und ein Notizbuch. Die Schrift war verschnörkelt und sah alt aus, sie hatte einige Mühe, sie zu entziffern. Sie war überrascht, als sie entdeckte, dass es sich um ein in Deutsch verfasstes Schriftstück handelte. Hatte hier eine deutsche Familie gelebt? Nein, die Frau hatte mit ihr auf Englisch kommuniziert, und ihr Name hatte auch nicht Deutsch geklungen. Aus Neugier las sie den Brief zuerst.

Lieber Hannes, diese Worte sind für Dich. Alles, was ich wollte, war, dass Du glücklich wirst. Es fällt mir nicht leicht, das zu Papier zu bringen, was ich zu sagen habe. Die mir verbleibende Zeit ist aller Voraussicht nach nur noch kurz, aber ich bin nicht traurig darüber. Im Gegenteil, der letzte Atemzug ist etwas, das ich nicht mehr mit Schrecken, sondern mit Freuden willkommen heiße.

Sofie bekam eine Gänsehaut. Wo kam dieses Päckchen her, und wer war dieser Hannes? Und wieso war der Brief nicht auf Isländisch geschrieben worden? »Wahnsinn«, murmelte sie, und gleichzeitig regte sich ihr schlechtes Gewissen. Das hier ging sie so was von gar nichts an. Sie musste ihre Auftraggeber informieren, aber nicht mehr heute. Leider konnte sie ihre Neugier nicht bezwingen, sie wollte nur einen ganz kleinen Blick hineinwerfen und las doch die halbe Nacht, bis ihr die Augen zufielen.

Kapitel 2

Lüneburg, Juli 1936

Es war an einem sonnigen Tag Anfang Juli, die Luft flirrte in der Mittagshitze, eine Biene summte neben Luises Ohr. Über den blassblauen Himmel schoben sich Schäfchenwolken, ein paar Spatzen pickten Krumen von der Straße. Auf dem Dach der St. Johanniskirche gurrten vereinzelte Tauben, doch Luise nahm kaum etwas davon wahr. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, trottete sie über das Kopfsteinpflaster der schmalen Lüneburger Gassen. Sie wunderte sich selbst, dass sie sich von einem einzelnen Ärgernis so aus der Bahn werfen ließ. Normalerweise zeigte sie den Schwachköpfen, die sie anpöbelten, die kalte Schulter. Doch heute war etwas anders gewesen. Der Ton wurde schärfer, längst fühlte sie sich nicht mehr nur ausgeschlossen, sondern behandelt wie ein Parasit. Sie ärgerte sich darüber, dass sie nicht einfach mit einem verächtlichen Blick reagiert hatte, sondern dass die Sprüche ihrer ehemaligen Freundinnen sie tatsächlich mitten ins Herz getroffen hatten. Dabei war heute eigentlich ein freudiger Tag, der letzte Schultag vor den großen Ferien, sie hatte ein ordentliches – sehr ordentliches – Zeugnis erhalten, was keine Selbstverständlichkeit war, denn vielen Lehrern an ihrem Gymnasium war es ein Dorn im Auge, dass sie immer noch an der höheren Schule verkehrte. Ihre Eltern hatten ihr mehrfach angeboten, sie auf einer Schule in Hamburg anzumelden, aber Luise war zu stur. Sie würde sich nicht vertreiben lassen wie ein lästiges Insekt. Jetzt erst recht nicht mehr. Sie atmete tief durch und schob die Gedanken an die dummen Mitschüler beiseite.

»Luise, warte doch bitte einen Augenblick«, rief jemand hinter ihr. Sie hielt inne und drehte sich um.

»Oh, guten Tag, Herr Rehr«, grüßte sie ihren Musiklehrer.

Der junge Mann trug sein Haar gescheitelt und hatte nicht, wie viele seiner Kollegen, das Parteiabzeichen am Revers befestigt. Sie mochte ihn, er war einer der wenigen, die sie nicht anders behandelten, weil sie Jüdin war.

»Kann ich dich einen Augenblick sprechen?« Er wirkte ein wenig bedrückt, was sich Luise nicht erklären konnte.

»Natürlich.«

Er trat vor sie und schluckte schwer. »Luise, ich wollte mit dir über die Gesangsstunden sprechen.«

Sie hatte eine schöne Stimme, und Herr Rehr hatte ihr über einige Jahre privaten Unterricht erteilt. Sie war stolz auf ihren klaren Sopran und sang gern und viel. »Über den Sommer machen wir Pause, ist es das? Das ist doch vollkommen in Ordnung, meine Eltern werden den monatlichen Beitrag natürlich trotzdem überweisen«, sagte sie.

Er blinzelte und atmete tief ein, sein Brustkorb hob sich mit seinen Schultern. »Das ist es nicht.«

Luise wurde innerlich ganz ruhig. Nicht er auch noch, dachte sie traurig. »Was dann?«

Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich kann dir keinen Gesangsunterricht mehr geben.«

»Wieso nicht?« Luise reckte ihr Kinn ein wenig nach vorn. Sie stellte die Frage, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Es war immer das Gleiche. Zuerst hatten sie aus dem Sportverein austreten müssen, dann aus dem Schützenverein, und plötzlich war man als Jude nirgendwo mehr erwünscht.

»Ich habe eine Frau, eine Familie«, fing er an. »Ich wünschte, es wäre anders, aber … ich kann dich nicht mehr unterrichten.«

»Sagen Sie es ruhig, Herr Rehr. Weil ich Jüdin bin.«

Er nickte traurig. »Es tut mir leid.«

Sie wollte ihn anschreien, ihrem Unmut Luft machen, aber was würde es nutzen? »Verstehe«, sagte sie deshalb nur. Luise war klar, dass sich an der Schule und im Kollegium einiges ändern würde. So kurz nachdem der alte Schulleiter in Pension gegangen war – so lautete zumindest die offizielle Version. Herrn Dr. Bader hatte sie immer gemocht, er hatte sie nicht behandelt, als hätte sie eine ansteckende Krankheit, wie viele ihrer anderen Lehrer. Aber auch hierfür hatten sich die Nazis ein hübsches neues Gesetz ausgedacht, das bei ihm zur Anwendung gekommen war. Luise hatte Herrn Dr. Bader bewundert, dass er sich dem politischen Leben und den Braunhemden entschieden entgegengestellt hatte, aber er war in einem monatelangen Verfahren unter entwürdigenden Bedingungen seines Amtes enthoben worden. Das Gesetz zur Entfernung der Gegner des Nationalsozialismus kam bei ihm zur Anwendung, sodass seine Entlassung von den Parteimitgliedern und Sympathisanten laut bejubelt wurde. Luise hatte es mit Entsetzen hingenommen, auch wenn es keine große Überraschung gewesen war. In den letzten drei Jahren, seit Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, war die jüdische Bevölkerung Stück für Stück ihrer Rechte beschnitten worden. Aber das war hoffentlich nur eine vorübergehende Erscheinung, niemand in ihrer Familie glaubte, dass das noch lange so weitergehen konnte. Irgendwann würden die Leute wieder zur Vernunft kommen.

Luise straffte sich. »Dann … schöne Ferien.«

Herr Rehr strich sich über das Haar. »Du verstehst das doch, oder?«

»Seien Sie nicht albern, natürlich verstehe ich. Auf Wiedersehen«, presste sie hervor und wandte sich ab. Er sollte nicht sehen, dass bittere Tränen in ihren Augen brannten. Nur noch ein Jahr, sagte sie sich, während sie ihren Weg in die Gartenstraße, wo die Familie Rosenberg lebte, fortsetzte. An der Ecke kam sie am Schuhladen Löwenthal vorbei, sie winkte Frau Löwenthal zu, die gerade mit einem Lehrmädchen ein Regal neu bestückte, und rang sich ein Lächeln ab. Aber sie konnte sie nicht täuschen, das sah sie an ihrem Blick, in dem Verständnis und Sorge lagen. Luise nickte ihr noch einmal freundlich zu, als ob sie sagen wollte: Kein Problem, ich komme schon zurecht. Dann war sie auch schon vorbei. Wie lange soll das noch so weitergehen, fragte sich Luise zum bestimmt tausendsten Mal. Sie hatte es so satt, schlecht behandelt zu werden, nur weil sie keine Arierin war. Es war lächerlich, denn ihre Familie war nicht einmal besonders gläubig. Sie hatten an Weihnachten sogar einen geschmückten Baum im Wohnzimmer stehen. Denk nicht daran, sagte sie sich und wischte die trüben Gedanken beiseite. Jetzt hatte sie sechs lange und wundervolle Wochen ihre Ruhe. Und das letzte Schuljahr würde sie auch noch irgendwie überstehen. Sie würde nicht klein beigeben, auf keinen Fall. Gedankenverloren setzte sie ihren Weg fort und bog um die Ecke, wo sie auf der Bardowicker Straße die Seite wechselte.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie an der Hüfte, dann wurde sie zu Boden geworfen. Luise schrie auf und stützte sich mit den Händen ab, um sich zu schützen. Ihr Schulranzen flog auf die Straße, alle Luft entwich aus ihren Lungen. Es schepperte, jemand stieß einen Fluch in einer Sprache aus, die sie nicht verstand. Sie versuchte gerade herauszufinden, ob sie sich etwas gebrochen hatte, als jemand ihre Schultern umfing und vor ihr auftauchte. Es war ein junger Mann mit breitem, gebräuntem Gesicht und hellblauen, verwegenen Augen. Unter seiner Schiebermütze schaute eine Strähne seines dunkelblonden Haares hervor.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er sie, die Stimme klang dunkel, ein wenig rau, und sie hatte einen fremd klingenden Akzent, den sie nicht einordnen konnte.

»Was …?«, war alles, was sie hervorbrachte.

Der Mann half ihr auf die Beine. »Sind Sie verletzt?«, wollte er wissen und hielt Luise noch immer an den Schultern fest, während er sie von oben bis unten musterte. Sie befand sich in einem Tunnel, nahm nichts mehr außer ihm wahr, seinem herben Duft nach Kräutern und Mann, hörte seinen schnellen Atem, spürte ihn als warmen Hauch auf ihrem Gesicht. Dieser Augenblick war so intim, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob dieser Mann die Regeln von Sitte und Anstand nicht kannte. Und dann wurde ihr klar, dass er nur prüfte, ob sie sich etwas getan hatte. Doch da war immer noch dieser Blick, der so eindringlich und bestimmt war, dass Hitze in ihren Wangen aufflammte. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, was sicher nur am Schock liegen konnte. Sie erinnerte sich endlich, dass sie einen Zusammenstoß gehabt haben mussten. Aber womit? Wohl kaum mit einem Auto, sonst wäre sie nicht unverletzt. Und dann sah sie es, sein Fahrrad lag neben ihrer Schultasche auf der Straße. Er musste in hohem Bogen über den Lenker geflogen sein. »I-ich glaube, ich bin in Ordnung«, stammelte sie endlich.

»Gott sei Dank!« Er stieß zischend die Luft aus. »Himmel, Mädchen, warum rennst du einfach über die Straße?«

Luise blinzelte, dann nahm sie endlich die Umgebung um sie herum wahr. Einige Passanten waren stehen geblieben und fingen an zu tuscheln. Manche kannte sie, viele von ihnen nicht. Die Situation war ihr unangenehm. »Das könnte ich Sie fragen, haben Sie keine Augen im Kopf?« Sie wusste, dass es falsch war, ihn zu beschuldigen, aber ihr Tag war so furchtbar gewesen, dass dieser junge Mann mit den breiten Schultern und den kantigen, glatt rasierten Wangen nun das abbekam, was andere verursacht hatten. Im nächsten Moment warf sie einen Blick auf den Jackenaufschlag und suchte nach einem Parteiabzeichen. Mit denen durfte man sich nicht anlegen, aber da sie keins entdeckte, schimpfte sie weiter. »Ich hätte mich ernsthaft verletzen können!«

Zu ihrer Überraschung lächelte er und entblößte dabei eine ganze Reihe gerader weißer Zähne, lediglich ein Schneidezahn stand leicht schief, was seiner Ausstrahlung keinen Abbruch tat. »Scheint so, als wäre alles halb so wild«, meinte er schließlich und schien damit seine Bestandsaufnahme abgeschlossen zu haben.

»Halb so wild?« Sie starrte ihn an und verlor sich im Blau seiner Augen. Sie räusperte sich. »Na, Sie sind mir ja einer. Ich muss jetzt weiter.«

»Soll ich dich lieber nach Hause bringen? Nur für den Fall, dass du gleich ohnmächtig wirst.«

Luise sah das Funkeln in seinen Augen, noch dazu grinste er verschmitzt, als könnte er kein Wässerchen trüben. Erneut fragte sie sich, was das wohl für ein Akzent war, mit dem er sprach. Holländisch vielleicht? »Nein, danke. Vielleicht passen Sie in Zukunft einfach besser auf.«

Er nickte und deutete eine Verbeugung an, dann ging er auf die Straße und holte ihre Schultasche. »Hier«, sagte er. »Und bitte schau in Zukunft, bevor du über die Straße rennst.«

Sie fühlte sich getadelt, als Schulmädchen behandelt. In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte die Haare heute Morgen nicht zu zwei Zöpfen geflochten, was sie jünger als siebzehn wirken ließ. Sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig, aus seinen Zügen strahlte diese unverbrauchte Kraft eines jungen Mannes ohne familiäre Verpflichtungen. Irgendetwas an ihm berührte sie. Hastig nahm sie ihre Tasche entgegen und murmelte etwas, das stark nach einem »Schönen Tag noch« klang, und hastete davon. Erst später fiel ihr auf, dass sie nicht einmal seinen Namen kannte.


Den restlichen Tag hatte sie auf ihrem Zimmer vor ihrer Frisierkommode verbracht und sich mit der Brennschere ihre blonden, schulterlangen Haare onduliert, bis sie in sanften Wellen herabfielen. Ab sofort würde sie keine geflochtenen Zöpfe mehr tragen.

Als es Zeit für das Abendessen wurde, zog sie sich um und warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie war zufrieden mit sich, ihr Haar glänzte, ihre Wangen waren vom konzentrierten Arbeiten gerötet. Der schmale Gürtel an ihrem Kleid betonte ihre schlanke Taille äußerst vorteilhaft. Luise drückte die Klinke hinunter und ging über den Flur zur Treppe. Bereits von oben vernahm sie Stimmen aus dem Esszimmer. Herrje, sie hatte mal wieder die Zeit vergessen. Vermutlich würde sie gleich einen Tadel ihrer Mutter zu hören bekommen, genau das, was sie nach diesem Tag nicht auch noch brauchte. Sie atmete tief ein und eilte nach unten. Tatsächlich, ihre Familie saß schon am ovalen Esstisch. Über dem Buffet hing ein Gobelin mit dem Motiv einer Blumenvase. Das Hausmädchen Ilse hatte die Speisen bereits aufgetragen, die es, seit die Köchin vor einigen Wochen gekündigt hatte, weil sie nicht mehr bei Juden arbeiten wollte, nun selbst zubereiten musste. Im feinen Meissener Porzellan dampften Kartoffeln, in der Mitte des Tisches eine Platte mit gedünstetem Fisch, daneben stand eine Sauciere mit einer weißen Kräutersoße und eine mit zerlassener Butter. Nicht koscher, aber darauf achtete Luises Familie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr, sie hatten es vor langer Zeit aufgegeben, auch, weil es nahezu unmöglich gewesen war, eine Köchin zu finden, die diese strengen Regeln umsetzen konnte. Die Kaufmannsfamilie lebte einen modernen Pragmatismus, feierte zwar die großen jüdischen Feste, wie Jom Kippur oder Chanukka, aber zelebrierte weder den Sabbat, noch ging sie regelmäßig in die Synagoge. Das heutige Essen war es jedoch nicht, was Luise zu einer Säule erstarren ließ. Heute war nicht nur für ihre Eltern, ihren Bruder Heinrich und ihre Oma Ruth gedeckt, neben Heini saß noch jemand.

Es war er.

Der Fahrradfahrer vom Nachmittag musterte sie eindringlich. Seine blauen Augen funkelten so intensiv, dass ihr schwindelig wurde. Er erkannte sie wieder, das sah sie an seinen leicht hochgezogenen Mundwinkeln und der Art, wie er seinen Kopf neigte. Aber da war mehr als das bloße Wiedersehen. In seinem Blick lag noch etwas anderes: Neugier. Ihr Herz setzte eine Sekunde aus, um dann im doppelten Tempo weiterzuschlagen.

»Luise, da bist du ja endlich«, kam nun der erwartete Tadel ihrer Mutter. »Schau, wir haben Besuch, Heini hat einen Kommilitonen aus Berlin eingeladen.«

Mit dem Fahrrad aus Berlin? Luises Augenbrauen wanderten langsam nach oben.

»Entschuldigt bitte«, murmelte sie und löste ihren Blick nur widerwillig von ihm und ließ ihn zu ihrem Bruder gleiten, der ihr zuzwinkerte. Sie verstanden sich gut, er war vier Jahre älter und hatte sich nie wie ein Wächter oder Tyrann ihr gegenüber aufgeführt. Im Gegenteil, er war fürsorglich und ein guter Freund. Heini war schon immer anders gewesen als andere Jungen. Verständnisvoll und sanft, fast wie ein Mädchen. Er hatte nie Spaß daran gefunden, zu raufen oder mit einem Lederball durch die Gassen zu rennen. Leider hatte er auch kein allzu großes kaufmännisches Talent, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der in seinem Sohn so gerne den Nachfolger des gut gehenden Kaufhauses Rose gesehen hätte. Aber Heini studierte in Berlin Philosophie und Geschichte, mit Worten und sprachlichen Bildern hatte er, seit sie denken konnte, ein größeres Geschick an den Tag gelegt als mit Zahlenreihen und geometrischen Figuren. Sie waren so unterschiedlich, äußerlich wie innerlich. Heinrich kam mehr nach der mütterlichen Seite, die sich durch pechschwarzes Haar und dunkle Augen sowie einen schmalen Knochenbau und zartgliedrige Hände auszeichnete, während Luise immer schon kräftiger gewesen war und besser anpacken konnte, wenn es um Praktisches ging.

Carl Rosenberg stand auf. Er war groß und ein wenig untersetzt, stämmig wie eine Eiche, mit ausdrucksstarken hellen Augen, riesigen Händen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck. »Luise, begrüß doch bitte unseren Gast. Jónas Guðmundsson«, bat er und bedeutete ihr näher zu kommen.

Jónas hieß er also. Sie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen, während sie näher trat, ihrer Großmutter im Vorbeigehen einen Kuss auf die faltige Wange drückte und schließlich vor ihm stehen blieb, einen Knicks andeutete und ihre Hand zum Gruß reichte.

»Guten Tag«, sagte sie. »Freut mich sehr.«

Er nahm ihre Hand in seine und deutete einen Handkuss an. »Die Freude ist ganz meinerseits.« Er blickte auf, und Luises Magen zog sich erwartungsvoll zusammen. Viel zu früh ließ er ihre Hand los, dabei hatte er sie eine Sekunde länger, als der Anstand es erlaubte, in seiner gehalten. Jónas’ Haut hatte sich trocken, warm und gleichzeitig seidig angefühlt. Ein Prickeln wanderte von ihren Fingerspitzen bis hinauf in ihren Brustkorb.

»Setz dich doch«, riss die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Gedanken.

Wie immer war Edith Rosenbergs kinnlanges, dunkles Haar perfekt frisiert, sie trug ein Ensemble aus Rock und Bluse, die an der Vorderseite mit kleinen runden Knöpfen versehen war, was der neusten Pariser Mode entsprach. Um ihren Hals baumelte eine zweireihige Perlenkette, die passenden tropfenförmigen Ohrringe an ihren Ohren. Seit Luise denken konnte, umgab ihre Mutter der Duft von L’Heure Bleue. Die französische Kreation aus Anis und Bergamotte mit einer dezenten Note von Nelken, Neroli, Iris und Veilchen begleitete sie stets. »Wir haben nur auf dich gewartet«, fuhr ihre Mutter fort.

Luise verkniff sich einen Kommentar, glücklicherweise kam Ilse gerade wieder aus der Küche und begann, dem Gast und der Familie aufzutragen. Luise brannten tausend Fragen auf der Zunge, jedoch gebot ihre gute Erziehung, den Mund zu halten.

»Wie kommt es, dass ein junger Mann wie Sie aus Island nach Berlin geht, um zu studieren?«, hörte Luise ihren Vater fragen. Sie riss die Augen auf.

Island! Was für ein exotisches Land, wie es dort wohl sein mochte? Sie warf Jónas einen heimlichen Blick zu, er wirkte völlig entspannt, und obwohl sein Anzug an den Ärmeln bereits Abnutzungsspuren zeigte und die Krawatte ein wenig verknittert war, schien er sich keineswegs unwohl zu fühlen. Sie schloss daraus, dass er vermutlich aus einem Elternhaus stammte, das finanziell deutlich schlechter gestellt war als ihres. Glücklicherweise war ihre Familie vorurteilsfrei, und obwohl sie selbst schon allein aus geschäftlichen Gründen darauf achteten, stets korrekt und ordentlich gekleidet zu sein, machten sie sich nichts aus der besseren Gesellschaft.

»Viele meiner Freunde sind nach Kopenhagen gegangen, einige, vor allem aber die Musikstudenten nach Leipzig, wo es auch sehr schön sein soll. Berlin hat mich jedoch mehr gereizt, die Stadt hat mich tatsächlich fasziniert, seit ich als junger Bursche darüber gelesen habe«, gab er höflich zurück, und Luise versank im Klang seiner Stimme und seines Akzents. Wie hatte sie nur glauben können, er käme aus Holland!

»Wie interessant. War es schwer für Sie, die deutsche Sprache zu erlernen?«, fragte nun Großmutter Ruth, eine weißhaarige Frau, hoch aufgerichtet, sittsam, verschlossen und wortkarg. Sie beklagte sich nie, manchmal lächelte sie, obwohl ihre Augen trüb und fast teilnahmslos dabei wirkten. Sie hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt. Zwei Söhne hatte sie verloren, einen im Februar 1916 beim Sturm auf Verdun, einen in einem eisigen Schützengraben im Steckrübenwinter des darauffolgenden Jahres.

Jónas nickte. »Nun ja, ganz einfach war es nicht, das muss ich zugeben. Aber die Grammatik ist unserer doch recht ähnlich, das hat es mir erleichtert. Aber im ersten Semester, da bin ich ganz offen, habe ich kaum ein Wort verstanden.«

Heinrich klopfte ihm auf die Schulter. »Er ist ein elender Tiefstapler«, wandte er lachend ein. »Jónas ist ein Sprachtalent, ich glaube, er beherrscht die deutsche Grammatik besser als mancher Deutsche.«

»Und Sie wollen also, wie unser Heini«, mischte sich die Großmutter nun ein, »ein großer Philosoph werden?«

Jónas überlegte einen Augenblick, was Luise beeindruckte. Viele andere hätten einfach drauflosgeplappert, um die Stille nach einer Frage nicht zu lang werden zu lassen. Aber der Isländer strotzte nur so vor Selbstvertrauen, sodass er den Mut hatte, seine Antwort mit Bedacht zu wählen. »Ich fürchte«, meinte er irgendwann mit einem spöttisch hochgezogenen Mundwinkel, »ich bin kein wankelmütiger Intellektueller. Ich würde mich eher als respektlosen, frechen Menschen beschreiben, denn ich stelle mit Vergnügen eherne Werte infrage und diskutiere gerne bis in die Morgenstunden darüber.«

»Also doch ein Philosoph«, sagte Luise. Ihr Herz pochte schnell, als sie seinen interessierten Blick auffing.

»Möglich. Mich beschäftigt einfach die Frage, ob es eine Wahrheit gibt, die bedeutender ist als die Meinung des einzelnen Menschen.«

Carl Rosenberg hob eine Braue. »Und Sie glauben ernsthaft, auf diese Frage in Berlin eine Antwort zu erhalten?«

Jónas überlegte wieder einen Augenblick, ehe er sprach. »Um ganz offen zu sein, ich denke nicht, dass mir irgendein Mensch diese Frage jemals zu meiner Zufriedenheit beantworten könnte. Allerdings, und das ist der wesentliche Punkt, weshalb ich nach Deutschland gekommen bin: Ich möchte mit meinen Texten Geld verdienen, in Island kann man vom Schreiben nicht leben. In Dänemark gibt es schon genügend Isländer, die dänisch schreiben. Wenn Sie es so wollen, bin ich durch und durch Kapitalist. Wir Isländer haben lange genug auf trockenen Fischen herumgekaut, und an Altersschwäche gestorbene Kühe schmecken auch nicht gut. Deren Fleisch ist jedenfalls sehr zäh.«

Luise bewunderte ihn für seine Wortfertigkeit, sie lauschte jeder Silbe mit Andacht. Was für ein interessanter Mensch, sie wollte ihn unbedingt näher kennenlernen.

»Ein kapitalistischer Philosoph. Darauf müssen wir trinken.« Carl lachte und erhob sein Glas. »Mein lieber Jónas, ich bin mir sicher, Ihnen steht eine große Karriere bevor!«

»Lasst uns die gute Forelle genießen. Was haben Sie im Sommer vor, werden Sie nach Island zu Ihrer Familie reisen?«

»Ich fürchte, meine finanziellen Mittel sind begrenzt. Aber in diesem Sommer reist die ganze Welt nach Berlin! Das ist mein Glück, ich habe eine befristete Stelle in einer kleinen Zeitung bekommen und werde das Leben dort genießen. Bei diesem Tagblatt werde ich wohl eher niedere Tätigkeiten verrichten, aber es wird sich gut im Lebenslauf machen, und etwas Kleingeld kommt auch dabei in meinen Geldbeutel.«

Luise sah, wie ihr großer Bruder bei Vaters Kommentar leicht zusammengezuckt war. Dass Carl immer wieder den Finger in die Wunde legen musste! Heini war einfach nicht gemacht fürs Geschäft, er schwebte mit seinen Gedanken ständig über den weltlichen Dingen.

»Carl«, mischte sich nun auch die Mutter ein. »Lassen wir das doch jetzt. Schaut nur, wie spät es schon ist. Wir sind gleich noch bei Dr. Hirschfeld eingeladen.«

»Du hast mal wieder nur deine Firma im Kopf, mein lieber Carl. Ich habe dir bereits letzte Woche erzählt, dass die wundervolle Pianistin Lisa Edelstein zu Gast sein wird. Sie müssen wissen, dass wir mit dem jüdischen Kulturbund zusammen öfter Soiréen organisieren, seit unsere Künstler, nun ja, in großen Häusern nicht mehr auftreten dürfen – was eine Schande ist. Unser Arzt, Dr. Hirschfeld, ist so nett und lädt zu sich in die Kefersteinstraße ein. Sie begleiten uns doch?« Edith lächelte Jónas an.

»Leider werden auch wieder Gestapobeamte anwesend sein. Man kann als Jude heutzutage ja nicht einmal mehr im privaten Kreise ungestört zusammenkommen.«


Luise lachte. »Es ist vor allem alles sehr alt. In Lüneburg hatte man nicht das Geld, die Innenstadt zu modernisieren wie in Berlin oder anderen Großstädten. Wir leben quasi in einem einzigen, großen Museum des siebzehnten Jahrhunderts, Teile des Rathauses sind sogar schon neunhundert Jahre alt. Die ganze Innenstadt wirkt so gedrungen und eng, ich träume ja von den großen Alleen und schönen Häusern, wie in Hamburg oder Berlin. Nach dem Abitur gehe ich auf jeden Fall weg, um in einer großen Stadt zu studieren.«

»Wirklich?« Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Ich habe ja gar keine Ahnung, wie es bei euch ist. Ich habe mal gehört, dass es sehr viele Vulkane gibt. Ist es nicht gefährlich, dort zu leben?«

»Ach du meine Güte, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen. In einem Haus aus Torf?«

»Das musst du gerade sagen«, sie lachte. »Wer hat dich vorhin vor Papas Rede gerettet?«

»Kannst du mal was auf Isländisch sagen?«, wandte sie sich an Jónas und lief weiter mit ihm.

Mér líkar vel við þig

»Ich mag dich«, übersetzte er, und in ihrem Bauch rührte sich ein zartes Flattern.

»Wir Isländer geben auch gerne Kosenamen«, sagte er.

Jónas betrachtete sie, und Luises Magen fuhr Achterbahn, dann murmelte er, seine Stimme klang ein wenig belegt. »Lilla. Lilla mín. Meine Kleine.«

»Welche Sprachen sprichst du?«, kam er zum ursprünglichen Thema zurück, als die Stille zu lang wurde.

»Ich bin beeindruckt.«

»Du scheinst aber talentiert zu sein, sonst wärst du gar nicht in der Lage, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen.«

»Etwas in der Schule – ansonsten einfach rein ins kalte Wasser. Wenn man muss, versteht man Dinge am schnellsten.«

»Ich könnte dir etwas Isländisch beibringen«, schlug er vor.

Jónas nahm ihre Hand. »Wenn du möchtest, ich würde mich freuen.«

»Erst einmal bleibe ich ja für ein paar Tage, und dann … Es gibt immer Wege …«

»He, ihr beiden, wartet mal«, rief Heini in dieser Sekunde, sie hörte seine Schritte hinter ihnen. Sie bedauerte, dass der intime Moment vorbei war, und hoffte, dass er sich bald wiederholen würde.

»Ach, nicht wichtig.«

»Ja«, erwiderte ihr Bruder ungewohnt einsilbig. Die beiden waren einmal sehr eng befreundet gewesen, aber je länger Heini in Berlin studierte, desto seltener hatte Luise die beiden zusammen gesehen, wenn ihr Bruder einmal zu Hause war. Heini war betrübt darüber gewesen, Fritz nicht mehr zu sehen, aber er hatte sich ihr nicht anvertraut, weswegen sie sich entzweit hatten.

»Du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Fahrrad gefahren?«, wollte Luise wissen.

Luise würde es nie zugeben, aber sie bewunderte ihn für seine Sorglosigkeit. Wenn sie kein Geld für eine Fahrkarte hätte, würde sie vermutlich einfach zu Hause bleiben. Seine Herangehensweise war deutlich abenteuerlicher und spannender.