Die Autorin

Jennifer Bright ist das Pseudonym von Jennifer Fröhlich, geboren 1993 in Hannover.
Sie lebt auch heute noch in der niedersächsischen Hauptstadt. Jennifer liebt das Unperfekte, trinkt mehr Kaffee, als gut für sie wäre, und kann sich ein Leben ohne Katzen nicht vorstellen.
Unter dem Namen wort_getreu teilt sie ihre Leidenschaft zu Büchern als Bloggerin und Bookstagrammerin.

Das Buch

Meine Hand zittert, während ich sie um das eisige Metall der Türklinke lege. Der Albtraum sitzt
mir in den Knochen. Obwohl es mittlerweile dreißig Minuten her ist, dass ich Zoe mit meinem Anruf aus dem Schlaf gerissen habe, pocht mein Herz noch immer wie wild in meiner Brust, als würde es jeden Augenblick zerspringen.
Ich öffne die Tür und sehe meiner besten Freundin in die Augen.
»Kate. Was ist los?«, fragt sie mich mit leiser Stimme, tritt in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich.
In meinem Kopf gehe ich die Ausreden durch. Überlege, welche Lügen ich ihr in den vergangenen Wochen bereits auf­getischt habe, weil ich nicht in der Lage war, irgendwem die Wahrheit zu erzählen.
Als sie merkt, dass ich nicht die richtigen Worte finde, legt sie sanft ihre Hand auf meine Schulter und führt mich durch meine Wohnung direkt auf die Couch. Mit den Fingern wischt sie mir meine Tränen aus dem Gesicht und sieht mich eindringlich an. Ich kann ihr alles anvertrauen,
ehrlich zu ihr sein, denn ich weiß, dass sie mich nicht verurteilen würde.
Und doch schaffe ich es nicht. Ich bekomme die Worte nicht aus meinem Mund, die mir seit Wochen auf der Zunge brennen und die ich an manchen Tagen am liebsten in die Welt hinausschreien würde.

Jennifer Bright

Everything We Had

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
1. Auflage Mai 2021
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
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Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-609-5

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Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deswegen findet ihr am Ende des Buches eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.
Wir möchten, dass ihr das bestmögliche Leseerlebnis habt.


Eure Jennifer Bright und das Forever-Team


Playlist zum Buch

Mean It – Lauv & LANY
A Little Braver – New Empire
So Cold – Ben Cocks ft. Nikisha Reyes-Pile
Stop This Fire – Louisa Wendorff
Between the Wars – Allman Brown
Hands – ORKID
Before You Go – Lewis Capaldi
Hold My Hand – Isak Danielson
Grace – Rachel Platten
She Used to Be Mine – Jessie Mueller
Can’t Smile Without You – Sleeping At Last
Out of the Blue (Piano Version) – Prides
Lonely – Noah Cyrus
Lose My Mind (Acoustic) – Dean Lewis
Happiness – Taylor Swift
Walked Through Hell – Anson Seabra
I Want to Be Yours – Marcel
Say Something – Kodaline
Afterglow – Ed Sheeran

Prolog

Kate


Zehn Monate zuvor

Meine Hand zittert, während ich sie um das eisige Metall meiner Türklinke lege. Der Albtraum sitzt mir in den Knochen. Obwohl es mittlerweile dreißig Minuten her ist, dass ich Zoe mit meinem Anruf aus dem Schlaf gerissen habe, pocht mein Herz noch immer wie wild in meiner Brust, als würde es jeden Augenblick zerspringen.

Ich öffne die Tür und sehe meiner besten Freundin in die Augen. Sie trägt einen Schlafanzug mit kleinen weißen Wolken darauf. Der Dutt, der ihre orangefarbenen Haare zusammenhält, hängt schlaff auf ihrer Schulter. Einzelne Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht.

»Kate. Was ist los?«, fragt sie mich mit leiser Stimme, tritt in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich.

In meinem Kopf gehe ich alle möglichen Ausreden durch. Überlege, welche Lügen ich ihr in den vergangenen Wochen bereits aufgetischt habe, weil ich nicht in der Lage war, irgendwem die Wahrheit zu erzählen.

Als sie merkt, dass ich nicht die richtigen Worte finde, legt sie sanft ihre Hand auf meine Schulter und führt mich durch meine Wohnung direkt auf die Couch. Mit den Fingern wischt sie mir meine Tränen aus dem Gesicht und sieht mich eindringlich an. Ich kann ihr alles anvertrauen, ehrlich zu ihr sein, denn ich weiß, dass sie mich nicht verurteilen würde. Und doch schaffe ich es nicht. Ich bekomme die Worte nicht aus meinem Mund, die mir seit Wochen auf der Zunge brennen und die ich an manchen Tagen am liebsten in die Welt hinausschreien würde.

»Hattest du wieder einen Albtraum?«

Ich nicke. Davon habe ich ihr erzählt. Von meinen schlaflosen Nächten. Von Träumen, aus denen ich weinend aufwache, und von der Dunkelheit, die sich manchmal in mir breitmacht. Von der Angst, die mich wie ein dunkler Schatten auf Schritt und Tritt verfolgt. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass es mir gut geht, obwohl mir anzusehen war, dass das nicht der Fall ist? Ich habe es probiert, wirklich. Aber Zoe hat mich durchschaut, also habe ich mich wenigstens teilweise ihr gegenüber geöffnet. Denn als sie mir gesagt hat, dass es sie kaputtmacht, mich so apathisch zu sehen, hatte ich keine Wahl.

Ich ziehe die Beine an meinen Körper und lasse mein Kinn auf meinen Knien ruhen. Das Licht der Deckenleuchte ist so grell, dass ich meine verheulten Augen leicht zusammenkneifen muss, und doch ist es immer an. Sobald die Dunkelheit einbricht, wenn ich ins Bett gehe, wenn ich versuche einzuschlafen. Immer.

Noch vor Kurzem hat mir das tiefe Schwarz der Nacht nichts ausgemacht. Noch vor Kurzem gehörte ich zu den Menschen, die sofort einnicken und bis zum Morgen durchschlafen. Noch vor Kurzem war ich glücklich. Ich war neugierig und aufgeschlossen, habe viel gelacht und bin jedes Wochenende ausgegangen. Mittlerweile erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich nehme es meiner besten Freundin nicht übel, dass sie mich ständig fragt, was mit mir los ist. Denn es ist offensichtlich, dass ich nicht mehr ich selbst bin.

Zoe fährt mit ihren Fingern durch mein blondes Haar, was meinen Herzschlag dazu bringt, sich wieder ein wenig zu beruhigen. Allein ihre Anwesenheit gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. »Es tut mir so leid«, flüstere ich.

»Dir muss gar nichts leidtun. Ich bin immer für dich da.« Es gibt Menschen, bei denen sind diese Worte bloß ein leeres Versprechen. Und dann gibt es Zoe, die mehrmals in der Woche mitten in der Nacht losfährt, um bei mir zu sein, um meine Tränen zu trocknen und um meiner Angst die Stirn zu bieten.

»Es ist zwei Uhr. Niemand sollte so spät mit einem Anruf geweckt werden und im Schlafanzug zu mir fahren müssen«, erkläre ich ihr schluchzend. Mit dem Handrücken reibe ich mir über die mittlerweile geröteten und brennenden Augen.

»Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Kate. Aber dafür musst du mit mir reden. Sonst kann ich nicht mehr tun, als an deiner Seite zu sein, und das werde ich. Immer. Egal, was passiert ist. Egal, was du getan hast. Aber ich habe Angst. Angst, dass es dir schlechter gehen wird und es irgendwann keine Möglichkeit mehr gibt, dich zu retten. Also bitte sprich mit mir.« Ihre Worte klingen verzweifelt und flehend.

Ich sehe sie an. Stille legt sich über uns. Aus Sekunden werden Minuten. In ihrem Blick liegen Geduld und Zuversicht. In meinem Angst und Bedauern.

Vielleicht hat Zoe recht. Vielleicht ist es irgendwann zu spät. Zu spät, um darüber zu sprechen, und zu spät, um mich aus der Dunkelheit zu ziehen. Wenn ich mich ihr gegenüber nicht öffnen kann, wem dann?

Kapitel 1

Kate


Heute

Eine kalte Windböe weht mein Haar nach hinten, als ich rechts auf die St Bride Street abbiege. Der Himmel ist übersät mit dunklen Wolken und taucht London in ein mattes Grau. Ein typischer Herbsttag in der Großstadt.

Während ich meinen schwarzen Mantel enger um mich ziehe, halte ich mit der linken Hand den Mietvertrag fest, den ich erst vor wenigen Stunden unterschrieben habe. Mein Atem hinterlässt kleine Wolken in der Luft. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde. Die Kälte, die meine Finger klamm werden lässt, oder doch die Tatsache, dass ich bereit bin, mir eine Immobilie mit jemandem zu teilen, den ich nicht ausstehen kann.

Ein Mann, komplett in Schwarz gekleidet, kommt mit schnellen Schritten auf mich zu. Er sieht mich direkt an. Wie von selbst bleibe ich stehen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als der Blick seiner blauen Augen auf meinen trifft. Für den Hauch einer Sekunde erkenne ich sein Gesicht in ihm. Ich blinzle heftig und versuche weiterzugehen. Doch erst als der Mann an mir vorbei ist, habe ich mich wieder gefasst und komme in Bewegung.

Ich hasse es. Ich hasse diese Unsicherheit, das beklemmende Gefühl in meiner Brust, das mir vermittelt, ich sei in Gefahr. Noch vor einem Jahr gab es kaum etwas, vor dem ich Angst hatte. Doch da war ich auch noch die furchtlose Kate, die naiv mit offenen Armen durchs Leben gelaufen ist.

Mein Handy beginnt zu klingeln, und lächelnd nehme ich Zoes Anruf entgegen.

»Und? Hast du den Vertrag schon abgegeben? Hast du die Schlüssel? Kann ich vorbeikommen?« Ohne Begrüßung stellt sie mir gleich unzählige Fragen. Doch ich kann ihre Neugierde verstehen. Bisher hat sie mein zukünftiges Café nur auf Bildern gesehen.

»Ich bin erst auf dem Weg zum Termin, aber gleich da. Ich kann es einfach immer noch nicht fassen, Zoe.«

»Ich auch nicht. Seit ich dich kenne, ist dies dein größter Traum.« Sie seufzt, als würde sie in Erinnerungen schwelgen. »Du hast jahrelang bei Michelle im Café gearbeitet, hast dich in die Buchhaltung reingefuchst und warst schon beinahe eine zweite Chefin. Und auch wenn es dir schwergefallen ist, dort zu kündigen, war es die richtige Entscheidung. Dass du das Studium in Business Administration abgebrochen hast, hat dich kein bisschen daran gehindert, weiter an deinem Ziel festzuhalten. Das liebe ich so an dir. Du hast einfach alles richtig gemacht.« Die Worte meiner besten Freundin legen sich wie eine wohlige Decke um meine Schultern. Sie fühlen sich an wie eine warme Umarmung, die mir die Kraft gibt, die ich brauche.

»Danke für deinen Zuspruch. Manchmal glaube ich, dass wir dieses Café gemeinsam eröffnen«, sage ich, und wir beginnen zu lachen.

»Ich bin jetzt da und melde mich später bei dir.« Ich verabschiede mich von ihr und bleibe vor dem Gebäude aus roten Backsteinen stehen. Efeu wächst an der Fassade empor und lässt alles noch viel magischer erscheinen.

Als ich diese Immobilie im Internet zur Miete gefunden habe, war mir sofort klar, dass ich sie haben muss. Hier und nirgendwo sonst möchte ich mein Café eröffnen. Die Lage ist einfach perfekt, zentral in London und nicht weit von meiner Wohnung entfernt.

Seit ich denken kann, ist ein eigenes Café mein größter Traum. Nur aus diesem Grund hatte ich vor fast zwei Jahren mit dem Studium in Business Administration begonnen. Obwohl ich schon lange in einem Café gearbeitet und für meine ehemalige Chefin Michelle nicht nur Getränke serviert, sondern auch die Buchhaltung übernommen habe, ist es nicht dasselbe, wie einen eigenen Laden zu führen. Das wusste ich von Anfang an. Dass ich das Studium schlussendlich abgebrochen habe, konnte mich nicht aufhalten.

Bei Michelle zu kündigen hat mich, wie Zoe schon sagte, einiges an Überwindung gekostet. Ich habe das Café mit einem weinenden und einem lachenden Auge verlassen. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich die freundliche Atmosphäre und die Gespräche mit meinen Kollegen vermisse. Aber es war der richtige Zeitpunkt, um meinen eigenen Weg zu gehen.

Wochen und Monate habe ich für mein Ziel gespart. Dank des Erbes aus dem Nachlass meiner Tante, die vor drei Jahren ums Leben gekommen ist, konnte ich mir den Wunsch nach einem eigenen Laden nun endlich erfüllen. Na ja, zumindest fast …

Die Fensterrahmen sind in einem hellen Mintton gestrichen und passen perfekt zu dem dunklen Rot der Steine. Das Glas reicht bis zum Boden und erstreckt sich über vier riesige Fensterfronten und eine Tür, über der ein braunes Schild hängt, von dem die Farbe langsam abblättert. In kursiver Schrift steht Barney’s Café darauf geschrieben. Ich frage mich, was dort in Zukunft stehen wird, wie mein Laden heißen wird. Obwohl ich seit Ewigkeiten diesen Traum habe, ist mir bis heute noch kein Name eingefallen, bei dem es so richtig klick gemacht hat.

Während ich den Laden betrete, atme ich tief durch und straffe die Schultern. Aidan steht an der schwarz lackierten Wendeltreppe. Die braunen Augen zu schmalen Schlitzen verengt, betrachtet er den Umschlag in meinen Händen. Sicher fragt er sich, ob ich meine Unterschrift über das Wort Mieter gesetzt habe. Denn bei unserem ersten Aufeinandertreffen war ich mir noch alles andere als sicher, ob ich auf den Vorschlag der Eigentümerin eingehen würde. Ich war sogar der festen Überzeugung, dass das auf keinen Fall infrage kam. Doch wo finde ich schon ein so perfektes Geschäft zu diesem Preis?

Aidans blonde Haare schimmern im Licht des Kronleuchters. Ich könnte schwören, dass er denselben spießigen Anzug trägt, den er schon anhatte, als ich die Immobilie besichtigt habe. Schwarzes Jackett, ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte, schwarze Hose und schwarze Schuhe. Vielleicht hat er aber auch ein Dutzend davon im Schrank.

Aidan. Der Mann, mit dem ich mir meinen Laden teilen werde. Der Neffe meiner Vermieterin Cora. Es war ihre Idee, dass wir das Geschäft gemeinsam übernehmen sollen. Ich habe Aidan sofort angesehen, dass er von ihrem Vorschlag genauso wenig begeistert war wie ich. Eine Buchhandlung mit einem Café. Doch welche Wahl hatten wir?

Als ich vor fünf Tagen zur Besichtigung hier war, habe ich mich sofort verliebt. In die hohen Decken, den weiß gekachelten Fußboden, die dunklen Wände aus Naturstein, den riesigen Kronleuchter, die bodentiefen Fenster und auch den offenen Raum oben, der über eine Wendeltreppe zu erreichen ist. Dass der Laden alle nötigen Anschlüsse bereits hat, da er zuvor auch schon ein Café war, ist nur das i-Tüpfelchen des Ganzen.

»Hallo, Kate!« Coras beruhigende Stimme holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich löse meinen Blick von Aidan und drehe mich zu ihr um.

»Ich habe ihn unterschrieben.« Mit dem Rücken lehne ich mich an die alte Theke. »Den Vertrag«, füge ich hinzu und lockere den roten Strickschal um meinen Hals, für den es eigentlich noch zu früh ist. Jeden Herbst frage ich mich, was ich noch alles im Winter tragen soll, wenn ich schon jetzt bis auf die Knochen friere.

»Das freut mich sehr.« Cora streckt ihre Hand aus und bedeutet mir mit einem Nicken, ihr den Vertrag auszuhändigen. »Möglicherweise musst du dir die Fläche auch gar nicht teilen. Aidan hat mir bis jetzt noch keine Antwort darauf gegeben, ob er mit meiner Idee einverstanden ist oder nicht.« Sie sieht zu ihrem Neffen rüber, der mit bedachten Schritten auf uns zukommt.

Ehrlich gesagt hoffe ich immer noch, dass Aidan das Angebot seiner Tante ausschlägt und ich den Laden allein führen darf. Ich habe ein wenig auf Pinterest gestöbert und viele Beispiele gefunden, wie gemütlich so ein Büchercafé aussehen kann. Und ich wäre überglücklich, wenn ich diese Art von Geschäft mit jemandem wie meiner besten Freundin Zoe eröffnen könnte. Aber mit einem wildfremden Mann? Ich bin mir nicht sicher, worauf ich mich da einlasse.

»Mutig. Hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Dann habe ich wohl keine andere Wahl, als diesen Vertrag ebenfalls zu unterzeichnen.« Aidans Worte triefen nur so vor Arroganz, und am liebsten würde ich Cora meinen Vertrag aus den Händen zerren, ihn in tausend Stücke zerreißen und abhauen. Doch gleichzeitig würde es viel zu sehr an meinem Ego kratzen, ihm das zu geben, was er möchte: die Ladenfläche für sich allein und seine Buchhandlung zu haben. Ein Rückzieher kommt also nicht infrage.

»Lasst uns ins Büro gehen«, schlägt Cora vor und macht sich auf den Weg nach hinten.

Ein alter Holzschrank, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hat, und ein großer Schreibtisch mit zwei Stühlen füllen den Raum. Aidan schnappt sich einen Hocker aus der Ecke und setzt sich neben mich.

Es herrscht eine unangenehme Stille. Obwohl Aidan und mich einige Zentimeter trennen, kommt es mir so vor, als würde ich seine Präsenz im ganzen Raum wahrnehmen. Als würde mein Körper auf seine Gegenwart reagieren und von Kopf bis Fuß unter Anspannung stehen.

»Die letzten Tage und Nächte habe ich an nichts anderes gedacht als an diesen Laden hier, an das Vermächtnis meines Mannes. Barney hat das Café über Jahrzehnte hinweg voller Leidenschaft geführt, und auch wenn ich mich oft über seine Abwesenheit zu Hause geärgert habe, so war ich trotzdem immer froh, ihn glücklich zu sehen.« Coras Lächeln wirkt traurig, so traurig, dass ich sie am liebsten in den Arm nehmen würde. Doch es ist Aidan, der seinen Arm über die Holzplatte schiebt, um seine Hand auf ihre zu legen und ihr Trost zu spenden. Meine Augen folgen unfreiwillig der Bewegung, und ich sehe, wie er sanft ihre gefalteten Hände drückt.

»Ich möchte gar nicht mehr viel drum herumreden und bin froh, dass ihr euch dafür entschieden habt, dem Laden gemeinsam wieder Leben einzuhauchen.« Cora sieht strahlend zwischen uns hin und her, was dazu führt, dass ihr streng gebundener Pferdeschwanz zu baumeln beginnt. »Das wird bestimmt ganz großartig. Eine Buchhandlung mit einem gemütlichen Café, so werden Barneys zwei größte Leidenschaften miteinander vereint.«

Sie glaubt tatsächlich, Aidan und ich würden hier zusammenarbeiten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das genaue Gegenteil tun werden. Nämlich uns, so gut es geht, aus dem Weg gehen.

»Aidan, dann gib mir doch bitte den Vertrag«, fordert sie ihren Neffen auf. »Ich habe ein weiteres Paar Schlüssel anfertigen lassen, sodass jeder von euch eines bekommt.« Sie reicht mir ein klimperndes Bündel, während Aidan dabei ist, den Mietvertrag zu unterzeichnen.

»Barney hat Bücher geliebt, durch ihn hat Aidan seine Liebe zum Lesen entdeckt. Und Kate, als ich gehört habe, was du aus diesem Laden machen möchtest, da hat es sich plötzlich wie Schicksal angefühlt. Als hätte Barney mir von oben zugeflüstert: Nimm dieses Mädchen und lass ihren Traum in Erfüllung gehen

Meine Wangen beginnen zu glühen, und vermutlich laufe ich gerade so rot an wie eine Tomate. »Vielen Dank! Ich habe mich schockverliebt in die Immobilie und bin so glücklich, hier mein erstes Café eröffnen zu dürfen«, erkläre ich Cora. Für einen kurzen Augenblick bestaune ich die Schlüssel in meiner Hand, bevor ich sie in die Manteltasche stecke. Meine eigenen Schlüssel zu meinem eigenen Laden. Unglaublich.

Cora schiebt den Stuhl nach hinten und steht auf. »Ich möchte euch gar nicht weiter aufhalten. Ihr habt sicher einiges zu besprechen, und ich habe noch einen Termin. Ich bin gespannt auf die Eröffnung. Viel Erfolg, Kate! Wir sehen uns bestimmt bald wieder.« Mit diesen Worten verlässt sie das Büro und lässt mich allein mit Aidan zurück.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist, höre ich schon seine selbstgefällige Stimme. »Wir wissen wohl beide, dass das nicht ganz so gelaufen ist, wie wir es uns vorgestellt haben. Sie haben gehofft, dass ich einen Rückzieher mache und Ihnen den Laden überlasse, und ich habe dasselbe von Ihnen gehofft.«

Sein Tonfall missfällt mir. Er spricht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind. Genau so, wie er schon am Tag der Besichtigung mit mir gesprochen hat. Er glaubt anscheinend, dass er mit seinem schicken Anzug und den frisch polierten Schuhen etwas Besseres ist.

»Lassen wir diese blöden Spielchen. Es ist, wie es ist, und damit müssen wir uns nun beide abfinden. Wir sollten uns über die wichtigen Dinge unterhalten. Die Öffnungszeiten könnten zu einem Problem werden«, erwidere ich und komme sofort zum Punkt. Ich drehe meinen Stuhl zur Seite, sodass ich Aidan direkt ins Gesicht sehen kann. Seine Augen haben beinahe die Farbe von Bernstein und sind gar nicht so dunkel, wie ich sie in Erinnerung hatte. Vielleicht liegt es an seiner honigfarbenen Haut, die mir bisher gar nicht aufgefallen war. Vielleicht auch an dem Tageslicht, das ihm durch das kleine Fenster hinter mir direkt ins Gesicht fällt und seinen Dreitagebart betont.

»Diese Art der Zusammenarbeit wird keine Dauerlösung sein. Deshalb habe ich Ihnen einen Deal anzubieten.«

»Einen Deal?«, frage ich verwirrt. Was ist er? Ein Versicherungsvertreter, der mir etwas andrehen möchte?

»Hast du dir dein eigenes Café so vorgestellt?«, fragt er mich geradeheraus und sieht mich herausfordernd an.

»Sind wir jetzt schon zum Du übergegangen?« Ich verschränke die Arme vor der Brust und versuche, selbstsicher zu wirken.

»Beantworte lieber meine Frage. Hast du es dir so vorgestellt?«

»Wenn ich mir die Immobilie anschaue, dann ja. Wenn ich mir dich anschaue, dann definitiv nein.« Den herablassenden Tonfall habe ich mindestens genauso gut drauf wie er.

Seine Lippen verziehen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. Doch so schnell, wie es gekommen ist, ist es auch wieder verschwunden. »Du bist wirklich witzig. Ich kann mich vor Lachen kaum noch halten. Wir sind uns bestimmt einig, dass wir nicht für immer zusammenarbeiten wollen. Wie wäre es damit? Wer in einem Jahr sein Geschäft am erfolgreichsten führt, der darf die Immobilie behalten. Der andere muss gehen.«

Im Raum breitet sich absolute Stille aus. Ich denke über seinen Vorschlag nach und frage mich, wie er auf diese Idee gekommen ist. Eine Idee, der ich tatsächlich nicht abgeneigt bin. Der Laden ist perfekt für mich, und ich will ihn um jeden Preis mein Eigen nennen können. Doch sollte ich diese bescheuerte Wette verlieren, dann muss ich hier raus. Möchte ich das wirklich riskieren?

Ich habe die Entscheidung, mein Studium vorzeitig abzubrechen, nicht leichtfertig getroffen. Ich hatte Angst. Und obwohl ich noch immer täglich damit zu kämpfen habe, habe ich mir geschworen, dass ich mich nicht mehr von meinen Ängsten aufhalten lassen werde. Ich habe nur einen einzigen Traum, aber dafür werde ich kämpfen.

Ich blicke Aidan ins Gesicht und spüre deutlich die Abneigung ihm gegenüber. Vermutlich würde ich es sowieso nicht länger als ein Jahr mit diesem Mistkerl aushalten.

»Du meinst das ernst, oder?«

»Todernst.« Er hält mir seine Hand zum Einschlagen hin.

Mein Herz rast so schnell, dass ich es in den Ohren rauschen höre. Wieso kommt es mir so vor, als würde ich einen Pakt mit dem Teufel eingehen und nicht nur meinen Traum, sondern meine Seele gleich mit verkaufen?

»Einverstanden«, antworte ich schließlich und ergreife seine Hand.

Kapitel 2

Kate


»Konntest du dich mit Aidan endlich auf einen gemeinsamen Namen für den Laden einigen?« Zoe dreht die Spaghetti auf ihre Gabel und führt sie zum Mund. Dass sie sich keine Pizza bestellt hat, grenzt an ein Wunder. Wir sitzen bereits seit drei Stunden bei unserem Lieblingsitaliener. Was als ein Treffen zum Kaffee begonnen hat, endet nun mit einem Abendessen. So ist es immer bei uns, die Zeit vergeht schneller, als mir lieb ist, wenn wir in Gespräche vertieft sind. Gestern habe ich die letzten Einkäufe für die bevorstehende Eröffnung erledigt und musste Zoe in jedes noch so kleine Detail einweihen.

Ich stochere in meinen Tortellini herum und denke an das Gespräch mit Aidan. »Nein, er macht einen bescheuerten Vorschlag nach dem anderen, und meine schmettert er ab.« Mir war schon beim Unterzeichnen des Mietvertrages bewusst, dass es nicht einfach werden würde, doch dass Aidan und ich ständig aneinandergeraten und jedes Gespräch in einem Streit endet, hätte ich nicht gedacht.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass er dir die Zusammenarbeit erschweren möchte, weil er glaubt, dass du dann schneller das Handtuch wirfst. Wie kann hinter einem so hübschen Gesicht so ein Griesgram stecken?« Sie greift nach ihrem Weinglas und trinkt einen großen Schluck. Die beiden sind zum ersten Mal aufeinandergetroffen, als Zoe in den Laden kam, um mir bei der Einrichtung zu helfen.

»Das glaube ich auch. Er denkt wohl, ich lasse mich von ihm einschüchtern. Egal, wie sehr er mich nervt, ich werde nicht aufgeben, bevor dieses eine Jahr vorbei ist. Wenn er mir so lange das Leben zur Hölle machen möchte, werde ich das Gleiche tun«, beteuere ich. Auf ihre rhetorische Frage gehe ich erst gar nicht ein. Schon als Zoe Aidan das erste Mal gesehen hat, hat sie davon geschwärmt, wie attraktiv sie ihn findet.

»Das ist die richtige Einstellung. Schlag ihn mit seinen eigenen Waffen. Vielleicht sollten wir uns ein paar Tricks einfallen lassen, wie wir dafür sorgen können, dass du am Ende erfolgreicher bist als er. Aber sag mal, wie messt ihr den Erfolg eigentlich nach einem Jahr?«

Die Frage hat mir schon einiges Kopfzerbrechen bereitet. Aidan und ich sind mehrere Optionen durchgegangen, wie wir nach zwölf Monaten ein Ergebnis berechnen könnten. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis wir uns auf etwas geeinigt haben.

»Zuerst wollten wir unsere Ausgaben von unseren Einnahmen abziehen, allerdings fand ich, dass der Betrag am Ende nicht viel über den Erfolg aussagt. Denn wenn ich viel investiere und dadurch mehr verkaufe, während er nichts investiert, aber auch nichts verkauft, ist er, selbst wenn er mehr Geld behält, nicht der bessere Geschäftsführer. Also haben wir uns darauf geeinigt, nur die Einnahmen miteinander zu vergleichen.« Ich lasse meinen Kopf kreisen, denn mein Nacken fühlt sich verspannt an. In den letzten Nächten habe ich wieder schlechter geschlafen.

»Aber meinst du nicht, er verdient mit Büchern mehr?« Mit vollem Mund und Hamsterbacken sieht sie mich besorgt an.

»Nicht unbedingt. Natürlich werde ich auch Kunden haben, die sich nur einen Coffee to go holen, aber viele bestellen dazu noch Gebäck oder setzen sich ins Café und trinken eine zweite Tasse. Jeder Kunde, der zu mir kommt, wird irgendwas kaufen, und wenn es nur etwas Kleines ist. Aidan wird jedoch auch Besucher haben, die mit leeren Händen wieder gehen, weil sie nur stöbern wollten«, erkläre ich ihr.

Zoe möchte gerade etwas erwidern, als ihr Handy zu klingeln beginnt. »Sorry«, sagt sie und nimmt den Anruf entgegen, der, ihrem breiten Grinsen nach zu urteilen, von Noah ist. »Wir sind noch im Franco’s. Aus einem Stück Kuchen sind Nudeln geworden«, erzählt sie ihm und lächelt mich an.

Es mag seltsam wirken, dass meine beste Freundin mit meinem Ex-Freund zusammen ist, doch ich habe mich daran gewöhnt. Es ist zwei Jahre her, dass Zoe und Noah von ihrem Europatrip zurückgekommen sind und ich mit der Situation meinen Frieden geschlossen habe. Zu behaupten, dass es einfach war, wäre gelogen. Ich habe Zeit gebraucht, um mich an den Gedanken zu gewöhnen. Nicht, weil ich Noah noch geliebt habe. Manchmal bezweifle ich sogar, dass ich ihn überhaupt jemals geliebt habe. Jahrelang habe ich mich von einer Beziehung in die nächste gestürzt, nur um nicht allein zu sein.

Was mich an Zoes Verhalten verletzt hat, war ihre Unehrlichkeit. Sie hätte mir sofort von ihren Gefühlen für Noah erzählen sollen. Stattdessen hat sie sie verleugnet und zu unterdrücken versucht. Dabei wissen wir beide, dass es für Gefühle keinen An- und Ausschalter gibt.

Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass alles so gekommen ist, wie es kommen sollte. Ich bin mir sicher, dass Zoe und Noah zusammengehören. An Schicksal zu glauben, fällt mir schwer. Doch wenn ich die beiden betrachte, weiß ich, dass es so etwas gewesen sein muss. Mein Herz hüpft, wenn ich Zoe strahlen sehe. Und Noah ist der Mensch, der sie glücklich macht.

Ich starre in das flackernde Licht der Kerze, die der Kellner vor einigen Stunden für uns angezündet hat. Das Wachs läuft bereits den Ständer hinunter und gerinnt auf dem goldenen Teller zu einer weißen Masse. Es dauert nicht mehr lange, bis die Flamme erlischt.

Das Lokal ist gut besucht, schließlich ist Samstagabend. Jeder einzelne Platz ist belegt. Ich lasse meinen Blick über die Menschen gleiten, die an den Tischen sitzen und ihr Essen genießen, während ich die letzte meiner Nudeln vertilge. Die italienische Musik, die durch die Lautsprecher dröhnt, dringt nur ganz leise an mein Ohr. Mein Blick bleibt an einem Mann hängen, den ich nur von der Seite sehen kann. Sein Profil wirkt vertraut. Zu vertraut. Die buschigen Augenbrauen, die gerade Nase und die schmalen Lippen, die sich zu einem unnatürlichen Lächeln verziehen.

Auf meinen Armen macht sich eine Gänsehaut breit. Mein Herz beginnt zu rasen. Ohne darüber nachzudenken, was ich tue, springe ich auf. »Ich muss los«, stottere ich, während ich schon dabei bin, mir meine Jacke anzuziehen. Den Schal werfe ich mir über die Schultern und lasse die Enden lieblos herunterbaumeln.

Es rauscht in meinen Ohren, und vor meinem inneren Auge fliegen Bilder vorbei, die ich sonst nur in meinen Albträumen sehe. Ich renne zur Tür und halte erst an, als ich die kühle Abendluft auf meinem Gesicht spüre.

Während sich einige Leute unter dem hervorstehenden Dach des Eingangs vor dem Regen schützen, der unerbittlich auf den Asphalt prasselt, zögere ich keinen Augenblick und steuere die nächste U-Bahn-Station an.

Wie durch einen Schleier nehme ich meine Umgebung wahr. Meine Beine tragen mich über die Straßen. Meine langen Haare kleben an meinem Gesicht, selbst mein Mantel ist nach kurzer Zeit klitschnass. War er es wirklich, oder bilde ich mir wieder etwas ein? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich glaube, sein Gesicht in dem eines anderen zu sehen. Dabei weiß ich, dass es im Grunde genommen vollkommen egal ist, ob er es nun war oder nicht. Diese Angst ist allgegenwärtig und kann aus jedem noch so schönen Moment die reinste Hölle machen.

Kurz vor der U-Bahn-Station bleibe ich stehen. Ein Bus, der fast direkt bis vor meine Haustür fährt, hält gerade an der Haltestelle, und ich schlüpfe hinein. Vollkommen außer Atem lasse ich mich auf den ersten leeren Platz sinken, der mir ins Auge fällt. Ich falte meine eiskalten Hände im Schoß und wage es nicht, den Kopf zu heben. Die Fahrt, die zehn Minuten dauert, kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

Mein Handy beginnt erneut in meiner Manteltasche zu vibrieren, als ich gerade dabei bin auszusteigen. Ich brauche nicht auf das Display zu schauen, um zu wissen, wer mich anruft. Zoe muss denken, ich sei verrückt geworden. Ohne jegliche Erklärung habe ich sie sitzen lassen. Selbst jetzt traue ich mich nicht, ihren Anruf entgegenzunehmen und mich ihr zu erklären.

Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen, nur die kleinen Pfützen vor dem Bürgersteig und die nassen Straßen lassen erahnen, dass es gerade aus vollen Eimern geschüttet hat. Die Luft ist klar und frisch. Mit nur wenigen Schritten erreiche ich meine Wohnung. Erst als ich die Tür hinter mir verschließe und das Schloss vorhänge, kann ich etwas freier atmen.

Ich bin vor einiger Zeit aus meiner alten Wohnung, die ich mir jahrelang mit Zoe geteilt habe, ausgezogen. Als sie mit Noah zusammenkam, wäre ich am liebsten in unserer Wohnung geblieben, doch sie war zu teuer, um sie allein bezahlen zu können. Damals kam es für mich nicht infrage, mit einem Fremden zusammenzuziehen. Also musste ich die Wohnung schweren Herzens aufgeben und mir ein Ein-Zimmer-Apartment suchen.

Wenn man zur Tür reinkommt, sieht man alles, was es zu sehen gibt. Durch meinen winzigen Flur erreiche ich die weiße Küche, die so klein ist, dass sie das Backen fast unmöglich macht. Doch ich habe mich gut damit arrangiert. Eine Theke mit zwei Barhockern trennt die Küche optisch vom Wohnbereich, in dem ein graues Zweisitzsofa steht. Gegenüber davon befindet sich ein schmales Sideboard mit meinem Fernseher. Von der Wohnungstür aus habe ich freien Blick auf mein Bett, das ganz am Ende des großen Raums vor den Fenstern steht. Nicht weit entfernt befindet sich mein weißer Kleiderschrank. Mein Badezimmer ist winzig und hat noch nicht einmal ein Fenster. Von einer Badewanne ganz abgesehen. Dabei habe ich das Baden in Zoes und meiner WG immer geliebt. Auch wenn meine Wohnung einer Schuhschachtel gleicht, reicht sie mir.

Den Schlüssel lasse ich auf die Bar in der offenen Küche fallen. Ich öffne Spotify auf meinem Handy und spiele meine Calm-Playlist ab, während ich den nassen Mantel über einen der Barhocker hänge und mir aus meinem Kleiderschrank eine gemütliche Hose und ein kuschliges Oberteil hole. Mit den Kleidungsstücken in der Hand gehe ich ins Badezimmer. Für einen kurzen Augenblick stütze ich mich am Waschbecken ab und sehe in den Spiegel. Meine blonden Haare sind so nass, dass sie beinahe schwarz wirken.

Gerade eben habe ich mit Zoe gelacht und war vollkommen unbeschwert. Jetzt stehe ich hier. Durchnässt, blass und mit leerem Blick, der mich schaudern lässt.

Ohne mich vom Spiegel abzuwenden, schlüpfe ich aus meinen Klamotten, bis ich splitterfasernackt in meinem Badezimmer stehe. Mein Blick wandert meinen Oberkörper hinab und bleibt an der Hüfte hängen; an der Narbe, die mich niemals vergessen lassen wird. Die mich für immer daran erinnern soll, wie feige ich doch war.

Ich streiche mit den Fingern über die vernarbte Haut, die sich farblich deutlich absetzt. Ob sie jemals vollkommen verblassen wird? Und ob ich das überhaupt verdient hätte?

Ich zwinge mich, wegzusehen, und steige unter die Dusche. Das Wasser wird nur langsam warm, doch nach und nach entspannen sich meine Muskeln.

Mit nassen Haaren setze ich mich im Schneidersitz auf das kleine Sofa und schreibe Zoe, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Ich behaupte, dass ich plötzlich Migräne bekommen hätte und mich die Geräusche und Lichter im Lokal gestört hätten. Es ist nur eine von vielen Lügen, die ich den Menschen, die mir am meisten bedeuten, in den letzten Wochen, den letzten Monaten aufgetischt habe. Doch manchmal lebt es sich mit einer Lüge leichter als mit der Wahrheit.

Ich greife nach meinem Laptop. Wie ferngesteuert tippe ich zum hundertsten Mal das Wort Angststörung bei Google ein und lese mir Berichte zum Thema durch. Aus der Phase, in der ich alles vor mir selbst geleugnet habe, bin ich schon lange raus. Ich mache mir nichts mehr vor. Ich tue nicht mehr so, als ginge es mir gut, nur um mir dann doch mitten in der Nacht die Augen auszuweinen. Und obwohl ich weiß, dass ich ein Problem habe, fällt es mir unglaublich schwer, mir Hilfe zu suchen.

Auch wenn Zoe mittlerweile weiß, was passiert ist, kann ich selbst mit ihr nicht wirklich darüber sprechen. Jedes Mal, wenn sie das Thema anschneidet, versuche ich abzulenken und sage ihr, dass es mir gut geht. Ich kann mir nicht vorstellen, jemand anderem ins Gesicht zu sehen und dieser Person meine Geschichte anzuvertrauen.

Ich gebe das Wort Sorgentelefon in der Suchleiste ein. Keine Ahnung, wie oft ich diese Nummer bereits gewählt habe, nur um nach dem ersten Ton in der Leitung wieder aufzulegen. Mir fällt der Text auf, der in kleiner Schrift und in Klammern unter den Zahlen steht. Falls Sie nicht persönlich mit einem unserer Mitarbeiter sprechen möchten, schreiben Sie uns doch gerne eine E-Mail. Wir sind auch auf dem schriftlichen Wege für Sie da. Oder besuchen Sie einfach unsere Einrichtung.

Einfach … Bei dem Wort beginnt es in meinem Magen zu rumoren.

Ich öffne das Fenster, in dem man seine Nachricht hinterlassen kann, und benutze die Mailadresse, die ich vor Jahren erstellt habe, um mich ohne echte Kontaktdaten bei Instagram zu registrieren.

Von: Anna
E-Mail-Adresse:
anna1212@gmail.com
Hallo, ich weiß nicht so recht, was ich schreiben soll. Ich weiß nur, dass ich mit jemandem reden muss, mich aber nicht traue. Es fällt mir schwer, die Worte auszusprechen. Es fällt mir schwer, über das Geschehene nachzudenken. Es fällt mir schwer, mich selbst nicht zu hassen, für das, was vor ungefähr einem Jahr passiert ist … Ich weiß, wieso ich mir keine Hilfe suche. Aus Angst, Scham, Wut. Ich habe mich bisher nur einer Freundin anvertraut. Ein einziges Mal habe ich ihr erzählt, was passiert ist. Seither blocke ich jeden Versuch ihrerseits ab, mit mir darüber zu sprechen. Ich möchte so gern vergessen. Ich möchte wieder ruhig schlafen können, ganz ohne Albträume. Ich möchte wieder lachen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich möchte mein altes Ich zurück. Doch wahrscheinlich habe ich das nicht verdient.

Mir laufen Tränen über das Gesicht, während ich mein Herz ausschütte.

Kennen Sie das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben? Und damit meine ich nicht, sich für den falschen Job beworben zu haben oder etwas Schlechtes zu Mittag gegessen zu haben. Ich meine einen Fehler, der nicht nur Sie verändert hat. Einen Fehler, nach dem Sie sich für immer schuldig fühlen. Ich habe nicht nur mein eigenes Leben ruiniert. Und der Gedanke reißt mich jeden Tag in Stücke.

Ich drücke auf Senden, bevor ich es mir anders überlegen kann. Obwohl ich weiß, dass diese eine Nachricht nichts verändert, dass sie die Last nicht von meinen Schultern nimmt, fühlt es sich richtig an, sie mit irgendwem da draußen zu teilen.