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Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim
DTP: Breklumer-Print-Service, www.breklumer-print-service.com
Verwendete Schrift: Scala, ScalaSans
Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH und Co. KG
ISBN 978-3-7615-6757-9 (Print)
ISBN 978-3-7615-6758-6 (E-Book)
www.neukirchener-verlage.de
Vorwort von Thorsten Dietz
Sebastian Rink hat genau die Art von Buch geschrieben, die ich als junger Agnostiker auf der Suche gerne entdeckt hätte. Ich kann mich gut an die Zeit erinnern, als ich zum ersten Mal gründlicher in die Bibel schaute. Bald bekam ich eine Ahnung davon, wie anders als gedacht dieses Buch ist. Viel faszinierender und vielschichtiger, als ich in meinem jugendlichen Unglauben geahnt hatte.
Zugleich merkte ich auch, dass sich die biblischen Texte jenseits der bekannten Geschichten keineswegs leicht lesen lassen. Und wenn man Anleitung sucht, hat man oft nur die Wahl zwischen wissenschaftlicher Bibelauslegung jenseits aller existenzieller Fragen – oder erbaulicher Bibelbetrachtung für Gläubige, denen schon alles klar zu sein scheint. Dieses Buch ist für alle, die mit diesen Alternativen unzufrieden sind.
Rinks Buch wendet sich nicht an Menschen, denen der Glaube fraglos sichere Gewissheit ist. Er betrachtet die Bücher der Kleinen Propheten gewissermaßen von außen, aus einer historischen Perspektive. Der zeitliche Abstand, das heutige Befremden über vieles, was in diesen Büchern steht, wird nicht überspielt, sondern ganz ernst genommen. Und zugleich bleibt die Auslegung nicht rein historisch. Sie fragt nach der Relevanz dieser Bücher für uns heute.
Die Kleinen Propheten spielen selbst im Leben der meisten Gemeinden eine viel zu geringe Rolle. Klein sind nur ihre Bücher. Die Botschaft ist schlechthin großartig. Jugendliche müssen bis heute vielfach ihre Namen auswendig lernen für den Konfirmandenunterricht oder die Biblische Unterweisung. Anschließend kann man sein Leben lang Gemeindeveranstaltungen besuchen und hört so manchen Prophetennamen nie wieder. Das Buch Amos ist das älteste Prophetenbuch der religiösen Weltliteratur. Sein Inhalt ist revolutionär. Warum spielt er im Bewusstsein der meisten Gläubigen kaum eine Rolle? Warum ist das so?
Die Texte lesen sich nicht leicht. Zumal in einer Zeit schwindender Lesekompetenz, weil immer mehr Zeit in den Konsum von Bildern und Filmen fließt. Sich ein Prophetenbuch so zu erschließen, dass man von der Botschaft persönlich berührt wird, ist Arbeit. Die Kleinen Propheten zerstören die Illusion, dass die Bibel ein müheloser Besitz ist. Sie zu verstehen kostet etwas. Aber wenn ich mir in einer Sache sicher bin: Der Preis, den man mit dieser Anstrengung bezahlt, ist unendlich viel geringer als das, was man gewinnt.
Sebastian Rink führt in jedes Prophetenbuch anhand einer zentralen Fragestellung ein. Was ist die eine Botschaft, die man nicht verpassen sollte? Von welchem Zentrum her erschließt sich der Reichtum eines solchen Textes? Was lernen wir bei Hosea über das, was Religion von Moral oder Kultur unterscheidet? Welche Bedeutung hat die nichtmenschliche Um- und Mitwelt beim Propheten Joel? Beim Michabuch werden wir mit der schillernden Bedeutung von Macht konfrontiert und mit der Frage, was Gott mit Godzilla zu tun hat ... Beim Propheten Habakuk erschließt uns Rink die Achillesferse des Glaubens: das Problem des Leidens. Der Prophet Nahum wirft schließlich die Frage auf, wie wir umgehen können mit menschlichem und göttlichem Zorn über das Böse in der Welt. Nie verharmlost Sebastian Rink die prophetische Botschaft. Er verschont weder die Leser*innen noch sich selbst noch die Prophetenbücher vor harten Rückfragen.
Menschen mit einem frommen Hintergrund mögen sich stören an dem, was ihnen als skeptische Grundhaltung dieses Buches erscheinen mag. Sebastian Rink geht vom Forschungsstand der heutigen Bibelwissenschaften aus. Er verschweigt nicht ihren Konsens, dass nicht jeder Satz von dem Propheten stammt, dessen Name über dem Buch steht. Denn die Prophetenbücher stammen aus einer Zeit, die noch gar keinen Begriff von Autorenliteratur hatte, sondern Traditionsliteratur pflegte, in der die Fortschreibung eines Textes als Treue zur Überlieferung verstanden wurde. Ebenso wenig geht er davon aus, dass die Erzähltexte immer historische Ereignisse berichten wollen. Historische Exegese will den Texten gerade in ihrer Fremdheit gerecht werden. Die Propheten sind Menschen in ihrer Zeit, die zu ihren Zeitgenossen reden. So liest Sebastian Rink die Prophetenbücher auch nicht direkt als Gottes Worte an uns. Er legt sie als menschliches Ringen mit dem Leben aus und darin auch als Buch über Erfahrungen mit Gott. Wer sich so auf diese Texte einlässt, dem kann es passieren, dass Gott ihm erst einmal fremd wird. Und das ist gut so. Denn das Wort Gott (das Rink gerne als G*tt schreibt), gewinnt so wieder etwas von dem Geheimnis zurück, das notwendig zum Reden von und über Gott gehört.
Das Wirken der Propheten bringt Rink auf einen Begriff: Sie reklamieren Gott. Gott gehört uns nicht. Aber manchmal verschafft er sich Gehör. Reklamieren ist kein schönes Wort. Wer reklamiert denn heute, bitteschön? Fußballer, wenn sie einen Elfmeter wollen, genervte Kund*innen, wenn sie mit der Ware unzufrieden sind.
Wer reklamiert, wird schnell als nervig empfunden. Als Störenfried. Darum passt das Wort ziemlich gut zu den Propheten. Sie waren die Nervensägen ihrer Zeit. Sie haben das politische und religiöse Establishment gereizt. Sie gingen ihren Zeitgenossen auf die Nerven mit ihrer maßlosen Kritik wie mit ihrer überschwänglichen Hoffnung. Sie taten das, weil sie selbst von der fraglosen religiösen Gewissheit und vor allem der sozialen Gleichgültigkeit ihrer Eliten genervt waren. Weil sie Gott als größer erfahren hatten als das, was die Zeitgenossen aus ihm gemacht hatten. So haben sie manche Gemütlichkeit zerstört. Dafür wurden sie gehasst und manchmal verfolgt.
Und es gab Menschen, die sich nerven ließen. Sie haben in diesen Worten Halt gefunden, Trost im Zusammenbruch, Stärkung beim Weiterleben trotz größter Katastrophen. Sie konnten ihren Schrei nach Gerechtigkeit endlich in Worte fassen. Ihre Sehnsucht nach Erlösung hatte fortan Hoffnungsbilder wie die Verarbeitung der Schwerter zu Flugscharen. Noch Jahrtausende später erwiesen solche Bilder ihre Kraft, zum Beispiel als ein Symbol der friedlichen Revolution in der DDR.
Dies ist ein erbauliches Buch für kritische Geister. Ihnen wird kein Denkverzicht zugemutet. Wohl aber die Einsicht, dass man Gründe der Hoffnung nicht einfach erfinden kann. Man muss sich auf sie einlassen. Kein noch so kritischer Geist kann ohne Vertrauen leben. Aber nicht alles ist vertrauenswürdig. Und davon handelt die Prophetie: Was oder wer ist schlechthin vertrauenswürdig? Was lässt uns trotz allem Hoffnungsmenschen sein?
Sebastian Rink lässt uns teilhaben an seinen Lernerfahrungen mit den Propheten. Den Leser*innen dieses Buches wünsche ich: Mögen Sie sich nerven lassen! Mögen Sie bereit sein für die Zumutung, dass das eigene Gottesbild beziehungsweise das Fragen nach Gott durch die Botschaft der Propheten herausgefordert wird. Mögen Sie sich der Einsicht aussetzen, dass Gott uns nicht gehört. Und mögen Sie die Erfahrung machen, dass Gott sich durch diese Erfahrung hindurch Gehör verschaffen kann – damals und heute.
Vorwort des Autors
Das sind laute Worte“, dachte ich in etwa, als ich mich auf die „Kleinen Propheten“ stürzte. Dass sie mehr und mehr zu einem schrillen Pfeifen im Ohr würden, habe ich am Anfang noch nicht geahnt. Im Rückblick war das Unterfangen mehr als waghalsig: Auf jeweils sehr begrenztem Raum wollte ich ein komplettes Buch der zwölf „kleinen“ Propheten in den Griff bekommen und es dabei vor allem nicht einfach sachlich erklären, sondern selbst so direkt wie möglich sprechen lassen. Oder vielmehr festhalten, was ich selbst über einen Graben von weit mehr als 2.000 Jahren hinweg gehört habe. Das ist das Wagnis jeder Bibelauslegung – bei den Propheten habe ich es so intensiv gespürt wie selten.
Die Prophetentexte sind nicht immer eingängig. Daher wurde mir die Beschäftigung mit ihnen zu einer kleinen „Ausbildung im Bibellesen“, denn ständig steht die Frage im Raum, wie wir uns Bibel überhaupt aneignen können. Dafür gibt es kein Patentrezept. Auch dieses Buch nimmt von Kapitel zu Kapitel neue Anläufe und sammelt schrittweise Werkzeuge ein, um mit den Schriften klarzukommen. Zugleich gibt es bei jedem Propheten wiederum Verse und Gedanken, die sich dem Werkzeug widersetzen. Mein größter Lernprozess war, das auszuhalten.
Gegen meine eigene Gewohnheit und Vorliebe habe ich mich für Endnoten entschieden, um den Lesefluss nicht zu stören. Dort befinden sich jedoch ausschließlich Quellen zum Nachschlagen, keine weiterführenden Gedanken. Man kann sie also beim Lesen einfach ignorieren. Wo es möglich war, habe ich Onlinequellen recherchiert. Etwas schwergefallen ist mir auch der weitgehende Verzicht auf „name dropping“ und Zitate. Natürlich erfinde ich das allerwenigste neu, ich sage Vorgedachtes bloß auf meine Weise. Wer die Ideen kennt, wird hier und da auch die Ideengeber*innen erkennen. Ansonsten bemühe ich mich um meine eigenen Formulierungen. Das gilt auch für die Bibeltexte, die ich (unter großzügiger Verwendung von Hilfsmitteln) in meine eigene Sprache gebracht habe. Das ist nicht zwingend wortgetreu, aber sinngemäß mit gelegentlichen Freiheiten. Ein paar Quellen und Lesehinweise gibt es am Ende des Buches.
Ich habe vielfältig zu danken, allen voran Hauke Burgarth, der das Projekt mit großem Engagement nicht nur entscheidend ermöglicht, sondern es sehr wohlwollend als Lektor begleitet hat. Wie schon mein erstes Buch „Heiliges Leben“ ist auch das vorliegende in meiner Gemeinde als Predigtserie entstanden – danke für eure Anregung und Geduld! Meinen lieben Freunden und Kollegen Tom Herter und Ralph van Doorn danke ich von Herzen für die theologische Durchsicht des Manuskripts und viele wertvolle Anmerkungen. Zuletzt, aber unvergessen: Thorsten Dietz habe ich nicht nur für das Vorwort zu danken.
Bischoffen, im Coronafrühling 2020
Weiterführendes Material zum Buch
gibt es unter www.sebastianrink.de.
Die Zwölf Propheten
Etwas stimmt nicht mit der Welt. Das hat auch der Himmel bemerkt und besondere Gestalten damit betraut, die Menschen wachzurufen: Propheten. Sie reißen Wunden auf, halten den Spiegel vor, wischen Tränen ab und verbreiten Hoffnung. Sie richten und rütteln, schreien und flüstern, fluchen und segnen. Darin sind sie echt und ehrlich wie das Leben. Ob sie sogar über die Jahrhunderte hinweg in unsere Zeit schreien? Das will ich wissen.
Sie präsentieren kritische Reden für das jeweilige Heute, aber nicht nur das. Mit ihnen passiert noch mehr, denn in ihren Worten hören Menschen seit Hunderten von Jahren die Stimmen Gottes rufen. Sie bekommen seit einer gefühlten Ewigkeit zu spüren, was es bedeutet, „wenn Gott reklamiert“.
Was da reklamiert wird, werden wir in den nächsten zwölf Kapiteln mit den zwölf „kleinen“ Propheten erleben. So viel sei schon verraten: Wenn Gott reklamiert, dann ist das Leben in all seinen Facetten betroffen, dann werden die Selbstverständlichkeiten unserer Welt tief ins Mark getroffen. Denn sonst wäre es nicht Gott, der da reklamiert.
In diesem fortlaufenden Schlüsselwörtchen steckt übrigens ein dreifaches Sprachspiel: Eine Sache zu reklamieren bedeutet ja erstens, sie aufgrund von Mängeln oder Nicht-Gefallen zurückgeben zu wollen. Das scheint bei den Propheten auf fast jeder Seite durch. Es hört sich gelegentlich so an, als wollte Gott eine nicht ganz funktionstüchtige Menschheit zurückgeben. Zweitens bedeutet eine „Reklamation“, einen Anspruch geltend zu machen, etwas für sich zu reklamieren. Auch das klingt in den Worten an, denn unsere Gottheit beansprucht die Menschheit für sich, obwohl etwas mit ihr so gar nicht stimmt. Drittens steckt im Wort die „Reklame“. So habe ich die Propheten durchweg erlebt: als Werbetexter. Sie bewerben eine zutiefst menschliche Welt, sie werben für ein göttliches Leben. Und so wirbt das Göttliche letztlich für sich selbst. Gott reklamiert.
Nur kurz, aber nicht klein
Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die Texte, die uns von nun an begleiten werden. Nebenbei sei natürlich empfohlen, diese zwölf kurzen Bibelbücher aus dem Ersten Testament parallel zu lesen. Im besten Fall macht dieses Buch sogar neugierig darauf, das zu tun.
Den Propheten ist in der dreiteiligen Hebräischen Bibel neben der „Tora“ (den fünf Mosebüchern) und den „Ketuvim“ (Schriften) ein eigener Teil gewidmet, die sogenannten „Nevi’im“. Aus den Anfangsbuchstaben der drei Begriffe ergibt sich der Name „Tanach“ für die Hebräische Bibel. Zu den Prophetenbüchern gehören neben den klassischen „hinteren“ Propheten übrigens auch als „vordere“ Propheten die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige. In der christlichen Bibel werden sie als Geschichtsbücher gehandelt. Gemeinsam folgen sie auf die Tora, die von Mose als dem größten aller Propheten erzählt (5. Mose 34,10).
Uns interessiert innerhalb der Nevi’im das Zwölfprophetenbuch. Es heißt so, weil die enthaltenen Propheten der jüdischen Tradition als ein einziges Buch in zwölf Teilen gelten. Die Geschichte seiner Entstehung ist kompliziert und langwierig, sie reicht wohl vom achten Jahrhundert vor der Zeitenwende bis in die sogenannte hellenistische Zeit zum Ende des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeit. Ein wenig genauer schauen wir uns das zu gegebener Zeit an. Übrigens: Wenn nichts anderes angegeben ist, beziehen sich alle Datierungen im Buch auf die Jahre vor unserer Zeitenwende.
Bekannter als die Bezeichnung „Zwölfprophetenbuch“ ist der Name „Kleine Propheten“. Das sind die mit den teilweise recht merkwürdigen Namen: Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi. Sie sind aber nur deshalb „klein“, weil sie relativ wenig Text mitbringen. Was sie sagen, ist dagegen ziemlich groß und mächtig. Wir finden zum Beispiel einige der schönsten Bibelverse bei diesen Propheten:
Zefanja 3,17: G*tt, dein Gott in deiner Mitte, eine mächtige Hilfe, freut sich an dir in Verzückung – mal schweigend in Liebe, mal schreiend vor Freude.
Das geht doch runter wie Öl. Uns begegnen aber auch verstörende Texte, die in die tiefsten Abgründe menschlicher Gottesvorstellung schauen lassen, vielleicht sogar in die tiefsten Abgründe Gottes, wenn etwa derselbe Zefanja Gott schreien lässt:
Zefanja 1,2–3: „Raffen! Ich raffe alles von der Erdoberfläche!“ Ein Spruch G*ttes. „Ich raffe Mensch und Tier, ich raffe die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, die Gottlosen mache ich zu Ruinen, den Menschen rotte ich von der Erdoberfläche aus!“ Ein Spruch G*ttes.
Das ist noch nicht das Schlimmste, so viel sei schon gesagt. Es gibt Stellen, da muss ich meine Bibel beim Lesen für einen Moment beiseitelegen. Trotzdem werden wir uns ihnen stellen, nach und nach. Dabei werden wir unter anderem feststellen, dass diese zwölf Prophetenbücher Texte aus längst vergangener Zeit sind. Doch auf geheimnisvolle Weise wirken sie manchmal sehr aktuell. Wir werden gemeinsam versuchen, sie über die Jahrhunderte hinweg in unsere Zeit sprechen zu lassen.
Der Name Gottes
Gerade tauchte der Name Gottes zum ersten Mal auf und wird noch häufiger zu lesen sein, daher ein paar Worte dazu. Aus den meisten Übersetzungen kennen wir es, dass der Eigenname Gottes mit „Herr“ wiedergegeben wird. Gern auch als „HERR“ oder „HErr“ um anzuzeigen, dass im Hebräischen die göttlichen vier Buchstaben stehen: JHWH, der Name Gottes. Er wird in jüdischer Tradition niemals ausgesprochen. Als es noch einen Tempel gab (bis ins Jahr 70 unserer Zeitrechnung), durfte der Hohepriester ihn einmal pro Jahr am Versöhnungstag aussprechen. Sonst und seither nicht. Daher hat man sogar vergessen, wie er ausgesprochen wird, vermutlich „Jahwe“. Als Ersatzwort wird „Adonaj“ gelesen, was ungefähr „(mein) Herr“ bedeutet. Das einfach ins Deutsche zu übernehmen, ist aber schwierig, weil schon die hebräische Schreibweise die Übertragung auf den „Herrn“ etwas verfremdet. Außerdem ist Gott kein Mann, wie wir von Hosea lernen werden. Das sollte auch die Sprache berücksichtigen.
Solch ein Respekt vor dem Namen Gottes ist etwas ganz Wunderbares, weil auf diese Weise deutlich wird, was den Propheten auf jeder Seite abzulesen ist: Gott ist ein Geheimnis. Man kann es nicht einfach benennen, sie nicht einfach beschreiben, ihn nicht einfach so definieren. Um beides einzufangen, habe ich mich für die Schreibweise „G*tt“ entschieden. Sie greift erstens eine Tradition aus dem deutschsprachigen Judentum auf, in welcher der Gottesname gern mit „G’tt“ umschrieben wird. Zweitens erinnert sie natürlich an das Gendersternchen und das Anliegen einer möglichst gerechten Sprache. Das ist gerade in Bezug auf das Göttliche angemessen, weil Gott und Gerechtigkeit aufs Engste zusammengehören und das Göttliche all unsere Denkmuster übersteigt – auch die Geschlechter!
Einbruch der Propheten
„Wenn die Propheten einbrächen / durch Türen der Nacht / und ein Ohr wie eine Heimat suchten / Ohr der Menschheit / du nesselverwachsenes, / würdest du hören?“, fragte die Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (1891–1970) in einem ihrer Gedichte.3 Würde ich hören? Darum geht es bei den Propheten. Gemeint ist nicht ein Hören im Sinne des Gehorsams. Die Propheten reklamieren vielmehr ein Zuhören, um die Welt in ihrem Zustand zu begreifen. Ein Aufhorchen auf das, was in der Welt vor sich geht. Ein sorgfältiges Hinhören, ob nicht irgendwo die Stimmen Gottes anklingen. Genau das tun Prophet*innen. Sie sehen, wie es ist, und rufen, wie es sein sollte. Prophet*innen zeichnen Dystopien und Utopien, mit ihnen entdecken wir Schreckens- und Sehnsuchtsorte.
Wir, die wir sie im 21. Jahrhundert lesen, werden immer wieder vor der gleichen Frage stehen: Würden wir hören? Will ich hin- und zuhören? Das ist keine angenehme Frage, denn wir werden äußerst unbequemen Texten begegnen. In all dem suche ich nach der manchmal brennend heilsamen Nähe Gottes, nach der entwaffnend ehrlichen Stimme des Himmels. Ich suche in der Hoffnung, ein erneuertes Leben zu finden. Mal in kleinen Schritten, mal in waghalsigen Sprüngen. Manchmal werden wir dabei vielleicht nichts finden. Das kann passieren, denn dass Gott reklamiert, lässt sich nicht einfach hervorrufen.
Die Prophetie überflogen
Bevor wir richtig eintauchen, überfliegen wir unser Thema zuerst einmal, verschaffen uns einen anfänglichen Eindruck und suchen einen ersten Zugang. Dafür eignet sich zum Beispiel das Wort „Prophet*in“. Es stammt aus der griechischen Sprache, kommt in der griechischen Kultur aber nicht allzu häufig vor. Es besteht aus zwei Teilen: pro („vor“) und phemi („sagen“). Prophet*innen sind also Vorsager*innen. Das kann man im Sinne von „voraussagen“ verstehen. Doch um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, übersetzen wir pro sachgemäßer mit „für“ oder „anstelle von“.
Sie sprechen vor, sagen aber nicht im eigentlichen Sinne voraus. Prophet*innen sind keine Wahrsager*innen, die einen Blick in die Zukunft gewähren. Diese Bedeutung hat das Wort leider unter anderem dadurch bekommen, dass die biblischen Propheten in der christlichen Variante des Ersten Testaments am Ende stehen, nicht wie in der hebräischen Version mittendrin. So erscheinen sie als Voraussager der messianischen Jesusgeschichte. Aber sie sind keine Wahrsager und Zukunftskenner, sondern Menschen, die für das Göttliche sprechen. Sie geben Botschaften weiter, die sie auf Gott selbst zurückführen. Sie reklamieren vor und für und von und mit Gott!
Als ungefähr im dritten Jahrhundert vor der Zeitenwende (200–300 v. Chr.) die Hebräische Bibel ins Griechische übersetzt wurde, hat man für das hebräische Wort navi (auf der letzten Silbe betont) den Begriff Prophet benutzt. navi bedeutet ursprünglich so etwas wie „die Ernannte“ oder „der Berufene“. Ernannt, um zu benennen, berufen, um zu rufen, das waren die Propheten. Irgendwie sind sie sogar noch immer da, überall dort, wo Menschen dem Ruf folgen, selbst zu rufen: auf Kanzeln und Kathedern, in Parlamenten und Petitionen, an Straßen und Stammtischen, in Medien und Märkten. Prophet*innen schreien heraus, wozu sie sich berufen fühlen.
Prophetie existiert übrigens in vielen Religionen. Sie erfüllt eine Vermittlungsfunktion, denn die Botschaften der Götter an die Menschen müssen ja irgendwie ankommen. Das ist schließlich das Grundproblem aller Religionen: Der Himmel bemerkt einen Mangel, muss ihn aber voll und ganz irdisch kommunizieren und reklamieren, um sich verständlich zu machen. Die Prophetie leistet genau diese Übersetzungsarbeit. Sie benutzt allerdings keine bestimmten Rituale wie Vogelschauen, Glaskugeln oder Kaffeesatzlesen, wie sie bei anderen Vermittler*innen zu finden sind. Sie arbeitet allein mit der Sprache und manchmal mit symbolischen Handlungen. Kurz: Prophet*innen sind Himmelsübersetzer*innen.
Eine klitzekleine Geschichte Israels
Prophet*innen nehmen immer die Geschichte in den Blick, daher brauchen wir wenigstens einen ganz, ganz groben Überblick. Es ist jedoch gar nicht so einfach, die Geschichte Israels zu erzählen. Schließlich beginnt die Erzählung der maßgeblichen Quellen in einer Zeit, die niemand datieren kann: mit der Schöpfung. Niemand war dabei. Die Texte können und wollen aber auch gar nicht erzählen, wie es gewesen ist. Sie tun etwas, das uns noch viel mehr betrifft, denn sie verarbeiten und entwickeln den eigenen Glauben und werfen einen Blick auf das eigene Leben.
Auch die darauffolgenden Geschichten sind nicht einfach Geschichtsschreibung, sondern sie erzählen, woher die Identität des Volkes Israel stammt und wie es sich selbst versteht. Bis David und Salomo um das Jahr 1000 vor unserer Zeit kann man kaum etwas von den biblischen Darstellungen wirklich historisch nachweisen. Das bedeutet übrigens nicht, dass alles völliger Blödsinn wäre, aber es lässt sich eben nicht historisch belegen. Sicher gibt es bei vielem irgendeinen historischen Kern, wichtiger ist aber neben dem historischen immer der wahre Kern: die Bedeutung für das eigene Glauben und Leben.
Selbst bei den genannten legendären Königen ist vieles umstritten. Allerdings wird mit ihnen die Geschichte greifbarer, es beginnt sich aus einer Stammesordnung ein Staat zu entwickeln (was übrigens nicht zwingend ein Fortschritt ist). Das liegt unter anderem an relativ günstigen Bedingungen: Ägypten hatte als Großreich abgedankt und das nachfolgenden Assyrische Reich war noch nicht ganz so weit, den Staffelstab zu übernehmen.
Nach oder mit den Lichtgestalten David und Salomo teilt sich die Region Palästina in den Norden „Israel“ und den Süden „Juda“. Beide Teile entfernen sich allmählich immer stärker voneinander, was auch bei den Propheten sichtbar wird. Im Jahr 722 kommt es dann zur Katastrophe: Das Nordreich Israel wird durch das Assyrische Reich zerschlagen. Für die Leute aus dem Südreich war das eine logische, schadenfreudig beobachtete Konsequenz, denn die Menschen aus dem Norden waren aus ihrer Sicht schon immer barbarische Unholde. Was ich sagen will: Die beiden Landesteile konnten nicht so recht miteinander. Die Bevölkerung Israels, wenigstens die städtische, wird nach der Eroberung deportiert und selbst nach dem Ende der assyrischen Regierung nicht zurückkehren.
Dem Südreich ergeht es allerdings 130 Jahre später nicht viel besser: Nachdem 701 der Fall Jerusalems noch abgewendet werden konnte und Juda unter König Josia zwischenzeitlich noch eine Blüte erlebt, wird die Hauptstadt im Jahr 597 erobert und die Oberschicht aus dem Land nach Babylonien deportiert. Zehn Jahre später fällt das Südreich nach einer zweiten Deportationswelle praktisch komplett zusammen und Jerusalem wird zerstört. Die Datierung ist nicht ganz sicher, entweder passierte das im Jahr 587 oder ein Jahr später 586, daher findet man meist die Angabe 587/86. Mit den Deportationen beginnt das sogenannte „babylonische Exil“. Nach dem Ende des Exils kehren ab 538 einige Judäer*innen zurück nach Palästina und wagen den Neuanfang. Das Babylonische Reich hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet und die Perser*innen unter Kyros II. das Zepter in die Hand genommen.