IWAN BUNIN

GESPRÄCH
IN DER NACHT

Erzählungen 1911

Aus dem Russischen
von Dorothea Trottenberg

Herausgegeben und mit einem Nachwort
versehen von Thomas Grob

DÖRLEMANN

Die Übersetzung folgt der Ausgabe
Polnoe sobranie sotschinenij I. A. Bunina.
Petrograd: A. F. Marks 1915
(Erz. 1–6 aus Bd. V, S. 206–315; Erz. 7 und 8
aus Bd. VI, S. 126–128 und 142–148)

eBook-Ausgabe 2014
Die Übersetzerin dankt der Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung,
für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.


Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2013 Archive of Ivan Bunin
© 2013 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung des
Gemäldes »Dämmerung. Heuschober« von Isaak Levitan
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-53-0
www.doerlemann.com

Iwan Bunin

HUNDERTACHT

Früh spürt man den Herbst, seine Ruhe. Es ist Anfang August, scheint aber eher wie in einem heiteren September, wenn es nur an einem windstillen, sonnigen Plätzchen noch heiß ist.

Der Lehrer Iwanizki, ein junger, aber ungewöhnlich ernsthafter Mann, der beim kleinsten Anlaß in tiefe Gedanken versinkt, geht gemächlich den sanft ansteigenden Hügel hinauf, über den Viehweg durch das Anwesen der bettelarmen Fürsten Koselski. Der Lehrer hat die eine Hand hinter den breiten Gürtel gesteckt, mit dem sein langes Hemd aus Bastseide zusammengehalten wird, zupft mit der anderen die Enden seines spärlichen weißblonden Schnurrbarts, hält die langgestreckte, magere Gestalt gebeugt und kneift die wachsamen grünlichen Augen zusammen. Mit seinem Spaziergang nimmt er Abschied vom Dorf – dieser Tage wird er nach Moskau fahren, zur Universität.

Auf dem Viehweg liegt Schatten. Rechter Hand ist ein großer Garten hinter einem Wall aus Stroh, linker Hand eine alte Schmiede, ein zerfallener Hundezwinger, leere, aus rosa Ziegeln gebaute Getreidedarren und dazwischen die Einfahrt zu einem unübersehbar großen, gleichfalls leeren Dreschplatz. Über dem schon lichter gewordenen Garten liegen Stille und schräger Sonnenglanz; hier und da schillert goldenes Spinngewebe in allen Regenbogenfarben; still liegen Schattenflecke unter den Apfelbäumen; bisweilen fällt mit einem kurzen, dumpfen Schlag ein reifer Apfel in das seidige, trockene Gras. Auf dem eingesunkenen Grasdach der Schmiede wuchert allenthalben samtig-smaragdgrünes, bräunlich schattiertes Moos. Die abgedeckten Darren sind schwer und wuchtig und künden mit ihren Umrissen von uralten Zeiten. Und all das – das Moos auf der Schmiede, der mit Kletten überwucherte Hundezwinger, die kahlen Dachgerippe über den rosa Ziegelmauern –, all das ist so wunderschön vor dem klaren hellblauen Himmel zwischen den weißen runden Wolken. Auf dem gewaltigen leeren Dreschplatz prasseln die Spatzen einem Platzregen gleich von einem Brennesselstrauch zum nächsten. Hinter diesem Gesträuch erhebt sich das rosa schimmernde Espenwäldchen … Der Lehrer geht zu den Solowjows, er will vor seiner Abreise noch einmal ihren Großvater Taganok besuchen. Uralt ist er, wie man in Koselschtschina sagt: Er ist hundertacht, er ist eine Berühmtheit im Kreis.

Hinter dem Gut führen Straßen zwischen Höfen und Gemüsegärten hindurch. Der Lehrer biegt nach links in die Straße ein, die zwischen dem mit Gebüsch bewachsenen Erdwall am Dreschplatz und den alten Katen der früheren Leibeigenen des Fürsten verläuft. Sie ist leicht abschüssig und scheint in den zartgrünen, septemberlichen Horizont zu münden. September liegt auch in den Spitzen der Weiden, die da und dort vor den Katen wachsen und deren feines, sich gelblich verfärbendes Laub vor den weißen Wolken und dem Azurblau durchscheinend leuchtet; September liegt im goldenen Sonnenlicht und in dem durchsichtigen Schatten, der von den Katen auf die Straße fällt, auf die Wagen mit den Wassertonnen, die mit scheckigen Pferdedecken und Bauernmänteln abgedeckt sind … Der Lehrer wirft im Vorübergehen von der Seite her einen Blick auf die Katen, auf die kleinen Fenster und die Vortreppen.

Die Fenster sind winzig und dunkel. Die Vortreppen und die Türschwellen starren vor Schmutz. Aber auch vor den Katen ist es nicht besser: In dem verkrusteten Schlamm, der hart ist wie Gußeisen und in dem Lumpen und faulige Bastschuhe festgewachsen sind, liegen große, flache Steine, auf denen zu Mittag und zu Abend gegessen wird. Kinder schreien, rufen einander etwas zu und klettern auf den Steinen herum. Viele Kinder gibt es in Koselschtschtina, und, Allmächtiger, wie rotznasig sie sind, wie viele Schrunden sie auf Wangen und Lippen haben!

»Was machst du da?« ruft der Lehrer einem kleinen Mädchen zu, das vor einem Stein steht.

Sie ist kränklich und mager, hat dunkle Augen, trägt Bastschuhe von der Großmutter, ist in ein dunkles Hanftuch gehüllt. Sie patscht mit ihren kleinen Händen auf den Stein, tut so, als würde sie Wäsche waschen, Wasser über den Stein gießen und mit einem Bleuel darauf schlagen. Als sie den Lehrer hört, blickt sie ihn verlegen an und stürzt Hals über Kopf zur Kate.

»Wie heißt du?« fragt der Lehrer einen dicken blauäugigen Jungen in einer großen, alten Weste, der an einer Weide beim Hof der Fomins steht.

Der Junge schweigt. Der Lehrer wiederholt seine Frage. Der Junge weicht zurück unter die Weide, streckt die Brust vor, bläst sich so auf, daß er rot anläuft, und schweigt.

Geschäftig laufen die Hühner umher, sie kratzen mit ihren Krallen in der Asche und der Erde, picken etwas auf, gackern und locken die Küken an. Auf dem Hof der Klimows liegt unter dem Wagen mit der Wassertonne eine alte Frau und schläft. Der schräg fallende Schatten der Kate ist weitergerückt, die Sonne scheint nun auf den Wagen und das Wasserfaß und sengt das Gesicht, das so dicht mit Fliegen bedeckt ist, als hätte sich ein schwarzer Schwarm darauf niedergelassen, sengt das magere Kreuzbein, die bloßen, plumpen, sonnenverbrannt glänzenden Beine. Ein etwa fünfjähriger Junge mit Hosenträgern und roten Wollstrümpfen saust zwischen den Küken herum, die hin und her rennen und Fliegen von der Erde und von den Beinen der Alten aufpicken, und versucht immer, wenigstens auf eines von ihnen zu treten; die Küken flattern piepsend auseinander, und er bleibt stehen und wartet ab, bis sie sich in einem Häuflein zusammengefunden haben, um sich dann unverzüglich wieder auf sie zu stürzen, so schnell ihn seine Beinchen tragen. Ein anderer, etwa zweijähriger Junge macht sich an einem Krummholz zu schaffen, das gerade frisch mit brauner Farbe gestrichen ist und an der Haustreppe lehnt; das Krummholz kippt um und wirft ihn zu Boden, und er bricht in wüstes Geschrei aus. Der Lehrer eilt hinzu, um ihn zu befreien.

»He, Alte! Wach auf, der Teufel soll dich holen«, ruft er und hält das brüllende Kind gepackt, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen soll.

Die Alte hebt den Kopf und begreift zunächst überhaupt nichts: Die Augen sind stumpf, der Mund steht offen, das Kopftuch und die grauen Haare sind zur Seite gerutscht. Dann steht sie hastig auf und schwankt benommen, geht zum Lehrer, reißt ihm das Kind aus den ungeschickten Händen und steigt die Vortreppe hoch. Oben setzt sie den Jungen unsanft auf den mit Hirsebrei bekleckerten Boden, und sofort hört er auf zu schreien: Er krabbelt auf dem Treppenabsatz umher, klaubt den mit Schmutz vermengten Brei vom Boden auf und stopft ihn sich in den Mund. Die Alte selbst setzt sich auf die Bank, und während sie ihren Kopfputz zurechtrückt, folgt sie dem Lehrer mit einem langen, bitterbösen Blick.

Die Solowjows haben den Besitz unter sich aufgeteilt. Taganok wohnt bei Gleb. Doch der Lehrer geht zuerst zum Hof seines anderen Enkels, des Zimmermanns Grigori. Grigori hat leichte Ähnlichkeit mit einem Mephistopheles, aber er ist ein angenehmer Mensch. Er steht zwischen Kate und Vorratskeller, wo der Durchgang zum Dreschplatz ist, in einem Geviert aus frischen, blaßroten, in drei Lagen übereinandergeschichteten Holzbalken: Er baut sich einen kleinen Speicher. Er trägt eine städtische Schirmmütze, ein noch nicht gewaschenes und zu einem knittrigen, rosa Ballon geblähtes Kattunhemd, eine Hose aus festem Baumwollstoff und Stiefel: Die Solowjows sind die bedeutendsten Einwohner in Koselschtschina. Beim Anblick des Gastes schlägt er die in der Sonne aufblitzende Axt leichthin und geschickt in einen Balken. Sie begrüßen einander, setzen sich auf das Balkengefüge und stecken sich eine Zigarette an.

»Wollen Sie zu Taganok?« fragt Grigori.

»Ja. Ich habe ihn lange nicht gesehen …«

»Na, das ist schön. Machen Sie das nur. Er hat gerne Besuch.«

»Und wie geht es ihm? Er wird wohl immer gebrechlicher?«

»Nein, es geht noch einigermaßen. Natürlich kein Vergleich mit uns: Er ist schließlich hundertacht.«

»Bittet er Gott nicht, ihn sterben zu lassen?«

»Nun ja, was soll ich sagen? Er möchte wohl sehr gerne noch ein bißchen leben, aber bekanntlich ist das Greisenleben kein Zuckerschlecken.«

»Was meinst du?«

»Was schon, man muß es ehrlich sagen: Sie schlagen ihn, und sie lassen ihn hungern – das ist das Schlimmste.«

»Die Schwiegertochter?«

»Natürlich. Aber ich meine, der Grund liegt bei meinem Bruder Gleb. Er läßt das alles zu. Dabei müßte er ihn beschützen, wer denn sonst? Taganok selbst – na, Sie kennen ihn ja: Sein Leben lang hat er keiner Fliege etwas zuleide getan.«

»Im Ernst, sie schlagen ihn?«

»Aber sicher. Und wie! Manchmal stoßen sie ihn so heftig … Wie oft hat er sich bei mir beklagt. Aber die Schläge sind nicht das Schlimmste! Alleine sechs Pud Schinkenfleisch haben sie da hängen – aber glauben Sie mir, nie geben sie ihm auch nur das kleinste Rippchen ab. Feiertags setzen sie sich zum Tee, aber er wagt nicht, um ein Täßchen zu bitten. Selbst um Kleinigkeiten ist es ihnen zu schade …«

»Tja-a«, sagt der Lehrer gedankenverloren.

Die Grashüpfer zirpen im Unkraut in der Sonne. Alles welkt dahin und verliert schwarze Samenkörner: die Brennesseln, das Bilsenkraut, die Kletten, der Amarant. Eine Bäuerin in einem roten Rock und einem weißen Hemd steht im Hanfdickicht, das höher ist als sie selbst, und nimmt die tauben Stauden ab. Jenseits des Hanffeldes schimmern graue Getreidedarren und gelbe, neue Schober.

»Tja-a«, sagt der Lehrer und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Das Gottesträgervolk! … Sind das eure Heuschober?«

»In diesem Jahr hat der Herr uns reichlich beschenkt«, antwortet Grigori bescheiden, aus Angst, etwas zu beschreien.

»Aber um eine Tasse Tee ist es ihnen zu schade«, schmunzelt der Lehrer. »Und wie ist es, kann er sich immer noch so gut an alles erinnern?«

»Geradezu erstaunlich! Er weiß noch alles – wann was im Haus zu tun ist, zum Beispiel, was in Ordnung gebracht, was gekauft werden muß, wo es was billiger gibt – er ist immer der erste, der das sagt. Mit Futtermitteln, zum Beispiel, kennt sich niemand besser aus als er …«

»Nein, das meine ich nicht«, unterbricht der Lehrer. »Verstehst du, ich möchte doch immer so schrecklich gerne seiner hundertjährigen Seele auf den Grund blicken, ihn dazu bringen, mir von den alten Zeiten zu erzählen. Und daraus wird einfach nie etwas! Entweder will er, warum auch immer, nicht mit mir reden, oder aber man muß die absurde, aber offenbar wahrscheinlichste Mutmaßung anstellen, daß hinter dieser Seele außer dem Allerprimitivsten einfach rein gar nichts steckt!«

Grigori fragt leicht verwundert:

»Wieso sollte er nicht mit Ihnen reden wollen? Sie beleidigen ihn doch nicht, Zurückhaltung kennt er nicht, er kann sich sogar sehr gut an alles erinnern … Auch wenn es natürlich nichts Besonderes …«

»Aber das ist es ja eben!« hakt der Lehrer ein und erhebt sich. »Es scheint so, als sei das Jahrhundert vollkommen vergebens gewesen! Es gibt nichts zu erinnern. Nichts.«

Sie gehen über die Hinterhöfe zu Taganok. Hinter Grigoris Hof stehen einige Bienenstöcke. Der Lehrer weicht ihnen aus, er fürchtet sich vor ihnen, aber Grigori lacht nur und versichert, die Bienen würden einen reinen Menschen in Ruhe lassen. Hier weht ein leichter kühler Luftzug von Norden her, in der Sonne riechen die Hanffelder staubig und kräftig. Den Hanffeldern gegenüber ist eine Art Hütte an die steinerne Mauer von Glebs Viehkoppel angebaut, aus Pfählen errichtet und mit Hanfstauden verkleidet. Das ist die Sommerbehausung des berühmten Mannes.

»Gro-o-ßvater?« ruft der Lehrer, als er die Tür öffnet.

Niemand antwortet; die Hütte ist leer. Taganok ist bestimmt in der Bauernkate. Grigori geht hinaus, um ihn zu suchen. Und der Gast überfliegt die Hütte mit einem raschen Blick. Alles genau wie immer. Und alles genauso herzzerreißend. Um der Schwiegertochter nicht zur Last zu fallen, sich so dünn wie möglich zu machen, zieht Taganok beinahe schon zu den Großen Fasten hierher um. Ein mit Stroh bedeckter Hörnerschlitten ohne Seitenstangen dient ihm als Bett. Auf dem Stroh gibt es nicht einmal eine Pferdedecke. Am Kopfende liegt anstelle eines Kissens ein zusammengerollter, zerrissener Mantel, an der Farbe sieht man, daß er ein halbes Jahrhundert alt ist. Beim Kopfende steht ein kleiner Tisch, ein Brett auf Pfählen, auf dem Brett steht eine Art Schachtel, und darin befindet sich Taganoks gesamtes Hab und Gut, seine ganze Wirtschaft: eine Garndocke, Fausthandschuhe, eine Tabakdose aus Birkenrinde mit Schnupftabak … Mein Gott, mein Gott! Mit der wertvollsten Gabe, mit der Gabe eines märchenhaft langen Lebens, hat das Schicksal seinen Auserwählten beschenkt! Aber was nutzt sie hier, diese Gabe?

Vor der Hütte steht ein großer Holzklotz, vom Stamm einer Eiche. Der Großvater sitzt darauf, wenn er sich ausruht, seinen Gedanken nachhängt oder sich in der Sonne wärmt – von seinem Halbpelz ist der Klotz glatt gescheuert. Der Lehrer setzt sich hin und wartet. Aber als hinter der Hausecke schlurfende Schritte zu hören sind, erhebt er sich, um Taganok den gewohnten Platz zu überlassen. Taganok biegt um die Ecke – er ist nicht groß, hat herabhängende Schultern – und schiebt sich unbeholfen, mit schwankendem Gang voran, schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzend. Seine Füße sind dick mit Fußlappen umwickelt und stecken in großen Bastschuhen. Sein Halbpelz, der auf der Innenseite fast ganz blank ist – das Schaffell ist abgewetzt –, ist ihm zu weit geworden, die Schöße baumeln herab. Die große Mütze ist tief ins Gesicht gezogen und sitzt etwas schief. Beim Anblick des Gastes nimmt Taganok sie wie ein Kind mit beiden Händen herunter und macht eine tiefe Verbeugung. Die langen Haare, die noch um seinen dunklen Kopf stehen, sind weiß und leicht wie Federgras. Leicht und weiß ist auch sein schräger Bart. Sein Gesicht ist noch dunkler als der Kopf. Die gelblichen, tränenden Augen haben die Farbe verloren und zeigen keinen anderen Ausdruck mehr als Ergebenheit oder vielleicht auch Traurigkeit.

»Grüß dich, Großvater«, sagt der Lehrer und läßt sich auf dem Boden nieder. »Wie geht es dir? Setz deine Mütze wieder auf …«

Taganok zögert. Er, der mehr als ein Jahrhundert gemeistert hat, hält sich ganz von selbst für einen besonderen Menschen. Ob er sich aber letztendlich das Recht verdient hat, die Mütze aufzusetzen, wenn ein Herr zugegen ist, das weiß er noch nicht. Er zögert eine Weile und setzt sie dann mit beiden Händen wieder auf.

»Setz dich auf den Baumstamm, das ist bequemer für dich …«

Taganok zaudert einen Moment und setzt sich dann; er schiebt die Mantelschöße gerade, legt die schwarzen Hände auf den Knien zusammen und denkt sanftmütig über etwas nach. Dann schüttelt er sachte den Kopf.

»Die sind nicht mehr da«, sagt er langsam und so, als würde er nicht mit dem Lehrer, sondern mit jemand anderem sprechen. »Die sind nicht mehr da, die sich gekümmert haben …«

»War es denn in alten Zeiten besser?« fragt der Lehrer.

»Hm!« Taganok lächelt schwach. »Hundertmal besser war es …«

Alle alten Leute spielen einem etwas vor, geben sich älter, als sie sind. Taganok spielt einem nichts vor. Er ist übermenschlich schlicht. Der Lehrer läßt wie immer kein Auge von ihm; seltsame Gedanken treiben ihn um: Wenn man bedachte, daß vor Taganoks Augen eines der bemerkenswertesten Jahrhunderte vergangen war! Wie viele Umstürze gab es in diesem Jahrhundert, Entdeckungen, Kriege und Revolutionen, wie viele große Menschen lebten, erlangten Ruhm und starben! Und Taganok hatte niemals auch nur die geringste Vorstellung von alldem. Ganze hundert Jahre lang sah er nur diese Hanffelder und dachte nur an das Futter für sein Vieh! Und sitzt so ergeben, so reglos da. Er hat die Schultern gesenkt, die schwarzen, vom Jahrhundert verbrannten Hände auf den mageren Knien zusammengelegt, die von Arbeit und Verkühlung gekrümmten Finger gefaltet, und die Fliegen krabbeln darauf herum, reiben ihre Beinchen aneinander und feiern ihre Liebe. Ein weißer Schmetterling sitzt starr wie auf einem Baum an seinem kindlich mageren, schwarzen Hals, der vom Kragen seines grauen Hemdes gerahmt und von der Sonne gewärmt wird. Die Mütze ist tief ins Gesicht gezogen; darunter hervor lugen die Spitzen seiner spärlichen, langen, grünlichweißen Augenbrauen, die erschöpft in die Höhe geschoben sind. Das Unterlid des linken Auges ist ein wenig eingerissen und nach unten gezogen; das Auge tränt und ist vollkommen leblos. Im rechten Auge ist ein schwacher Gedanke, ein schwaches Leben, das unserer ganzen Welt fremd ist. Er, dieser hundertachtjährige Mensch, hört noch, sieht, spricht vernünftig mit den Enkeln über die Wirtschaft, weiß noch genau, was alles heute oder morgen im Haus zu besorgen ist, weiß, wo was liegt, was auszubessern und was zu beachten ist … Und doch ist er ganz entrückt, in der Welt seiner weit zurückliegenden Erinnerungen. Was sind das für Erinnerungen? Oft packen einen Angst und Schmerz, daß der Tod dieses kostbare Gefäß einer gewaltigen Vergangenheit im nächsten Augenblick zerschlagen könnte. Es packt einen das Verlangen, möglichst tief in dieses Gefäß hineinzublicken, all seine Geheimnisse, seine Schätze zu ergründen. Aber es ist leer, leer! Taganoks Gedanken und Erinnerungen sind so verblüffend schlicht, so einfach, daß man mitunter rätselt: Ist das ein Mensch, den du da vor dir hast? Er ist gescheit, lieb und gut. Man müßte voller Dankbarkeit seine Hand küssen für das, was er uns gezeigt hat, indem er den seltenen Segen des Himmels in sich verkörperte. Aber – ist er ein Mensch?

Taganok spricht sehr langsam, aber ohne durcheinanderzugeraten; er drückt seine Gedanken mit Mühe, aber genau aus. Er weiß, daß ihm durch eine Fügung des Schicksals die Verpflichtung auferlegt ist, mit den Gästen vor allem über alte Zeiten zu sprechen. Und er hat es immer eilig, Anlaß für Fragen zu bieten.

»Warm ist es«, sagt er und zieht die von der untergehenden Sonne gewärmte Schulter hoch. »Mein Blut wird schon ganz kalt … Ich war früher oft erkältet … Und wovon? In alten Zeiten hatten wir ein Fuhrgewerbe …«

Der Lehrer fängt an, ihn auszufragen. Und wieder, wieder hört er nur längst Bekanntes! Der Großvater war zweimal bei den chochly, hinter Woronesch, zweimal war er in Moskau, fünfmal in Kaluga und viele Male in Beljow …

»Und?« fragt der Lehrer, immer auf Verallgemeinerungen bedacht. »Wie gefielen dir die chochly

»Die chochly?« versetzt Taganok. »Nicht übel … Freundlich sind sie.«

Nachdem er so das Allgemeine abgehakt hat, geht er zum Besonderen über:

»Wir sind zu Mariä Reinigung dahingefahren … Damals hatte ich vier Pferde … Die muß man erst mal füttern! … Na, wir waren mit leerem Wagen hingefahren … Und dort luden wir Weizen … Wir lieferten aus, alles, wie es sich gehörte, zählten den Gewinn … Aber der reichte gerade eben für uns selbst und für die Pferde …«

»Weißt du noch, der Franzose?« fragt der Lehrer und denkt daran, wie viele gewaltige Kometen Taganok gesehen und wie viele schaurige Gerüchte er in seinem Leben gehört hat.

Taganok überlegt. Er ist irgendwo weit weg.

»Der Franzose?« fragt er bedächtig. »Der in Moskau war? Nein, weiß ich nicht mehr … Bloß manchmal, da ist es mir, als höre ich einen Ton …«

»War denn Moskau zu deiner Zeit groß und schön?«

»Groß war es … Manchmal, wenn wir hinkamen … Wir mußten uns in einer Reihe auf dem Bolotny-Markt aufstellen … Da standen wir dann … Wenn die Flagge eingezogen wurde, hieß das, ein Kaufmann hat wohl was gekauft und kommt seine Ware holen … Er kommt, wirft einen Blick darauf und schickt sie auf die Sperlingsberge oder sonstwohin …«

Taganok verstummt – vielleicht unter der stillen Eingebung von Erinnerungen, die ihn überkommen wie ein Ton von weit her. Der Lehrer raucht nervös und runzelt die Stirn: Nein, bei seinen Befragungen kommt nichts Vernünftiges heraus!

Er bleibt lange sitzen, bis zum Sonnenuntergang; er zwirbelt die Spitzen seines Schnurrbarts und sammelt seine Gedanken, bemüht, sich das Unmögliche vorzustellen – das Bild eines der längsten menschlichen Leben, das Bild eines ganzen Jahrhunderts; er bemüht sich, die Seele und den Körper dieses ungewöhnlichen Menschen zu ergründen – und kann sich einfach nicht damit abfinden, daß ein ungewöhnlicher Mensch ganz gewöhnlich, sogar allzu gewöhnlich spricht und nur Belanglosigkeiten erzählt. »Systematisch, ich muß es systematisch angehen«, denkt der Lehrer, »ganz von Anfang an.« Doch Taganoks kurze, rührende, nichtige Antworten lassen ihn den Faden verlieren, sie machen ihn unruhig, und ihm vergeht die Lust, ihn weiter zu befragen. Nein, wo bleibt denn da die Logik? »Hast du früh angefangen, dich zu erinnern?« »Weiß Gott, ich weiß es nicht … Schließlich sind wir«, der Großvater lächelt leise, »ein ungebildetes Volk, wir leben im Wald, beten zu Baumstümpfen … Dazumal waren hier überall Wälder …« »Was für Wälder?« »Alle möglichen. Eichen zum Beispiel, Kiefern … Räuber gab es hier …« »Räuber? Kannst du dich an einen Vorfall erinnern?« »Nein, Gott sei Dank gab es keinen Vorfall …« »Und wie war das Dorf? Kleiner als heute?« »Ist immer noch das gleiche … Bloß stand die Kirche auf dem alten Friedhof und nicht neben der Schule … Vier Popen habe ich überlebt.« Aber was für Popen das waren, ob sie den heutigen vergleichbar waren und wie sie sich dem Volk gegenüber verhielten – das weiß Taganok nicht zu erzählen … Aber vielleicht kann er sich an die Herrschaft, die Fürsten Koselski, besser erinnern und über sie etwas Vernünftiges erzählen? Sicher, er erinnert sich … Doch der Lehrer erfährt nur, daß es drei Generäle gab: Semjon Milytsch, Mil Semjonytsch und Grigori Milytsch, daß sie gute Herrschaften waren und daß sich Mil Semjonytsch durch ein besonders »forsches« Naturell auszeichnete …

»Haben sie dich geprügelt?« fragt der Lehrer.

»Nein, das hat Gott nicht gegeben«, antwortet Taganok. »Einmal bloß. Und ein andermal hat mir Mil Semjonytsch eins in den Nacken gegeben … Beim Bauen … Ich hatte einen falschen Balken genommen … Aber verkaufen wollten sie uns … verkaufen … Sie fuhren uns weg … Der Herr war wütend auf uns Burschen … Na, da hat er uns zu elft weggeschickt … Nach Beljow … Auf den Markt haben sie uns gebracht, schön in einer Reihe aufgestellt … Da kam der Gutsälteste von Selesnjowo … Wir bekamen es mit der Angst zu tun, aber aus dem Geschäft wurde nichts … Dabei wollte er für mich gut bezahlen, hundertfünfundfünfzig …«

Die Sonne ist schon hinter dem Feld in der Ferne versunken; üppiger und frischer duften die Hanffelder im abendlichen Schatten, Tau hat sich auf die Gemüsegärten gelegt. Taganoks fast schwarzes Totengesicht ist noch lebloser geworden, die Augen sind ganz glasig. Ihm ist kalt, er wickelt sich in seinen Halbpelz, legt die Rockschöße übereinander, zieht die Mütze noch tiefer ins Gesicht und schiebt die Hände in die Ärmel. Wie ein Ton von weit her überkommt ihn die Erinnerung; und ohne sich darum zu kümmern, ob man ihm zuhört oder nicht, spricht er langsam, was ihm gerade einfällt:

»Der verstorbene Semjon Milytsch war streng! … Als er starb, trat Mil Semjonytsch an seinen Platz – und das war noch schlimmer … Tja, wir haben es gemacht wie bei einer Katze: Pack sie in einen Sack, binde ihn zu, und dann mach, was du willst, aber sie kann niemandem etwas zuleide tun, also haben wir … Na, früher haben die Bauern gebetet, daß Gott dem Herrn den Tod geben soll … Aber ich habe immer gesagt: Ihr werdet es bedauern. Laßt es bleiben – es wird nur schlimmer. … So kam es dann auch … Ja …«

Taganok ruht sich aus; dann nimmt er sein langsames Erzählen wieder auf:

»Ja … Und als Mil Semjonytsch starb, brachte man seinen Sarg in einer verpichten Kiste … Dreck und Blut floß aus der Kiste … Er ist schlimm gestorben, ohne Krankheit, der Körper war nicht von Krankheit gezeichnet. Jeder, wie es ihm bestimmt ist …«

Der Lehrer kann diese bedrückende Erzählung kaum anhören und steht auf. »Nun, das war es wohl«, denkt er. »Ich werde ihn nie wiedersehen! Schade, schade …«

Ihn bewegt der langgehegte Wunsch, Taganok zu entlocken, ob er gerne noch leben möchte. Man sieht doch, er will! Aber warum sagt er es nicht frei heraus?

»Nun, leb wohl, auf Wiedersehen, Großvater«, sagt der Lehrer. »Gebe Gott, daß du noch eine Weile leben kannst.«

Taganok zieht die Brauen in die Höhe.

»Noch eine Weile leben?« versetzt er. »Ich bin doch jetzt schon hundertacht …«

Er verstummt und senkt den Kopf.

»Aber du willst doch bestimmt noch leben?«

»Das weiß Gott …«

»Aber sag, du selbst, was fühlst denn du?«

Taganok überlegt.

»Was gibt es da zu fühlen?« sagt er. »Da gibt es nichts zu fühlen … Ob ich fühle oder nicht …«

»Sag: Wenn man dir zum Beispiel anbieten würde, noch fünf Jahre zu leben oder nur eines – was würdest du wählen?«

Mit einem schwachen Lächeln blickt Taganok zu Boden.

»Was soll ich ihn einladen … den Tod … Er beißt mich nicht. Die Jüngeren beißt er, aber mich nicht … Er kommt einfach nicht …«

Der Lehrer blickt ihn lange ausdruckslos an. Dann drückt er kräftig seine harte, eiskalte Hand und geht fort.

Er geht aus dem Dorf hinaus aufs Feld und läuft im Halbdunkel eine ganze Weile ziellos die weiche, staubige Landstraße entlang. »Ja, ja«, überlegt er, »hier geht es nicht um Ökonomie. Hier geht es um Schlichtheit, um Ursprünglichkeit, der man nicht entrinnen kann … Es geht«, so sagt er sich fest und halsstarrig, »um die ureigenen Züge des Russen: um die atavistischen …«

Erschöpft, aber beruhigt macht er sich auf den Rückweg. Ohne Eile wandert er über die Landstraße. Keine Lichter, die Katen sind dunkel und still. Alle schlafen. Es riecht nach Wohnungen – irgendwie besonders, warm und nächtlich. Eintönig zirpen bedächtige Grillen. Da ist wieder die Kate von Gleb. Sie ist mit Kalk geweißt und schimmert hell. Die Fensterscheiben sind dunkelblau vom Abend, darin spiegelt sich noch schwach der Himmel. Unten, am Boden, schwebt ein kaum merklicher Widerschein, der die Kate und den Halbpelz von jemandem, der auf einem Stein daneben sitzt, seltsam konturiert. Wer ist das? Taganok etwa? Ja, er ist es, er …

»Großvater, guten Abend noch einmal«, sagt der Lehrer leise, tief berührt vom Anblick dieses einsamen, der ganzen Welt fremden Menschen, der alle seine Altersgenossen und alle ihre Kinder überlebt hat.

»Wer ist da?« läßt Taganok sich leise vernehmen.

»Ich bin es, der Lehrer … Warum schläfst du nicht?«

Taganok überlegt. Dann antwortet er noch langsamer:

»Ach, was sollen wir schlafen … Alt bin ich … Die Nacht kommt – es ist unheimlich … Wie ein Bär kommt sie auf mich zu …«

»Das ist nicht die Nacht, das ist der Tod«, denkt der Lehrer; er schweigt eine Weile und fragt dann:

»Nun, wie ist es? Würdest du gerne noch eine Weile leben? Fünf Jahre oder ein Jahr?«

Es ist still. Die Grillen zirpen. Eine rauchgraue Katze ist auf der Türschwelle erschienen, auf die Erde hinuntergelaufen – und ist nicht mehr zu sehen. Taganoks Bart schimmert bleich. Sein dunkles Totengesicht ist nicht zu sehen. Er regt sich nicht. Nicht einmal sein Atmen ist zu hören. Lebt er noch?

Er lebt. Eine ganze Weile später antwortet er:

»Ich würde gerne noch leben … Auch fünf Jahre würde ich wohl noch schaffen … Aber in fünf Jahren …«

Man sieht, er denkt an die Schwiegertochter, an seine Hütte, daran, daß er ohne Obhut und auf Hilfe angewiesen ist.

Und er seufzt leise:

»In fünf Jahren fressen mich die Läuse. Das ist der Hauptgrund. Sonst würde ich gerne noch leben.«