Inhalt

Titel

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Nachwort

Impressum

EILEEN WILKS

TÖDLICHE VERSPRECHEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Stefanie Zeller

 

1

In der schwülen Luft des Südens liegen Düfte und Gerüche besonders lange in der Luft. Schließlich sind sie nichts als Dämpfe, chemische Verbindungen, die bei Erwärmung flüchtig werden und in der feuchten Wärme hängen bleiben – wie Rule in seiner anderen Gestalt sehr wohl wusste.

Aber in seiner jetzigen Gestalt interessierte ihn nur, wie intensiv ein Geruch war. Als er durch die silbernen Schatten des Waldes rannte, durch die von Feuchtigkeit und Düften schwere Luft, nahm er die Welt mehr mit der Nase als mit den Augen wahr. Von einem nahen Bach wehte eine Mischung aus Kudzu, Felsen und Fisch durch das üppige Grün zu ihm herüber. Der feine Vanilleduft des Rhododendrons mischte sich mit Moos, mit Blütenhartriegel und Rosskastanie, dem zuckrigen Duft des Ahorns und hier und da dem kühl-würzigen Aroma von Pinien.

Doch es war die Spur aus Moschus, Blut und Waschbärenfell, der er folgte.

Hoch über ihm hing der abnehmende Mond, als er den Bach mit gestreckten Hinterläufen übersprang und das berauschende Gefühl des Fliegens spürte. Beinahe wäre er auf der Beute gelandet, aber seine Beine rutschten in dem nassen roten Lehm weg. Eine Sekunde später schoss der Waschbär bereits einen Baumstamm hoch.

Er schüttelte den Kopf. Immer kletterten diese verdammten Waschbären auf Bäume, wenn sie die Chance dazu bekamen. Er missgönnte dem Tier seine Flucht nicht, hätte es aber lieber gehabt, wenn die Jagd ein bisschen länger gedauert hätte.

Rotwild kletterte nicht auf Bäume. Und deshalb beschloss er, Rotwild aufzuspüren.

Die Jagd war nur ein Vorwand. Es würde noch eine Weile dauern, bis er Hunger bekam. Bevor er sich gewandelt hatte, hatte er gut gegessen. Er genoss es ganz einfach, sich zu bewegen, die Welt mit der Nase, den Ohren und unter den Ballen seiner Pfoten wahrzunehmen.

Der Mensch in ihm – das vertraute »Ich«, das kein Wolf war – war immer noch in ihm präsent. Er hatte seine Gedanken als Mensch, seine Erfahrungen nicht vergessen; sie waren ihm nur nicht mehr so wichtig. Nicht wenn die von tausend Düften schwere Luft ihn streichelte wie warme Seide. Möglicherweise war es auch der Mensch, der einen Stich Eifersucht fühlte, wenn er hier inmitten dieses wunderbaren Waldes des amerikanischen Südens an das heißere, trockenere Land dachte, das seinem Clan zu Hause in Kalifornien gehörte. Sein Großvater hatte es gekauft, um das Clangutshaus der Nokolai dort zu errichten. Damals war Land noch billig gewesen.

Die damalige Entscheidung war sehr vernünftig gewesen. In Kalifornien war der Clan zu Wohlstand gekommen. Aber auf dem Gut der Nokolai liefen die Wölfe über Felsen und harten Boden, nicht auf einem dicken Teppich aus Piniennadeln und Moos und durch die dunklen Schatten der Bäume, durch die nur selten ein Lichtstrahl drang.

Als Wolf hatte Rule schon viele Gegenden durchstreift, aber diese Nacht, dieser Wald hatte etwas Besonderes. Etwas Ungekanntes. Hier war er noch nie gewesen. Denn ganz in der Nähe befand sich das Clangut der Leidolf.

Er verspürte einen kurzen Anflug von Sorge, der jedoch schnell wieder verging. Wölfe kannten Angst. Sorge war zu sehr an das Denken gebunden, zu sehr auf die Zukunft gerichtet, als dass sie sich lange damit aufgehalten hätten. Den Teil in ihm, der Mensch war, wollte dieses Gefühl jedoch nicht so leicht loslassen, er wollte an ihm nagen, wie an einem harten Knochen. Den Wolf interessierte die einen Tag alte Spur eines Opossums mehr.

Das war der Grund, warum er heute Nacht als Wolf lief: zu viele Sorgen, zu viele Probleme, die sich wie harte Knochen weigerten, ihr Mark freizugeben. Er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, dass der Mann den Wolf mindestens genauso sehr brauchte wie der Wolf den Mann. Dieser Wald tat ihm gut. Probleme würde er hier zwar nicht lösen, aber heute Nacht war er auch nicht darauf aus.

Lily sagte, sie hätten einfach noch nicht die richtigen Fragen gestellt.

Rule blieb stehen und hob den Kopf. Sowohl der Wolf als auch der Mann dachten gerne an sie. Wenn sie nur …

Er zuckte mit dem Ohr, wie um eine Fliege zu verjagen. Es war einfach dumm. Darin waren sich Mann und Wolf einig. Die Dinge waren, wie sie waren. Nicht wie man sie sich wünschte. Frauen wandelten sich nicht.

Eine Stunde später war er immer noch nicht auf Rotwild gestoßen, obwohl er seine Spur oft genug gewittert hatte, zusammen mit der von einigen anderen – einem Rudel Wildhunde, einer Kupferkopfschlange und einem weiteren Waschbären. Gut möglich, dass er mehr an diesen Ablenkungen interessiert gewesen war als an der Jagd an sich, wenn keine Clanmitglieder mit ihm jagten. Er wünschte, Benedict wäre hier oder Cullen … wünschte, obwohl er wusste, dass das unmöglich war, Lily wäre an seiner Seite. Die das hier nie mit ihm teilen könnte.

Anders als sein Sohn. Noch nicht, aber in einigen Jahren. Sein Sohn, der jetzt gerade in einer Stadt nicht weit von hier schlief – einer Stadt, die nicht mehr lange Tobys Heimat sein würde. In ein paar Tagen würde vor Gericht über das Sorgerecht entschieden, und wenn Tobys Großmutter nicht zwischenzeitlich ihre Meinung geändert hatte …

Das würde sie nicht tun. Das durfte sie nicht tun.

In seinem Inneren erhob sich mit einem Mal ein gewaltiger Aufruhr von unterschiedlichsten Gefühlen – Seligkeit, Angst, Jubel. Rule hob den Kopf, streckte die Schnauze dem Mond entgegen und fiel in sein Lied ein. Dann zuckte er mit dem Schwanz und lief mit weit heraushängender Zunge durch die warme Nacht.

Am Fuße eines niedrigen Hügels stieg ihm ein anderer Geruch in die Nase. Die Duftmarke war alt, aber unmissverständlich. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ein Leidolf diese Stelle mit Urin markiert. Etwas Elementares regte sich in ihm, als der Teil der Clanmacht, den er in sich trug, sich erhob. Er erkannte nicht den Geruch, er kannte ihn. Und er war ihm angenehm.

Eine kurzen Moment lang war er verwirrt. Bisher hatte der Geruch immer Feind bedeutet. Aber die Botschaft der Clanmacht war deutlich: Dieser Geruch war der seine.

Der Mann in ihm verstand, was anders war, hatte es erwartet und erinnerte sich an die Gründe. Deshalb akzeptierte auch der Wolf die Veränderung. Er lief den kleinen Hügel hoch, badete in einem Meer von Grillengesang und sah sich aufmerksam um. Seine Nase sagte ihm, dass hier irgendwo in der Nähe Gras sein musste, an einer Stelle, an der die Bodenbeschaffenheit keinen Baumwuchs zuließ.

Er mochte Gras. Vielleicht war es hoch und voller Mäuse. Mäuse waren klein und flink, aber sie knackten so schön, wenn man darauf biss.

Ein Gedanke durchfuhr ihn, ein Gedanke, der sowohl dem Mann als auch dem Wolf gekommen war. Noch vor ein paar Monaten hätte er eine so alte Spur wie die des Leidolf Wolfes nicht gerochen. War die neue Macht in seinem Leib daran schuld, dass er sie jetzt witterte? Oder lag es daran, dass es zwei Mächte waren? Vielleicht spürte er die Magie dieser Nacht, dieses Waldes so ungewöhnlich stark, weil er selbst mehr Magie in sich trug.

In seiner anderen Gestalt hätte er darüber nachgedacht, denn dann fiel ihm das Denken leichter. Vorerst … Auf dem Kamm des Hügels suchten seine Augen den Mond. Er wusste, dass es spät war und in einer Stadt in der Nähe eine Frau auf ihn wartete … schlafend? Wahrscheinlich. Er hatte ihr gesagt, dass er fast die ganze Nacht fort sein würde.

Ein Teil von ihm fragte sich, ob er nicht lieber neben ihr im Bett liegen würde. Doch vor ihm lag eine weite Grasfläche und die Aussicht auf eine Maus oder drei. Er war hier, nicht dort, und er empfand kein Bedauern.

Aber es wurde spät. Die Glühwürmchen hatten ihre Leuchtstäbe ausgeknipst, und der Mond ging unter. Er beschloss, noch durch das hohe Gras zu streifen. Anschließend würde er an die Stelle zurückkehren, an der er seine Kleider zurückgelassen hatte, zusammen mit der Gestalt, der diese Kleider passten.

Das Gras war tatsächlich hoch, und er witterte sofort den durchdringenden Geruch von Mäusen, als er sich der Wiese näherte. Auch Kaninchen roch er, aber Kaninchen jagte man am Tage, weil sie sich im Dunkeln selten aus ihrem Bau trauten.

Ein leichter Wind erhob sich, flüsterte durch die Grashalme und trug ihm neue Gerüche zu. Er blieb stehen und schnupperte neugierig.

War das etwa …? Fäulnis, ja; es war unverkennbar der Gestank von verwesendem Fleisch, wenngleich nur sehr schwach. Das bedeutete nicht viel. Im Wald starben Tiere. Auch vom Highway roch es manchmal so. Tiere wurden öfter von Autos angefahren, als dass sie auf natürliche Weise starben. Aber war es überhaupt ein Tier?

Die Mächte würden ihm helfen, das herauszufinden.

Jetzt schliefen sie. Er würde sie nicht wecken, nicht einmal die Macht, die er als seine eigene ansah – den Teil der Nokolai-Clanmacht, den sein Vater ihm vor Jahren übertragen hatte. Wenn er eine von ihnen rief, würde auch die andere antworten. Und er wusste, was das bedeutete. Wenn er zu viel Energie aus der Macht des anderen Clans zog, konnte es den wahren Träger der Macht töten, dessen Leben dann nur noch an einem seidenen Faden hing.

Nicht dass Rule etwas gegen Victor Freys Tod gehabt hätte. Unter anderen Umständen hätte er sich sogar darüber gefreut. Doch er wollte den Clan nicht, der nach Victors Tod an ihn übergehen würde. Und weder er noch der Clan der Nokolai konnte dadurch entstehende Unruhen gebrauchen.

Konnte er die beiden Mächte nutzen, ohne sie wirklich zu rufen?

Der Wolf glaubte es. Der Instinkt sagte dem Mann etwas anderes, oder vielleicht dachte er auch nur zu viel nach. Aber er wollte es versuchen.

Rule weckte die beiden Mächte in seinem Inneren, indem er seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Dann konzentrierte er sich wieder auf den schwachen Geruch, den der Wind herantrug, unterstützt von den Mächten, doch ohne sie wirklich zu nutzen.

Sofort wurde der Geruch in seiner Nase intensiver. Das war kein Hund, der von einem Auto überfahren worden war, nein. Und auch kein krankes Rotwild. Obwohl der Gestank der Verwesung alles andere überdeckte, war er beinahe sicher, dass der tote Körper, den er witterte, nie auf vier Beinen gegangen war.

Geh. Der Wind könnte abnehmen und die Spur schwächer werden. Geh. Finde es heraus.

Er begann zu laufen.

Der Tod lässt Wölfe im Allgemeinen unberührt, solange er nicht sie oder die seinen bedroht. Weil der Körper, den er suchte, tot war, hatte der Wolf keine Eile. Anders als der Mann. Rule lief beinahe zwei Kilometer – nicht mit voller Kraft, weil das Gelände unbekannt für ihn war und keine unmittelbare Bedrohung oder Beute in der Nähe war. Aber in Wolfsgestalt war er schnell, schneller noch als ein echter Wolf.

Erst kurz vor dem Highway wurde er langsamer. Etwa einen Kilometer vor ihm hörte er Autos … nicht viele. Es war kein sehr befahrener Highway.

Aber was er suchte, befand sich im Wald. Der Gestank ließ ihn die Zähne fletschen, als er sich näherte. Unter der Verwesung lag noch ein anderer Geruch, aber selbst mithilfe der Mächte konnte er ihn nicht identifizieren. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er begann zu knurren.

Anders als andere Raubtiere fressen Wölfe kein Aas. Nur ein Wolf, der kurz vor dem Verhungern ist, würde verwestes Fleisch fressen. Und Rule war zu sehr Mensch, selbst jetzt noch, um etwas anderes als trauriges Entsetzen zu empfinden, als er sah, was in dem niedrigen Graben zwischen zwei Eichen lag.

Nicht alle Tiere waren wählerisch. Und er war nicht der Erste, der sie gefunden hatte.

 

2

In einem kleinen Zimmer im ersten Stock eines großen Holzhauses schlief Lily Yu. Doch sie war sich dessen nicht bewusst.

Schmerz, Trauer, Verzweiflung – das war es, was sie fühlte. Über ihr wölbte sich der Himmel, der eigentlich kein Himmel war, sondern eine sturmdunkle, schwach glühende Kuppel. Vor diesem surrealen Himmel kämpfte eine Legende mit einem Albtraum – ein riesiger Drache rang mit einer Art geflügeltem Lindwurm, dessen weit auseinanderklaffende Kiefer ein kleines Auto hätten verschlingen können. Der Boden, auf dem Lily kniete, war steinig und hart, ohne eine Spur Grün.

Vor ihr lag, bewusstlos und blutend, ein großer silberschwarzer Wolf.

So viel Blut. Sie konnte nicht erkennen, wie schwer Rules Verletzung war. Aber dass sie schwer war, wusste sie. Die Wunde, die der Dämon Rule gerissen hatte, war so tief, dass selbst er sie nicht rechtzeitig heilen konnte. Er brauchte einen Arzt, musste ins Krankenhaus, aber in der Hölle gab es keine Krankenhäuser.

Sie wusste, was sie zu tun hatte. Es war eine harte Erkenntnis, so hart wie die Steine an diesem Ort – und so gewiss, wie der Frühling in diesem anderen Ort kommen würde, an den sie sich erinnerte – die Erde. Die Erde, die sie nie wiedersehen würde.

Eine zweite Frau kniete auf der anderen Seite des geschundenen, blutüberströmten Körpers, eine Frau, die an Rule gebunden war wie Lily, denn auch sie war Lily. Eine andere Lily – die, die Rule mit nach Hause nehmen würde.

Jetzt hob sie den Blick und sah in ihre eigenen Augen. »Geh jetzt. Du musst sofort gehen und ihn dorthin bringen, wo er heilen kann. In ein Krankenhaus. Hier wird er sterben.«

Ihr anderes Ich schluckte. »Das Tor –«

»Sam hat mir gesagt, wie es funktioniert.« Der Drache hatte gesagt, sie solle ihn so nennen: Sam. War das eine Art trockener Drachenhumor? Sie würde es nie erfahren.

Es gab so vieles, das sie nie wissen würde, das sie nie Gelegenheit haben würde zu erfahren.

Die Augen der anderen Lily weiteten sich, und Lily sah in ihnen ihr eigenes Begreifen – und dann eine Gewissheit, die die andere erschrocken zu leugnen versuchte. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

»Komisch.« Sie hob die Mundwinkel, aber ihre Augen brannten. »Das habe ich auch gesagt.« Sie riss die Kette mit dem Anhänger von ihrem Hals – das Zeichen ihrer Verbundenheit mit Rule. »Aber es gibt keine. Du bist das Tor.«

Langsam streckte ihr anderes Ich die Hand aus.

Lily legte das toltoi hinein. »Sag ihm …« Gefühle wallten in ihr hoch, zu stürmisch, zu heftig, um sie zu verstehen. Sie senkte den Blick, blinzelte schnell und streichelte Rules Kopf. Es war ihr gleichgültig, dass ihre Stimme zitterte. »Sag ihm, wie froh ich war, dass es ihn gibt. Wie unglaublich froh.«

Die Hand der anderen Lily schloss sich um die Halskette. Sie nickte mit unbewegtem Gesicht.

Lily stemmte sich hoch. Sie zog an dem Ausschnitt ihres Sarongs, und er öffnete sich. »Verbinde ihn hiermit. Er blutet so stark.« Sie warf den Stoff Lily zu – und lief los. Nackt, barfuß und so schnell sie konnte.

Ganz in der Nähe waren die anderen. Rules Freunde – ein Zauberer, ein Gnom, eine Frau, die er einmal geliebt hatte. Und Dämonen waren auch da, Dämonen, die sie bekämpft hatten. Noch nicht viele, aber die anderen näherten sich bereits. Hunderte, vielleicht Tausende. Und dann war da noch eine kleine, unbedeutende Dämonin, die so etwas wie eine Freundin war. Eine kleine, orangefarbene Dämonin mit Namen Gan, die nicht kämpfte wie die anderen und deshalb sah, wie Lily auf die Klippen zulief. Und verstand.

»Nein!«, schrie Gan und rannte ihr nach. »Nein, Lily Yu! Lily Yu, ich mag dich doch! Wirklich, das ist wahr! Tu es nicht.«

Sie hatte den Rand der Klippen erreicht. Und sprang.

Und als die Luft an ihr vorbeirauschte, schwer vom Duft des Meeres, und ihr von Angst und Tod sang, flüsterte der Drache, der sich Sam nannte, ihr ins Ohr: Erinnere dich.

Durch das Pfeifen des Windes drangen die ersten Takte von Beethovens fünfter Symphonie und retteten Lily gerade noch rechtzeitig vor dem Aufprall. Sie schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Ihr Herz hämmerte in Todesangst. Automatisch streckte sie die Hand nach ihrem Handy auf dem Nachttisch aus. Und traf auf eine Wand.

Dieser unerwartete Zusammenstoß mit der Realität ließ sie zu sich kommen, obgleich sie noch einen Moment brauchte, um zu verstehen, warum ihr Nachttisch nicht dort stand, wo er stehen müsste. Nein, warum sie nicht dort war, wo sie sein müsste.

In der letzten Zeit hatte Lily in zu vielen Betten an zu vielen Orten geschlafen. Zuhause war sie in San Diego, aber die letzten Monate hatte sie in Washington D.C. verbracht, um eine Spezialausbildung in Quantico zu absolvieren … unter anderem. Jetzt waren sie und Rule wieder zurück in San Diego und wohnten zusammen in seiner Wohnung. Doch dies hier war nicht Rules Wohnung.

Sie befand sich in Halo, North Carolina, im Haus von Tobys Großmutter, Louise Asteglio. Toby, Rules Sohn, lebte bei ihr. Es war drei Uhr zweiundvierzig morgens, und Beethovens Fünfte war Rules Klingelton. Sie arbeitete sich durch die zerknüllten Laken und griff nach ihrem Handy, das auf der Kommode lag. »Was ist passiert?«

Rules Stimme war fest, aber zornig. »Ich habe Leichen gefunden. Drei. Menschen. Sie liegen übereinandergeschichtet in einem niedrigen Grab. Der Erwachsene liegt oben.«

»Mist. Mist. Der Erwachsene? Dann … bist du sicher? Dumme Frage«, korrigierte sie sich selbst und balancierte das Telefon von einer Hand in die andere, um sich das weite, lange T-Shirt auszuziehen, in dem sie schlief. »Ich finde es nur immer besonders schlimm, wenn es Kinder sind, das ist alles.« Sie schwieg. Der Koffer. Wo war ihr … Oh ja, im Schrank. Sie waren so spät angekommen, dass sie ihn nicht einmal mehr ausgepackt, sondern einfach in den Schrank gestellt hatte.

Lily riss die Schranktür auf und zerrte den Koffer heraus. »Sie liegen im Wald, sagst du?«

»Ungefähr einen Kilometer östlich vom Highway 159, im Norden der Stadt. Ich warte auf dich am Highway.«

»Ich finde dich schon.« Das wäre der einfache Teil. So, wie eine Kompassnadel wusste, wo Norden war, wusste Lily, wo Rule sich gerade aufhielt. In dieser Hinsicht war das Band der Gefährten sehr praktisch.

Die Auserwählte, so wurde sie von den Lupi genannt. Und von Rule, wenn auch nicht sehr oft. Meistens nannte er sie nadia, was, wie sie erfahren hatte, Verbindung, Gürtel oder Knoten bedeutete. Die Lupi nannten sie Auserwählte, weil sie glaubten, dass sie für Rule von ihrer Dame auserwählt worden war – einem Wesen, das, wie sie behaupteten, weder ein Fabelwesen noch eine Göttin war, obwohl sie anscheinend in dieser Liga mitspielte.

Vor neun Monaten waren sich Lilys und Rules Blicke begegnet – zwei, die füreinander bestimmt waren, untrennbar verbunden durch das Band der Gefährten. Seitdem war nichts mehr wie vorher.

Ein Glück, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Lily klemmte sich das Handy zwischen Kinn und Schulter. Rule gab ihr weitere Informationen, während sie Jeans, Socken und ein T-Shirt aus dem Koffer zog – Kleidung, die geeignet war für einen Marsch durch den Wald. Eine Jacke würde das Schulterholster verdecken.

Als er mit seinem Bericht fertig war, sagte sie: »Scheint, als hättest du die Opfer dieses Mörders gefunden, von dem Mrs Asteglio uns erzählt hat. Die örtlichen Beamten sollten dir dankbar sein, aber rechnen würde ich damit lieber nicht. Äh … sie dürfen doch wissen, dass du es warst, der sie gefunden hat, oder?«

»Ich habe dich statt der hiesigen Polizeidienststelle angerufen, weil ich mich raushalten will. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich dich lieber nicht mit hineingezogen. Nein, sag nichts«, sagte er, bevor sie den Mund aufmachen konnte. »Ich weiß, dass Tote nichts Neues für dich sind. Aber … hier in der Gegend gibt es ein Rudel wilder Hunde.«

Oh. Igitt. »Die Hunde haben sie ausgegraben?«

»Sieht so aus. Und riecht auch so.«

»Bist du sicher, dass es Hunde waren? Die Frage wird man mir stellen«, sagte sie eilig. Er wusste, dass sie ihn niemals einer solchen Abscheulichkeit beschuldigen würde. Doch andere würden es vielleicht tun. »Und es gibt auch noch andere Fleischfresser in diesen Wäldern, oder? Bären, zum Beispiel?«

»Bären gibt es in dieser Höhe selten, und der Geruch ist ziemlich eindeutig. In der Nähe des Grabes gibt es Spuren von fünf verschiedenen Hunden, aber nur drei direkt auf dem obersten Körper.«

»Dann waren es also wirklich Hunde.« Lily runzelte nachdenklich die Stirn. Warum hatte Rule sie angerufen? Er hätte der Polizei auch einen anonymen Tipp geben können. »Was verschweigst du mir? Es gibt etwas Wichtiges, das du mir nicht sagst. Was ist es?«

»Ein Geruch. Neben den Hunden und der Verwesung war da ein Geruch, der … aber ich kann mich auch irren. Er war nur schwach und so überlagert von der normalen Fäulnis, dass ich mir nicht sicher bin. Du wirst mehr herausfinden können.«

Was herausfinden? Sicher erwartete er nicht von ihr, dass sie den Geruch identifizieren konnte. So gut war ihre Nase nicht. Im Vergleich zu Lupi waren Menschen geradezu »geruchsblind«.

Plötzlich ging ihr auf, was er gerade gesagt hatte: »normale Fäulnis«. »Scheiße. Oh, Scheiße. Erzähl mir alles.«

»Todesmagie. Ich bin nicht sicher, aber … Ich glaube, die Leichen riechen nach Todesmagie.«

Jay Deacon war schlank, gepflegt, unter vierzig und knapp eins achtzig groß. Mit seiner Goldrandbrille und einem Teint wie nasse Teeblätter sah er mehr wie ein Harvard-Wissenschaftler aus als das Stereotyp eines Südstaaten-Sheriffs.

Aber er führte sich ganz wie ein Kleinstadtsheriff auf. »Sie hören mir nicht zu, Ma’am. Der Coroner kommt jeden Augenblick. Das FBI brauchen wir am Fundort nicht. Sobald Sie uns die Leichen gezeigt haben, können Sie wieder ins Bett gehen.«

Noch vor wenigen Monaten hatte Lily auf der anderen Seite der Kluft gestanden, die die örtliche Polizei und das FBI trennte. Damals hatte sie zur Mordkommission von San Diego gehört. Deshalb hätte sie Verständnis für den Sheriff, der seinen Fall für sich behalten wollte, gehabt, hätte er ihr nicht gewissermaßen den Kopf getätschelt und sie aufgefordert, sich zu trollen.

»Sheriff, ich habe Sie aus Höflichkeit angerufen, nicht weil es irgendeinen Zweifel bezüglich der Zuständigkeit gäbe. Mein Spurensicherungsteam wird in einer Stunde hier eintreffen. Ihre Leute können dabeibleiben oder wieder ins Bett gehen, ganz wie sie möchten. Ich führe sie nicht zu den Toten.«

Seine Leute waren lediglich zwei Hilfssheriffs, beide Männer. Das war kaum eine Überraschung. Außerdem waren sie beide weiß und schienen keine Probleme mit einem schwarzen Chef zu haben, was ihr Hoffnung für die Zukunft der Nation geben könnte … später. Wenn sie wieder an etwas anderes als an Leichen mit Todesmagie denken konnte.

Nachdem er Lily seinen Fund gezeigt hatte, hatte Rule sie zum Highway begleitet, um auf die Spurensicherung des FBI zu warten. Dann waren sie zurück zum Fundort gegangen, um aufzupassen, dass sich nicht noch mehr Waldbewohner über die sterblichen Überreste hermachten. Lily hatte die Scheinwerfer ihres Autos angeschaltet gelassen, um den Kollegen den Weg zu weisen, aber ihr Licht wurde jetzt teilweise von den drei Polizeiwagen blockiert, die auf dem Seitenstreifen neben ihrem Wagen geparkt hatten.

Beide Hilfssheriffs hielten Taschenlampen in der Hand. Sheriff Deacon war mit nichts weiter als einer guten Portion Feindseligkeit ausgestattet.

»Ihr Team kann uns ruhig helfen«, sagte er widerstrebend, als würde er ihr ein Zugeständnis machen. »Vorausgesetzt, es ist rechtzeitig hier. Aber wie ich schon sagte, wir haben den Täter bereits. Und das bedeutet, dass ich zuständig bin.«

»Mord mit magischen Mitteln ist ein Bundesverbrechen.«

Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Roy Don Meacham hat keine Magie verwendet, um seine Familie umzubringen. Der verrückte Mistkerl hat dazu den Baseballschläger seines Sohnes Andrew genommen. Der Schläger wurde von uns sichergestellt. Roy Don hat ihn mir selbst übergeben. Es ist schon mehrfach zu häuslicher Gewalt in der Familie gekommen –«

»Wie oft wurden Sie denn schon gerufen?«

»Nur einmal, aber es gibt reichlich Zeugen dafür, dass Roy Don bei Becky und den Kindern ganz gern die Hand ausrutschte. Wir haben die Mordwaffe, Blut und andere Spuren auf seinen Kleidern und seiner Haut. Wir haben sogar einen Zeugen! Bill Watsons Postroute geht da draußen entlang. Als er mit seinem Wagen an den Briefkasten fuhr, hörte er Schreie, deshalb ist er zum Haus gelaufen. Er wollte helfen. Jetzt hat er eine Platte im Schädel, da, wo Roy Don ihn niedergeschlagen hat. Aber immerhin hat er’s versucht.«

»Erinnert er sich daran, was er im Haus gesehen hat?« Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zog gewöhnlich Erinnerungslücken nach sich.

»Oh ja. Er ging in das Haus und sah Roy Don mit dem Schläger auf Betty einprügeln. Auch wenn er sich danach an nichts mehr erinnert, das weiß er noch gut, der arme Kerl. Wir haben ausreichend Beweise.«

»Aber kein Geständnis. Oder die Leichen.«

»Die Sie gefunden haben. Aufgrund eines Tipps«, sagte er und betonte das letzte Wort besonders. »Über den Sie mir aber nicht mehr sagen wollen.«

»Richtig.« Lily musste den Kopf zurücklegen, um ihm in die Augen zu sehen. Das war sie gewohnt. Bei einer Größe von knapp einem Meter sechzig musste sie sehr oft nach oben schauen. Aber Deacon stand zu dicht vor ihr – absichtlich, um ihren Größenunterschied noch zu betonen. Das ärgerte sie. »Wie auch immer – ich habe von dem Fall gehört, und deswegen –«

»Ich wusste gar nicht, dass überregional darüber berichtet wurde.«

»Ich bin zum Besuch meiner Familie hier in der Gegend.« Sozusagen Familie. Rules Sohn war nicht gerade das, was man gemeinhin als einen Verwandten bezeichnen würde. Und in den Augen vieler auch Rule nicht. Wenn man von seinem »Gefährten« sprach, wurde man schief angeguckt.

»Ach ja? Haben Ihre Verwandten vielleicht irgendetwas mit dem Tipp zu tun, von dem Sie mir nichts erzählen wollen?«

»Wissen Sie, Sheriff, vielleicht würde ich mein Wissen eher mit Ihnen teilen, wenn Sie nicht so eine Nervensäge wären. Treten Sie einen Schritt zurück.«

Deacon schaute finster. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit –«

»Ich will, dass Sie aufhören, mir so nah auf die Pelle zu rücken. Das macht mir keine Angst. Das macht mich nur sauer.«

Sie konnte nicht sehen, ob er rot wurde. Aber die Art, wie er den Kopf abwendete, deutete darauf hin, dass er verlegen war. Außerdem befolgte er ihren Befehl, riss sich die Mütze vom Kopf und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, als wäre er ins Schwitzen gekommen.

Vielleicht war er das auch. Um diese Zeit war es nicht ganz so heiß wie gestern bei ihrer Ankunft, aber in der feuchten Luft stand die Hitze geradezu. »Sie wollen nicht, dass ich mich in Ihren Fall einmische. Das verstehe ich. Das Problem ist, dass Sie keine Wahl haben. Bei dem Tod der drei Personen war Magie im Spiel. Damit gehört der Fall mir.«

Er setzte sich wieder seine Mütze auf und sagte höflich, was ihn sichtlich Mühe kostete: »Und von der Magie wissen Sie woher?«

»Ich bin berührungssensitiv.« Sie hielt inne, um zu sehen, ob er damit etwas anfangen konnte. Die meisten Leute wussten, was es war, oder meinten zumindest, es zu wissen. Wie immer, wenn es um Magie ging, war ihr vermeintliches Wissen von Ammenmärchen, Vorurteilen und Nachrichten aus der Boulevardpresse geprägt. Das Gleiche traf auch auf das zu, was die Leute über Lupi »wussten«.

Er zog erst die Augenbrauen hoch, um sie dann böse zusammenzuziehen. »Mist.« Er machte zwei Silben daraus. »Mi-hist.« »Sie sind doch nicht zufällig die mit der Vorliebe für Weers, oder?«

Lily seufzte. Weer – wie »wir« mit einem langen i ausgesprochen – so nannten die Leute im Süden Werwölfe, und über sie selbst war ein paarmal in den Nachrichten berichtet worden. Die Klatschpresse war fasziniert von ihrer Beziehung zu dem »Prinzen der Nokolai«, wie sie Rule nannten. »Möglicherweise ist es noch nicht bis zu Ihnen durchgedrungen. Heutzutage nennt man sie Lupi.«

»Tja, von Ihnen habe ich schon gehört. Von Ihnen und von dem Turner-Weer, der wohl so etwas wie ein Prinz ist.«

Ihre Hand umfasste die Taschenlampe fester. »Ich bezweifle, dass das, was Sie gehört haben, in irgendeiner Weise relevant für die Frage der Zuständigkeit ist.«

»Vielleicht nicht.« Seine Augen, hart und dunkel wie Walnüsse, taxierten sie. »Na gut. Ich kooperiere, wenn Sie mir zeigen, wo die Leichen liegen. Ich bringe Ihnen Ihren Fundort schon nicht durcheinander.«

Vor Wut hätte sie ihm am liebsten den Mittelfinger gezeigt, aber Wut war kein guter Ratgeber, und er hatte von »ihrem« Fundort gesprochen. Sie würde mit diesem Mann zusammenarbeiten müssen. Er und seine Deputies hatten die Beweise am Tatort gesichert. Und sie kannten die Gegend und die Leute hier.

Moment, Moment. Sie würde den Fall abgeben. Das hieß, sie würde nicht mit ihm arbeiten. Vorausgesetzt, die Einheit konnte jemanden herschicken … nun, sie würden wohl müssen. Sie war hier wegen Rule und Toby, nicht um zu arbeiten.

Aber fürs Erste war sie verantwortlich für diese Toten. »Einverstanden. Dann sollten Sie lieber Ihren Coroner anrufen, damit er sich wieder hinlegen kann.«

Das gefiel Deacon nicht, aber er riss sich zusammen. Er fragte sie, ob seine Leute auf die Ankunft der Spurensicherung warten sollten. Sie dankte ihm, und er redete mit seinen Deputies und nahm einem von ihnen die Taschenlampe ab. Die Batterien seiner eigenen, sagte er, seien leer. »Wie weit ist es?«, fragte er sie.

»Ungefähr eineinhalb Kilometer.«

»Ich hoffe, Sie finden sich auch ohne Straßenschilder zurecht. Eineinhalb Kilometer ist vielleicht nicht weit, aber wenn man sich im Wald nicht auskennt, sieht ein Baum wie der andere aus. Vor allem nachts.«

Lily musste ihren Weg durch den dichten, pfadlosen Wald nicht suchen. Nicht wenn Rule auf sie wartete. Sie musste nur ihn finden, und das war einfach. »Es gibt eine Hirschspur, und am Fundort habe ich jemanden zurückgelassen, der mir helfen wird, wenn ich Schwierigkeiten haben sollte, die Stelle wiederzufinden.«

Er nickte ihr zu. Sie knipste ihre eigene Taschenlampe an und ging los.

In der Nähe des Highways war der Baumbestand noch jung und dünn. Teenager-Bäume, dachte sie. Doch hoch genug, dass sich ihre Kronen wie Schirme gegen den Nachthimmel spannten. Sobald sie daruntertrat, wurde es stockdunkel.

Die Grillen um sie herum brummten wie kleine Motoren, als würden sie jeden Moment abheben. Der schwammige Boden dämpfte ihre Schritte, als Deacon ihr folgte. Lily hielt den Strahl der Taschenlampe auf den mit Kiefernnadeln bedeckten Boden vor ihr gerichtet. Laut Rule war die Kupferkopfschlange in den heißen Monaten nachtaktiv.

Die Bäume hatten den Highway hinter ihnen bereits verschluckt, als Deacon das Wort ergriff. »Ich nehme an, dass Sie die Toten berührt haben.«

»Nur die oben aufliegende. Ich habe nichts am Fundort verändert.« Der Anblick, der sie dort erwartet hatte, war der schrecklichste gewesen, der sich ihr je an einem Einsatzort geboten hatte. Nur der Büstenhalter, der an den abgenagten Knochen und stinkenden Fleischfetzen hing, hatte noch darauf hingedeutet, dass es sich um eine Frau handelte. »Warum wollen Sie unbedingt die Leichen sehen, Sheriff?« Sie hatte ihm von den Hunden erzählt. Wollte er ihr beweisen, wie zäh er war, indem er höchstpersönlich in Augenschein nahm, was sie übrig gelassen hatten?

Er tat, als habe er ihre Frage nicht gehört. »Wenn Sie etwas berühren, spüren Sie, ob ihm Magie anhaftet.«

»Richtig. Magie fühlt sich für mich an wie ein Stoff.«

»Warten Sie.«

Lily drehte sich um. Da sie den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet hatte, konnte sie sein Gesicht in der Dunkelheit nur schwer erkennen. Aber die blasse Haut seiner ausgestreckten Handfläche sah sie deutlich.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie mich etwa auf die Probe stellen?« Nun, warum nicht? Sie nahm seine Hand.

Sofort setzte das Kribbeln von Magie ein. Verwirrt hielt sie seine Hand länger als beabsichtigt, runzelte die Stirn und versuchte zu benennen, was sie empfand … glatt, sehr glatt und die Oberfläche wie … ein Gummiball. Ein schwaches Pulsieren, als würde die Magie von etwas angezogen … »Sie haben eine Gabe«, sagte sie schließlich und ließ seine Hand fallen, »aber ich kann nicht sagen, welche. Es hat jedenfalls mit Wasser zu tun. Irgendeine Art von Zauber liegt darüber. Unterdrückt sie vielleicht auch.«

Nach einem Moment murmelte er: »Offenbar wissen Sie, was Sie tun. Das hat bisher noch niemand herausgefunden. Niemand.«

»Wollen Sie mir sagen, welche Gabe Sie haben?«

Er war unsicher. Das erkannte sie an seinem Zögern, wenn auch nicht in seinem Gesicht, das immer noch im Dunkeln lag. Aber endlich sagte er: »Empathie.«

Sie hob die Augenbrauen. Er sprach nicht von physischer Empathie. Das war eine Erdgabe und damit sehr selten. Nein, seine Gabe war die emotionale Empathie – die gängiger war und weniger beliebt. Mit schwach ausgeprägter Empathie konnte man gut klarkommen, solange man große Menschenansammlungen mied. Eine starke Gabe wie die von Deacon konnte einem das Leben zur Hölle machen.

»Das ist eine Gabe, die für jeden schwer zu ertragen wäre«, sagte sie, »aber für einen Cop … Sie scheint überdeckt worden zu sein.«

»Ich habe sie von einem Zauber blockieren lassen.«

»Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist.«

»Meine Großmutter hat es vor einigen Jahren gemacht. Sie, äh …, sie kennt sich damit aus. Ihr Urgroßvater war Schamane und hat einiges von seinem Wissen weitergeben.«

Lily nickte und wandte sich um, um weiter durch das Dickicht voranzugehen. »Ich habe eine Freundin, die mit afrikanischen Traditionen arbeitet. Sie wäre sicher an diesem Zauber interessiert, wenn Sie bereit wären, ihn ihr zu verraten.«

»Vielleicht. Kommt drauf an. Ich müsste sie erst kennenlernen.«

Auch wenn seine Gabe von einem Zauber überdeckt war, bekam er sicher immer noch einen Eindruck von anderen Menschen. Lily verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Ihr fiel ein, wie feindlich er sich ihr gegenüber gezeigt hatte. Das sprach nicht gerade für sie. »Hat der Zauber seit der Wende Probleme bereitet? Seitdem die Magie angestiegen ist?«

»Ich muss ihn öfter erneuern. Mehr nicht. Sie hatten damit zu tun, nicht wahr? Mit der Wende und den Drachen und so weiter.«

»Mit den Drachen zumindest.«

Er blieb stehen und starrte sie an. »Dann stimmt es also?«