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© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Inka Vigh
Umschlagillustration: Inka Vigh
Vignetten und Vorsatz: Inka Vigh
TP · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22275-8
V002
www.cbj-verlag.de
PROLOG AM KÜCHENTISCH
Eins zu 200 Millionen – so hoch ist die Wahrscheinlichkeit, als eineiiger Drilling geboren zu werden. So betrachtet dürfte es Franka von Trablinburg also gar nicht geben.
Aber es gibt sie. Falsch: Es gibt sie alle drei.
Solange Franka denken kann, gibt es sie gleich dreimal auf der Welt. Einmal in zart und schön – das ist Bella. Dann gibt es sie in 200 Millionen Mal schlauer als alle anderen – das ist Vicky.
Und dann gibt es Franka. Nachdem bei Bella und Vicky alles Spektakuläre schon aus war, hatte es für sie nur noch eine Eigenschaft gegeben.
Nett.
Kennt ihr den Ausdruck: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße? Was so viel heißt, dass man sich als Nette sowieso gleich ins Klo runterspülen kann.
Wie Franka es in diesem Moment hasst, immer so scheiß-nett zu sein! Denn es ist scheiß-unbequem in dem Doppelbett, in das sie sich zu dritt quetschen. Franka liegt in der Mitte, dort wo die Matratzen auseinander driften. Der Spalt unter ihrem Bauch ist bestimmt schon so breit, dass ein halber Fuß hineinpasst. Ihr Zeh kratzt am Lattenrost.
Warum hat sie nette Idiotin sich nur schon wieder überreden lassen, in der Mitte zu schlafen? Als sie das erste Mal hier übernachtet haben, haben sie abgemacht, dass sie sich abwechseln würden. Aber Vicky, die eigentlich dran gewesen wäre, hat Franka bequatscht, sie hätte schon gestern so schlecht geschlafen, und so weiter und so weiter …
Pff, jetzt liegt sie rechts neben Franka und ihr Ellenbogen verpasst der Schwester gleich einen Kinnhaken, wenn sie noch mal zuckt. Franka rückt ab, soweit es eben geht, ohne den Spalt unter sich noch mehr zu vergrößern. Isabella, oder wie sie die Trablinburgs nennen: Bella, die Schöne, hat sich gar nicht erst an der Diskussion beteiligt. Sie ist erst morgen dran und sowieso gewohnt, dass sich die Welt für sie nur zum Besten fügt. Genau in diesen Momenten wäre Franka lieber mit der Chance 1:3 als Einzelkind auf die Welt gekommen. Und nicht als nette dritte Schwester von zwei Ego-Tanten.
Und so liegt sie schlaflos in der klaffenden Besucherritze, wo sich unter ihr ein gefährlicher Krater immer breiter auszudehnen scheint. Unter ihr brodelt ein Vulkan, Feuermassen schieben sich durch die Felsspalte, sie züngeln am Rand nach oben, gleich greifen sie auf das Bettuch über … Die ganze Matratze scheint zu beben.
Momentchen, sie scheint nicht nur. Die Matratze bebt tatsächlich. Von links kommt ein deutliches Zittern. Franka lauscht ins Dunkel. Hören kann man nichts. Aber fühlen, ohne jeden Zweifel. Bella!
»Weinst du?«, flüstert Franka nach links. Es ist mehr ein Hauchen, so leise, dass sie selbst es kaum zu hören vermag, hauchleise, damit Vicky nicht gestört wird. Auch wenn Bella die Frage mehr ahnen als wahrnehmen wird, hat ihre Schwester sie bestimmt gehört. Ein Schluchzen antwortet ihr. Auch das kaum mehr als ein Ausatmen.
Franka atmet ebenfalls aus, sachte, verhalten. Zum Glück kann Bella nicht sehen, wie sie ihre Augen dabei zusammenkneift. Wenn eine von den beiden anderen Drillingen weint, geht Franka immer als Erste k. o. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wird sie angesteckt. Schlimmer noch: Bereits wenn einer von ihnen zum Heulen zumute ist, weint Franka manchmal schon, bevor bei der anderen überhaupt die erste Träne kullert. Irgend so ein dusseliger Reflex, den sie einfach nicht steuern kann.
Deshalb ist sie gerade hin- und hergerissen: Bella beistehen und Gefahr laufen, mit ihr um die Wette zu schluchzen? Oder lieber stillhalten?
Nein, stillhalten geht nicht. Nicht, wenn es einer ihrer Schwestern schlecht geht. Und so robbt sie sich millimeterweise über den klaffenden Matratzenspalt hinweg hinüber zu Bella. Weil Vicky mit ihrem sensiblen Schlaf nicht aufwachen soll, schiebt sich Franka direkt an Bellas Ohr.
»Was ist los?«, haucht sie hinein. Bellas Antwort ist kaum mehr als ein Luftzug: »Ich mag hier nicht mehr sein.«
»Verstehe«. Sofort muss Franka den Kloß im Hals runterwürgen, der auf die Tränendrüse drückt. »Ich habe auch Heimweh.«
»Franka, das ist mehr als Heimweh«, wehrt sich Bella. »In diesem Kaff ist alles Scheiße.« Ein neuerlicher Weinkrampf lässt Bella beben. Aus Rücksicht auf Vicky hat sie ihr Gesicht im Kissen verborgen, was jedes Geräusch dämpft. Es fehlt nicht viel und Franka wird ebenso ein Kopfkissen brauchen. Trotzdem schafft sie es, ihre Hand in Bellas Nacken zu legen und durch die langen Haare zu wühlen. Wenn man sie am Haaransatz krault, beruhigt sie sich meistens.
In der Tat scheint Bella langsam zur Ruhe zu kommen. Das Beben schwächt sich ab. Man hört nichts weiter als ihren regelmäßigen Atem und ein regelmäßiges Plopp, mit dem die Tränen von Frankas Nase aufs Laken tropfen.
Es geht eine ganze Weile so, und just, als sie denkt, Bella würde wieder einschlafen, hört Franka ein kurzes Hauchen an ihrem Ohr: »Machst du mir einen Trost-Kakao?«
Weil Franka zu dusselig nett ist und einer armen, leidenden Schwester nichts abschlagen kann, sitzen beide bald in der fußkalten Küche, Bella auf einem Hocker, Franka auf einem Hocker am Herd, während sie die Milch mit einem Löffel in Bewegung hält, damit sie nicht anbrennt oder sich eine eklige Haut bildet. Mit der Maschine Milch zu schäumen wäre jetzt zu laut.
»Ist doch wahr«, wettert Bella nun in Zimmerlautstärke. »In diesem Kaff ist alles Scheiße. Es ist überhaupt nix los hier. Hier gibt’s kaum jemanden in unserem Alter, es gibt keine ordentlichen Läden, kein Kino, kein Schwimmbad, nicht mal einen Bioladen. Außerdem ist der Handyempfang total grottig.«
Franka weiß, was ihre Schwester meint. Seit sie nach Deininghofen gezogen sind, ist nichts mehr, wie es war. Seit Mama diese Villa geerbt hat. Die heruntergekommene, staubige, knarzende Villa, die keiner haben mag außer ihr. Von den Drillingen keiner, Oma Eleonore und der coole Onkel Flo schon mal gar nicht. Nur Mama Babs, die sie mit ihrer Blödsinnsidee von einem Bio-Hotel allesamt in die tiefste Provinz verfrachtet hat.
Deininghofen – klingt das nicht schon wie Dein-Ding-Hofen? Denkt Franka. Jedenfalls ist das alles nicht ihr Ding hier. Nicht Bellas. Nicht Vickys. Und nicht ihres.
In der Stadt hat jede ein kleines, aber egal – ein eigenes – Zimmer gehabt! Hier müssen sie inmitten einer riesigen Baustelle schlafen – in einem viel zu engen Doppelbett. Alles ist staubig, ranzig, alt.
Zu Hause sind es nur zwei Querstraßen bis zur Schule gewesen. Hier müssen sie eine halbe Weltreise mit dem Bus unternehmen, um in die neue Klasse zu kommen. Morgen geht es los in ihrer Provinzschule, da wo der Pfeffer wächst. Wahrscheinlich schreiben die da noch auf Wachstafeln!
Und wahrscheinlich gibt’s am Kiosk auch nur die gleiche blöde Schokolade wie hier im Supermarkt – mit viel zu hohem Milchzuckeranteil und ohne Fairtrade-Siegel. Wie gut, dass Franka sich Vorräte angelegt hat, weil sie schon ahnte, dass sie hier viele, viele, viele von ihren Trost-Kakaos würde zubereiten müssen.
Franka stülpt aus den umfunktionierten Cupcake-Formen zwei Schokowürfel heraus. Erst gestern hat sie eine neue Kakaomischung ausprobiert. 70 Prozent Valrhona-Schokolade, ein Klecks Sahne – mit einem Hauch Zimt. Und Bella bekommt noch eine Umdrehung Kardamom aus der Mühle oben drauf.
Auch wenn es tröstlich aus ihren Tassen dampft, hängen ihre Köpfe nur traurig darüber. Bella braucht nichts zu sagen, Franka versteht ihren Kummer auch so. Über ihnen ermahnt sie mit jedem Ticken Tante Gerdas alte Küchenuhr, wie spät es schon ist.
Da geht plötzlich mit lautem Quietschen die Eichentür auf. Franka sieht zuerst die blaue Brille, dann ein Blinzeln und dann die langen aschblonden Haarstrubbel.
»Vicky!«
»Ich kann nicht schlafen – wenn niemand da ist. Da fühle ich mich allein.« Vickys Blick fällt nahezu sofort auf die Tassen in den Händen ihrer Schwestern.
»Krieg ich auch einen?«
Franka ist so nett und schiebt ihr die eigene Schoko-Zimt-Tasse rüber, die Vicky gleich zur Hälfte leert.
»Wir haben Heimweh«, erklärt Franka ihrer anderen Schwester. »Deswegen sind wir aufgestanden.«
Vicky schluckt und nickt. »Ich auch.«
Mit den Köpfen aneinandergelehnt – jede berührt die Stirn der anderen – starren sie zu dritt in die köstlichen Kakaos. Ab und an nimmt jede einen wohligen Schluck daraus, egal aus welcher Tasse. Sie teilen immer alles, was sie haben. Niemand sagt was, dennoch atmen, seufzen und ticken sie alle drei gleich wie die uralte Küchenuhr über ihnen.
Bis schließlich Vicky die mahnenden Zeiger nicht mehr aushält: »Wir sollten wieder ins Bett zurückgehen. Hier bekommt man doch nur kalte Füße.«
»Okay, aber jetzt schläfst du in der Mitte! Du bist dran«, sagt Franka.
»Spinnst du jetzt?«
200 Millionen zu eins – dass Franka wieder nachgeben wird?