Buchinfo

Doppelter Lesespaß für Pferdefans:

»Fliegen wie Pegasus«:

Ganz oben auf der Siegerstraße ist er – Pegasus, das Springwunder. Und plötzlich der Sturz. Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders: Der Wallach ist nicht mehr als seinen Fleischpreis wert. Doch dann rettet eine völlig andere Eigenschaft dem ehemaligen Turnierpferd das Leben, denn Pegasus versteht es, auf die Bedürfnisse behinderter Kinder einzugehen.

»Gigant«:

Ohrenbetäubender Lärm. Sirenengeheul. Dichter Rauch, der dem Pferd die Sicht nimmt. Doch Gigant bleibt ruhig. Das Polizeipferd und seine Reiterin Antonia sind ein eingeschworenes Team, das in gefährlichen Situationen perfekt funktioniert. Und sich aufeinander verlassen kann.

2 Romane über außergewöhnliche Pferde

Autorenvita

© Axel Schulten

Astrid Frank wurde 1966 in Düsseldorf als Tochter des Schriftstellers Karlhans Frank geboren, wodurch sie sich schon in frühester Kindheit mit dem Verlagswesen konfrontiert sah. Trotzdem führte sie ihr Weg bereits während ihres Studiums der Germanistik, Biologie und Pädagogik in die gleiche Richtung: Sie war als Lektorin und Rezensentin in mehreren und für mehrere deutsche Verlage tätig und machte außerdem eine Ausbildung zur »Zoobegleiterin des Kölner Zoos«. Nach dem Studium arbeitete sie für ein halbes Jahr in einer Buchhandlung und beleuchtete das Medium Buch damit von einer weiteren Seite. Seit 1996 ist sie freie Lektorin und Übersetzerin, seit 1998 schreibt sie Geschichten (für Kinder). Astrid Frank lebt mit Mann, zwei Söhnen und Hund Aimee in Köln.

Für D. & F.

Prolog

Wenn ich ihn nach Italien verkaufe, krieg ich das Doppelte!«

Fina konnte ihr Entsetzen nicht verbergen. Pegasus zwölf Stunden und mehr mit Dutzenden anderer Pferde in einem Schlachtviehtransporter? Und das in seinem Zustand? Um am Ende ausgemergelt und halb verdurstet, mit blutigen Bisswunden und Tritten, die sich die panischen Tiere in der Enge des Transporters gegenseitig zufügten, geschlagen und mit Elektroschocks voran zur Schlachtbank getrieben zu werden? Wenn er dann überhaupt noch lebte!

»Also gut. Ich gebe Ihnen tausend Euro. Mehr bekommen Sie nirgends für ihn.« Sie widerstand dem Drang, aus Angst vor seiner Antwort die Augen zu schließen. Wenn er jetzt nicht nachgab, dann konnte sie nichts mehr für Pegasus tun. Dann war er verloren. Dann hatte sie den Weg hierher umsonst gemacht.

»Ich glaub, da schick ich ihn lieber nach Italien.«

»Zwölfhundert. Mein letztes Wort.« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen. Hatte sie das wirklich getan? Hatte sie ihm tatsächlich zwölfhundert Euro geboten? Wo sollte sie bloß auf die Schnelle so viel Geld auftreiben? Bauer Preuß würde ihr das Tier wohl kaum überlassen, wenn er nicht jeden Schein, den sie ihm zugesagt hatte, sofort in Händen hielt! Und selbst wenn sie es schaffte! Was kam dann? Was sollte sie überhaupt mit Pegasus anfangen, wenn Preuß sich auf den Handel einließ? Es war schließlich nicht damit getan, Pegasus freizukaufen. Er war krank, brauchte dringend tierärztliche Behandlung, eine Unterkunft und Futter. Finas Gedanken überschlugen sich, während sie auf die Antwort des Bauern wartete.

Preuß ließ sich viel Zeit. Er schien die Vorteile und Nachteile des Geschäfts sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Es war nicht zu übersehen, dass diese Frau an dem Tier hing. Und er wollte so viel wie möglich herausholen. Bei einem solchen Familiennamen musste die Frau ja Geld haben – mit von Essen hatte sie sich vorgestellt. Und sie konnte einem armen, einfachen Bauern wie ihm, der hart für seinen Lohn schuften musste, ruhig etwas davon abgeben. Außerdem gefiel ihm die Rolle des Stärkeren. Und das Tier hatte ausgedient. Es war nicht mehr wert als den Fleischpreis. So, wie’s aussah, kam Pegasus sowieso nie wieder auf die Beine.

Auf der anderen Seite wäre er ganz schön dumm, wenn er sich das Geld entgehen ließe. Und ihm konnte es schließlich egal sein, ob sich das Leiden des kranken Tieres weiterzog. Wenn diese Verrückte das wertlose Pferd unbedingt wollte – bitte, warum sollte er es ihr nicht geben?

Aber was würde Franz sagen? Der Schlachter war schon auf dem Weg hierher. Er würde Zeter und Mordio schreien, wenn der Wallach nicht mehr da und er umsonst zu ihm herausgekommen wäre. Und wenn er ihm eine Gewinnbeteiligung anbot? Vielleicht hundert Euro?

»Dreizehnhundert«, feilschte Preuß. Denn die zwölfhundert, die Fina ihm geboten hatte, betrachtete er bereits als sein Eigentum. Er war nicht bereit, davon auch nur einen Cent wieder abzugeben. Dann sollte der lahme Gaul lieber verrecken.

Fina hielt die Luft an. Sie wusste schon nicht, woher sie zwölfhundert Euro nehmen sollte. Und jetzt noch einmal hundert mehr? Unwillkürlich krampfte sich ihre Hand um das Bündel Geldscheine in ihrer Hosentasche zusammen. Sie hatte nur fünfhundert dabei. Das war die Summe, mit der sie gerechnet hatte. Wo sollte sie die restlichen achthundert Euro auftreiben? So schwer hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein! Glaubte er wirklich, sie wäre so dumm sich von ihm derart über den Tisch ziehen zu lassen? Einen Augenblick lang überlegte sie zu pokern und Desinteresse zu heucheln. Vielleicht sollte sie sich einfach umdrehen und gehen? Sie hatte schließlich alles getan, was in ihrer Macht stand, um Pegasus zu retten. Ihre Möglichkeiten waren erschöpft. Mehr als erschöpft sogar.

Preuß spürte ihre Unsicherheit. Er sah ihren funkelnden blauen Augen an, dass die Frau ihm am liebsten den Hals abgedrückt hätte. War er zu weit gegangen? Vielleicht hätte er sich mit den zwölfhundert zufrieden geben sollen? Wäre das okay, wenn sie sich jetzt einfach umdrehte und ginge? Oder würde er sich dann ärgern? War es ihm die Genugtuung, das Pferd sterben zu sehen und der Frau ihren Willen zu verweigern, wirklich wert, auf so viel Geld zu verzichten? Siebenhundert Euro waren schließlich kein Pappenstiel! Er konnte davon den alten Traktor noch einmal reparieren lassen.

Das schmerzerfüllte Wiehern eines Pferdes unterbrach ihr Kräftemessen. Die wässrig blauen Augen des Bauern lösten sich von den türkisfarbenen der jungen Frau und beide blickten gleichzeitig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Fina spürte, wie sich die feinen Haare an ihren Unterarmen bei dem Laut aufstellten. Erst das Brummen eines Motors half ihr, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und wie auf ein geheimes Kommando wandten sich die beiden Kontrahenten in seltsamer Einigkeit wieder um und sahen dem Wagen des Schlachters entgegen, der in diesem Augenblick auf den Hof einbog.

Niemals sollen die Menschen so weit sich vergessen

und die lebende Kreatur behandeln wie alte Schuhe

und abgenützte tote Geräte, die sie fortwerfen mögen,

wenn sie nicht mehr zu gebrauchen sind.

Wir sollen es nicht tun

und uns niemals bei alten lebendigen Wesen

nach dem Nutzen fragen,

den sie nur schwach oder gar nicht mehr haben.

Wir sollen sie behalten, und sei es auch nur,

um daraus Barmherzigkeit gegen Menschen zu lernen.

Ich würde kein altes Pferd und keinen alten Ochsen,

der sich einmal für mich geplagt hat, verkaufen können.

Plutarch (griechischer Schriftsteller und Philosoph, 45–125)

1

Ein klassischer Fehlalarm.« Der Tierarzt Dr. Strauch sammelte seine Untersuchungsinstrumente ein. Er lächelte Fina mit seinem typischen schiefen Grinsen wohlwollend und tröstend an.

Augenblicklich hatte die junge Frau das Bild eines kleinen, schelmischen Jungen vor Augen, der jemandem erfolgreich einen Streich gespielt hat und sich darüber freut. Dabei war Dr. Strauch achtundzwanzig!

Herr Lothrop, der Besitzer des Gestüts, schnaubte. Sein Schnauben klang alles andere als wohlwollend oder tröstend.

Fina senkte den Blick und starrte auf den sorgfältig mit Stroh ausgepolsterten Stallboden. Von Hunden und ihren Besitzern sagt man, dass sie sich im Lauf der Zeit immer ähnlicher werden. Galt das auch für Menschen, die mit Pferden zu tun hatten?

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Dr. Strauch und legte Fina eine Hand auf die Schulter, während er sich an ihr vorbei zur Boxentür drängte. »Der Stute geht es gut. Es ist alles in Ordnung.« Seine Berührung hatte nicht die beruhigende Wirkung, die sie vielleicht haben sollte.

Fina nickte stumm. Sie war sich hundertprozentig sicher gewesen, dass Fleurie kurz vor der Niederkunft stand. Bewegungslos wartete sie, bis der schlaksige, junge Arzt und ihr korpulenter Chef, dem alles Schlaksige im Verlauf seiner sechsundfünfzig Lebensjahre abhanden gekommen war, den Abfohlstall verlassen hatten. Herr Lothrop warf ihr im Vorübergehen einen missbilligenden Blick aus seinen kleinen Schweinsaugen zu. Auch ohne diesen Blick war Fina bewusst, dass sie, die beste Bereiterin des international erfolgreichen Züchters, ihn enttäuscht hatte.

Die Kirchturmuhr schlug gedämpft. Mitternacht. Fina überprüfte noch einmal Einstreu und Tränke. Natürlich war alles in Ordnung. Mit einem letzten skeptischen Blick auf Fleurie, die unbeteiligt dastand und ihr gelangweilt hinterherschaute, schloss sie die Boxenklappe hinter sich.

Kaum hatte sich die Stalltür zugezogen, stöhnte die Stute leise. Ihre Flanken vibrierten. Fleurie wandte den Kopf und hob den Schweif. Sie drehte sich einige Male im Kreis wie ein Hund, der eine bequeme Schlafposition sucht, dann sank sie zu Boden.

Fina wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Es lag nicht nur an der ungewohnt weichen Matratze im Gästezimmer des Gestüts oberhalb des neuen Stalls, dass sie keinen Schlaf fand. Immer wieder kontrollierte sie den Wecker, der sie in einer Stunde daran erinnern sollte, nach Fleurie zu sehen. Obwohl Dr. Strauch behauptet hatte, die Geburt würde mindestens noch vierundzwanzig Stunden auf sich warten lassen, wollte Fina sichergehen, dass mit der Stute wirklich alles stimmte. Warum musste auch ausgerechnet heute der Geburtsmelder spinnen?

Fina knipste das Licht an und starrte auf den Wecker. Sie verfolgte, wie die einzelnen Sekunden verstrichen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Eine Minute schien ewig zu dauern.

Cäsar, Finas Mischlingshund, der vor dem Bett lag, grunzte missmutig und drehte ihr demonstrativ den Rücken zu.

Vielleicht hat er recht, dachte Fina, und ich sollte versuchen, etwas zu schlafen.

Fleurie zitterte vor Anstrengung. Sie war schweißüberströmt. Ihre Augen traten hervor, während ihr Körper von der Austreibungswehe erfasst wurde. Als die Wehe abklang, hob sie den Kopf und versuchte neugierig einen Blick auf die Vorderbeine des Fohlens zu erhaschen, die bereits zwischen ihrem Schweif zu sehen waren, bevor der Schmerz der nächsten Wehe sie zwang, sich wieder zurückzulehnen.

Der Atem des Pferdes ging schwer. Seine Nüstern weiteten sich und zogen sich wieder zusammen, als der Wehenschmerz erneut von ihm Besitz ergriff. Aber dies war nicht das erste Fohlen, das die Stute zur Welt brachte. Sobald der Schmerz für einen Augenblick nachließ, wandte sich Fleurie zum wiederholten Mal um und betrachtete zufrieden den Kopf des Fohlens, der mittlerweile, auf den Vorderbeinen ruhend, auf dem Stroh lag. Ein letztes Aufbäumen und der Körper des neugeborenen Pferdes glitt auf den Stallboden. Die Eihülle war bereits zerrissen und gab den Blick auf das vom Fruchtwasser glänzende fuchsfarbene Fell frei. Der kleine Hengst war kräftig und agil. Obwohl seine Hinterbeine noch von der Fruchthülle umschlossen wurden, versuchte er schon, den Oberkörper aufzurichten.

Auch Fleuries Kräfte kehrten nach der anstrengenden Geburt erstaunlich schnell zurück. Sie streckte ihrem Sohn den Kopf entgegen und beschnupperte ihn zärtlich. Mit ihrer Zunge fuhr sie über sein Fell und stupste ihn aufmunternd mit der Nase an.

Entschlossen schlug Fina die Decke zurück. Sie hielt es nicht länger aus, hier herumzuliegen und gegen den Impuls anzukämpfen, nach Fleurie zu sehen. Der Wecker würde erst in vier Minuten klingeln, aber warum sollte sie die ganze Zeit auf die Uhr starren, während sie spürte, wie ihre Nervosität und ihre Unruhe von Sekunde zu Sekunde wuchsen!

»Komm, Cäsar«, forderte sie den Hund auf, der mit einem Schlag hellwach war und seiner Herrin zur Tür folgte. Die junge Frau schlüpfte in ihre Gummistiefel und band mit beiden Händen ihr langes, dunkles Haar zu einem Knoten zusammen.

Cäsar stand schwanzwedelnd vor der Tür und wartete darauf, dass Fina sie für ihn öffnete. Er liebte es, mit ihr in den Stall zu gehen. Er mochte den Geruch der Pferde und genoss ihre Gesellschaft. In dieser Hinsicht ähnelte er sehr seiner Herrin, die sich nur in der Nähe dieser majestätischen Tiere richtig wohlfühlte. Bei Menschen – vor allem bei jungen Männern wie Dr. Strauch – verspürte Fina nie diese Ausgeglichenheit und allumfassende Zufriedenheit. Menschen machten sie meistens nervös und unsicher. Im Gegensatz zu Pferden wusste sie bei ihnen nie so recht, wie sie mit ihnen umgehen sollte.

Die Luft war klar und frisch. Über den Ställen lag eine ungewöhnlich friedliche Stille, als die junge Frau die wenigen Meter zum Abfohlstall über das Gelände schritt. Auf der leeren Weide zirpten einige Grillen und irgendwo am Dorfrand heulte ein Hofhund. Der plötzliche Schrei einer Eule kam Fina vor wie der Auftakt zum Finale eines Horrorfilms. Es fehlte nur noch ein Schwarm Fledermäuse. Fröstelnd kreuzte sie die Arme vor ihrer Brust und versuchte, in der Dunkelheit Cäsar im Auge zu behalten, der mit der Nase über dem Boden aufgeregt den Wegesrand beschnupperte. Nicht dass er die Witterung eines Kaninchens aufnahm und sie die restliche Nacht damit zubringen musste, ihren Hund zu suchen! Das hätte gerade noch gefehlt!

Im Abfohlstall war es angenehm warm. Sobald Fina der vertraute Geruch von frischem Stroh und Pferd in die Nase stieg, fiel ein Teil der Unruhe von ihr ab. Doch vor Fleuries Box blieb sie wie angewurzelt stehen.

Von Fleurie war nichts zu sehen. Die Stute musste sich hingelegt haben. Das war der Moment, in dem Fina wusste, welcher Anblick sie erwartete, wenn sie in dem schummrigen Licht der Notbeleuchtung in die etwa zwanzig Quadratmeter große Box blicken würde.

Das Fohlen wollte soeben aufstehen. Es stemmte die Vorderbeine auf, aber sie rutschten immer wieder zur Seite weg. Fleurie unterstützte die Versuche ihres Kindes mit antreibenden Nasenstübern. Jetzt wandte sie sich zu Fina um und als sie die Bereiterin erkannte, mühte sie sich schwerfällig auf die Beine. Sie sah die junge Frau an, als wollte sie sagen: Na, wie habe ich das gemacht? Ist er nicht ein Prachtkerl?

Fina lächelte zustimmend zu dieser unausgesprochenen Frage und betrachtete ehrfürchtig das Wunder des Lebens. Vor nicht einmal zwei Stunden hatte diese Stute den Tierarzt und den Besitzer des Gestüts glauben gemacht, die Geburt würde sich verzögern, und nun stand hier ein kerngesundes und offenbar äußerst lebhaftes, kleines Pferd vor ihr, das in diesem Augenblick entdeckte, wie es seine Beine sortieren musste, um darauf zu stehen. Mit unsicheren Schritten, mehrmals noch das Gleichgewicht verlierend, stolperte der kleine Hengst auf seine Mutter zu und suchte instinktiv nach der Milchquelle.

Fina empfand keine Genugtuung, dass sie recht behalten hatte. Sie war einfach unendlich erleichtert, weil die erfahrene Zuchtstute ihr Fohlen auch ohne menschliche Hilfe gesund zur Welt gebracht hatte. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können! Jetzt war es Dr. Strauch, der sich von Herrn Lothrop eine Standpauke anhören konnte. Der arme Kerl tat ihr jetzt schon leid.

Herr Lothrop hatte den Deckhengst für seine beste Stute sorgfältig ausgewählt und weder Kosten noch Mühen gescheut. Poseidon, der Vater des kleinen Hengstes, galt als das Springtalent der vergangenen Jahre. Der Hannoveraner war schon zu Lebzeiten so etwas wie eine Legende und Herr Lothrop setzte dementsprechend große Erwartungen in seinen Nachkommen. Der Gestütsbesitzer würde glücklich sein zu erfahren, dass sein Wunsch nach einem männlichen Tier in Erfüllung gegangen war.

Apropos! Fina sah auf ihre Armbanduhr. Sollte sie Herrn Lothrop jetzt anrufen und informieren? Dr. Strauch musste ebenfalls noch einmal einen Blick auf den kleinen Kerl werfen, der inzwischen äußerst geschickt das Euter seiner Mutter gefunden hatte. Doch das Saugen der wertvollen Kolostralmilch strengte das Fohlen noch sehr an. Bereits nach wenigen Minuten hatte es genug und legte sich hin.

Behutsam betrat Fina die Abfohlbox, stets darauf bedacht, sich nicht zwischen Fleurie und ihr Neugeborenes zu stellen. Mit der bereitgelegten Schnur band sie Eihaut und Nabelschnur hoch, damit Fleurie nicht darauf treten konnte, bis die Nachgeburt abgegangen war.

Fleurie begrüßte sie freundlich und Fina pustete ihr sacht in die Nüstern und krabbelte ihren Hals. »Das hast du prima gemacht, altes Mädchen«, lobte sie die Stute.

Das Fohlen beäugte die junge Frau zugleich misstrauisch und neugierig und Fina achtete darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen, um es nicht zu erschrecken. Sie würden noch genug Zeit haben, sich miteinander vertraut zu machen.

2

Fina genoss während ihrer Mittagspause den Ausblick vom Hügel am Rand der Koppeln. Am Horizont erstreckte sich eine Bergkette unter den watteweichen weißen Wolken, die wie gemalt am strahlend blauen Himmel hingen. Das Gras wirkte beinahe unecht, so grün und saftig war es, und das Wasser des nahe gelegenen Sees leuchtete blau wie selten. Manchmal kam es Fina vor, als spiegelte dieser See ihre eigene Stimmung wider. Es gab Tage, da erschien ihr das Wasser bräunlich grau und schmutzig – trübsinnig wie seine Betrachterin. An anderen Tagen, so wie diesem, flimmerte es in intensivem Blau, bei dessen Anblick man einfach gute Laune bekommen musste.

Auf der großen Koppel inmitten dieser Idylle tummelte sich ein Dutzend Pferde. An ihren Positionen zueinander konnte Fina die Tiere identifizieren. Arktis, die Leitstute, stand etwas abseits von den anderen. Sie wedelte unwillig mit dem Schweif, als ihr eins der übrigen Pferde zu nahe kam. Donja und Angelina steckten wie immer ihre Köpfe zusammen. Aus der Entfernung sah es fast so aus, als tuschelten die beiden miteinander. Gina wälzte sich an ihrem Lieblingsplatz und Dominik versuchte seinen Mädels zu imponieren, indem er im kraftvollen Trab am Weidezaun auf- und abpreschte und zwischendurch übermütige Luftsprünge vollführte.

Finas Blick glitt weiter zur kleineren Nachbarkoppel, auf der Fleurie und eine weitere Stute gemeinsam mit ihren Fohlen die Mittagssonne genossen. Fleurie graste friedlich und zeigte sich vom Treiben der anderen Pferde ebenso unberührt wie die zweite Stute, Deborah, mit ihrer Tochter. Der kleine Hengst jedoch stand steifbeinig in der Nähe des Zauns und beobachtete Dominik interessiert. Er schien von dem siebenjährigen Wallach fasziniert zu sein. Jedes Mal, wenn Dominik an ihm vorbeitrabte, legte das Fohlen den Kopf schief und verfolgte den Wallach mit Blicken.

Während Dominik zum wiederholten Male am Ende der Koppel abrupt wendete und zurückstürmte, ging ein Zucken durch den kleinen Pferdekörper. Als der Wallach mit dem Fohlen auf gleicher Höhe war, konnte es sich nicht länger beherrschen: Es rannte mit Dominik mit, an seiner Seite des Zauns, und vollführte fast im gleichen Moment wie das ältere Tier einen übermütigen Luftsprung.

Fina blieb vor Verwunderung der Mund offen stehen. Das Fohlen strotzte vor Energie und Lebensfreude. Sein Absprung war so kraftvoll und dynamisch, wie die junge Frau es bislang nur bei weitaus älteren Fohlen gesehen hatte. Fast schien es zu fliegen, so lange blieb es in der Luft. Es streckte den Hals weit vor und zog die Vorderhand dicht an den Körper, als gelte es, ein Hindernis zu überwinden. Fina schüttelte unwillkürlich den Kopf. Der Kleine sprang, als hätte er bereits heimlich trainiert. Sie konnte sich nicht erinnern bei einem rohen Pferd jemals eine so akkurat ausgeführte und kaum verbesserungswürdige Springtechnik gesehen zu haben.

»Ich wusste es doch. Pegasus ist ein Naturtalent!«

Die raue Stimme ließ die Bereiterin zusammenfahren. Immer wieder wunderte sie sich, wie ein schwergewichtiger Mensch wie Herr Lothrop sich so behände bewegen konnte, dass man ihn nicht kommen hörte. Aber vermutlich prägte eine so außergewöhnliche Reiterkarriere wie seine ein Leben lang. Auch wenn im Lauf der Zeit etliche Kilos das einstige Körpergefühl regelrecht zu erdrücken drohten.

Sie wandte sich ihrem Chef zu und betrachtete sein Profil, während er mit einem gewissen Vaterstolz auf den kleinen Hengst hinunterblickte. Es gab einiges, was sie an diesem Mann auszusetzen hatte. Er konnte arrogant, engstirnig und verbohrt sein. Aber eins konnte ihm gewiss niemand absprechen: Er kannte sich mit Pferden aus wie kein Zweiter. Und er würde für seine Schützlinge alles tun. Andererseits hatte sie in den letzten Jahren zunehmend das Gefühl bekommen, dass er immer profitorientierter wurde und die Anerkennung in der Branche mittlerweile für ihn mehr zählte als das Wohlbefinden seiner Tiere. Das war einmal anders gewesen. Aus diesem Grund hatte sie sich vor zehn Jahren, mit siebzehn, dafür entschieden, ihre Ausbildung auf dem Gestüt Lothrop zu machen und nirgendwo sonst. Aber nicht nur Herr Lothrop hatte sich in dieser Zeit verändert, sondern auch sie selbst.

Werner Lothrop schien sich nicht daran zu stören, dass Fina ihm nicht antwortete. Er hörte sich sowieso am liebsten selbst reden. Ohne Fina anzusehen, fuhr er fort: »Es wird Zeit, ihn abzusetzen.«

Fina runzelte die Stirn. Sie war es gewohnt, dass ihr Chef und sie selten einer Meinung waren. Doch sie wusste von seiner Bereitschaft, sich von ihrer Sicht überzeugen zu lassen, wenn die Argumente stimmten. »Ich glaube, er braucht noch ein paar Wochen«, widersprach sie.

Wortlos schüttelte Herr Lothrop den Kopf. »Setz ihn ab«, befahl er, drehte sich um, ohne ihr die Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, und ging mit wiegenden Schritten den kleinen Abhang hinunter zurück zu den Stallungen.

Fina sah ihm hinterher und atmete schwer. Sie hasste diesen Ton, den Lothrop anschlug, und sie dabei duzte. Damit wollte er ihr bedeuten, dass in diesem Punkt nicht mit ihm zu reden war. Dann ließ Fina ihren Blick wieder zurück zu den Koppeln gleiten und betrachtete Pegasus, der anscheinend bereit war, seinem Namen alle Ehre zu machen. Wenn der kleine Fuchs später wie sein Vater ein Schimmel werden würde, hatte er auf jeden Fall schon einmal äußerlich alle Voraussetzungen, seinem Namenspatron, das geflügelte Pferd der griechischen Sage, nachzueifern. Und die wenigen weißen Stichelhaare rund um die Augen waren ein eindeutiges Indiz. Wenn sie, Fina, es dann noch schaffte, ihn seinen inneren Werten entsprechend zu fördern, waren die Schlagzeilen in der Fachpresse der kommenden Jahre schon jetzt so gut wie geschrieben.

Aber davor war noch ein weiter Weg zu gehen. Und Herr Lothrop hatte soeben beschlossen, dass der Zeitpunkt gekommen war, ihn zu beschreiten. Dem kleinen Pegasus stand die erste schwere Prüfung seines Lebens bevor: der Abschied von seiner Mutter.

Werner Lothrop spürte Finas bohrende Blicke in seinem Rücken. Er wusste, dass er die junge Frau, die für ihn beinahe so etwas wie eine Tochter war, verärgert hatte. Aber auch wenn er Verständnis für ihre Gefühle hatte, musste sie einfach lernen, dass eine erfolgreiche Pferdezucht und internationaler Ruhm nicht mit Gefühlsduselei aufzubauen waren. Jeder Monat zählte und kostete bares Geld. Wenn es nach ihm ginge und Fina eines Tages seine Nachfolge im Gestüt anträte, musste sie hartherziger werden. Natürlich ahnte sie nichts von seinen Plänen, und das war auch gut so. Sie war einfach noch nicht so weit und würde von einem derartigen Vorschlag nur verschreckt werden. Aber in zehn Jahren … Herr Lothrop schmunzelte. Oft erinnerte Fina ihn an seine eigene Jugend. Pferde bedeuteten für sie wie für ihn alles und wie Fina fühlte er sich ihnen näher als irgendeinem Menschen. Das war auch der Grund, warum seine Frau ihn bereits nach kurzer Zeit verlassen hatte. Sie hatte keine Lust gehabt, so etwas wie das unwichtigste Pferd im Stall zu sein.

Manchmal bereute er das, denn er hatte sich immer ein eigenes Kind gewünscht. Aber dafür war in seinem Leben kein Platz gewesen und nun war es zu spät – er war zu alt. Umso mehr hoffte er für Fina, dass sie nicht den gleichen Fehler beging. Zwischen der Bereiterin und diesem jungen Tierarzt Dr. Strauch schien eine gewisse Anziehungskraft zu bestehen, das war ihm nicht entgangen. Und Fina war ja auch ein außergewöhnlich hübsches Mädchen mit ihrem glänzenden, fast schwarzen Haar und den strahlenden türkisblauen Augen. Aber wie er stellte sie die Arbeit mit den Pferden über alles andere und machte es jedem jungen Mann schwer, an sie heranzukommen. Das hatte er schon mehrfach beobachtet.

Als er den Fuß des Hügels erreichte, drehte sich Herr Lothrop um und sah zu Fina hoch. Sie saß immer noch in der gleichen Position da und betrachtete nun wieder die Pferde. Sie würde tun, was er ihr aufgetragen hatte. Und sie würde einsehen, dass er recht hatte. Pegasus war so weit. Ihn länger bei seiner Mutter zu lassen, würde nur seine Eigenwilligkeit stärken und ihn für die Zukunft unbrauchbar machen. Und Herr Lothrop setzte große Hoffnungen in dieses Pferd. Sehr große sogar.

Mit gemischten Gefühlen betrat Fina in Begleitung eines Stalljungen am nächsten Tag die Koppel, auf der Fleurie und Deborah mit ihren Fohlen grasten. Fleurie kam ihr freudig entgegen und begrüßte sie mit einem Wiehern. Pegasus ließ nicht lange auf sich warten. Er folgte seiner Mutter in geringem Abstand. Deborah und ihre Tochter, die wenige Wochen jünger war als Pegasus, sahen aus einiger Entfernung zu, als Fina Fleurie das Führhalfter überzog. Die Bereiterin konnte nicht verhindern, dass ihr das Herz klopfte. Denn sie wusste, dass Fleurie sich beschweren würde, sobald sie merkte, was Fina vorhatte. Sven, der Stalljunge, übernahm das Halfter und forderte Fleurie auf mit ihm zu kommen. Die ersten Schritte folgte Fleurie gehorsam, doch als sie sah, dass Fina Pegasus mit dem Fohlenhalfter von ihr weg auf den hinteren Teil der Weide führte, begann sie zu buckeln. Sven musste all seine Autorität aufbringen, um Fleurie zum Weitergehen zu bewegen. Die Rufe der Stute nach ihrem Kind trafen Fina mitten ins Herz. Sie versuchte Pegasus abzulenken, doch der kleine Hengst reckte den Hals und blickte seiner Mutter mit schief gelegtem Kopf hinterher.

Obwohl Fina bei ihm blieb, stand Pegasus auch zwei Stunden später noch am Gatter und wartete auf die Rückkehr seiner Mutter.

Schon von Weitem hörte Fina Fleuries aufgeregtes Wiehern, als Sven die Stute wie vereinbart nach Ablauf der Zeit zur Weide zurückbrachte. In Pegasus kam Bewegung: Mit seinen viel zu langen Beinen lief er am Weidezaun hin und her und antwortete seiner Mutter. Fina konnte ein Lachen nicht ganz unterdrücken, als sie in diesem Augenblick Fleurie um die Ecke preschen sah, mit wehender Mähne und Sven im Schlepptau, der vergeblich versuchte, die Stute zurückzuhalten. Die wutroten Flecken in seinem Gesicht zeigten deutlich, wie sehr er sich darüber ärgerte, dass die Stute seine Autorität untergrub.

»Wer führt denn hier wen auf die Weide?«, rief Fina dem jungen Mann lachend entgegen und stand auf. Sie stellte sich Fleurie entschlossen in den Weg und gebot ihr mit erhobener Hand und energischem Zuruf Einhalt. Die Stute stoppte. Fina konnte ihr das Führhalfter abnehmen und das Gatter öffnen.

Anschließend lehnte sie mit Sven am Zaun und genoss die Wiedersehensfreude von Mutter und Sohn. Eine leise Wehmut schlich sich in ihr Herz bei dem Gedanken, dass sie Fleurie und Pegasus morgen erneut für einige Zeit voneinander trennen musste. Und ihre Erfahrung lehrte sie, dass es dann noch schlimmer werden würde. Denn morgen würden Fleurie und Pegasus wissen, was sie vorhatte, und sich nicht so leicht auseinander reißen lassen. Aber es half nichts. Herr Lothrop hatte sie angewiesen das Fohlen abzusetzen und sie war schon froh, dass sie ihm das Zugeständnis abringen konnte, sich dafür Zeit zu nehmen und die Trennung im Interesse von Stute und Fohlen nicht abrupt durchzuziehen.

Vielleicht lag es an ihrer eigenen Vergangenheit, dass für sie das Absetzen eines Fohlens auch nach so langer Zeit immer wieder schmerzhaft war. Schließlich war sie selbst erst zehn gewesen, als ihre Mutter an einer unheilbaren Krankheit gestorben war. Der Vater hatte sich zwar bemüht für Fina da zu sein, aber seine eigene Trauer lähmte ihn und Fina fand mehr Trost bei den Pferden als bei ihm.

Eine Freundin hatte Fina einmal gesagt, ihre Bindungsangst rühre von diesem frühen Verlust her. Und vielleicht hatte sie damit gar nicht so unrecht.

Auf jeden Fall verschaffte ihr das unnatürliche Trennen von Mutter und Kind jedes Mal wochenlang Albträume. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie der Natur ihren Lauf gelassen und gewartet, bis Fleurie Pegasus mit einem Dreivierteljahr oder Jahr selbst absetzen würde. Aber sie wusste natürlich, dass das nicht ging, wenn man Pferde für den Profireitsport züchtete und ausbildete. Jeder Monat kostete Geld und die zu starke Bindung innerhalb der Herde wirkte sich negativ auf die Bereitschaft der Jungtiere aus, mit Menschen zu arbeiten.

Pegasus war jetzt sechs Monate alt, bereit für die intensive Prägung auf Menschen. Und er sollte sich vor allem Fina anschließen, die von ihrem Chef den Auftrag bekommen hatte, Pegasus zu einem Champion zu machen. Fina wollte ihm die Mutter ersetzen, so gut sie es vermochte.

Mit glänzenden Augen wandte sich Fina ab. Der Junge neben ihr am Zaun sollte nicht sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie kam sich ja selbst schon lächerlich vor und Sven gehörte nicht unbedingt zu den zarter besaiteten Menschen im Stall, die für derartige Gefühlsregungen Verständnis aufbrachten.

Fleurie drehte sich in ihrer Box im Kreis. Sie rebellierte gegen die Trennung von ihrem Kind, indem sie wieder und wieder mit dem Huf gegen die Stalltür schlug. Der Druck der Milch in ihrem Euter war ihr unangenehm und verstärkte ihre Unruhe.

»Ist ja gut! Ist gut!« Das Mädchen war unsicher, was es tun sollte. Irgendetwas stimmte mit dieser Stute nicht. Warum war sie so nervös? Sarah war erst wenige Wochen auf dem Gestüt und noch nicht mit allen Pferden und ihren Besonderheiten vertraut. Warum war das Vollblut so nervös? Sie blickte sich um. Und warum fand sie hier niemanden, den sie um Rat fragen konnte?

Fleurie wieherte und schlug mit dem Kopf.

Sarah überlegte. Vielleicht sollte sie das Pferd in den Paddock lassen? Würde es sich dort beruhigen? Sie öffnete die Verbindungstür zur Außenbox und Fleurie stürmte laut wiehernd ins Freie. Sie reckte den Kopf über das Geländer und rief nach Pegasus. Es dauerte nicht lange, bis die Antwort von der Fohlenweide herüberdrang.

Doch statt ruhiger zu werden, bäumte sich Fleurie jetzt erst recht auf. Sie stieg hoch, als wollte sie aus dem Stand über die Absperrung springen.

Sarah riss entsetzt die Hände vor den Mund. Aber es war zu spät. Fleurie landete mit einem Vorderhuf zwischen den Eisenstäben und schrie auf. Aus dem Riss an der Fessel tropfte Blut.

3

Sofort war Sarah klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Wie erstarrt beobachtete sie Fleurie, die verzweifelt versuchte, sich zu befreien und dabei immer lauter schrie. Wie sollte sie dem tobenden Pferd bloß helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen?

Fleurie schien nicht willens irgendjemanden an sich heranzulassen. Sie bemühte sich auf drei Beinen das Gleichgewicht zu halten und das vierte aus der schmalen Ritze zwischen den Eisenstäben zu ziehen. Dabei warf sie immer wieder den Kopf zurück und bleckte die Zähne, sobald ein neuer Ruf von Pegasus ertönte.

Als Fina aufgeschreckt durch den Lärm um die Ecke bog, begriff sie auf Anhieb: Fleurie war so außer sich, dass sie sich vermutlich weiter verletzt hätte, wenn sich ihr jemand näherte. »Schnell! Hol Pegasus von der Weide!«, forderte sie Sarah auf, die immer noch unbeweglich dastand und anscheinend nicht fassen konnte, was sie angerichtet hatte.

»Ich … ich …« Sarah schüttelte verstört den Kopf. »Das habe ich nicht gewollt«, stammelte sie.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, drängte Fina. »Hol das Fohlen und beeil dich!«

Froh etwas tun zu können, machte sich Sarah auf den Weg.

Mit betont langsamen Schritten ging Fina auf das nervöse Pferd zu. »Ruhig, Fleurie, bleib ruhig«, versuchte sie die Stute zu besänftigen, die tatsächlich zumindest aufhörte, mit dem Kopf zu schlagen und die Zähne zu blecken.

Dann kehrte Sarah mit Pegasus am Führstrick zurück. Fleurie wieherte laut, als sie ihr Fohlen sah.

Pegasus lief auf seine Mutter zu und begrüßte sie mit einem Nasenstüber. Kaum konnte Fleurie ihr Fohlen riechen, wurde sie ruhiger und Fina bückte sich, um die Vorderhand zwischen den Eisenstäben herauszuziehen. Fleurie war offensichtlich alles egal, solange sie zärtlich mit ihren Lippen über den Hals ihres Kindes streichen konnte.

Fina musterte die Verletzung an der Fessel. Soweit sie das beurteilen konnte, waren Sehnen und Bänder unversehrt. Aber natürlich musste sie Dr. Strauch informieren, damit er die Stute gründlich untersuchte. Und obwohl sie es sich nur ungern eingestand – immerhin hatte sich soeben die wertvollste Zuchtstute des Gestüts verletzt, und das war schließlich kein Grund zur Freude –, gefiel ihr die Aussicht, den jungen Tierarzt zu sehen.

»Achten Sie darauf, dass das Bein nicht anschwillt. Vielleicht müssen Sie es etwas kühlen, aber der Schnitt ist nicht tief. Ich rechne nicht mit Komplikationen.«

Fina nickte zu allem, was Dr. Strauch sagte, und strich Fleurie über den Hals. Jetzt, da Pegasus neben ihr stand, war die Stute ruhig und ausgeglichen wie immer. Allerdings schien der Verband sie etwas zu stören, denn sie stampfte einige Male mit dem Huf auf.

Dr. Strauch räusperte sich. »Hätten Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?«

Der Themenwechsel kam so plötzlich, dass Fina einen Augenblick glaubte, sie hätte sich verhört. Doch ein Blick in Dr. Strauchs braune Augen belehrte sie eines Besseren.

Er sah sie erwartungsvoll an.

»Ich …« Fina spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. »… Heute Abend kann ich leider nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, ihn an meinem freien Wochenende zu besuchen.«

Dr. Strauch war sichtlich bemüht sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Und morgen?«

Fina schluckte. »Ich komme erst Sonntag wieder.«

Dr. Strauch nickte und sammelte schweigend seine Utensilien ein. Er schaute Fina nicht an.

Fina gab sich einen Ruck. »Wie wäre es mit nächster Woche? Montag zum Beispiel?« Merkte Dr. Strauch, wie ihr Herz raste?

Der Tierarzt lächelte erleichtert. »Ich hole Sie nach der Arbeit ab. Sagen wir, um halb sieben?«

Fina erwiderte das Lächeln. »Halb sieben ist prima«, bestätigte sie, obwohl das bedeutete, dass sie etwa eine Stunde früher Feierabend machen musste. Aber sie traute sich nicht, den Tierarzt noch einmal vor den Kopf zu stoßen.

Werner Lothrop, der gerade nach seinem Pferd hatte sehen wollen, drehte sich um und lächelte zufrieden, während er möglichst leise durch die Boxengasse zurückschlich. Er würde sich später nach Fleuries Zustand erkundigen. Jetzt war er erst einmal froh, dass sein Wunsch, Fina möge sich im privaten Leben geschickter anstellen, als er es zeit seines Lebens getan hatte, vielleicht in Erfüllung ging.

Während Fina ihren Wagen vor dem alten Herrschaftshaus parkte und die Reisetasche von der Rücksitzbank nahm, glitt ihr Blick die imposante Fassade des Jugendstilhauses hoch. Jeder ihrer Freunde hatte sie bislang darum beneidet, in diesem schönen Haus aufgewachsen zu sein, und tatsächlich gab es einige Erinnerungen, die Fina nicht missen mochte. Zum Beispiel, wie sie mit ihrer besten Freundin aus Kindergartenzeiten die schwere Matratze aus dem Bett gehievt hatte, um auf ihr die breite, sanft geschwungene Treppe vom ersten Stock ins Erdgeschoss hinunterzurutschen. Die Fahrt hatte mit etlichen Beulen und blauen Flecken ein jähes Ende an der Wand der Eingangshalle gefunden, aber bis dahin war sie ein atemberaubendes Erlebnis gewesen.

Beinahe ebenso abrupt endeten leider alle schönen Erinnerungen an einem Tag im Herbst, kurz vor Finas zehntem Geburtstag, an dem ihre Mutter gestorben war. Danach war es still geworden im Haus und Fina hatte sich mehr und mehr den Pferden gewidmet, um der beklemmenden Atmosphäre, die ihr schwermütiger Vater verbreitete, zu entkommen.

Als sie mit siebzehn den Ausbildungsplatz im Gestüt Lothrop angeboten bekam, das fast dreihundert Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt lag, hätte sie am liebsten noch am gleichen Tag ihre Koffer gepackt. Kein Ort auf der Welt konnte weit genug von diesem Haus weg sein.

Wie sich im Lauf der Zeit herausstellte, reichten die dreihundert Kilometer dennoch. Fina sah ihren Vater fortan nur noch ein- oder zweimal im Jahr. Zu Weihnachten und manchmal, so wie jetzt, an seinem Geburtstag. Und was sie am Anfang nicht für möglich gehalten hatte: Auch er erholte sich einigermaßen von dem Verlust und begann ein neues Leben. Mit siebzehn war Fina vom schlechten Gewissen geplagt worden, als sie fast schon fluchtartig das Haus verlassen hatte. Doch die Befürchtung, ihr Auszug könnte ihren Vater restlos in den Abgrund stürzen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Im Gegenteil. Ganz auf sich gestellt und seinerseits von dem schlechten Gewissen befreit, Fina in ihrer Trauer nicht genügend Stütze zu sein, hatte er seinen Alltag neu organisiert und wieder Freude am Leben gefunden. Mit seinen mittlerweile siebzig Jahren – er war sechzehn Jahre älter als seine verstorbene Frau – kam er allein ganz gut zurecht, auch wenn er für die Einkäufe und die Hausarbeit eine Hilfe brauchte.

Mama war siebenundzwanzig, als sie mich zur Welt brachte. So alt wie ich jetzt, dachte Fina verwundert, während sie ihre Tasche die wenigen Stufen zur zweiflügeligen Holztür hochschleppte und auf die Klingel unter dem Namensschild von Essen drückte.

Ihr Vater öffnete so schnell, als hätte er hinter der Tür gestanden und auf seine Tochter gewartet. Er streckte ihr freundlich, aber förmlich die Hand zur Begrüßung entgegen, während er wie immer, wenn er sie hereinließ, die Auffahrt hinunterblickte, als hoffte er, dort noch jemanden zu sehen.

Doch Finas Begleitung war nur Cäsar, der an dem alten Mann vorbei ins Haus stürmte, als ginge er hier tagtäglich ein und aus.

Fina ignorierte die dargebotene Hand und umarmte ihren Vater stattdessen. Sie wusste, er würde sich darüber freuen und die Förmlichkeit war lediglich ein Angebot von ihm, damit sie sich nicht zu einer Umarmung genötigt fühlte. »Erwartest du noch jemanden?«, neckte sie ihn wie jedes Mal und war froh, dass ihr Vater ihr Lächeln nicht sehen konnte, während er sie an sich drückte.

Obwohl er es nicht aussprach, war Fina bewusst, dass er hoffte, sie möge ihm endlich einen Mann an ihrer Seite präsentieren, der für eine reiche Schar Enkelkinder sorgte und ihr karges Pferdepflegerinnengehalt aufbesserte. Der pensionierte Chefarzt einer bedeutenden chirurgischen Klinik ließ keine Gelegenheit aus, seiner Tochter finanzielle Unterstützung anzubieten. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie sie von den paar Kröten ihren Lebensunterhalt bestritt. Fina lehnte allerdings immer dankend ab.

»Natürlich nicht«, beeilte er sich wie üblich zu beteuern, wenn er sich bei seinen heimlichen Wünschen ertappt fühlte, und zog sie in die imposante Eingangshalle.

Nach dem gemeinsamen Abendessen hatten sie sich eigentlich alles erzählt, was es zu erzählen gab oder was sie zu erzählen bereit waren.

Die Frage ihres Vaters nach einem Freund beantwortete Fina wahrheitsgemäß, aber ausweichend. »Ach, weißt du, ich habe so viel Arbeit mit den Pferden im Augenblick, da bleibt mir für etwas anderes keine Zeit.« Sie stand von dem festlich gedeckten Tisch auf und schlenderte in Erinnerungen an ihre Kindheit versunken durch das Wohnzimmer. Viel hatte sich hier nicht verändert. Vor dem Kamin blieb sie stehen und nahm eine Fotografie vom Sims. »Sie war eine schöne Frau«, sagte sie.

»So schön wie du«, antwortete ihr Vater. »Du hast ihre Augen. Sie haben die Farbe des karibischen Meeres. Und sie funkeln wie Edelsteine.«

»Ach, Papa.«

»Vor allem wenn sie wütend war.« Sehnsuchtsvoll blickte der alte Mann ins Nichts.

Fina unterdrückte die Ermahnung, die ihr auf der Zunge lag, nicht immer an die Vergangenheit zu denken. Das hätte doch nur wieder zum Streit geführt.

Ihr Vater schüttelte sich, als könne er seine traurigen Gedanken dadurch vertreiben, und richtete den Blick auf seine Tochter. »Wie heißt das Pferd noch mal, das du zurzeit ausbildest?«

»Pegasus. Und er hat wirklich alle Voraussetzungen, ein außergewöhnliches Springpferd zu werden.« Jetzt war es Fina, die von Sehnsucht erfasst wurde. Sehnsucht nach ihren Pferden, ihren eigenen vier Wänden und nach einem gewissen jungen Mann, mit dem sie bald ein Rendezvous hatte.

»Ich bin natürlich selbst schuld.«

Martin Strauch runzelte die Stirn. »Wieso sollten Sie schuld sein?«

Fina legte die Gabel neben ihren Teller. »Na ja, ich hätte Fleurie nicht allein lassen dürfen.«

Der Tierarzt lächelte. »Wie viele Pferde besitzt Herr Lothrop? Dreißig? Vierzig?«

Fina nickte. »Im Augenblick zweiunddreißig.«

»Und wie wollen Sie es anstellen, auf jedes einzelne persönlich aufzupassen?«

»Ich meine ja nicht persönlich. Aber ich hätte Sven sagen müssen, dass er die ganze Zeit bei ihr bleiben soll.«

»Wissen Sie, Fina, Ihr Pflichtgefühl in allen Ehren, doch Sie müssen auch mal lernen, Verantwortung abzugeben.«

Jetzt war es Fina, die lächelte. Das Gleiche hatte ihr Vater am vergangenen Wochenende während des Abendessens zu ihr gesagt, als sie ihm von Fleuries Unfall erzählte. Er würde sich vermutlich blendend mit dem jungen Tierarzt verstehen, der Fina nun tief in die Augen sah, während er sein Besteck zur Seite legte.

»Vielleicht haben Sie recht«, antwortete Fina, als sie dem Blick aus den braunen Augen nicht mehr länger standhalten konnte.

Einen Moment lang hing Stille zwischen ihnen. Es war keine unangenehme Stille. Sie erinnerte Fina vielmehr an die Ruhe am Ufer eines einsamen Sees bei Sonnenuntergang, wenn die Natur mit sich im Einklang ist und von nichts und niemandem gestört werden kann.

Auch Dr. Strauch genoss dieses Schweigen, während er meinte, in Finas funkelnden Augen zu versinken. Er nahm jede feinste Kontur in dem Gesicht der jungen Frau in sich auf. Ebenso wie ihre zierliche Gestalt auf erstaunliche Weise sowohl Eleganz als auch Burschikosität ausstrahlte, verriet ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der geraden, schmalen Nase mit den winzigen Sommersprossen darauf, den geschwungenen Lippen und dem ausgeprägten Kinn zugleich Durchsetzungsvermögen und Sensibilität. Das hervorstechendste Merkmal aber waren Finas Augen. Umrahmt vom leicht gelockten, schulterlangen schokoladenbraunen Haar nahmen sie den jungen Tierarzt gefangen. Er wusste, warum Fina eine so ausgezeichnete Pferdeausbilderin war. Sie vereinte in sich alle Merkmale, die für den erfolgreichen Umgang mit diesen Tieren nötig waren: Intelligenz, Empfindsamkeit, Selbstdisziplin, Geduld und vor allem eine bedingungslose Liebe zu Pferden. Während er noch nach den richtigen Worten für das suchte, was er ihr an diesem Abend sagen wollte, griff er bereits nach ihrer Hand.

4

Zur gleichen Zeit, aber etliche Kilometer entfernt, wälzte sich ein sechsjähriges Mädchen schlaflos hin und her. Immer wieder versank es in einem kurzen Traum, aus dem es nach wenigen Minuten durch das herzerweichende Schreien eines Säuglings geweckt wurde. Es lag mit offenen Augen im Bett und lauschte seiner Mutter, die – sämtliche deutsche Schlaflieder singend – im Zimmer nebenan über den knarrenden Dielenboden schritt und das sechs Monate alte Baby auf ihrem Arm vergeblich zu beruhigen versuchte.

Die kleine Kathrin wusste von den Sorgen ihrer Mutter um ihren Bruder Leon. Morgen würde er erneut untersucht werden. Nicht nur dass er mehr schrie als andere Kinder in seinem Alter – er konnte sich weder drehen noch robben, geschweige denn dass er nach irgendwelchen Gegenständen griff oder auf andere Weise zu erkennen gab, dass er an seiner Umwelt interessiert war. Er lachte nicht, wenn man ihn anlachte, meistens sah er sogar weg, und er gab – abgesehen vom Schreien – nicht den geringsten Ton von sich. Kein Da-da-da, kein Mem-mem-mem, nichts. Es schien, als lebte er nur für sich, abgeschirmt von allen Eindrücken, die von außen auf ihn eindringen wollten. Dazu kam, dass er sich kaum beruhigen ließ. Wenn Mama ihn auf den Arm nahm, weil er weinte, wurde sein Schreien meistens nur noch schlimmer. Er machte sich steif, überdehnte den Rücken und bog seinen Kopf so weit nach hinten, wie es nur ging. Berührungen schienen ihm unangenehm zu sein, als bereiteten sie ihm körperliche Schmerzen.

Oft ließ er sich erst durch das Geräusch von fließendem Wasser beruhigen. Wenn Mama den Hahn über dem Waschbecken aufdrehte, wandte er den Kopf und sah zu, wie das Wasser ins Becken und in den Abfluss lief. Manchmal kreiste er dabei mit seinem Kopf, als würde der Strudel ihn mit sich nehmen. Dies waren die kurzen Momente, in denen Leon etwas von seiner Umgebung mitzubekommen schien. Ansonsten lebte er in seiner eigenen Welt, zu der weder Kathrin noch ihre Mutter oder ihr Vater Zugang hatten.

Die endgültige Diagnose des Kinderarztes stand noch aus. Kathrin hatte das Wort Autismus aufgeschnappt und ihre Mutter gefragt, was das bedeutete. Die Antwort hatte sie allerdings nicht verstanden.

Das Schlimmste aber war, dass Mama und Papa nur noch miteinander stritten. Dann weinte Mama und Kathrin lag in ihrem Bett und weinte ebenfalls. Sie hörte das Knallen der Tür, wenn ihr Vater mitten in der Nacht das Haus verließ, und wachte jeden Morgen mit der quälenden Frage auf, ob Papa wieder nach Hause zurückgekommen war oder nicht. Manchmal war er da und Kathrin fiel ihm um den Hals. Und manchmal behauptete Mama, dass er schon früh zur Arbeit gegangen wäre. Kathrin wusste, dass das eine Lüge war, aber sie schwieg.

»Du bist jetzt meine Große«, sagte ihre Mutter hin und wieder zu ihr, wenn sie wollte, dass Kathrin etwas für sie erledigte. Und Kathrin bemühte sich nach Leibeskräften ihrer Mutter behilflich zu sein. Aber oft hasste sie es, die Große zu sein. Dann wünschte sie sich wieder klein zu sein und Leon dahin zurückzuschicken, wo er hergekommen war. Sicher, sie liebte ihn, doch seit er da war, war alles anders und nicht unbedingt schöner.

Ihre Freundin aus dem Kindergarten, Patrizia, hatte auch einen kleinen Bruder. Doch mit dem war das irgendwie anders. Mit ihm konnte man richtig spielen – auch wenn er dabei oft etwas kaputtmachte. Leon machte ja noch nicht einmal etwas kaputt! Er machte einfach gar nichts.

Kathrin freute sich auf den Schulanfang. Bald würde sie kein Kindergartenkind mehr sein! In wenigen Wochen begann die Schule. Vielleicht würde dann endlich alles wieder anders. Und endlich wieder schön!

Als ihre Mutter kurz darauf nach Kathrin schaute, träumte das Mädchen von einer riesigen Schultüte mit vielen Pferdebildern darauf. Sie sah im Schlaf so zufrieden aus, dass ihre Mutter beim Anblick ihrer Tochter unwillkürlich lächelte. Sie strich Kathrin sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wischte sich anschließend mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Diese ewigen Streitereien kosteten sie viel Kraft. Kraft, die sie für Leon und Kathrin brauchte. Warum nur fiel es dem Vater der Kinder so schwer, sich mit Leons Besonderheit auseinanderzusetzen? Auch jetzt war er nach einer heftigen Diskussion wieder auf und davon. Wann würde er wiederkommen? Heute Nacht? Morgen? Oder überhaupt nicht mehr?

Das anschwellende Weinen des Säuglings, das durch den Spalt der angelehnten Tür drang, riss Kathrins Mutter aus ihren Gedanken. Einen Augenblick lang wollte sie so tun, als hätte sie nichts gehört. Aber das Weinen wurde lauter, eindringlicher, und Kathrin wälzte sich bereits unruhig hin und her. Mit einem Seufzen erhob sich die Frau vom Bettrand ihrer Tochter. Sie beeilte sich durch den Flur ins angrenzende Wohnzimmer des alten Bauernhauses zu gelangen, wo sie Leon erst vor wenigen Minuten schlafend auf einer Decke zurückgelassen hatte, um nach ihrem zweiten Kind zu sehen.

»Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Gut, dann fahre ich mit ihm aber auch nicht auf die Jährlingsschau.«