Das Buch

Viele Paare wünschen sich eine romantische und zuverlässige Partnerschaft. Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus – der Alltag holt die Liebenden ein, die erotische Sehnsucht schwindet. Was man hat, begehrt man nicht mehr. Und so suchen viele neue Lebendigkeit in einer heimlichen Liebe mit einem anderen Partner. Solche Liebesaffären sind immer gefährlich. Sie bedrohen die Partnerschaft und führen zu quälenden Auseinandersetzungen. Aus seiner Erfahrung als Paartherapeut kennt Ulrich Clement das Gefühlschaos der Beteiligten, das Hin- und Hergerissensein zwischen Schuldgefühlen und Leidenschaft. Viele Beziehungen scheitern daran, andere werden gerade durch einen Seitensprung neu belebt. Ulrich Clement analysiert das Dilemma der Monogamie und die Dramatik der heimlichen Liebesbeziehungen – die romantischen Wünsche, die Eifersucht, das Misstrauen, die Verletzung und die klärenden Gespräche. Und er zeigt, wie Paare mit One-Night-Stands, Affären oder sogar offenen Beziehungen umgehen und leben können. Ein Plädoyer für eine neue Form der Partnerschaft, in der sexuelle Treue nicht mehr im Mittelpunkt steht.

Der Autor

Ulrich Clement ist einer der führenden deutschen und international renommierten Paar- und Sexualtherapeuten. Er ist Professor für medizinische Psychologie in Heidelberg und leitet zusammen mit Dr. Ulrike Brandenburg das Institut für Sexualtherapie Aachen/Heidelberg. Er arbeitet als Dozent, Psychotherapeut und Coach.
www.ulclement.de

Von Ulrich Clement ist in unserem Hause bereits erschienen:

Guter Sex trotz Liebe

   

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können zivil– oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
E-Book ISBN 978-3-8437-0807-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Mythen, Scheinwahrheiten und anderer Unfug über Untreue

Jedem Zauber wohnt ein Ende inne – Das Dilemma der Monogamie

Frau oder Geliebte?

Die alte Liebe und der neue Ehemann

Affären, weil der Sex besser ist?

Beziehungen sind endlich

Der klassische Dreisatz: verliebt – gebunden – desillusioniert

»Glück ist machbar«

Dem Partner oder sich selbst treu sein?

Der Preis der Treue

Aktive und passive Treue

Eine Beziehung für alles?

Ein anderer Partner – oder ein anderes Modell

Symptom einer gestörten Partnerschaft oder: Die Macht der Sehnsucht?

Sind Affären ein Symptom für eine schlechte Ehe?

Der andere Unterschied und zwei falsche Gegensätze

Falscher Gegensatz A: Moral und Unmoral

Falscher Gegensatz B: Langeweile und Leidenschaft

Sehnsucht und die Suche nach dem Unterschied

Die Affäre braucht die Ehe: Figur und Hintergrund

Die normale Enttäuschung

Weg vom Problem oder hin zur Sehnsucht?

Die Affäre als Appell

Der Kampf um die Bedeutung

Die Eskalation: Misstrauen gegen Verharmlosung

Sex und Lebendigkeit

Die Nische

Offene und schützende Grenzen

Exkurs – Zahlen und Daten: Was weiß die Sexualwissenschaft über Untreue?

Einstellungen zur Untreue

Häufigkeit sexueller Untreue

Treibt es die Partner aus der sexuellen Unzufriedenheit weg?

Sind unglücklich verheiratete Partner eher untreu?

Eifersucht

Evolution der Eifersucht

Geschlechterunterschiede

Eifersuchtsopfer – Eifersuchtstäter

Rivalität

Zwei Eifersuchtsfehler

Was tun mit der Eifersucht?

Provozierte Eifersucht

Vorwürfe

Die Eifersucht zum Freund machen

Treue Untreue

Was tut weh, wenn es weh tut?

Die sexuelle Verletzung: Der Komparativ

Die Loyalitätsverletzung: Der Verrat

Die soziale Verletzung: Die Demütigung

Die existentielle Verletzung: Die Einsamkeit

Scheingefechte

Bindungsambivalenz oder: Warum das Unerreichbare so attraktiv wirkt

Das Leidenschaftsparadox

Ambivalente Liebe

Kollusive Leidenschaft

Der gefühlte Marktwert

Sehnsucht und Macht

Die Nische – und der offene Ausgang

Grenz-Deklarationen

Und weiter?

Die Vorteile des Status quo …

… und der Wendepunkt

Ehekontrakt und Geliebtenkontrakt

Erliebte Rechte?

Wer liebt, hat recht – Wer verheiratet ist, hat Rechte

Die Bruchstelle

Die Romantik des Konjunktivs

Sexuelle Freundschaften

Offenheit und die Moral der Konsequenzen

Privatheit und Vertrauen

Wissen und Kontrolle

Sexuelle Untreue und Verrat

Varianten der Geheimhaltung

Verschweigen

Leugnen

Aktiv Lügen

Moralisches Verschweigen und unmoralisches Offenlegen

Moral der Konsequenz statt Moral der Wahrheit

Das respektvolle Wegsehen

Lob der Unsicherheitstoleranz

Die Kunst des richtigen Geständnisses

Warum offenlegen?

Das eigene Gewissen entlasten

Ausgleich

Versuch, die eigenen Zweifel zu beenden

Fairness

Der richtige Zeitpunkt

Geständnis oder Bekenntnis?

Tapferkeit vor dem Freund

Phasen der Affäre

Phase 1: Die heimliche Affäre und der Verdacht

Überlegungen und Verhaltensregeln für den untreuen Partner

Überlegungen und Verhaltensregeln für den Partner, der den Verdacht hat, betrogen zu werden

Phase 2: Die Affäre wird offengelegt

Überlegungen und Verhaltensregeln für den untreuen Partner

Überlegungen und Verhaltensregeln für den betrogenen Partner

Überlegungen und Verhaltensregeln für den/die Geliebte/n

Phase 3 (Entweder-oder): Entscheidung

Ja-Entscheidungen und Nein-Entscheidungen

Eine Entscheidung oder zwei Entscheidungen?

Das Affären-Tetralemma

Partnervalidierte und selbstvalidierte Entscheidungen

Der Preis der Entscheidung

Die Hängepartie: Nicht entscheiden

Nach der Affäre: Aufräumarbeiten

Wie macht man aus einer Krise eine Chance?

Widerstände gegen die Chance

Vorwürfe

Idealisierung der Vergangenheit

Rache

Mauern

Dekompensieren

Der neue Blick

Die Affäre als Übergang

Das Problem mit dem Vertrauen

Verzeihen

Affären, die einen Unterschied machen

Die Zeichen der Zeit verstehen

Neues Spiel – neues Glück? Die Affäre als Beginn der neuen Beziehung

Vom richtigen Umgang mit Affären

Den Schrecken begrüßen

Freiheit und Bindung: Selbstprüfung für Fortgeschrittene

Auswege aus dem Dilemma – zwei Beispiele

Das komplementäre Prinzip

Differenzierung

Auswege aus der Monogamie-Falle

Im Dreieck navigieren – Regeln für Untreue, für Betrogene und für Geliebte

Zehn Regeln für untreue Partner

Zehn Regeln für betrogene Misstrauische

Acht Regeln für die/den Geliebte/n

Literatur

Vorwort

»Und wenn wir alles ausprobiert haben, und die Sehnsucht geht immer noch nicht weg – was dann?«

Diese Frage stellte mir eine Klientin am Ende eines ersten Paartherapiegesprächs. Das Paar suchte mich auf, nachdem die Frau eine mehrmonatige Affäre beendet hatte. Sie war sehr von dem andern Mann angezogen, trennte sich aber, um ihre Ehe zu retten. Ihr Ehemann verzieh ihr die Affäre, hätte aber eine Fortsetzug nicht geduldet. Und er betont: »Aber jetzt will ich sie auch sexuell zurückgewinnen, nachdem ich sie fast verloren hätte.«

Das Paar kommt mit der Frage, wie sie die Erotik in ihrer Ehe wieder aktivieren können. Einer ansonsten sehr guten Ehe, in der beide Partner tief verbunden sind und sich beruflich, weltanschaulich, kulturell, menschlich mögen, schätzen und verstehen.

Nicht immer gelingt es Paaren ebenso gut wie diesem, aus der Kränkung und den Vorwürfen herauszukommen und in der Krise einer Außenbeziehung eine Chance zu sehen. Aber viele Paare plagen sich mit derselben Frage, wenn ein Partner fremdgegangen ist: Was haben wir falsch gemacht?

Eine Affäre wird oft als Scheitern einer mit wunderbaren Gefühlen gestarteten Liebe erlebt. Als persönliches Versagen des untreuen Partners. Oft auch als Fehler des betrogenen Partners, der glaubt, dem andern nicht genügt zu haben. Keine unangemessenen Fragen. Aber sie sind zu einseitig. Keiner muss etwas falsch gemacht haben. Der Haken liegt nicht unbedingt bei den Personen, er liegt im Modell. Die meisten Paare wünschen sich eine romantische und zuverlässige Partnerschaft. Aber sie entkommen nicht der Paradoxie, dass mit dem Vertrauen die Sehnsucht schwindet. Was man hat, begehrt man nicht mehr. Und so bleibt die Frage offen: Wie finden wir einen Weg aus dem Dilemma, Bindung und Begehren mit derselben Person zu erfahren?

Für viele ist sie nicht zu beantworten. Und so sucht sich der Wunsch nach Lebendigkeit oft eine heimliche Liebe, eine Affäre mit einem anderen Partner. In meiner Praxis als Paar- und Sexualtherapeut gewinnt dieses Thema zunehmend an Bedeutung. Aus vielen Paargesprächen hat sich für mich eine ganz neue Perspektive entwickelt, die ich in diesem Buch vorstelle.

Dabei bin ich mehr Personen zu Dank verpflichtet, als ich hier aufzählen kann und will. Manche haben mich inspiriert, ohne es zu wissen, andere muss ich diskret ungenannt lassen. Aber zuerst bin ich den Paaren und vielen anderen Interviewpartnern dankbar, dass ich an ihren Fällen lernen konnte. Aja Berger brachte mich auf die Idee zu diesem Thema. Esther Perel und Marita Rödzus-Hecker verdanke ich inspirierende Anregungen aus vielen Diskussionen. Gunter Schmidt und Bernhard Moritz haben mich engagiert mit Material versorgt. Angelika Eck organisierte schnell und punktgenau meine Literaturrecherche. Erfreulich professionell war die Zusammenarbeit mit Gudrun Jänisch und Katharina Ilgen vom Ullstein Verlag und Joachim Jessen (Literaturagentur Schlück). Und weil alles nur geht, wenn im Hintergrund die richtige Musik spielt: Ute Clement danke ich für eine unterhaltsame Ehe.

Ulrich Clement, Frühjahr 2009

Einführung

Sexuelle Untreue ist universell. Sie kommt in allen Kulturen vor. Und sie ist so alt wie die Menschheit. Aber sie ist ein heikles Erbe. Sie wird in fast allen Gesellschaften sanktioniert, in vielen sogar mit drastischen Konsequenzen für die Übertreter des Verbots. Dennoch: Trotz des Risikos und der hohen Kosten für die Beteiligten lebt die sexuelle Untreue weiter.

Man mag sie verfluchen oder augenzwinkernd bejahen, mag sie als notwendiges Übel in Kauf nehmen oder als zwischenmenschliches Verbrechen verurteilen – alle diese Bewertungen schaffen die Untreue nicht ab. Sie ist in der Welt. Da wird sie aller Voraussicht nach auch bleiben. Wir müssen mit ihr leben. Und wir können auch mit ihr leben.

In diesem Buch geht es um die Frage, wie wir das auf respektvolle und vernünftige Weise tun können, als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts. Als die Untreuen oder als diejenigen, denen Untreue widerfährt. Ohne zu schnell moralisch zu werden und schuldige Täter und unschuldige Opfer dingfest zu machen.

Dieses Buch ist keine Empfehlung, fremdzugehen und sich auf Seitensprünge einzulassen. Sondern ein Plädoyer, sie mit Anstand, Würde und Stil zu leben. Das gilt für alle Beteiligten einer Dreiecksgeschichte, die untreuen Partner, die betrogenen Partner und für die Geliebten. Nur wenn alle drei Perspektiven berücksichtigt werden, lässt sich eine alltagstaugliche Haltung entwickeln, mit der man leben kann. Das geht nicht von selbst. Aber es geht.

Wer es sich leicht machen will, schlägt sich parteiisch auf eine Seite und will von der andern nichts wissen. So lässt sich scheinbar leicht Klarheit herstellen, indem man entweder nur empört oder nur lustig aufgelegt ist.

Die empörte Position sieht Untreue vor allem aus der Opferperspektive. Ihr zufolge führt die Affäre fast unvermeidlich zu einer Beziehungskatastrophe, die einen kaum reparablen Riss in der Partnerschaft erzeugt. Ein Trauma, dessen Wunden nur schwer verheilen. Auf dieser Position gerät zwar die emotionale Welt in Unordnung, die moralische bleibt dafür umso stabiler: Der Kränker, der Täter, der Fremdgeher hat aus Lust und Laune oder auch aus Unbedachtsamkeit etwas angerichtet, worunter ein anderer leidet. Gut und Böse finden sich in dieser Position ganz übersichtlich getrennt. Die Empörung gilt dem Untreue-Täter. Und alles Mitgefühl dem Betrogenen, der – wie ein richtiges Opfer – im Wesentlichen unschuldig ist. Empörung, ein selbstgerechter Affekt, verurteilt schnell und von Herzen. Sie verurteilt die Verführung, die Sehnsucht, den selbstvergessenen Rausch.

Auf der anderen Seite die hedonistische Position. Sie bewertet die Affäre primär aus dem Blickwinkel des untreuen Partners. Aus seiner Sicht und seinen Intentionen entsprechend werden Tipps überlegt, wie er mit ein paar Tricks fröhlich über die Runden kommt, ohne erwischt zu werden. Diese Position proklamiert das ungestörte Vergnügen, das so lange ungestört bleibt, wie der betrogene Partner nichts weiß und der begehrte Affärenpartner das heimliche Arrangement nicht in Frage stellt. Der Genuss steht hier über der Moral, die leichten Herzens relativiert wird. Die Position des Betrogenen wird vor allem taktisch berücksichtigt. Und es gibt zu ihr nur eine Haltung: Sieh zu, dass es nicht rauskommt!

Beide Positionen zeichnen sich durch ihre halbblinde und ungerechte Parteilichkeit aus. Sie bedienen ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit, das gerade in emotional aufgewühlten Verhältnissen und angesichts widersprüchlicher, heftiger Gefühle schnell entsteht. Die Angebote scheinen wohlfeil: Entweder – Oder. Entweder schwarz oder weiß. Entweder moralische Entrüstung und nur die – oder unreflektierter Spaß und nur der. So bieten sie eine vermeintlich einfache Ordnung an.

Die Herausforderung besteht aber darin, sich in einem emotionalen Spannungsfeld zu bewegen, in dem sich nur schwer balancieren lässt: zwischen dem Schmerz der Kränkung und der Faszination der Verführung. Beides gehört zusammen. Eines ist ohne das andere nicht zu haben. Auch der gekränkte Partner ist verführbar. Und der Verführte ist kränkbar.

Dieses Buch ist kein einfacher Ratgeber. Schön wär’s, wenn man mit ein paar Tipps gut über kritische Situationen hinwegkäme nach dem Motto: »Fremdgehen – leicht gemacht«. Oder »Betrogen worden? – halb so wild«. Doch es ist nicht leicht gemacht, und es ist ganz wild!

Beim Thema der Untreue stehen unsere zivilen und demokratischen Werte in einem dramatischen Kampf mit unserem biologischen Erbe. Wir wollen Gleichheit, Fairness, Transparenz, Gegenseitigkeit. Und wir wollen Konflikte friedlich lösen, gerade die, die weh tun. Aber wir reagieren auch mit archaischen Affekten, die hunderttausend Jahre alt sind. Aufklärung gegen Stammhirn. Das sind keine kleinen Kaliber.

Als Paartherapeut habe ich viel mit Paaren zu tun, die sich mit vergangenen oder aktuellen Affären herumschlagen. Die nicht damit fertig werden, dass ein Partner sich zu einem andern Menschen hingezogen fühlt und dort etwas findet und lebt, das ihm in seiner Ehe fehlt. Oder die sich in endlosen Diskussionen damit quälen, wie verlorenes Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Die sich fragen, ob der Bruch in der Beziehung gekittet werden kann – oder ob eine gekittete Beziehung ohnehin keine richtige Beziehung mehr ist.

Außerdem habe ich viele Gespräche mit Geliebten, Liebhabern, Betrogenen und Betrügern geführt, die auf Wege und Lösungen gekommen sind, sich im Gewirr von Betrug und Faszination, von Lüge und Geständniszwang, von Kränkung und Wut, von Einsamkeit und Hochgefühl zurechtzufinden.

Ich habe sie nicht nur über ihre Erfahrungen und Gefühle befragt, sondern auch über ihre Moral, ihre List, ihre Lösungsversuche.

Mythen, Scheinwahrheiten und anderer Unfug über Untreue

Bei der Beschäftigung mit der sexuellen Untreue begegnen einem viele Mythen und Scheinwahrheiten, wie Untreue richtig zu verstehen sei. Solche Mythen haben eine wichtige Funktion: Sie vereinfachen ein komplexes Geschehen und bieten Schubladen an, in die man die eigenen Erlebnisse oder die anderer Menschen hineinpacken kann. Wer den einfachen Blick auf Affären und Seitensprünge liebt, wer schnelle Bewertungen sucht, wer zwiespältige Gefühle vermeiden will – bitte sehr! – der wird sie finden. Das Verflixte an den Scheingewissheiten ist denn auch: Oft ist ihnen ein Körnchen Wahrheit nicht abzusprechen. Aber wenn das Körnchen zum großen Ganzen verallgemeinert wird, kommt ein krummes und falsches Bild heraus. Sehen wir uns ein paar dieser Mythen an.

Mythos 1: Affären sind immer ein Beweis dafür, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt

Das ist der beliebteste und verbreitetste Mythos über Untreue. Ihm zufolge ist man in einer glücklichen Beziehung von selber treu und wenn nicht, ist das Beweis dafür, dass da wirklich etwas faul sein muss, auch wenn es vielleicht beide noch nicht gemerkt haben.

Richtig ist: Mancher flieht aus einer unbefriedigenden Ehe in die Arme eines verständnisvollen leidenschaftlichen Partners. Die Verbindung ist ausgereizt, die Partner haben sich nichts mehr zu sagen. Das lässt die Bereitschaft wachsen, Gelegenheiten zu suchen und sich für Neues zu öffnen. Vielleicht nicht nur Gelegenheiten, sondern bessere Alternativen. So manche Affäre stellt sich später als das Vorspiel zur nächsten Ehe heraus.

»Eine schwierige Partnerschaft« ist als Begründung immer schnell bei der Hand. Aber es gibt alle möglichen anderen Motive zum Fremdgehen. Die Unzufriedenheit mit dem Partner ist nur eines davon. Übermut, Sehnsucht, Neugier, Geilheit, Spieltrieb, Bestätigungsbedürfnis, Langeweile sind nur der Beginn einer langen Liste.

Mythos 2: Eine gelegentliche Affäre tut einer langweiligen Ehe gut

Das kann sein. Es erfordert aber von den beiden Partnern ein hohes Maß an Konfliktbereitschaft und partnerschaftlicher Weisheit, um die Wohltat einer Affäre zu erkennen. Der Haken an dieser These ist, dass man erst im Nachhinein weiß, ob es gut getan hat. Wer eine langweilige Ehe durch eine Affäre lebendig machen will, geht ein saftiges Risiko ein.

Langeweile ist berechenbar. Aber wenn eine Affäre bekannt wird, gestaltet sich die dadurch entstehende Kurzweil nicht unbedingt so heiter, wie sich der untreue Partner die Alternative zur langweiligen Ehe vorgestellt hat. Eine Affäre ist ein Spiel mit dem Feuer. Ob die Flamme gleich erlischt, ob sie belebende Wärme ausstrahlt oder sich zum zerstörenden Flächenbrand ausweitet, weiß man am Anfang nicht, wenn man zündelt.

Mythos 3: Männer sind von Natur aus untreu

Das ist zumindest eine beliebte Erklärung untreuer Männer. Sie wollen die Natur auf ihrer Seite haben und schätzen die Rechtfertigung, dass nicht sie selbst sich entschieden haben, sondern eine dunkle genetische Disposition sie in den fremden Schoß getrieben hat.

Dabei sind die biologischen Theorien gar nicht so einseitig. Zum einen sind auch Frauen »von Natur aus« untreu, wenn sie bessere Alternativen in Aussicht haben. Dieses Argument übersieht leicht, mit wem die untreuen Männer untreu sind. Mit Frauen. Meistens jedenfalls.

Zum andern sind Männer – entgegen anderslautenden Gerüchten – nicht alle gleich. Die Spezies kennt promiske und treue Exemplare. »Die Natur« ist kein Freibrief, der uns von jeder Verantwortung entbindet.

Mythos 4: Untreue beweist, dass der untreue Partner weniger liebt als der Betrogene

Das kann so sein. Wer weniger zu verlieren hat, kann eher das Risiko der Untreue eingehen.

Es kann sich aber genauso umgekehrt verhalten. Der emotional abhängigere Partner (also der, der »mehr liebt«) kann eine Affäre anzetteln, um den andern mit dieser Provokation zu prüfen, ob der eifersüchtig unter Beweis stellt, dass ihm etwas an der Beziehung liegt.

Mythos 5: Der Betrogene ist zumindest mit schuld, wenn der untreue Partner sich auf ein Abenteuer einlässt

Eine wunderbare Entschuldigung für den untreuen Partner! Er war es nicht selbst, sondern der böse, unfreundliche, langweilige, entzauberte Partner hat ihn förmlich weggetrieben. Kein Wunder, wenn er Trost und Verständnis außer Haus sucht.

Hier sind die psychologische und die moralische Ebene gut auseinanderzuhalten. Psychologisch ist es durchaus sinnvoll, die Paardynamik des primären Paares mit zu berücksichtigen. Aber sie ist nur die Hintergrundmusik der Affäre, nicht ihre Ursache. Verantwortlich für seine Taten – bei aller Paardynamik – ist der untreue, nicht der betrogene Partner, mag dieser den untreuen auch noch so schlecht behandelt haben.

Mythos 6: Nach einer Affäre ist die Beziehung nicht mehr zu retten

Selbst wenn die Partner doch zusammenbleiben – der Riss in der Beziehung geht so tief, dass er nie mehr zusammenwächst. So der Mythos. Alles, was die Partner besprechen, was sie einander gestehen und verzeihen mögen, es ist nie mehr so wie zuvor: Die Wunde heilt nie richtig zu. In der Tat können Partner es schaffen, Wunden nicht verheilen zu lassen, indem sie sie ständig wieder aufkratzen. Aber auch die emotionalen Narben nach einer Außenbeziehung können mehr oder weniger gut verheilen, wenn man sie lässt.

Freilich: Manche Ehen wollen auch nicht mehr gerettet werden. Deshalb haben manche Affären eine eigene Agenda als »exit affairs«: Sie sollen die Trennung vorantreiben. Ein verletzter Partner willigt lieber in eine Trennung ein als ein argloser. Und wem der Mut zu klaren Worten fehlt, der kann auf dem indirekten Weg einer Affäre das ausdrücken, was er verbal nicht zu sagen vermag.

Alle diese Mythen sind einseitig und besserwisserisch. Sie vereinfachen, was komplex ist. Sie bewerten statt zu verstehen. Sie verfestigen, was fließen will.

Affären sind Geschichten mit offenem Ausgang. Sie werden unterschiedlich gelebt, erlebt und erzählt: als Tragödie mit vernichtendem Schluss, als Komödie voller Absurditäten, Verwirrungen und Slapsticks, als schwergängiges Drama mit Heldentaten, Triumph und Niederlage. An Vitalität fehlt es jedenfalls nicht. Affären wollen Leben.

 Keiner bekommt die Beziehung, die er verdient. Für manche Leute ist dies Anlass zu endloser Verstimmung, für manche Leute die Quelle endlosen Begehrens.
 Adam Phillips

Jedem Zauber wohnt ein Ende inne – Das Dilemma der Monogamie

Frau oder Geliebte?

Am Telefon macht Robert einen skeptischen Eindruck auf mich. Er wolle über seinen Ehekonflikt erst einmal mit mir allein sprechen, sagt er mir. Warum, wenn es doch offenbar beide betrifft, will ich wissen. Seine Antwort: Er könne seiner Frau nicht alles sagen.

Ich bin auf einen kühlen, kalkulierenden Menschen eingestellt, als ich Robert zwei Wochen später in meiner Praxis begrüße. Aber mir tritt ein sympathischer Mann mit offenem Blick gegenüber. Und in der Tat befindet er sich in einer Klemme.

Er ist seit zwölf Jahren verheiratet und hat mit seiner Frau eine zehnjährige Tochter. Beide sind erfolgreich in anspruchsvollen Berufen tätig. Und sie verstehen sich gut.

Dass die Sexualität in den Hintergrund ihrer Doppelkarriere-Ehe getreten ist, war für beide lange Zeit kein ernstes Problem gewesen. Bis Robert ein Verhältnis mit einer anderen Frau beginnt. Dieser Affäre folgte eine zweite, die er noch fortführt. Robert sieht sich in einer selbstgebauten Falle gefangen: Je intensiver er die Sexualität mit seiner Geliebten erlebt, umso schwerer fällt es ihm, sich sexuell auf seine Frau einzulassen. Er beschreibt eine zunehmende Schwierigkeit, sein sexuelles Interesse bei seiner Frau aufrechtzuerhalten. Ihn stören körperliche Kleinigkeiten, die er früher gar nicht beachtet hatte. Manchmal lässt auch seine Erektion nach. Er möchte sein weiteres Leben unbedingt mit seiner Frau verbringen, aber er mag auch die Freundin nicht aufgeben.

Typisch Mann? Untreu sein. Sich nicht entscheiden? Und beides haben wollen: Die Sicherheit und die Leidenschaft?

Die alte Liebe und der neue Ehemann

Eva hat den Therapie-Termin so gelegt, dass er in ihrem Tagesablauf nicht auffällt. Ihr Mann soll nicht wissen, dass sie zu einem Paartherapeuten geht. Er würde sonst nachfragen. Lange und detailliert erzählt sie mir ihre Geschichte. Vor drei Jahren hat sie den Mann wiedergetroffen, mit dem sie vor dreißig Jahren zusammen war. Glücklich zusammen war, bis er sich wegen einer anderen Frau von ihr trennte. Seit kurzem ist die alte Liebe wieder aufgeflammt. Sie treffen sich heimlich in seiner Wohnung, alle zwei Wochen zu einem festen Termin, den sie ihrem Mann gegenüber als regelmäßigen auswärtigen dienstlichen Termin begründet. Der Freund lebt während der Woche von seiner Familie getrennt und verbringt die Wochenenden mit seiner Frau und den zwei Kindern. Auf ihre Frage, ob er denn nun noch mit seiner Frau zusammen sei oder nicht, bekommt sie keine befriedigende Antwort.

Ihr Mann ist arglos, ahnt von nichts. Warum auch? Die beiden verstehen sich gut, lassen sich nach 25 Jahren Ehe ihre Freiräume. Ihr Leben geht mit Kind, Freunden, Urlaub und Eigentumswohnung einen komfortablen Gang.

Die praktische Seite von Evas Außenbeziehung stellt sich relativ einfach dar: Ihr Mann zeigt sich nicht misstrauisch, ihr Freund bedrängt sie nicht. Selbst dieser Teil ihres Lebens scheint unkompliziert. Aber nur äußerlich. Innerlich ist sie aufgewühlt. Nachdem die alte Liebe wieder aufgetaucht war, fragte sie sich anfangs, ob sie das richtige Leben lebt. Ob die gute und verlässliche, aber leidenschaftslose Bindung zu ihrem Mann das Richtige war. Ob die alte Liebe tragfähig genug wäre, um die Trennung vom Ehemann für eine neue Liebes- und Lebensphase zu riskieren. Aber diese Gedanken verfliegen. Nein, sie kann es nicht. Der Freund möchte nichts ändern. Er möchte zumindest nach außen als Ehemann seiner Frau gelten. Aber selbst wenn er wollte – sie weiß ja auch gar nicht, was sie selbst will.

Damals hat der Freund sie sitzen lassen. Auch heute verhält er sich abgegrenzt, und sie ahnt, dass er keine für den Alltag bessere Alternative zu ihrem Mann wäre. Also gibt es eigentlich praktisch nichts zu entscheiden. Wenn nur diese Gefühle nicht wären! Mit der alten Liebe ist eine Intensität und Leidenschaft aufgekommen, die sie mehr beschäftigt, als ihr lieb ist – und auf die sie zugleich nicht verzichten möchte.

Robert und Eva. Zwei außereheliche Beziehungen. Langjährige Ehen in beiden Fällen. Und keine schlechten Ehen! Nichts, was darauf hinweist, dass Robert oder Eva aus einer unglücklichen Ehe in die Arme eines verständnisvolleren Partners geflohen wären. Nein. Beide verstehen sich mit ihren Ehepartnern gut. Die Ehen sind alles andere als ein schlechter Kompromiss. Kein ernster Grund zur Klage. Und trotzdem die Außenbeziehung. Keine Verirrung für eine Nacht. Keine wollüstige Verrücktheit, die sich auf das Argument »nur Sex« reduzieren ließe.

Beide haben sich auf eine Außenbeziehung eingelassen, die nicht nur so nebenbei läuft. Nicht ganz unabhängig von der Ehe entstanden, hat sich die Affäre irgendwann selbstständig gemacht und wird zu einer eigenen Beziehung in it’s own right, wie das auf Englisch so treffend heißt. Kein einfacher Ersatz also für etwas, das woanders fehlt. Aber auch keine Alternative zur Ehe. Und doch nicht unabhängig von ihr entstanden.

Was hat es mit diesen außerpartnerschaftlichen Beziehungen auf sich? Ich habe in meiner psychotherapeutischen Praxis zunehmend mit solchen Dreieckskonstellationen zu tun, die spannungsgeladen sind und die Partner in ein schwieriges Dilemma bringen. Die zu einer Lösung drängen, aber gleichzeitig keine einfachen Lösungen zulassen. Dabei sind moralische Skrupel nur ein kleiner Teil der Geschichte. Meist gehen sie den Akteuren nicht nur ans Gewissen, sondern ans Herz. Und stellen ganze Lebenspläne in Frage.

Affären, weil der Sex besser ist?

Sex mit dem Liebhaber und mit der Geliebten ist besser als mit dem Ehemann oder der Ehefrau. Das erleben fast alle Fremdgeher. Und fast alle Liebhaber und Geliebten fühlen sich den Ehemännern und Ehefrauen erotisch überlegen. Aber das ist keine Kunst. Alles wirkt neu, geheim, aufregend und mit ungewisser Zukunft. Der ganze Organismus ist im Wachzustand, aktiviert, belebt. Da hat die Erotik ein günstiges Umfeld. Mit der besonderen Person hat das weniger zu tun als mit der besonderen Situation. Das wird gerne verwechselt, besonders von den beiden, die gerade in einer Affäre ihr High erleben. Eine naheliegende Verwechslung, die durch einen spezifischen Kontrasteffekt zustande kommt, den Vergleich mit der langjährigen Ehe oder Partnerschaft. Sie ist der Hintergrund, auf dem sich der Glanz der Liebesaffäre entfalten kann.

Sexuelle Beziehungen werden mit der Zeit meist nicht intensiver. Die gemeinsame Geschichte vieler sexueller Begegnungen, die ein Paar miteinander erlebt hat, wird oft nicht als Reichtum, sondern als Gewohnheit erlebt, im besseren Fall als sexuelle Zufriedenheit, im schlechteren Fall als sexuelle Langeweile.

Das kann so laufen, ohne dass die Partner etwas falsch gemacht haben müssen. Es passiert einfach. Für manche Paare ist das kein Verlust. Anderes tritt an die Stelle, Kinder, Haus, berufliche Entwicklungen. Andere Paare erleben den Verlust als bedrohlich, als Beleg dafür, dass die Liebe schwindet. Aber genau das ist der Grund vieler sexueller Konflikte: diese Gleichsetzung von Liebe und Erotik. Die Vorstellung, Vertrautheit müsse erotische Anziehung mit sich bringen. Deshalb lauert hier die Gefahr – oder Chance – der Affäre. Sie hat erotisch die besseren Karten.

Beziehungen sind endlich

Ein Dilemma, mit dem Paare heute leben, ist diese Spannung zwischen der Faszination des romantischen Liebesideals und der Realität seines unablässigen Scheiterns. Auf der einen Seite die große Liebe. Sie verspricht alles: Leidenschaft, Verlässlichkeit, Nähe, Gemeinsamkeit, Kinder, Erotik. Gemeinsam alt werden. Und alles nur mit einer Person und das für immer. Die Königin der Zweierbeziehung.

Auf der anderen Seite das Ende des Traums. Die Endlichkeit von Paarbeziehungen wird immer häufiger erlebt. Die meisten Liebesbeziehungen halten nicht, bis der Tod sie scheidet, sondern bis ein Partner sich trennt. Die Soziologen haben dafür den schrecklichen Begriff »serielle Monogamie« gewählt: eine Monogamie nach der anderen. Nicht schön, aber wahr. Mehr noch: der Normalfall moderner Lebensgeschichten.

Die Hamburg-Leipziger Forschergruppe um Gunter Schmidt und Kurt Starke1 hat bei einer repräsentativen Stichprobe gefunden: Die heute Dreißigjährigen haben im Durchschnitt 3,6 feste Partnerschaften gehabt, einschließlich der jetzigen. Das heißt auch: Sie haben sich im Durchschnitt zwei- bis dreimal getrennt und sind drei- bis viermal eine neue Beziehung eingegangen. Die »Kontinuitätsbiographie« mit einer früh geschlossenen Ehe, die bis zum Tod eines Partners dauert, ist heute eine Ausnahme geworden. Daneben hat sich eine Vielfalt von unterschiedlichen beziehungsbiographischen Mustern entwickelt, die nebeneinander bestehen und die allesamt kulturell akzeptiert sind. »Kettenbiographien«, eine Folge von jeweils mehrjährigen Partnerschaften, »Umbruchsbiographien« mit späten Scheidungen und neuer Bindung. Weder Heirat noch Zusammenleben werden als notwendig erlebt. »Living apart together« ist nicht notwendigerweise eine vorläufige Beziehungsform, sondern eine eigenständige Lebensweise. Auch Paarbeziehungen folgen einem multikulturellen Prinzip.

Dem kulturellen Nebeneinander verschiedener Beziehungsformen entspricht ein beziehungsbiographisches Nacheinander. Der Begriff des »Lebensabschnittspartners« beschreibt das sarkastisch präzise. Sarkastisch, weil die Innensicht einer lebendigen Liebesbeziehung das Ende nicht zur Kenntnis nehmen will. Zwei Partner, die glücklich miteinander sind, werden diesen Begriff als beleidigend ablehnen, weil er die Beziehung relativiert und in Frage stellt. Trotzdem beschreibt dieses Unwort von außen betrachtet etwas Zutreffendes: Die Liebesbeziehung mit einer Person begleitet eine bestimmte Lebensphase, und meist nur diese. Vielleicht traurig, meist aber zutreffend: Nicht der Tod, sondern die Partner beenden die Beziehung.

Aber nicht nur zeitlich sind Paarbeziehungen endlich, auch inhaltlich und emotional. Je mehr eine Beziehung wächst, desto deutlicher erkennen die Partner ihre Grenzen und desto spürbarer wird der Unterschied zwischen dem Menschen, den man sich wünscht, und dem Partner, mit dem man leibhaftig zusammenlebt. Zwischen dem Menschen, für den man ihn mal hielt, und dem, als der er sich jetzt entpuppt.

Der klassische Dreisatz: verliebt – gebunden – desillusioniert

Der Dreisatz, der früher lautete »verliebt – verlobt – verheiratet«, lautet heute anders: verliebt – gebunden – desillusioniert. Aber das klingt nur anders. Es ist dasselbe Drama: Dieser Verlauf von der Verliebtheit über die engere Partnerbindung hin zur Desillusionierung ist unabweisbar. Er liegt gewissermaßen in der Natur der Sache und ist alles andere als neu. Frühere Generationen haben diese Erfahrung auch gemacht. Neu ist etwas anderes, nämlich die Konsequenz, die aus diesem Verlauf gezogen wird.

Die Toleranz und die Bereitschaft, sich in sein Schicksal zu fügen, die Tugend des Durchhaltens haben sich dramatisch reduziert. Damit sind nicht nur Trennungen normaler geworden, sondern auch Neuanfänge. Der Beziehungsumsatz pro Leben steigt. Der Partnermarkt ist aktiver. In ein Menschenleben passen mehrere Trennungen, mehrere Neuanfänge und mehrere Partnerschaften. Und neben den Beziehungen ist auch noch Platz für Affären.

Diese Tatsache wird oft negativ so interpretiert, dass die Menschen weniger beziehungswillig und bindungsfähig seien, dass sie sich leichtfertig trennen, dass der Ernst bei der Partnerwahl einer Beliebigkeit und Kurzlebigkeit gewichen sei. Dabei geht es in den meisten Fällen gar nicht so leichtfertig zu, und es ist auch mehr Ernst im Spiel, als es auf den ersten Blick aussieht. Die Veränderung der Beziehungsbiographien lässt sich nämlich auch umgekehrt bewerten: Dem Liebesglück wird eine immer wichtigere Bedeutung gegeben. Beziehungen werden enger an das erlebte Glück und auch an eine partnerschaftliche Sexualität gekoppelt, die wenn schon nicht leidenschaftlich, so doch wenigstens einigermaßen befriedigend sein soll. Darunter geht’s nicht. Jedenfalls nicht auf Dauer. Beziehungen, die nicht von Liebe getragen sind, werden nicht mehr für wertvoll erachtet. Vernunftehen sind out.

So wird die nachlassende Leidenschaft auch weniger als der normale Verlauf bewertet und akzeptiert, sondern steht vielmehr im Verdacht, Symptom einer Krise zu sein. Und wo die Krise ist, lassen Lösungsangebote nicht auf sich warten. Parallel mit der Bereitschaft, unbefriedigende Beziehungen zu beenden und neue Beziehungen einzugehen, sind Zahl und Qualität der Lösungsanbieter gewachsen. Die Groß-Botschaft, die Paartherapien und Beziehungsratgeber transportieren, lautet: Beziehungsglück ist machbar.

»Glück ist machbar«

Partnerschaftliches Glück und Pech werden heute viel weniger als vorgegeben und viel mehr als machbar gesehen. Ein attraktives Ideal: Das Glück liegt in meiner Hand. Die Vorstellung vom machbaren Glück verändert auch den Blick über den Zaun der Partnerschaft. Der Blick wird intensiver, je vergänglicher das partnerschaftliche Paradies erscheint. Man muss nur suchen. Einen neuen Partner, der mehr verspricht, weil er noch nicht realitätsgeprüft ist: Neues Spiel – neues Glück. Oder einen zusätzlichen Partner, der die Lücke füllt, die der feste Partner geöffnet hat: die Liebesaffäre.

So etwa liest sich eine gängige Interpretation der Affäre, die je nach Ausrichtung des Autors mit kulturkritischer Schwere oder hedonistischer Leichtigkeit daherkommt. Jeder ist seines Glückes Schmied. Also auch seines Unglücks. Und seiner Beziehungen. Aber auch der Schmied muss entscheiden, was er schmieden will. Entscheidungen haben ihren Preis.

Das ist das Dilemma von Robert. Entweder er gibt die ansonsten gute Ehe auf, oder er opfert die leidenschaftliche Sexualität. Sein Wunsch, mehr sexuelles Interesse für seine Frau zu entwickeln, ist zwiespältig. Einerseits befragt er mich nach Mitteln und Wegen. Jeden praktischen Vorschlag, den ich mache, lässt er aber ins Leere laufen. Er wird nicht aktiv. Nach einigen Sitzungen kommt er zu dem Ergebnis: »Ich kann mir nichts vormachen: Ich bin einfach nicht monogam. Selbst wenn mit der jetzigen Freundin Schluss wäre, käme die nächste.« Und mit einem verlegenen Lächeln: »Schlimm, nicht?« Das finde ich nicht. Aber ich finde, dass seine passive Haltung und seine Unschlüssigkeit ihm nicht guttut.

Dem Partner oder sich selbst treu sein?

Wir wägen Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten ab. Das nutzt so lange nichts, wie Robert davon überzeugt ist, ein Opfer seiner eigenen Unentschiedenheit zu sein.

Dabei denkt er nicht nur taktisch. Aufrichtigkeit ist auch für ihn ein Wert. Eigentlich sollte seine Frau wissen, was mit ihm los ist. Da für ihn solche moralischen Skrupel bedeutsam sind, macht er sich Vorwürfe und wertet seine Sexualität ab. Zu einer Wende kommt es, als ich seinen moralischen Anspruch aufgreife und ihn frage, ob er eher seiner Frau oder eher sich selbst treu sein will. Das bringt seinen Konflikt für ihn in ein neues Licht.

Eines Tages berichtet er mir das Ergebnis seiner Überlegungen: »Wie ich mich auch drehe und wende, ich will weder meine Ehe riskieren noch meine Affären aufgeben. Ich sollte aufhören herumzujammern. Sondern ich mache das dann eben so: Ich übernehme Verantwortung für mein Verhalten. Ich bleibe bei meiner Frau, sage ihr aber nicht, dass ich meine Affären weiterlebe.« Ich frage ihn, inwiefern das etwas an der Sexualität mit seiner Frau ändert. Er grinst: »Sie werden lachen. Ich habe mich zu freundlichem Ehe-Sex entschieden. Es muss nach den ganzen Jahren ja nicht aufregend sein.« Also bekennendes Doppelleben?, frage ich. Freundlicher Sex in der Ehe. Leidenschaftlicher Sex mit der Freundin? »Ja. Ich glaube, das geht.«

Robert hat entschieden. Wir beenden die Gespräche. Ich wage keine Prognose über sein weiteres Liebesleben. Er hat sich für eine Lösung auf Zeit entschieden. Immerhin.

Der Preis der Treue

Geht es nicht einfacher? Einfach treu sein? Und auf Verführungen verzichten: Schätzen, was man hat, und die Suche nach neuen Anreizen bleiben lassen? Treue erspart Ärger, lässt bestimmte Konflikte erst gar nicht entstehen. Treue ist energiesparend. Sie schafft übersichtliche Verhältnisse und garantiert eine ruhigen Schlaf. Sie ermöglicht es, ohne Arg und Tücke dem Menschen ins Gesicht zu sehen, mit dem man Tisch und Bett, womöglich sogar den Nachnamen teilt. Treue schafft Raum für lebensqualitätserhöhende Aktivitäten aller Art, schont die Nerven vor bösen, niederträchtigen, deprimierenden und herzzerreißenden Gefühlen. Ein treues Leben – eine psychosomatische Kur!