Monica M. Vaughan
Das Geheimnis von SIX
Roman
Aus dem Englischen von
Anja Hansen-Schmidt
Deutscher Taschenbuch Verlag
© privat
Monica M. Vaughan wuchs als Tochter südamerikanischer Eltern in Spanien auf, bevor sie mit fünf Jahren nach London zog. Englisch lernte sie vor allem, indem sie Roald Dahl las und die Sesamstraße guckte. Nach der Schule wurde sie Lehrerin und arbeitet seit einigen Jahren mit verhaltensauffälligen Kindern. Monica M. Vaughan lebt mit ihrer Familie in London.
Anja Hansen-Schmidt, geboren 1970, studierte Amerikanistik, Anglistik und Politik in Tübingen und St. Paul, Minnesota. Seit 1999 arbeitet sie als freie Übersetzerin, vorwiegend im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.
FINDE
SOLOMON GLADSTONE!
Das ist die letzte Nachricht, die der 12-jährige Parker von seinem Vater erhält, kurz bevor dieser entführt wird. Und dann wird Parker plötzlich selbst von seltsamen Männern in schwarzen Anzügen verfolgt. Ganz egal wie, Parker muss dringend diesen Gladstone finden. Mithilfe seines Freundes Michael kommen sie ihm tatsächlich auf die Spur. Und stoßen dabei auf ein streng geheimes Projekt, an dem Parkers Vater gearbeitet hat, ein Projekt namens SIX …
Das neue Action-Abenteuer von der Autorin der ›Spione von Myers Holt‹
Deutsche Erstausgabe
2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2015 MM Vaughan
Titel der englischen Originalausgabe: ›SIX‹,
erschienen 2015 bei Simon & Schuster Children’s Publishing, New York
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlagbild und -gestaltung: Max Meinzold
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43094-4 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76153-6
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423430944
Für Emilia, meine Dorothy
Teil I
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Teil II
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
Teil III
SIX
Über Monica M. Vaughan
Über das Buch
Impressum
00:00
Er hatte sich immer gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde.
Tat es weh?
Würde er überhaupt merken, dass etwas passierte?
Ironischerweise hätte Dr. Banks die wissenschaftlichen Vorgänge hinter dem Verfahren bis ins kleinste Detail erklären können. Jeden einzelnen Schritt, der nötig war, um einen menschlichen Körper an einem Ort Zelle für Zelle auseinanderzubauen und diesen Prozess dann an einem anderen Ort wieder rückgängig zu machen. Aber diese einfache Frage zu beantworten, wie es sich anfühlte, war ihm bis heute nicht möglich gewesen.
Bislang, so konnte er feststellen, tat es kein bisschen weh. Und ja, er wusste genau, was passierte, obwohl seine Gedanken wirr und flatterhaft waren, klar in einem Moment, nur um gleich darauf wieder in den Dämmer eines traumartigen Nebels gerissen zu werden.
Das leise Kribbeln in seinen Beinen wurde erst dann spürbar, als es sich zusammenzog und seine Kraft bündelte, sich auf die Mitte seines linken Schienbeins konzentrierte und von dort allmählich nach oben wanderte. Seine Kniescheibe begann zu vibrieren.
Eine vertraute Checkliste erschien in Dr. Banks’ Kopf. Der Beginn von Phase acht, dachte er, die Rekonstruktion der Details. Es war fast vorbei.
Aus dem Kribbeln war mittlerweile ein heftiges Zittern geworden, das langsam durch seinen Körper wanderte – einen Körper, der in diesem Moment nur zur Hälfte existierte.
Es war unangenehm, aber nicht schmerzhaft.
Dr. Banks spürte, wie die Vibrationen sein Rückgrat hinaufkrochen und einen Wirbel nach dem anderen erklommen wie die Sprossen einer Leiter. Sobald sie sein Genick erreicht hatten, breitete sich das Zittern in seinen Schultern aus und eine überwältigende Panik brach auf einmal über ihn herein.
Etwas stimmte nicht.
Ehe Dr. Banks herausfinden konnte, was das war, verzog sich die Angst, und der Gedanke verschwand aus seinem Bewusstsein.
Das Kribbeln wanderte weiter, während sein Körper Stück um Stück wieder zusammengefügt wurde: das Kinn, die Lippen, die Wangenknochen, dann die Nase.
Wieder kam eine Welle der Angst über ihn: Da war etwas, das er vergessen hatte. Etwas Wichtiges.
Sein linkes Augenlid zuckte. Orange-weiße Rechtecke erschienen und waren hinter seinen Augenlidern gefangen. Sein Sehvermögen kehrte zurück. Die Rechtecke sprangen wild umher, seine Augenlider zuckten immer heftiger, und dann, so plötzlich, als hätte jemand mit den Fingern geschnippt, hörte alles auf. Das Brummen um ihn herum verstummte und die Vibrationen ließen nach.
Er schlug die Augen auf.
Dr. Banks lag völlig reglos auf etwas, das sich wie ein gepolsterter Tisch anfühlte. Er starrte nach oben und wartete, bis sich seine Augen an das schummrige ultraviolette Licht gewöhnt hatten. Seine Sicht wurde schärfer und dann konnte er auch die schwarzen Linien zwischen den dunkelgrauen Deckenfliesen erkennen. Sein Kopf fühlte sich trotzdem immer noch an, als sei er voller Watte. Es war die gleiche Verwirrung und Benommenheit, die er spürte, wenn sein Wecker ihn aus dem Tiefschlaf riss. Nur dass er sich ziemlich sicher war, dass er gerade nicht schlief. Und er lag auch ganz sicher nicht zu Hause in seinem Bett. Soweit er erkennen konnte, befand er sich in einem kleinen, quadratischen Zimmer mit schlichten schwarzen Wänden. Es gab keine Bilder, keine Schilder. Nichts außer der Liege, auf der er lag, und ihm selbst.
Und … und … Was war das?
Dr. Banks starrte auf eine türkisfarbene Lederhandtasche, die in einer Ecke des Raums stand, und fragte sich, ob er unter Halluzinationen litt.
Er machte die Augen zu und öffnete sie wieder. Die Tasche stand immer noch da.
Wo war er?
Das Brummen kehrte auf einmal zurück und auch das Zittern, tiefer diesmal, auf beiden Seiten seines Körpers, direkt unter den Ellbogen. Er konzentrierte sich auf seine rechte Hand.
Erst in diesem Moment bemerkte er, dass sie nicht da war. Noch nicht.
Dr. Banks starrte auf seinen Ellbogen und beobachtete, wie sein Unterarm langsam Gestalt annahm. Atom für Atom, Molekül für Molekül fügten sich zusammen wie winzige Bausteine, bis der Arm sich zu einem Handgelenk verjüngte und dann wieder breiter wurde für die Handfläche und dann die Finger.
Endlich verschwand das Kribbeln. Er hob seine neu geschaffene Hand vor die Augen, beugte abwechselnd die Finger und musterte die Handfläche mit den tiefen Falten und das Handgelenk. Ein Handgelenk allerdings, wie er entsetzt feststellte, das nicht ganz so aussah, wie es aussehen sollte.
Und in diesem Moment fiel ihm alles wieder ein.
Auf einmal war sein Kopf klar, sein Herz fing an zu rasen und sein Atem wurde schneller.
Ohne darüber nachzudenken, drückte er mit der anderen Hand panisch auf die beiden Seiten seines Handgelenks.
»Parker!«, rief er. »Emma!«
Nichts. Er setzte sich kerzengerade auf und presste noch fester.
»Antwortet mir!«
Wieder und wieder rief er die beiden Namen, mittlerweile schweißnass im Gesicht, bis die Wand vor ihm mit einem lauten Zischen aufglitt und blendend weißes Licht in den Raum flutete.
Einen kurzen Moment lang drückte Dr. Banks weiter laut schreiend auf seinem Handgelenk herum, während seine Panik jede Vernunft erstickte. Dann hatten sich seine Augen an das Licht gewöhnt und er konnte den benachbarten Raum erkennen. Er verstummte.
Das Erste, was Dr. Banks sah, noch vor den Menschen in den roten Uniformen oder der Aussicht aus dem Fenster im Hintergrund, war das Zeichen an der Wand.
Drei Buchstaben aus massivem Gold.
Drei Buchstaben, die ihn mit dem allergrößten Entsetzen erfüllten.
SIX.
71:38
Parker war erst seit fünf Tagen Schüler an der River Creek Middle School in der Nähe von New York, aber er wusste schon jetzt, dass er die Schule hasste. Das lag nicht nur daran, dass er seine alte Schule vermisste, die Freunde in England und den Bauernhof, auf dem er aufgewachsen war. Und auch nicht unbedingt daran, dass man ihn gezwungen hatte, in eine Stadt zu ziehen, die nur knapp eine Stunde von dem Ort entfernt lag, wo seine Mutter gestorben war. Der wichtigste Grund für seine Abneigung war, dass er sich noch nie so einsam gefühlt hatte.
Parker beobachtete, wie Jenna im Klassenzimmer nach vorne hüpfte. Sie wirbelte herum, dass ihre beiden braunen Zöpfe nur so flogen, schaute zu ihrer Freundin in der ersten Reihe und kicherte.
»Fang einfach an, wenn du so weit bist«, sagte Mrs Ford.
Die Lehrerin faltete die Hände und beugte sich strahlend über den Tisch, als hätte sie schon die ganze Zeit genau auf diese Präsentation gewartet. Ihre Begeisterung wäre deutlich glaubwürdiger gewesen, hätte sie das Gleiche nicht vor jeder der zweiundzwanzig Präsentationen gesagt, die Parker und seine Klassenkameraden bereits über sich ergehen lassen mussten.
Er fragte sich, ob Mrs Ford das gleiche Getue auch bei der dreiundzwanzigsten Präsentation vorführen würde. Das wäre dann nämlich seine. Er hoffte inständig, dass er das nicht herausfinden musste, wenigstens nicht heute.
Jenna hustete kurz, kicherte wieder und las ihr Referat von einem einzigen, handbeschriebenen Blatt ab.
»Die Person, die ich am meisten bewundere, ist Missy May …«
Als Parker hörte, wie erneut der Name eines Popstars vorgelesen wurde, sank ihm das Herz in die Hose. Er schaute auf die Uhr. Noch acht Minuten.
»Ich finde, sie ist eine super Sängerin und ein echt super Vorbild für Mädchen in meinem Alter. Ihre Lieder sind super und sie hat immer gute Laune, obwohl sie den ganzen Tag über für die Fotografen lächeln muss …«
Parkers Augen folgten dem roten Sekundenzeiger, der sich quälend langsam über das Ziffernblatt bewegte.
»Mein Lieblingslied von ihr ist ›Happy La La Land‹. Der Text ist einfach superschön …«
Wenn Jenna das Wort super noch fünf Minuten lang wiederholen würde, könnte Parker nach Hause gehen und seine Präsentation vor der nächsten Stunde noch mal umschreiben.
Lustigerweise war es die einzige Hausaufgabe in dieser Woche gewesen, die er einigermaßen gern gemacht hatte. In seiner alten Schule in England hatte er im letzten Schuljahr genau die gleiche Frage beantworten müssen. Daher hatte Parker einfach alles aufgeschrieben, woran er sich von seinem alten Referat noch erinnerte, ein paar Einzelheiten hinzugefügt, damit alles auf dem neuesten Stand war, das Ganze dann in seinen Ranzen gestopft und keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Doch mittlerweile hatten fast alle Schüler aus der Klasse ihre Vorträge gehalten und bisher war es in jedem einzelnen davon um irgendwelche Stars gegangen. Er wusste, es war albern, sich darüber Gedanken zu machen, und an seiner alten Schule hätte ihn das auch nicht geschert, aber nachdem er die ganze Woche von allen total ignoriert worden war, wollte er nicht wegen so etwas zum ersten Mal im Mittelpunkt stehen.
»Und deshalb bewundere ich die supertolle Missy May so sehr. Danke fürs Zuhören.«
Parkers Kopf schoss in die Höhe. Schon fertig? Das kann nicht länger als zwei Minuten gedauert haben, dachte er, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er recht hatte.
»Gut gemacht, Jenna. Vielleicht ein bisschen zu wenig Zeitangaben und Fakten, aber sehr gut vorgetragen«, sagte Mrs Ford. Jenna grinste und hüpfte unter müdem Applaus zurück an ihren Platz.
»Da bleibt uns ja noch Zeit für eine weitere Präsentation.«
Oh nein, dachte Parker. Er senkte den Kopf und ließ sich so tief nach unten rutschen, wie es möglich war, ohne vom Stuhl zu fallen. Eine kurze Pause entstand, dann hörte er Mrs Ford fragen, wie der neue Junge dahinten denn bitte schön hieß. Keiner antwortete.
Aus dem Augenwinkel sah er die Lehrerin auf sich zukommen. Er wartete, bis sie an seinem Tisch stehen geblieben war, und schaute dann erst zögernd auf.
»Parker? Du bist dran«, sagte Mrs Ford.
Parker zögerte. Er fragte sich, ob sie ihn wohl verschonen würde, wenn er sie anflehte, seinen Vortrag doch bitte zu verschieben. Doch bevor er etwas sagen konnte, beugte sich Mrs Ford schon zu ihm.
»Hast du die Präsentation vorbereitet?«
Parker nickte. »Aber, ähm, ich … ich glaube, ich habe nicht richtig verstanden, was wir machen sollen. Wäre es in Ordnung, wenn ich die Präsentation nächste Woche halte?«
Mrs Ford schien ihn nicht zu hören, und er merkte schnell, warum: Sie war zu sehr damit beschäftigt, das Blatt auf seinem Tisch zu lesen. Rasch legte er die Hand darüber, aber es war zu spät.
»Ich weiß nicht, wo das Problem liegt. Das ist doch ganz wunderbar!«
Parker spürte die Augen der ganzen Klasse auf sich. Er senkte die Stimme.
»Mein Referat handelt aber nicht von einer berühmten Persönlichkeit.«
Mrs Ford lachte leise. »Oh, das macht doch nichts. Und jetzt los, hoch mit dir.«
Parker verzog das Gesicht. Er nahm das Blatt von seinem Tisch, ging langsam nach vorne und stellte sich vor die Klasse. Zum ersten Mal, seit er an der Schule war, herrschte Stille im Klassenzimmer. Niedergeschlagen stellte Parker fest, dass ihn alle aufmerksam beobachteten. Vermutlich waren sie neugierig, wie der neue Mitschüler so war.
Mrs Ford saß schon wieder auf ihrem Stuhl, die Hände gefaltet, und lächelte. Sie nickte ihm zu, und Parker, der mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf dastand, fing an zu sprechen.
»Die Person, die ich am meisten bewundere, ist mein Vater …«
»Etwas lauter, bitte, Parker. Wir hören dich sonst nicht«, unterbrach ihn Mrs Ford.
Parker holte tief Luft und fing noch einmal, immer noch mit gesenktem Kopf, aber diesmal mit lauterer Stimme.
»Die Person, die ich am meisten bewundere, ist mein Vater, Dr. Geoffrey Banks …«
Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, zog eine Welle leisen Gelächters durch die Klasse.
»Der Grund, warum ich meinen Vater ausgesucht habe …«
Noch mehr unterdrücktes Gekicher. Parker biss die Zähne zusammen und sah zu Mrs Ford.
»Du machst das ganz toll«, sagte sie und warf einem Schüler in der letzten Reihe einen bösen Blick zu.
»Ich habe ihn gewählt, weil er sich in den letzten drei Jahren ganz allein um meine Schwester und mich kümmern musste und weil er gleichzeitig an einigen der wichtigsten Forschungsprojekte, an denen die Wissenschaft derzeit arbeitet, beteiligt war. Mein Vater …«
Eine weitere Welle an Gelächter ertönte und Parker erstarrte. Er drehte sich zu Mrs Ford, die ihm bedeutete, weiterzumachen.
Er holte tief Luft, sah aber nicht auf. Nur noch ein paar Minuten, sagte er sich, dann kannst du das Ganze abhaken.
»Mein Vater ist Biophysiker und forscht im Bereich der molekularen Biophysik«, fuhr Parker fort. »In ihrer Studienzeit in Cambridge arbeiteten mein Vater und meine Mutter, die ebenfalls Wissenschaftlerin war, in einer Forschungsgruppe, die DNA sequenzierte. DNA ist das Molekül, das jeder Zelle in einem Organismus sagt, was sie zu tun hat, und sie kann …«
Während Parker erklärte, was eine DNA war, sah er, wie ein Mädchen heimlich gelangweilt die Augen verdrehte und ein anderes kicherte. Ein Junge – er hieß Aaron, wenn Parker sich recht erinnerte – beugte sich zu seinem Nachbarn und flüsterte ihm etwas zu. Beide grinsten.
In diesem Moment beschloss Parker, dass es ihm egal war, was für eine Note er bekam. Er wollte nur, dass es endlich vorbei war. Deshalb schaute er wieder auf sein Blatt und fuhr mit dem Finger daran entlang, bis er zum letzten Absatz kam.
»Die Arbeit meines Vaters hat Auswirkungen auf DNA-Tests bis hin zum Klonen. Ich bewundere ihn sehr, als Mensch und für seine Arbeit, und hoffe, dass ich eines Tages ein so guter Wissenschaftler sein werde wie er. Vielen Dank.«
Parker war schon wieder bei seinem Tisch angekommen, bevor den anderen klar wurde, dass seine Präsentation vorüber war. Es gab keinen Applaus.
Mit hochrotem Kopf setzte er sich auf seinen Stuhl. Er verschränkte die Arme und schaute nicht einmal dann auf, als Mrs Ford ihm für seinen kurzen, aber interessanten Vortrag dankte. Er kam sich so unendlich dumm vor. Hätte er nur einen Astronauten gewählt oder jemanden, den alle kannten. Und doch … Seine Verlegenheit verwandelte sich in Wut … So schlecht war es gar nicht gewesen. Gut, er hatte seinen Vater als Thema genommen, aber sein Dad hatte nun mal einen interessanten Beruf. Seiner Meinung nach war es viel schlimmer, Missy May als Thema für so ein Referat auszusuchen. Erst als die Glocke läutete und alle aufsprangen und an ihm vorbei zur Tür rannten, wurde ihm klar, dass sie gar nicht über sein Thema gelacht hatten.
Irgendjemand machte sehr albern seinen englischen Akzent nach. Alle fingen an zu lachen. Einige – Parker schaute nicht auf, um zu sehen, wer – wiederholten es. Sie lachten nicht darüber, was er gesagt hatte, sondern wie er es gesagt hatte. Parkers Gesicht brannte. Und obwohl er seinen Vater sehr bewunderte, hasste Parker ihn in diesem Moment aus ganzem Herzen dafür, dass er seine Kinder gezwungen hatte, mit ihm hierherzuziehen.
71:15
Am liebsten wäre Parker die ganze Mittagspause über im Klassenzimmer geblieben, aber Mrs Ford bestand darauf, ihn in die Mensa zu begleiten. Beim Gehen hielt Parker den Kopf gesenkt und hörte schweigend zu, wie die Lehrerin sich bemühte, ein paar Worte des Trosts zu finden.
»Denk daran«, sagte sie vor dem Mensaeingang zu ihm, »die erste Woche ist immer die schlimmste.«
»Ich weiß. Danke«, murmelte Parker. Es entstand eine peinliche Pause, während er darauf wartete, dass sie ging.
»Soll ich mit reinkommen?«, fragte Mrs Ford schließlich.
Parkers Kopf schoss hoch. »Nein. Ist schon okay.«
Und bevor sie darauf bestehen konnte, ihn zu begleiten, ging Parker hastig davon.
Die Schlange vor der Essensausgabe war lang. Parker wartete und bemühte sich nach Kräften, das Flüstern einer Gruppe von Schülern aus seinem Englischunterricht vor ihm zu ignorieren. Das längst vertraute Heimweh nach England grummelte in seinem Bauch. In den ersten zwei Wochen nach seiner Ankunft hatte er noch gehofft, das Heimweh würde verschwinden, sobald die Schule angefangen hatte. Unglücklicherweise war genau das Gegenteil eingetreten. Deprimiert bezahlte er sein Essen und nahm das Tablett. An einem Tisch entdeckte er seine Schwester, die ihm zuwinkte.
Auch wenn er sich einsam fühlte, ganz allein war er in Wirklichkeit nicht. Er hatte noch seinen Vater und seine Schwester, das stimmte schon, aber mit keinem von beiden konnte er über seine Einsamkeit sprechen. Seit sein Vater die neue Stelle angetreten hatte, war er so gestresst und überarbeitet, dass er keine Zeit mehr für seine Kinder hatte. Und Emma – na ja, eigentlich hatte er sich immer um sie gekümmert. Und überhaupt wusste er sowieso schon, was sie sagen würde, wenn er sich ihr anvertraute: Natürlich wirst du Freunde finden. Sei doch nicht so ein Pessimist!
Sie würde das sagen, weil sie mit ihren zehn Jahren zwei Jahre jünger war als er und weil sie sich, anders als er, mit fast schon aufreizender Leichtigkeit an ihr neues amerikanisches Leben gewöhnt hatte. Außerdem hatte sie das Wort »Pessimist« erst vor Kurzem gelernt und streute es so häufig wie möglich in Unterhaltungen ein. Parkers Meinung nach gab es allerdings einen riesigen Unterschied zwischen einem Pessimisten und einem Realisten. Ein Pessimist erwartete stets das Schlimmste. Ein Realist erwartete auch das Schlimmste, aber mit gutem Grund. Und er war eben ein Realist.
Wieder winkte Emma, weil sie meinte, er habe sie nicht gesehen. Sie saß inmitten ihrer neuen Freundinnen, die alle in ihrem Alter waren. Selbst wenn ihn das nicht gestört hätte – was es jedoch tat –, blieb die Tatsache, dass ihr Tisch schon völlig überfüllt war. Trotzdem deutete Emma auf eine klitzekleine Lücke zwischen den zwei Mädchen ihr gegenüber. Zum Glück hatte Parker bereits einen leeren Tisch ein Stück entfernt entdeckt und deutete mit dem Kopf darauf. Emma schien das nicht zu kümmern. Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder ihren Freundinnen zu.
»Er will nicht mit uns Babys zusammensitzen«, sagte sie in Gebärdensprache zu ihnen und lächelte.
»Versteh ich«, gebärdete ihre Freundin gegenüber.
Er hörte sie lachen, als er zu dem Tisch ging und sich setzte.
Emma war taub. Sie war mit einem geschädigten Hörnerv auf die Welt gekommen und konnte absolut nichts hören. Weil es an der River-Creek-Schule eine spezielle Taubstummen-Klasse gab, hatte Dr. Banks beide Kinder dort angemeldet und nicht an der Schule, die näher bei ihrem neuen Zuhause lag. Er wollte, dass Parker sich um seine Schwester kümmern konnte. Emma hatte protestiert und gesagt, sie sei alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Doch ihr Vater hatte darauf bestanden. Und nun stellt sich heraus, dass sie doch recht hatte, dachte Parker und wickelte sein Sandwich aus. Es war nicht Emma, um die sein Vater sich sorgen musste.
»Dürfen wir uns zu dir setzen?«
Parker schaute auf und sah drei Mädchen vor sich stehen, die er alle aus dem Englischunterricht kannte. Becky, mit langen roten Haaren und Sommersprossen, hatte ganz vorne gesessen und gekichert, als er seinen Vortrag gehalten hatte. Neben ihr stand Jenna, der Missy-May-Fan. An den Namen des dritten Mädchens konnte er sich nicht mehr erinnern. Das war das erste Mal, dass sie mit ihm redeten.
Parker zögerte und entschied dann, dass es ihm nur mehr Probleme bereiten würde, wenn er sich weigerte.
»Klar«, murmelte er.
»Danke«, sagte Becky. Sie stellte ihr Tablett neben Parkers und kletterte über die Bank. Jenna und das andere Mädchen setzten sich ihnen gegenüber und redeten sofort drauflos.
»Ich sage ja nicht, dass ich sie nicht leiden kann, aber ich finde, ihr letztes Album war nicht gerade ihr bestes.«
»Bist du verrückt? Hast du es dir überhaupt mal angehört?«
»Klar. Mir hat’s einfach nicht so gefallen.«
»Okay, aber das stimmt einfach nicht. ›Lipstick Your Love Away‹ hat schon einen ganzen Haufen Preise gewonnen.«
»Das heißt doch nicht …«
Ich muss hier weg, dachte Parker. Er nahm sein Sandwich, biss ein möglichst großes Stück davon ab und spülte es mit einem Riesenschluck Orangensaft hinunter. Kaum war sein Mund leer, nahm er den nächsten Bissen. Doch bevor er ihn schlucken konnte, wurde er von Becky gestört.
»Kommst du aus England?«
Die beiden anderen Mädchen hörten auf zu reden.
Parker, der die Backen so voller Essen hatte, dass er wie ein Hamster aussah, nickte.
»Und wo da?«
Parker konnte nicht antworten, ohne halbzerkaute Sandwichstücke auf den Tisch zu spucken. Die Mädchen starrten ihn an, und das lange Schweigen wurde immer unangenehmer, während er sich krampfhaft bemühte, den Bissen so schnell wie möglich zu kauen. Endlich schluckte er.
»Aus Kent. Das ist eine kleine Stadt bei London«, sagte er schließlich.
Sobald er sprach, kicherte das Mädchen neben Jenna. Parker biss die Zähne zusammen. Schon wieder, dachte er. Aber anders als im Klassenzimmer brauchte er nicht sitzen zu bleiben und sich auszulachen lassen. Er trank einen Schluck Saft und musterte das halbe Sandwich vor sich. Dann würde er eben nicht alles aufessen. Er griff nach dem Tablett und wollte aufstehen, doch Jenna hielt ihn auf.
»Dein Akzent ist …«
»Echt lustig. Ja, ich weiß«, sagte Parker.
»Nein!«, sagte Jenna. »Er ist echt süß!«
Parker verdrehte die Augen. »Ja, klar.«
»Echt!«, stimmte das Mädchen neben ihr zu. »Das klingt total cool. Sag mal was.«
Parkers Augen wurden schmal. »Was denn?«
»Sag mal ›Ei‹«, sagte Jenna.
Parker war verwirrt. »Ei.«
Jenna sah enttäuscht aus. »Oh, das klingt ja fast gleich.«
Die Mädchen verstummten. Parker sah das als Möglichkeit, ihnen zu entkommen, und stand wieder auf.
»Ich hab’s! Wasser!«, rief Jenna. »Sag das mal!«
Parker zögerte und schaute Jenna an. Sie lächelte scheinbar aufrichtig interessiert.
Er beschloss, es mit seinem Misstrauen nicht zu übertreiben. »Wasser«, sagte er schließlich.
Wieder kicherten die Mädchen, aber diesmal schienen sie ihn wirklich nicht auszulachen, wie Parker überrascht feststellte. Er gestattete sich ein kleines Lächeln. Vielleicht war die Schule doch nicht so schlimm.
Und dann fragten die Mädchen ihn über das Leben in England aus.
»Regnet es da wirklich immer?«
»Warst du schon mal im Buckingham-Palast?«
»Musstet ihr eine Schuluniform tragen?«
»Ist es nicht komisch, auf der falschen Straßenseite zu fahren?«
Parker beantwortete geduldig ihre Fragen und die Mädchen hörten ihm fasziniert zu. Allmählich entspannte er sich etwas und überlegte, ob er vorhin vielleicht überreagiert hatte. Doch in dem Moment kam eine Gruppe von Jungen aus seiner Klassenstufe und setzte sich ans andere Ende des Tischs.
»Hey, Aaron!«, rief Jenna.
»Was gibt’s?«, fragte Aaron.
»Hör dir das an. Er … Wie heißt du noch mal?«
»Parker.«
»Genau. Parker klingt wie Shakespeare oder so. Sag noch mal ›Wasser‹, Parker.«
Parker schaute zu den Jungen, die ihn alle anstarrten.
»Nee, keine Lust«, murmelte er.
»Ach, komm schon! Bitte!«
Parker zögerte. Sie sind einfach nur interessiert, sagte er sich. Und es konnte schließlich nicht schaden.
»Wasser«, sagte er schließlich schulterzuckend.
Die Jungen reagierten nicht.
»Ist das nicht süß?«, fragte Jenna.
Parker erstarrte. Süß? Er spürte, wie er rot wurde.
Aaron meinte gelangweilt: »Ist doch nur ein dummer Akzent.«
Jenna warf verächtlich den Kopf zurück, dass ihre Zöpfe flogen. »Du bist ja nur eifersüchtig.«
Aaron biss die Zähne zusammen. »Du bist so ein Loser, Jenna.«
»Ach wirklich, Aaron? Na, wenigstens klinge ich nicht wie ein …«
Sie hielt inne und suchte nach einer passenden Beleidigung.
»… ein Esel.«
Alle lachten laut los, und Parker, der total entsetzt darüber war, welche Richtung das Gespräch plötzlich genommen hatte, fand, dass das ein guter Moment war, sich zu verabschieden. Er stand auf.
»Lass dich von ihm nicht ärgern«, sagte Becky zu ihm. »Der ist immer so.«
Aaron starrte Jenna wütend an.
»Tja«, sagte Parker, »ich muss los. Ich, äh, muss noch was aus der Schulbücherei holen.«
»Oh, okay. Klar«, sagte Becky.
Parker nahm sein Tablett. Becky und das Mädchen neben ihr winkten ihm zum Abschied, Parker antwortete mit einem kurzen Nicken. Jenna war zu sehr damit beschäftigt, mit Aaron böse Blicke zu wechseln, um zu bemerken, wie er eilig davonging.
Was sollte das denn?, dachte Parker und leerte sein Essen in die Mülltonne. Er stellte das leere Tablett auf einen der Geschirrwagen und wollte davongehen. Da tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um.
»Hi«, sagte Aaron.
Parker nickte nur. Wollte Aaron Streit mit ihm anfangen? Sie waren zwar gleich alt und sahen sich auch sonst ähnlich mit der schlanken Figur, den braunen Augen und zerzausten, kurzen braunen Haaren. Doch Aaron war ein paar Zentimeter größer als er und gehörte außerdem zur Ringermannschaft der Schule. Parker richtete sich auf und schob die Schultern nach hinten.
»Was willst du?«, fragte er.
»Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut«, sagte Aaron.
Das hatte Parker nicht erwartet.
»Die Mädchen sind echte Zicken«, fuhr Aaron fort. »Aber dein Akzent ist wirklich cool, Mann.«
Parker dachte daran, wie Aaron während seiner Präsentation geflüstert und gelacht hatte. Ob er das jetzt ernst meinte? Parker hatte keine Ahnung.
»Ähm, okay. Danke«, sagte er.
»Welches Wort wollten sie noch mal von dir hören?«, fragte Aaron.
Ach so, dachte Parker und wurde wütend. Nun war ihm klar, was hier vorging.
»Ich bin doch nicht blöd«, sagte er. »Und ich muss jetzt los.«
Er drehte sich um, doch Aaron legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn auf.
»Ach, komm schon«, sagte er.
Parker hielt inne und sah Aaron an.
»Ernsthaft, es tut mir wirklich leid«, sagte Aaron. »Es ging gar nicht um dich. Es ist nur wegen Jenna – sie macht mich echt wahnsinnig.«
Parker war sich nicht ganz sicher, aber Aaron schien seine Entschuldigung tatsächlich ernst zu meinen. Parker antwortete nicht, ging aber auch nicht davon.
Es stimmt schon, dachte er, Jenna kann wirklich ganz schön nervig sein.
»Ich hätte nicht über deinen Akzent lachen dürfen«, fuhr Aaron fort. »Deshalb wollte ich mich entschuldigen.«
»Okay. Gut, danke«, sagte Parker gleichmütig.
Aaron lächelte erleichtert. »Also, was wollten sie noch mal von dir hören?«
Parker zögerte kurz und beschloss dann, Aaron zu vertrauen. »Wasser«, sagte er.
Aarons Lächeln verwandelte sich in ein fieses Grinsen. »Kommt sofort«, erwiderte er.
Die Ereignisse der nächsten paar Sekunden spielten sich für Parker wie in Zeitlupe ab:
Aaron grinst und sein rechter Arm kommt hinter seinem Rücken hervor.
Parker sieht den vollen Wasserbecher in Aarons Hand und weiß sofort, was gleich passiert.
Gleichzeitig weiß er auch, dass er nichts dagegen tun kann.
Seine Augen folgen dem Bogen von Aarons Arm und der ganze Inhalt des Bechers schwappt ihm voll ins Gesicht.
Jemand schrie.
Mit offenem Mund und wie erstarrt vor Schreck stand Parker da, während ihm das Wasser über das Gesicht lief. Vor ihm brach Aaron in Gelächter aus, von hinten rief eine Stimme: »Aaron, bist du verrückt geworden?«
Parker drehte sich um und sah Becky auf sich zurennen, ihr Gesicht leuchtete knallrot in einer Mischung aus Sorge und Wut.
»War doch nur Spaß«, sagte Aaron mit einem breiten Grinsen. »Das sollte ein Witz sein. Immer cool bleiben«, sagte er und gab Parker einen spielerischen Klaps auf den Arm.
Parker schaute erst auf die Stelle, wo ihn der Klaps getroffen hatte, und dann in Aarons Gesicht. Sein Schreck verwandelte sich in Wut und seine Hand ballte sich zur Faust. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie jemanden geschlagen, aber wenn es ein erstes Mal geben musste, dann …
Aaron sah Parkers Faust und sein Lächeln verflog.
»Hey! Immer mit der Ruhe. Das war doch nur ein Witz. Jetzt reg dich nicht so auf.«
Parker war so verdattert, dass er kaum glauben konnte, was er da hörte. Er hatte diesem Jungen nichts getan. Gar nichts! Und nachdem Aaron ihm Wasser ins Gesicht gekippt hatte, besaß er auch noch die Frechheit, ihm zu sagen, er solle sich nicht aufregen.
Nun reichte es ihm endgültig.
»Nicht aufregen?«, schrie er. Aaron wich überrascht zurück. »Du meinst also, ich soll mich nicht aufregen? Was ist nur los mit dir? Ich habe nur ›Wasser‹ gesagt und …«
Sobald Parker das Wort ausgesprochen hatte, huschten Aarons Augen zu dem Servierwagen neben ihm. In diesem Sekundenbruchteil wusste Parker schon, was er nun tun würde. Als Aaron nach einem weiteren Becher griff und ihn in Parkers Richtung schüttete, sprang er hastig zur Seite. Er war schnell genug, um Aarons Attacke auszuweichen, hatte aber nicht auf die Pfütze zu seinen Füßen geachtet.
Erschrocken spürte Parker, wie sein Fuß unter ihm wegrutschte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Vor den Augen sämtlicher Schüler in der Mensa flog er hoch in die Luft und landete dann mit einem dumpfen Knall und dem Gesicht nach unten auf dem Boden.
Diesmal lachte niemand, nicht einmal Aaron. Es herrschte völlige Stille. Falls Parker sich wehgetan hatte, so merkte sein Körper es noch nicht. Viel zu geschockt, um sich zu bewegen, lag er da, während das Wasser durch seine Kleider drang. Alles, was er wollte, war, sich in Luft aufzulösen.
Da vibrierte auf einmal sein Handgelenk.
Er wusste genau, warum, und er wusste auch, noch bevor sie sich durch die Menge gedrängt hatte, dass seine Schwester der Grund dafür war.
Auf keinen Fall durfte Emma ihn so sehen. Bei dem Gedanken überkam ihn eine wütende Entschlossenheit. Er sprang auf und fand sich direkt vor einem ziemlich nervösen Aaron wieder. Vielleicht lag es an Parkers stinkwütendem Gesicht oder auch daran, dass aus seinem kleinen Streich ganz unerwartet auf einmal richtig ernst geworden war.
»Hör mal«, sagte Aaron und hielt die Hände hoch. »Es tut mir …«
Doch Parker wollte nichts hören. Er lief an Aaron vorbei und rammte ihn mit der Schulter. Aaron stolperte rückwärts in die Menge. Parker blieb nicht stehen, um zu sehen, ob er zu Boden gegangen war. Stattdessen packte er seine nasse Schultasche und rannte aus der Mensa. Und die ganze Zeit vibrierte wie verrückt sein Handgelenk.
70:31
Während Parker schwitzend und auf der panischen Suche nach einem Versteck durch die Gänge der Schule hetzte, saß sein Vater reglos an dem Schreibtisch in seinem Labor, die Augen auf eine ebenfalls reglose Seite mit Zahlen gerichtet.
Wo habe ich mich geirrt?, überlegte er mit zunehmender Frustration.
Dr. Banks kniff die Augen zusammen, bis die nackten, gestochen scharfen, schwarzen Zahlen zu einem grauen Nebelschleier verschwammen. Als sich sein Blick wieder auf das Blatt konzentrierte, hatten sich die Zahlen leider nicht wie erhofft auf wundersame Weise zu einem anderen Ergebnis angeordnet. Alles, was er an Zahlen immer geliebt hatte, ihre Sicherheit, ihre absolute Verlässlichkeit – eben dafür hasste er sie jetzt. Er wusste genau, dass er nichts dagegen tun konnte, wie sehr er es sich auch wünschte. Die Zahlen veränderten sich nicht und die Ratte hinter ihm auf dem Arbeitstisch würde nicht wieder lebendig werden.
»Dr. Banks?« Linas Stimme klang zögernd, doch nicht, weil sie fürchtete, er könnte über die Störung verärgert sein. Vielmehr schien sie auf eine fast schon unheimliche Art und Weise zu verstehen, wie er arbeitete. Die junge Frau hatte ihr Studium erst vor einem Jahr abgeschlossen, trotzdem hatte Dr. Banks noch nie eine so kompetente und einfühlsame Assistentin gehabt. Er vertraute ihr blind, obwohl sie erst seit drei Wochen für ihn arbeitete. Und das war auch gut so. Er konnte sein Vorhaben unmöglich durchführen, wenn er sich ihr nicht anvertrauen könnte.
Dr. Banks sah auf und stellte fest, dass Linas Blick auf die Ratte gerichtet war.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ich weiß einfach nicht, was ich übersehen habe«, grübelte Dr. Banks. »Das dürfte doch nicht so schwer sein.«
»Das sagen die Leute in der Abteilung schon seit dreißig Jahren«, erwiderte Lina.
»Ich weiß«, seufzte Dr. Banks, »aber die haben nicht so viel zu verlieren wie ich.«
Darauf sagte Lina nichts. Sie ging zum leblosen Körper der Ratte, hob sie vorsichtig auf und strich ihr sanft über den Kopf.
»Soll ich Ihnen eine neue holen?«, fragte sie.
Dr. Banks schüttelte den Kopf. »Später vielleicht. Ich bringe es gerade nicht über mich, es noch einmal zu versuchen.«
Lina nickte. Diesen Teil ihrer Arbeit hasste sie genauso wie ihr Chef. In der Vergangenheit hatten Dr. Banks’ Kollegen ihn immer wieder für sein Mitleid mit den Versuchstieren gehänselt.
Ein kleines Opfer für einen größeren Zweck, hatten sie gesagt.
Das traf auf den Großteil der Forschungen, die Dr. Banks im Verlauf seiner Karriere durchgeführt hatte, sicher zu. Dennoch war es ihm nie leichtgefallen, einem Lebewesen das Leben zu nehmen, nicht einmal einer Ratte. Das mochte auch am Einfluss seiner Frau und nun seiner Tochter gelegen haben. Sein Widerwille ging so weit, dass er sich, sobald er über den nötigen Einfluss dazu verfügte, geweigert hatte, mit lebenden Tieren zu arbeiten. Seine derzeitige Arbeit war eine Ausnahme, zum ersten Mal seit zehn Jahren. Und das auch nur, weil er aufrichtig geglaubt hatte, es würden keine Tiere zu Schaden kommen. Bedauerlicherweise hatte er seine Fähigkeiten offenkundig falsch eingeschätzt.
Lina legte die Ratte behutsam in eine kleine weiße Plastikdose und sagte: »Ich bin eigentlich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass die Lieferungen heute Nachmittag rausgehen. In einer Stunde fahre ich zum Terminal.«
»Was haben Sie denen gesagt?«, fragte Dr. Banks.
»Nur, dass Sie sehr eigen darin sind, durch welche Hände Ihre Arbeit geht, und dass ich auf Ihren Wunsch hin dafür sorgen soll, dass alles unversehrt auf die Reise geht. Dort halten Sie sowieso alle Leute, die hier arbeiten, für sonderbar, deshalb ist es niemandem aufgefallen.«
Schulterzuckend meinte Dr. Banks: »Nun ja, besser sonderbar als verdächtig. Das haben Sie gut gemacht.«
Er griff in die offene Aktentasche zu seinen Füßen und holte einen kleinen Speicherstick hervor.
Dann nahm er eine kleine Flasche Tipp-Ex aus der Schreibtischschublade und malte vorsichtig einen einfachen, diamantenförmigen Umriss mit einem Smileygesicht darauf. Anschließend schraubte er das Fläschchen zu und pustete auf die glänzenden Linien.
»Es muss noch trocknen«, sagte er und überreichte Lina vorsichtig den Stick.
»Ist das …« Lina hielt inne, als sei sie unsicher, ob sie die Frage wirklich stellen sollte.
»Ja?«
»Ist das der Brief, von dem Sie mir erzählt haben?«
»Ja«, erwiderte Dr. Banks und biss sich auf die Lippe. »Und ich habe auch Parker und Emma gebeten, Briefe zu schreiben.«
»Wissen sie Bescheid?«, fragte Lina.
»Nein, sie haben keine Ahnung. Ich habe ihnen gesagt, es wäre für einen anderen Zweck.«
Lina nickte. »Dann soll ich ihn einfach zu den anderen legen?«, fragte sie und musterte den Stick.
»Ja. Es dürfte eigentlich keinen Verdacht erregen, selbst wenn jemand den Inhalt prüft. Ich habe alles gut getarnt.« Dr. Banks lachte kurz auf. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lange ich für die Verschlüsselung gebraucht habe. Emmas Brief war endlos.«
»Warum haben Sie nicht mich gefragt? Sie haben doch schon genug um die Ohren. Nächstes Mal kann ich das übernehmen, wenn Sie wollen.«
Dr. Banks dachte über dieses Angebot nach.
»Es ist nur …«, fing er an.
Lina hob die Hand und unterbrach ihn. »Sie müssen das nicht erklären. Ich verstehe das sehr gut. Tut mir leid. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.«
Dr. Banks verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Lina. Vielleicht bin ich auch zu voreilig – es könnte wirklich hilfreich sein.«
»Sie müssen es nur sagen«, erwiderte Lina.
»Dazu müsste ich Ihnen den Code zeigen, aber das ist nicht schwer.«
»Ich lerne ihn bestimmt schnell.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Dr. Banks. »Und Sie … nun ja, Sie würden doch niemandem davon erzählen, oder?«
»Natürlich nicht.«
Es entstand eine Pause. Lina hob den Plastikbehälter mit der toten Ratte auf und ging schweigend zur Tür. Sie wollte gerade den Türgriff drehen, da sagte Dr. Banks: »Finden Sie es falsch, was ich tue?«
Lina drehte sich um. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, finde ich nicht.«
»Wenn Parker und Emma es wüssten, würden sie mir niemals verzeihen.«
»Doch, das würden sie, wenn sie wüssten, warum Sie es tun.«
Dr. Banks lächelte Lina dankbar an und richtete dann seine Aufmerksamkeit wieder auf das Blatt mit den Zahlen.
Er hoffte, dass sie recht hatte.
70:15
Bei geschlossener Tür war es in dem kleinen Technikraum, in den Parker sich geflüchtet hatte, fast stockdunkel, abgesehen von einem winzigen Lichtschimmer, der sich durch einen dünnen Lüftungsspalt hoch oben in der Wand zwängte. Parker kauerte mit hochgezogenen Knien ganz hinten an der Wand. Er war gut versteckt hinter einem hölzernen Rolltisch, dem ein Rad fehlte, und lauter Kisten, aus denen verhedderte Kabel und kaputte Tastaturen quollen. Selbst wenn jemand hereinkommen würde – und das war recht unwahrscheinlich, da der Raum offenbar nur als Müllhalde für kaputte Geräte diente –, könnte man ihn nicht sehen. Der perfekte Ort für Parker, um wenigstens einen Moment lang die Welt um sich herum zu vergessen, wäre da nicht das ständige Vibrieren in seinem linken Arm gewesen.
Manchmal konnte dieses Effie schon verdammt nervig sein.
Parker betrachtete die zwei winzigen orangefarbenen Lichtpunkte an den beiden Seiten seines Handgelenks. Das war das Effie, die »Ersatzohren für Emma«, wie die Familie es nannte, eine Vorrichtung, die sein Vater kurz nach der Diagnose von Emmas Taubheit entwickelt hatte. Es handelte sich um eine Technik, bei der elektrische Impulse, durch Gedanken hervorgerufen, per Funk übertragen wurden. Das Effie verwandelte diese Impulse in Sprache, die Parker und seine Eltern durch einen implantierten Lautsprecher im Ohr hörten, und gleichzeitig in Untertitel, die Emma mithilfe einer eigens dafür gefertigten Brille lesen konnte.
Das Effie ähnelte kurz gesagt einem Handy, nur dass es keine Stimmen übertrug, sondern Gedanken.
Das Licht an der linken Seite von Parkers Handgelenk war die Verbindung zu seinem Vater. Der rechte Lichtpunkt, der seit seiner Flucht aus der Mensa fast ununterbrochen geblinkt hatte, gehörte zu Emma. Früher hatte es zwischen diesen beiden noch ein weiteres Licht gegeben, aber das war an jenem Tag erloschen, als Emmas und Parkers Mutter wegen einer Geschäftsreise von England in die USA und damit außer Reichweite des Funksignals geflogen war. Eigentlich hätte sie vier Tage später zurückkehren sollen, aber nur wenige Stunden vor dem Heimflug hatten sie die Nachricht von ihrem Unfall erhalten. Seitdem war das Licht der Mutter erloschen.
Soweit Parker wusste, war das Effie nur drei Menschen auf der Welt bekannt. Seine Eltern hatten Emma und ihn gebeten, es geheim zu halten, und das hatten sie auch getan, obwohl es ihn manchmal gejuckt hatte, seinen Freunden davon zu erzählen. Sowohl Parker als auch seine Schwester machten gern Gebrauch von ihrer geheimen Supermacht, wie sie es nannten, auch wenn sie sie selten für wirklich wichtige Nachrichten benutzten. Mit einer Ausnahme: Einmal rettete Parker seiner Schwester das Leben, indem er sie vor einem heranrasenden Auto warnte, woran er sie auch immer wieder gerne erinnerte. Die Geheimhaltung wurde ihnen auch dadurch erleichtert, dass niemand jemals peinliche Fragen darüber stellte. Im Tageslicht sahen die Effie-Lichter nämlich wie kleine Pigmentflecken aus und bei Dunkelheit versteckten die Kinder das schwache Schimmern unter Uhren oder langen Ärmeln. Trotzdem hatten die Geschwister in den vier Jahren, seit sie es nutzten, immer wieder gefragt, warum die Erfindung ein Geheimnis bleiben musste. Schließlich könnte das Effie auch anderen Familien in der gleichen Situation helfen, miteinander zu kommunizieren.
Doch Parkers Vater hatte immer die gleiche Antwort darauf: Es gäbe zu viele Menschen auf der Welt, die eine Erfindung, die Menschen nützen sollte, in etwas verwandelten, mit dem man nur Schaden anrichtete. Und bis er sicherstellen könnte, dass das Effie nur für den von ihm gedachten Gebrauch eingesetzt würde, müsste es ein Geheimnis bleiben. Vor dem Tod der Mutter hatte Dr. Banks genau daran gearbeitet. Danach hatte er nie wieder darüber gesprochen. Deshalb blieb das Effie vorerst ein Familiengeheimnis.
Wieder vibrierte Parkers Handgelenk. Er drückte auf das blinkende Licht, bis es erlosch.
Dr. Banks hatte seine Erfindung knapp eine Woche nach Emmas sechstem Geburtstag bei ihr und Parker implantiert, am ersten Tag der Sommerferien. Parker erinnerte sich noch genau daran, an das von ihm gemalte Bild einer Raumfähre im Arbeitszimmer seiner Mutter, an ihren weißen Laborkittel, der über dem Stuhl hing, an den Geruch von Desinfektionsmittel. Nur an den Vorgang an sich hatte er keine Erinnerung. Seine Mutter hatte ihm eine örtliche Betäubung verpasst, sodass er nichts davon mitbekam.
Allerdings wusste er noch sehr gut, wie es war, als er das Effie zum ersten Mal benutzt hatte. Seine Mutter hatte neben ihm gekniet und ihm gezeigt, wie er Emma »anrufen« konnte, indem er auf das Licht an der rechten Seite seines Handgelenks drückte. Gleich darauf hatte es in Emmas Hand leicht vibriert. Sie war überrascht aufgesprungen, und ihr Vater, der bei ihr saß, hatte lächelnd die Hand auf ihre gelegt und auf das blinkende Licht an ihrem Handgelenk gedrückt.
»Sag etwas zu deiner Schwester, Parker. Etwas Einfaches, damit sie es lesen kann.«
Erst viel später wurde Parker klar, was für ein bedeutender Moment diese erste Gedanken-Funk-Übertragung gewesen war, und er wünschte, seine Worte wären dem Ereignis angemessener gewesen. So jedoch hatte er ihr einfach das Erste, was ihm durch den Kopf schoss, übermittelt.
Deine Brille hat eine komische Farbe.