Die Story

Stille liegt über dem See. Maurizio Bosco lauscht.
Er späht in die Nacht, kann nichts Verdächtiges entdecken.
Gut.
Er dreht sich um und blickt in die Mündung einer Pistole.

Maurizio Bosco hat beste Espressobohnen geladen, edle Naturkosmetik und feinstes weißes Pulver zur Stimmungsaufhellung. Doch die Lieferung an eine Wohlfühloase am Chiemsee wird nicht ankommen.

Greta van Holsten, Spross einer Hamburger Kaffeeimporteur-Dynastie, ahnt Schlimmstes: Ist Maurizio, ihr Verlobter, Opfer des eigenen Familienclans geworden? Und wer wird der nächste sein?

Während den Kommissaren in Verona und Traunstein bei ihren Ermittlungen Steine in den Weg gelegt werden, überschlagen sich die Ereignisse.

Die Autorin

Marta Donato ist Germanistin und Kunsthistorikerin. Sie wurde in München geboren, wo sie heute in einem Medienunternehmen arbeitet. Ihre zweite Heimat ist der Chiemgau. Und ihren Urlaub verbringt sie mit ihrer Familie fast ausschließlich in Italien, einem Land, das wie kein anderes reich ist an Schauplätzen für spannende Romane voller Atmosphäre. Dass es die Autorin versteht, Flair und Thrill meisterlich zu verbinden, wissen auch die deutschen TV-Zuschauer, seit das ZDF ihren (unter dem Pseudonym Cristina Camera erschienenen) Italien-Krimi Die Gärten der Villa Sabrini verfilmte.

1

Samstag, 19.03.2016

Lazise, 21.00 Uhr

»Es gibt ein Problem!«

Genervt las Maurizio Bosco diesen wenig erfreulichen Satz. Was wollte der Alte?

»Unser Verbindungsmann hat Wind von einer Razzia bekommen!«

Maurizio fuhr mit einem Transporter seines Vaters die östliche Gardesana bis Garda entlang. Noch hatte er nicht einmal die Autobahnauffahrt bei Affi erreicht, da begannen schon die Schwierigkeiten. Dabei hatte er gerade mehr als genug Ärger für einen Abend hinter sich gebracht. Ach was, für ein halbes Leben! Und er verspürte wahrlich keine Lust, sich mit dem nächsten Problem herumzuschlagen. Jetzt fuhr er erst mal Richtung Brenner.

Doch er hielt es nur bis zur Autobahn aus. Kaum hatte er die Auffahrt genommen, tippte er das Display seines Handys an, das in der Konsole der Freisprechanlage steckte. Zum Leben erwacht, leuchtete es in die dunkle Fahrerkabine und Maurizio las zu Ende, was ihm Heinrich van Holsten geschrieben hatte.

»Wir machen die Übergabe deshalb im Waldstück zwischen Wolfing und Seebruck. Ich erwarte dich dort gegen 2 Uhr morgens!«

Es folgte ein Link zu Google Maps. Maurizio öffnete ihn und studierte die Lage des Treffpunkts. Er kannte den Platz bestens, den van Holsten ihm vorschlug. An diesem Uferabschnitt des Chiemsees, weg von den Dörfern und den kostenpflichtigen Strandbädern, konnte man unbeobachtet baden. Gern nahm er eine von van Holstens Kosmetikmäuschen mit. Sie arbeiteten immer nur kurz für den Alten in seiner Residence Oliva, wie er sein Seminarhotel mit Beautysalon und SPA hochtrabend nannte. Van Holsten war ein schlechter Arbeitgeber, die Bezahlung der Angestellten unterirdisch. In der Folge hatte er eine hohe Fluktuation. Was gut war für Maurizio. So hatte er alle paar Wochen im Sommer, wenn er eine Lieferung von Lazise nach Bayern brachte, Frischfutter für unbeschwerte Tage am Chiemseestrand. In Lazise wehte für ihn ein anderer Wind. Der war ihm vor wenigen Stunden wieder einmal entgegengeschlagen.

Sein Vater hatte ihn angebrüllt, ihn einen Hungerleider und Taugenichts genannt. Romano Bosco war berüchtigt für seine rustikale Ausdrucksweise. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Egal, mit wem er es zu tun hatte. Maurizio wünschte, seine Mutter würde manches Mal gegen seinen Vater aufbegehren, sich seine Wutanfälle nicht gefallen lassen. Doch Annamaria schwieg. Im äußersten Notfall verließ sie leise den Raum und signalisierte damit, dass sie mit dem Gehörten nicht einverstanden war. Sie verteidigte ihren Sohn nicht gegen die Angriffe des Vaters. Was Maurizio ihr übel nahm. Wofür hatte er eine Mamma? Das fragte er sich. Auch jetzt fühlte er den Unmut, der sich immer einstellte, wenn er an seine Mutter dachte. Er sollte ihr Respekt entgegenbringen, Anhänglichkeit zeigen. Doch was tat sie für ihn? Sie schwieg! Ließ die Wut und die unangebrachten Vorwürfe des cholerischen Vaters ungebremst über ihn hinwegrollen.

Aus ganz anderem Holz geschnitzt war seine Nonna! Maddalena Bosco! Sie war die Einzige, die Romano stoppen konnte, ihn zur Räson brachte, wenn er wieder einmal brüllte und die Weingläser durch den salone flogen. Wenn Maurizio Rat oder Unterstützung im Umgang mit ihm brauchte, dann war seine Großmutter die Hilfe in allen Lebenslagen. Denn Romano achtete die Meinung seiner über achtzigjährigen Mutter. Da wurde er zahm wie ein Dackel. Ihr Wort hatte Gewicht, ihr Wort war in der Familie Bosco Gesetz. Doch an diesem Abend hatte sich Maurizio auch von der Nonna im Stich gelassen gefühlt. Wie üblich komplett in Schwarz gekleidet, hatte sie sich in ihre Ecke am Ende des Wohnzimmers zurückgezogen und betete kniend vor dem Hausaltar, erflehte von der Madonna Segen für die Toten und Schutz und Reichtum für die Familie. Doch es wäre eine Unterschätzung ihres scharfen Verstandes und ihrer wachen Aufmerksamkeit gewesen, anzunehmen, sie bekäme von der Auseinandersetzung, die sich wenige Meter neben ihr abspielte, nichts mit.

Maurizio hatte sie an diesem Abend beobachtet und gehofft, die Nonna würde gegen den in Zorn geratenen Vater einschreiten. Wieder einmal hatte Romano Bosco an Maurizios Verlobter Greta van Holsten kein gutes Haar gelassen. Und Maddalena hatte Maurizio nur streng aus ihren schwarzen Augen angesehen, weiter ungerührt ihr Gebet gemurmelt und die Perlen des Rosenkranzes durch ihre dürren Finger gleiten lassen.

Dabei hielt Maurizio nur noch gerade wegen des heftigen Widerstandes innerhalb seiner Familie zu Greta. Er ließ sich doch nicht vorschreiben, mit wem er ins Bett ging, wen er zu heiraten gedachte. Aber die blasse, blonde Deutsche mit ihrem Fimmel für Naturkosmetik, ihrer Pedanterie und ihrer Eifersucht engte ihn ein. Er war immer weniger bereit, Auskunft über seine Abende oder seine Spritztouren mit den teuren Autos zu geben, die sein Vater in seinem Autosalon in Lazise verkaufte. Anfangs hatte ihn die große, langbeinige Frau, die zudem die Tochter des Geschäftspartners der Familie Bosco war, gereizt und imponiert. Er hatte über ein halbes Jahr gebraucht, bis sie ihn erhört und einem Date zugestimmt hatte. Alles an ihr war lang, feingliedrig und elegant. Seine Freunde beneideten ihn um la bella bionda. Seinem Ego hatte das sehr gutgetan. Doch inzwischen fühlte er sich von ihr vereinnahmt. Immer sollte er Botenfahrten für die van Holstens machen und Waren nach Bayern fahren. So wie in dieser Nacht. Wofür hielten Greta und sein Vater ihn? Für einen dummen Jungen, den man herumkommandieren konnte? Für einen Waschlappen, der sich von einer Frau sagen ließ, wo es lang ging? Die selbstbewusste Deutsche war seinem dominanten Vater natürlich ein Dorn im Auge. Er wollte keine Frau in seiner Familie haben, die ihm ins Wort fiel. Maurizio musste demnächst den Absprung aus dieser Verlobung schaffen. Aber es durfte nicht so aussehen, als redete er dem Vater nach dem Mund. Ein nicht wieder gutzumachender Gesichtsverlust wäre das in seinen Augen gewesen. Das konnte und wollte er sich nicht leisten. Er war kein gehorsamer Sohn, wenn er auch meistens tat, was die Boscos von ihm wollten. Es war einfacher so!

Mit dem Transporter fuhr er schnell und ohne größere Staus über den Brenner. Maurizio würde keinesfalls die fünf Stunden brauchen, die ihm Heinrich van Holsten für die Übergabe eingeräumt hatte. Allerdings konnte van Holsten auch nicht wissen, wann Maurizio in Lazise aufgebrochen war. Oder hatte seine korrekte Verlobte ihren Vater über seine Abreise informiert?

Um das Maß vollzumachen, mochte der Hamburger ihn genauso wenig. Das war Maurizio wohl bewusst. Und machte die Sache nicht leichter. In dieser Frage waren sich die Väter überraschend einig. Heinrich hielt den potentiellen Schwiegersohn für einen Weiberhelden, was Maurizio für sich unumwunden und mit Nonchalance zugab, und außerdem zu Recht für einen abgefeimten Lügner. Aber was hatte van Holsten erwartet? Kannte er die Boscos immer noch nicht? War er doch selbst nicht der Ehrlichste unter der Sonne. Wer mit Romano Bosco Geschäfte machte, operierte ohne jeden Zweifel außerhalb der Legalität. Bosco agierte nach seinen eigenen Gesetzen und diese riefen, wenn es schlecht lief, die polizia auf den Plan. Nun hatte offenbar auch die bayerische Polizei Lunte gerochen und eine Razzia geplant, die das schöne Geschäftsmodell von van Holsten, dessen Tochter und seines Vaters Romano zum Scheitern bringen könnte.

An ihm, Maurizio, sollte es nicht liegen. Er würde sich an die neue Vereinbarung halten und das Waldstück hinter Wolfing anfahren. Ihm war es völlig gleichgültig, wo er die Ware übergab. Hauptsache, er wurde sie problemlos und ohne Polizeipräsenz los. Sein Vater würde ihm den Kopf abreißen, möglicherweise sogar vergessen, dass er einen Sohn hatte, wenn etwas schief ging. Wer Romano Bosco geschäftlich in die Quere kam oder gar schädigte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Da machte sich Maurizio keine Illusionen. Er wäre nicht der Erste, der innerhalb der Familie für einen Fehler mit dem Leben bezahlte.

Mitten hinein in diese realistischen, aber nicht gerade erbaulichen Gedanken dudelte sein Handy die Melodie von Spiel mir das Lied vom Tod. Erkennbares Zeichen dafür, dass er einen dienstlichen Anruf erhielt.

»Pronto!« sprach er laut und deutlich in die Freisprechanlage.

»La faccia rossa hat eine Anweisung für dich!« Eine heisere, dunkle Stimme überbrachte ihm die beunruhigende Nachricht. Weshalb rief ihn sein Vater nicht selbst an, sondern schickte einen seiner süditalienischen Handlanger vor, die einen Dialekt sprachen, den Maurizio selbst kaum verstand? Befürchtete er, dass sein Telefon abgehört wurde? Mit dieser Möglichkeit mussten sie immer rechnen. Deshalb benutzte der Anrufer auch den Decknamen von Romano Bosco. La faccia rossa, das Rotgesicht, wie er unter seinesgleichen genannt wurde, weil er unter hohem Blutdruck litt, bei der kleinsten Kleinigkeit krebsrot im Gesicht anlief und zornig zu brüllen begann. Nun machte ihm also auch noch Romano kurzfristig Vorschriften, dachte Maurizio bitter. Heinrich hatte ihn mit der Änderung des Übergabeorts schon genervt und nun das.

»Was will er denn?«

»Nach dem Treffen mit il grande tedesco fährst du weiter nach Traunstein und gibst in der Pizzeria Vesuvio zehn Kilogramm Espressocaffè ab.« Es knackte in der Leitung. Das Besetztzeichen erklang.

Maurizio schüttelte ungläubig den Kopf. Was war das denn für ein Schwachsinn, fragte er sich überrascht. Maurizio hatte nur zwanzig Kilo-Säcke im Transporter geladen. Die waren alle für Heinrich, für il grande tedesco bestimmt. Greta würde fuchsteufelswild werden, wenn ihr Vater nur die Hälfte der ausgemachten Lieferung bekam.

Nochmals blickte er auf die Nachricht, die ihm van Holsten geschickt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass es eine Mail war und keine SMS. Was hatte sich van Holsten dabei gedacht, diese brisante und vertrauliche Mitteilung von seinem PC abzuschicken? Warum verwendete der Alte dafür kein Prepaid-Handy? Wenn jemand Nachforschungen anstellen sollte, durfte nichts nachverfolgbar sein. Es würde nichts nützen, wenn er sein Postfach löschte. Van Holsten wusste das! Noch nie hatte er sich so leichtsinnig verhalten. Ein ungutes Gefühl beschlich Maurizio.

Er hatte inzwischen den Grenzübergang Kiefersfelden-Kufstein ohne Probleme hinter sich gelassen. Kein Grenzer hatte sich für ihn und seinen Transporter interessiert. Die Uhr auf dem Display zeigte 0.30 an. Er hatte Zeit! Zuviel für seinen Geschmack. Es konnte viel passieren bis 2 Uhr morgens. Vor allem hatte er Zeit, um nachzudenken. Das mochte Maurizio nicht besonders. Es führte ihn meist auf den falschen Weg. Auf seinen Instinkt hingegen konnte er sich bestens verlassen. Und dieser riet ihm, den veränderten Treffpunkt zu ignorieren, die neue Anweisung ebenso und einfach zurückzufahren nach Lazise. Das würde den Schaden für die Familie Bosco in Grenzen halten. Wenn er die Ladung heil zurückbrachte, hatten nur van Holsten und der Gastronom der Pizzeria Vesuvio das Nachsehen. Beide waren ihm egal. Was ihm nicht egal war, war das Gezeter von Greta, das dann über ihn hereinbrechen würde. Sie würde ihm vorwerfen, das Geschäft ihres Vaters und damit ihr eigenes ganz bewusst zu torpedieren, nur das Wohl der Familie Bosco im Blick zu haben und nicht an die gemeinsame Zukunft mit ihr und ihren zwei Geschäften zu denken.

Er hatte den Ortsrand von Chieming erreicht. Um umzukehren, war es zu spät, redete er sich halbherzig ein. Gleich nach der Großbaustelle in der Ortsmitte bog er links ab und fuhr an alten und neuen Einfamilienhäusern vorbei. Sie alle verfügten über Doppelgaragen und großzügige, typisch deutsch gepflegte Gärten. Sein Scheinwerferlicht streifte sauber geschnittene Hecken. Hochgezogene Mauern versperrten neugierigen Blicken die Sicht. Die Dorfbewohner waren nicht ausgesprochen wohlhabend, doch sie hatten ihr Auskommen. Die meisten verdienten am Tourismus und an der Holzindustrie. Viele Handwerksbetriebe waren in der Umgebung sesshaft und verschafften ihren Mitarbeitern und deren Familien ein sorgenfreies Leben. Ganz wie bei uns zu Hause, dachte Maurizio. Sorgenfrei war das Stichwort, auf das es ihm ankam. Ein Leben als Handwerker war weniger nach seinem Geschmack. Schmutzige oder staubige Hände passten nicht zu seinem Lebensstil. Wie hätte er sich sein Rennauto mit einer solchen Arbeit leisten sollen? Na ja, ohne den Autosalon des Vaters hätte er seinen roten Flitzer freilich nicht. Bosco war der Händler für hochpreisige Automobile am Gardasee. Konkurrenzlos im Veneto! Und das Geschäft lief hervorragend.

Die letzten Anwesen von Chieming lagen hinter ihm. Im Licht weniger Straßenlaternen sah er rechts, einige Meter zurückgesetzt, die ersten Häuser, die zur Ortschaft Stöttham gehörten. Alle Fenster der Gebäude waren dunkel. Man ging früh schlafen im Chiemgau. Auch so eine Marotte, die ihm nicht entsprach. Sein Leben begann um Mitternacht erst so richtig. Als er das Ortsschild Wolfing passierte, musste er sich links halten. Er fuhr über den Kirchplatz in Richtung Golfclub, der immer noch nicht so richtig ins Laufen kam, wie ihm van Holsten berichtet hatte. Er wäre gerne diesem Sport nachgegangen, doch die Wolfinger Bürger sperrten sich immer noch gegen das Projekt. So stand das Clubhaus als Ruine in der Landschaft und das Grün wuchs während des Sommers zu ungeahnten Höhen. Niemand hatte jemals einen Abschlag dort gemacht. Seit Jahren schon wurde das Gelände von der Gemeinde notdürftig in Schuss gehalten, damit es nicht völlig verkam. Ob ein Betreiber den Golfplatz jemals eröffnete, stand in den Sternen.

Maurizio folgte der Straße, die zum Ufer des Sees führte, bog aber bald rechts in einen Feldweg ab. Es hatte längere Zeit nicht mehr geregnet, so rumpelte der Wagen über ausgetrocknete Schlaglöcher. Steine schlugen an den Unterboden des Fahrzeugs und spritzten vermutlich in die Wiesen rechts und links. Doch nach einem halben Kilometer hatte Maurizio den Wald erreicht. Stockdunkel empfingen ihn die hohen Fichten und Tannen. Nur wenige Birken standen dazwischen. Ein Wald aus kahlen Baumstämmen baute sich rechts und links von ihm auf. Bei Tageslicht durchlässig und luftig. Jetzt, mitten in der Nacht, trafen die Lichter der Scheinwerfer auf die braunen, an vielen Stellen aufgeplatzten Rinden der Baumstämme. Es blitzten weiße und hellgelbe Flechten auf. Dürres Buschwerk, das kaum einen Meter hoch aus dem Boden wuchs und bizarre Schatten warf, wenn plötzlich Scheinwerferlicht auf das Geflecht aus Ästen traf. Bei Nacht sah es hier wenig romantisch aus, dachte er beklommen. Der Wagen ging immer wieder bei tiefen Schlaglöchern in die Knie. Maurizio hoffte, dass der zerbrechliche Teil der Ware keinen Schaden nahm.

Schließlich hatte er die kleine Lichtung erreicht, an der er auch im Sommer den Wagen stehen ließ. Von hier aus konnte man gut zu Fuß zum Strand gehen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch eine halbe Stunde auf van Holsten würde warten müssen. Er stieg aus, umrundete den Wagen, um sich die Beine zu vertreten und überlegte, ob er rasch eine Linie ziehen sollte. Das würde die Müdigkeit vertreiben, ihn nach der langen Fahrt wieder fit machen. Schließlich musste er, nach einem kurzen Stopp in Traunstein, wieder zurück nach Italien. Er zog die Beifahrertür auf, um aus dem Handschuhfach das Briefchen zu holen, als er ein Knacksen vernahm. Gleich darauf zerbrach ein weiterer morscher Ast unter festem Schuhwerk! Wer war um diese Zeit im Wald unterwegs? Zu Fuß? Van Holsten würde ganz sicher mit seinem eigenen Lieferwagen kommen. Sie mussten einen Teil der Ladung aus- und umpacken. Er hoffte, dass Heinrich keine Zicken machte, weil er nur die Hälfte der Bestellung von Espressocaffè bekam. Bewegungslos verharrte Maurizio und lauschte in die Nacht. Doch alles schien ruhig jetzt. Nicht einmal ein Windgeräusch war zu hören. Auch vom See kam kein Wellenschlag. Maurizio verschob sein Vorhaben und ging um den Wagen herum. Schaute auf den Weg, den er gekommen war. Und dann war sein Entschluss gefasst: Er würde augenblicklich zurückfahren. Sollte van Holsten sehen, wo er blieb. Er würde hier nicht warten und wie ein Kaninchen in eine Falle tappen. Als er sich schon zum Wagen wenden wollte, hörte er Schritte, hörte, wie sie rasch immer näher kamen. Er spähte in die Nacht und, als er nichts sah, drehte er sich um und blickte in die Mündung einer Pistole.

2

Palmsonntag, 20.03.2016

Lazise, 9.00 Uhr

Greta van Holsten umschlang eine bauchige Teetasse mit all ihren schlanken Fingern und hoffte auf die wärmende Wirkung des heißen Getränks durch die zarten Wände des Porzellans. Ihr war kalt bis ins Mark. Wütend und hilflos zugleich nippte sie an dem mit Honig gesüßten Kräutertee, obwohl sie keinen Durst verspürte. Sie musste sich einfach mit irgendetwas beschäftigen, sonst steigerte sie sich mehr und mehr in ihre Rage und ihre Angst hinein. Geistesabwesend stand sie vor der großen Cimbali-Espressomaschine im Empfangs- und Gastraum ihres Beautysalons Villa Oliva im Herzen von Lazise und starrte die blitzenden Chromteile an. Die Maschine war so kalt, wie sie sich fühlte. Was hätte sie jetzt für eine heiße latte macchiato gegeben! Doch ihr Barista Emanuele, der diesem Monstrum perfekter italienischer Kaffeemaschinentechnik wahre Glücksgefühle in Form dunkelster Espressospezialitäten entlocken konnte, hatte wie alle anderen ihrer Angestellten am Sonntag seinen freien Tag. Noch hatte Lazise keine Saison. Erst am Karfreitag ging es das erste Mal in diesem Jahr hoffentlich rund. Kamen die deutschen, chinesischen und skandinavischen Touristen, begierig nach italienischer Sonne und italienischer Lebensweise, an den Gardasee. Doch bis dahin musste sich einiges klären. Getrieben von der Frage, wo ihr Verlobter abgeblieben war, durchdachte sie mögliche Szenarien. Hatte er die Unverfrorenheit und streunte irgendwo mit einem seiner Flittchen herum, vergaß die Zeit und ließ ihren Vater in Wolfing auf die dringend benötigte Ware warten? War er wirklich so ein Windhund, wie ihr Vater nicht müde wurde zu wiederholen? Sie wusste, dass Maurizio fremdging. Kein Rock war vor ihm sicher. Doch sie wusste auch, dass er das schöne, unkomplizierte Nichtstun schätzte. Etwas, das ihm nur sein Vater Romano bieten konnte oder sie selbst, wenn ihr das auch schwerfiel und oftmals ihre letzten Geldreserven kostete. Doch von ihm zu lassen, vermochte sie auch nicht. Im Gegensatz zu ihr forderte Romano Bosco von seinem Sohn durchaus Einsatz fürs Geschäft und damit für die Familie. Dann musste Maurizio Kunden hofieren, die sich nicht entschließen konnten, ob sie einen Maserati kaufen sollten oder doch lieber einen Mercedes, ein bewährtes, deutsches Markenauto der Premiumklasse. Und bei dieser schwerwiegenden Entscheidung waren Italiener wie Deutsche gleichermaßen unentschieden und emotional aufgeladen. Sie konnte Paare entzweien oder finanziell zur Existenzfrage werden. Autokauf war eine ganz spezielle Angelegenheit. Das wusste Romano nur zu genau und er verdiente dabei nicht schlecht. Auch sein Sohn verwandelte sich in einen durchgeknallten Spieler, wenn er den Fuß auf das Gaspedal eines Ferraris bekam, und bewies damit einmal mehr, dass männlicher Verstand ab einer bestimmten PS-Zahl einfach ausgeschaltet wurde. Dennoch genoss Maurizio weitgehend Narrenfreiheit, wenn er sich nicht ernsthaft etwas zu Schulden kommen ließ. Er stellte zudem die Verbindung zum Rest der Familie her, der in Kalabrien geblieben war, zu den Verwandten, die nicht vor zwanzig Jahren ihr Heil in Norditalien gesucht hatten. In Costammare bei Reggio Calabria befand sich die Privatrösterei Bosco. Dort röstete Rosalia, die Schwester von Romano, die besten Espressobohnen, die sich kaufen ließen. So die einhellige Meinung all derer, die schon einmal einen Bosco d’oro gekostet haben. Wehmütig fast starrte Greta erneut die Cimbali an, die an diesem Sonntag ebenfalls Ruhetag hatte und kein braunes Gold ausspuckte. Ihr Barista, der zum Bosco-Clan gehörte, würde ausrasten, sollte sie es wagen, sein Heiligtum auch nur anzufassen.

Neben ihren Naturkosmetikprodukten, die sie in der Villa Oliva an betuchte Kundinnen verkaufte, war ihr kleiner Empfangsraum mit den fünf runden Tischchen der Geheimtipp in Lazise, wenn es um guten caffè ging. Selbstverständlich kauften viele Bars die Bohnen der Privatrösterei Bosco, die Maurizio alle paar Wochen aus Costammare an den Gardasee und auch nach Wolfing fuhr. Doch nur Emanuele und seine Cimbali waren im Stande, den Bohnen all die Aromen zu entlocken, die in ihnen verborgen lagen.

Auch Paul van Holsten, ihr Onkel in Hamburg, röstete qualitativ vergleichbare Espressobohnen. Denn dort arbeitete Carlo Bosco an der Rösttrommel nach dem bewährten Rezept von Salvatore Bosco, der Ende der Sechzigerjahre als Gastarbeiter nach Hamburg gekommen war. Auf der Suche nach Arbeit war er am Hamburger Hafen Alfred van Holsten, Vater von Heinrich und Paul, in die Arme gelaufen. Alfred suchte eigentlich einen Lagerarbeiter für sein Kontor in der Hafenstadt. Jemand, der sich mit der pfleglichen Handhabung von Kaffeesäcken auskannte. Doch Salvatore konnte sehr viel mehr als nur Säcke schleppen, Kaffeebohnen lagern oder gemäß ihrer Qualität sortieren. Salvatore Bosco konnte Kaffee rösten. Nach einem alten Rezept seiner Großeltern, die aus Costammare stammten. Dort, wo noch heute Rosalia, die Schwester von Romano und Carlo für den besten Bosco d’oro sorgte.

Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Sonntagmorgen zog Greta das Handy aus der Hosentasche ihrer Jeans. Vergeblich auch dieses Mal. Weder Heinrich noch Maurizio hatten ihr eine Nachricht hinterlassen. Ihr Vater hatte ihr versprochen, sofort Beischeid zu geben, sobald Maurizio eintraf. Doch wo war er tatsächlich hingefahren? Längst hätte er sich vom Chiemsee melden müssen. War ihm etwas auf der langen Strecke zwischen Lazise und Wolfing zugestoßen? Oder hatte er sich mit der teuren Ware einfach aus dem Staub gemacht? Schlug er Romano und Heinrich und letztlich auch ihr ein Schnippchen? Vertickte er die Fracht seines Transporters auf eigene Rechnung? War das die Quittung für Romanos Sturheit, der den Sohn knapp hielt, weil er in seinen Augen einfach zur geregelten Arbeit nicht taugte, viel zu oft mit seinen Freunden abhing?

Aber so leichtfertig und dumm konnte Maurizio doch nicht sein? Die Arme und Beziehungen von Romano reichten weit. Seinem Zugriff konnte sich der Sohn nicht gefahrlos entziehen. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass Maurizio den Schlaf des Gerechten irgendwo auf einer Autobahnraststätte schlief und vergessen hatte, sich dazwischen zu melden. Oder, und das war das Horrorszenario, das sich ihr unweigerlich aufdrängte, waren sie alle miteinander endgültig aufgeflogen? Hatte die Grenzpolizei bei einer Schleierfahndung Maurizio in Österreich oder Bayern durchsucht und die Ware mehr als nur oberflächlich geprüft? Waren ihnen die Kaffeetüten mit den Espressobohnen und die Flakons mit Bodycreme verdächtig vorgekommen? Musste sie in den nächsten Stunden mit dem Auftauchen der polizia rechnen, die in ihrer Villa Oliva und in ihrer Kosmetikfabrikation alles auf den Kopf stellte?

Energisch kippte Greta den inzwischen kalt gewordenen Tee hinunter. Wie sie diese ewige Ungewissheit hasste. Die Angst, entdeckt zu werden, gehörte zum Alltag, war eine ständige Begleiterin. Meist schaffte Greta es, sie zu verdrängen. Doch wenn Unvorhergesehenes geschah, dann war sie da. Nagend und beklemmend. Greta würde jetzt nicht weiter warten. Entschieden stellte sie die Teetasse auf der Ablage der Espressomaschine ab und wählte die Nummer ihres Vaters.

Schon nach dem ersten Klingelton hob er ab.

»Hat sich dein sauberer Verlobter endlich gemeldet? Er sitzt neben dir und grinst sich eins. Hab ich recht? Glaubt ja nicht, dass ihr mich verar…!«

»Jetzt halt mal die Luft an, Papa!« Greta presste ihr Handy so fest ans Ohr, dass dessen Rahmen schmerzhaft in die Ohrmuschel drückte. Kurz nahm sie es weg und sah den feuchten Film auf der Oberfläche des Displays. Sie schwitzte kalten Schweiß. Unbedingt und möglichst rasch musste sie ein heißes Rosmarinbad nehmen. Das würde ihre Nerven beruhigen. Rosmarin war eine Wunderwaffe, die sie ihren Kundinnen erfolgreich anpries. Ja, das würde sie jetzt gleich machen!

»Du hast nichts von ihm gehört?«, fragte sie ungläubig nach.

»Nein!«

Sie schwiegen beide. Was bedeutete das Ausbleiben von Maurizio? Das war die bange, unausgesprochene Frage!

»Ich gehe zu den Boscos«, entschied sich Greta. »Sie wissen ganz sicher mehr!«

»Du bleibst, wo du bist, verstanden?« Heinrichs Stimme überschlug sich. »Was glaubst du, was du mit so einer Frage anrichtest?«

Greta gab keine Antwort. Sie würde darüber nachdenken, wenn sie die Boscos aufsuchte. Da konnte der Vater noch so toben.

»Und untersteh dich, die Polizei einzuschalten. Maurizio taucht schon wieder auf. Fragt sich nur, was er dann von unserer Ware noch bei sich hat. Romano Bosco wird mir und dir den Schaden ersetzen, den sein Sohn verursacht hat, verlass dich drauf! Und du hältst still. Hast du mich verstanden?«

»Du hast doch ohnehin keine Hotelgäste, die Stoff brauchen. Was regst du dich so künstlich auf?«

»Auf deine muffige Olivenölpampe bin ich noch weniger angewiesen!«

»Frag Luigi in Traunstein! Vielleicht kann er dir mit Stoff aushelfen, wenn du ihn brav bittest!« Höhnisch bedachte Greta ihren Vater mit einem, wie sie nur zu gut wusste, höchst unerwünschtem Rat.

»Was weißt du von Luigi?« Heinrichs Stimme hörte sich heiser an und war plötzlich sehr leise, als wollte er etwaigen Lauschern das Mithören erschweren.

»Nichts, was wir am Telefon erörtern sollten!«

»Dann halt gefälligst deinen Mund.«

»Wie geht es Mama?«

»Sie schläft!«

»Ich will nicht wissen, was sie macht, sondern wie es ihr geht!«

»Wie wird es ihr gehen nach einer Flasche Gin?«

Greta unterdrückte eine aufgebrachte Bemerkung, denn sie würde unweigerlich zu weiterem Streit führen. Vera, ihre Mutter, hatte ein ausgeprägtes Alkoholproblem und Heinrich war an der Misere seiner Frau nicht gänzlich unschuldig. Greta hätte es mit ihrem Vater auch keinen Tag unter einem Dach ausgehalten, ohne dass die Fetzen flögen. Seine Frau jedoch hatte kapituliert und sich in sich selbst zurückgezogen. Gin oder Sekt oder Schnee, all das waren willkommene Mittel, um der Realität zu entfliehen und sich der gescheiterten Ehe nicht täglich aufs Neue stellen zu müssen.

»Melde dich wieder, wenn du was Neues weißt. Und halt dich von den Boscos fern. Das würde ich dir nicht verzeihen, Greta, wenn du Romano gegen uns weiter aufbringst.« Die Leitung war tot.

Voller Ärger warf sie ihr Handy auf eines der runden Tischchen und starrte durch die Fensterscheibe hinaus auf die Piazza Vittorio Emanuele. Gegenüber baute eine Angestellte des Lederwarengeschäfts ihre Ständer im Freien auf. Bald hingen Taschen und Gürtel in allen Farben und Qualitäten an Haken und schwankten leicht im kalten Frühlingswind hin und her. Dort drüben warteten sie auch ungeduldig auf Kundschaft. So sehr sie alle im Oktober froh waren, wenn die letzten Deutschen nach diversen Weinproben und Steinpilzfesten endlich gen Norden abzogen, so sehnlichst warteten sie ab März darauf, dass sie erneut wie die Heuschrecken einfielen. Es wurde Zeit, dass wieder Geld in die leeren Kassen kam.

Greta entschloss sich, erst einmal stillzuhalten. Weniger aus Gehorsam dem Vater gegenüber, der ihr schon lange nichts mehr zu sagen hatte, sondern weil sie selbst den Unmut und Zorn von Romano Bosco, die anklagende Schweigsamkeit von Annamaria, der Mutter Maurizios, und noch mehr die scharfe Zunge von Maddalena fürchtete, der eminenza grigia der Boscos. Maddalena, die unangefochtene Herrscherin im Hause Bosco, die graue Eminenz, wie sie respektvoll genannt wurde, führte man nicht hinters Licht. Das wagte nicht einmal ihr sonst so hartgesottener Sohn Romano.

Ihr Vorhaben, ein beruhigendes Rosmarinbad zu nehmen, verschob Greta auf später. Ruhe war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Und so stieg sie in den ersten Stock der Villa Oliva, um sich mit ihren nächsten Kosmetik-Kreationen zu beschäftigen. Die deutschen Touristinnen waren geradezu wild nach Cremes und Lotions, hergestellt aus natürlichen Inhaltsstoffen. Alles sollte biologisch, ökologisch, nachhaltig und seit Neuestem vegan sein. Dafür waren sie bereit, tief ins Portemonnaie zu greifen, in der Annahme, ein hundertprozentiges Naturprodukt zu kaufen. Olivenölpampe nannte Heinrich ihre Produkte abfällig, obwohl auch er gut an ihnen verdiente. Greta lächelte böse vor sich hin. Ihr Vater war genauso naiv wie ihre Kundinnen. Nicht, dass das verwunderlich gewesen wäre. Manches Mal fragte sie sich, wie er und die Damen der Schöpfung nur darauf kamen, dass alles, was in Wässerchen, Cremes, Lotions und Seifen steckte, auch aus der Natur stammte. Nur weil die Verkaufsprosa das behauptete, waren sie alle leichtgläubig und sehr schnell von der sensationellen Qualität zu überzeugen.

Greta hatte in Hamburg einige Semester Chemie studiert, sich dann aber für die kürzere Ausbildung zur Kosmetikerin entschieden. Außerdem war sie sehr rasch zu der Überzeugung gelangt, dass der dauerhafte Umgang mit chemischen, übelriechenden oder dampfenden Stoffen nicht nach ihrem Geschmack war. Sie hatte heimlich nachts im Labor der Universität angefangen, mit Aromastoffen und Essenzen aus der Natur zu experimentieren und mit Bienenwachs und biologischen Ölen Cremes herzustellen. Selbstverständlich waren das keine neuartigen oder bahnbrechenden Versuche. Und ohne Chemie ging es ihrer Meinung nach nicht. Zu teuer waren die hochwertigen Ausgangsstoffe in der Anschaffung. Zu aufwendig in der Konservierung. Aber langsam tastete sie sich voran, probierte immer wieder neue Duftkomponenten aus und versuchte, unterschiedliche Fettgrade der Cremes und Lotions zu erreichen, um für möglichst viele Hauttypen Produkte anbieten zu können. Inzwischen hatte sie eine kleine, aber sehr erfolgreiche Naturkosmetikserie entwickelt, die sie in ihrem Laden hier in Lazise und in einem sehr schicken, teuren Laden im Centro Storico von Verona verkaufte. Auch ihr Vater hatte in seiner Residence Oliva in Wolfing am Chiemsee begeisterte Abnehmerinnen ihrer Artikel. Beide hofften sie auf ein einträgliches Ostergeschäft.

Dazu hatten sie sich etwas Besonderes einfallen lassen: Ostereier, aus Muranoglas geblasen, in frühlingshaften Pastelltönen gestaltet, die eine Sonderedition einer Kosmetikserie mit Namen Primavera enthielten. Sie sollten die anspruchsvolle Kundin erfreuen. Die Ostereier, geliefert von einer Glasbläserei der Insel Murano, kosteten allein in der Produktion ein kleines Vermögen. Greta hatte einen Kredit aufgenommen, um die Glaseier bezahlen zu können. Ein immenses Risiko bei ihrer meist klammen Kasse. Diese Marketingaktion musste sich lohnen, sonst war sie pleite. Die Verluste würden noch mehr ins Kontor schlagen, wenn Maurizio wirklich nicht mehr auftauchen und die Ware auf eigene Rechnung an andere Abnehmer verkauft haben sollte. Fragte sich nur, ob er selbst auf diese vermessene Idee gekommen war, oder ob Romano Bosco seine Finger im Spiel hatte und Heinrich van Holsten austrickste. Greta wäre erneut Spielball der beiden gierigen Männer, die sich nicht mochten und doch aufeinander angewiesen waren. Heinrich mehr als Romano, das war klar und das nutzte der Süditaliener weidlich aus. Was hatten er und Maurizio vor? Und wo war ihr Verlobter abgeblieben?

3

Verona, 11.00 Uhr

Commissario Antonio Fontanaro mischte sich unter die ersten Osterurlauber, die ziel- und planlos durch die Via Giuseppe Mazzini schlenderten, vor den zahllosen Auslagen der Modeketten stehen blieben und Klamotten betrachteten, die sie in jeder anderen europäischen Stadt auch kaufen konnten. Der ursprünglich so gelobte italian style, die Eleganz und der ausgefallene Chic begehrter italienischer Modelabels war längst Geschichte und einem Einheitsbrei ewig gleicher Schnitte, Farben und Stoffe gewichen. Antonio würdigte die Auslagen deshalb keines Blickes. Sein Sinn stand nach etwas ganz anderem.

Seine Frau Marissa hatte ihn beim Sonntagsfrühstück damit überrascht, dass sie sich von ihm zu Ostern ein Geschenk wünschte. Angeregt durch die Quengelei von Giulia, ihrer gemeinsamen Tochter, die von einem Smartphone neuester Generation träumte, weil angeblich alle in ihrer Klasse so ein Gerät besaßen, hatte Marissa ihn schelmisch angeblickt und gemeint: »So ein kleines Osterei wäre schön!«

Hellhörig geworden fragte Antonio nach: »Was meinst du mit klein? Wir haben uns doch noch nie etwas zu Ostern geschenkt.«

»Na, da wird es doch höchste Zeit.« Sie hatte ihm einen Teller mit einem frischen, wunderbar nach Vanille duftenden cornetto vor die Nase gestellt und sich zu ihm an den Tisch gesetzt. Einträchtig hatten sie in ihre cornetti gebissen und Antonio hatte abgewartet, was nach dieser verstörenden Bemerkung noch folgen würde. Und er musste nicht lange warten.

Marissa hatte einen weißen Puderzuckerfleck auf ihrer Nasenspitze, als sie fortfuhr: »Es gibt doch jetzt diesen ganz tollen Naturkosmetikladen in der Via Mazzini, gleich gegenüber vom Al Duca d’Aosta-Geschäft.« Eine Aussage, die Antonio jetzt bestätigt fand, als er vor einem der letzten alteingesessenen Läden Veronas stand, einem Überbleibsel alter Edelmarken. Doch das venezianische Modehaus, gegründet 1902, hatte sich inzwischen notgedrungen dem Zeitgeist angepasst. Anstelle von teuren Wollhosen aus Supercento-Garn und Jacketts aus Kaschmirwolle für den eleganten Herrn hatten auch hier Plastikleggings in Python-Lederimitat und Pullover aus pflegeleichtem Polyacryl die Auslage erobert, allerdings zu bekannt saftigen Preisen. Antonio drehte sich von dem Schaufenster weg, um sich dem Laden gegenüber zu widmen und las: Casa di lusso naturale.

Natürlicher Luxus wurde hier versprochen. Das klang nicht unbedingt nach Billigware. Neugierig trat er näher und fand bestätigt, wovon schon Marissa geschwärmt hatte. Im Schaufenster wurden Naturkosmetikprodukte angeboten. Das absolute Highlight unter den Töpfchen, Fläschchen und Flakons stellten ohne Zweifel Ostereier aus mundgeblasenem Muranoglas dar. Es gab sie in verschiedenen Größen und in wunderschönen Pastellfarben. Als Sprenkel ins Glas eingearbeitet waren Flitter aus Gold oder Silber. Gefüllt hatte man die teuren und hochwertigen Flakons mit Cremes und Lotions. Und genau so ein Osterei mit einer Bodycreme aus Oliven- und Rosmarinöl, versetzt mit einem Duft reifer Pomeranzen, wünschte sich seine Frau. Die Größe des Ostereis wollte sie ihm und seinem Geldbeutel überlassen. Dabei hatte sie einen letzten schelmischen Blick über den Frühstückstisch geschickt. Jetzt stand er staunend vor den Herrlichkeiten und musste einsehen, dass er mit fünfzig Euro, so seine bisherige Preisvorstellung, nicht weit kam. Kurz war er versucht, das Geschenk zu Ostern einfach bleiben zu lassen. Doch dann gab er sich einen Ruck. Wer wusste schon, ob er wirklich an Ostern frei haben würde. Sie hatten einen Ausflug nach Bozen zu seinen Schwiegereltern geplant. Elvira, seine Schwiegermutter, machte seit drei Wochen Pläne für ein geeignetes Mittagessen zum Ostersonntag. Endlos lange Telefonate führten Mutter und Tochter deshalb. Wie oft schon war ein solcher Ausflug ins Wasser gefallen, weil ein Mörder sich nicht an die Feiertagsordnung hielt. Und es würde Antonio nicht wundern, wenn auch dieses Ostern ohne ihn zu Hause stattfinden musste. Marissa hatte sich dieses Osterei durch ihre Geduld, die er immer wieder auf eine harte Probe stellen musste, seit Jahren verdient. Er nahm ein aquamarinblaues Ei mit Goldsprenkeln in der Preisklasse von 200 Euro näher in den Blick und entschied, dass er dieses jetzt ganz rasch kaufen wollte, bevor er es sich noch anders überlegte. Wie viele Läden in der Via Mazzini hatte auch dieser sonntags geöffnet.

Entschlossen betrat er das Geschäft und sah sich alsbald in einem mit hochwertigen Holzregalen ausgestatteten Kosmetiktempel wieder, der seinem Motto »lusso naturale« alle Ehre machte. Eine junge Verkäuferin bediente gerade eine ältere Dame. So konnte sich Antonio ungeniert umsehen und eines der zerbrechlichen Ostereier in die Hand nehmen. Gefüllt mit der hochwertigen Lotion fühlte es sich schwer an. Daneben stand ein bereits geöffnetes Ei.

Ein massiver Glasstöpsel mit passgenau geschliffenem Zapfen lag daneben. Damit wurde das Ei zu einer perfekten Form geschlossen. Antonio hielt sich die untere Hälfte des Eis, das die Creme aus Oliven- und Rosmarinöl mit dem Duft von reifer Pomeranze enthielt, unter die Nase. Er musste zugeben, dass das ein frisches, stark zitronig riechendes Dufterlebnis war. Er stellte sich vor, wie diese Creme auf der Haut seiner Frau einzog und der feine Fettfilm die geschmeidige Hautoberfläche noch unterstrich. Die Vorstellung hatte durchaus etwas Verführerisches, dem er sich nicht entziehen wollte. Schließlich sollte er für die 200 Euro auch eine kleine Freude haben, dachte er.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die junge Verkäuferin war neben ihn getreten und sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Einen Moment fürchtete er, sie würde ihn fragen, ob er der Commissario sei, der gestern im Fernsehen eine Pressekonferenz gegeben hatte. Vincenzo Mauro, der von ihm über alles geschätzte Staatsanwalt, hatte einen Fahndungserfolg wieder einmal zum Anlass genommen, alle Welt daran teilhaben zu lassen. Und es war Antonios Aufgabe gewesen, für die Questura und seine Kollegen lobende Worte zu finden. Dabei verdankten sie den Fahndungserfolg allein dem Zufall. Weder er noch seine Kollegen und schon gar nicht Mauro hatten Entscheidendes dazu beigetragen. Bei der Wohnungsdurchsuchung der Witwe eines Mordopfers hatten sie in der Waschmaschine deren Schlafanzug gefunden, der mit Blutspritzern übersät war. Nach anfänglichem Abstreiten gab die Frau schließlich zu, dass sie ihren Mann während eines Streits in der Küche mit einem Messer tödlich verletzt hatte. So konnte die Mordkommission von Verona zehn Stunden nach der Tat die Mörderin überführen. Das war keine Leistung, die Antonio im Fernsehen gerne präsentierte. Dabei fühlte er sich alles andere als wohl. Doch die junge Verkäuferin stellte keine der befürchteten Fragen, sondern sah ihn nur weiter erwartungsvoll an.

Er räusperte sich und sagte: »Ich möchte für meine Frau diese Bodycreme mitnehmen.« Mit dem Finger deutete er auf das größte Osterei, das auf dem Bord des Holzregals stand.

»Wir haben dazu ganz wunderbare Geschenkkartons.«

Sie bemerkte den irritierten Blick Antonios, denn sie lächelte ihn liebenswürdig an und sagte: »Diese sind natürlich im Preis inbegriffen.«

»Ah, natürlich!«

»Ich hole Ihnen beides rasch aus dem Lager.« Mit diesen Worten durchschritt die Verkäuferin, die laut Schildchen an ihrem Blazer-Revers Filippa Carbone hieß, das Ladengeschäft und verschwand durch eine rückwärtige Tür. Antonio nutzte die Wartezeit und schlenderte an Präsentationstischen und Regalen entlang. Zwischen weiteren Flakons aus geschliffenem Kristallglas, die Parfüms aus Ölen von Rosen- und Jasminblüten enthielten, entdeckte er auch Vanille-Duftkerzen und handgemachte Seifen. Hier blieben wahrlich keine Wünsche offen.

Signora Carbone kam unvermittelt zurück und zeigte ihm einen weißen Pappkarton, der mit Grafiken stilisierter Oliven- und Rosmarinzweige gestaltet war. Auch diese Verpackung sah sehr hochwertig aus. Die Verkäuferin hatte eine dunkelgrüne Satinschleife darum gebunden und hielt ihm das edle Teil unter die Nase.

»Ist das so recht?« Sie lächelte und führte weiter aus: »Wir hätten zu dieser wunderbar geschmeidigen Bodycreme auch noch eine Lotion.«

Daran zweifelte Antonio keinen Augenblick.

»Unsere Kundinnen mögen es, gleich nach dem Bad oder der Dusche den Körper mit dieser belebenden und erfrischenden Lotion zu verwöhnen. Zuvor kann man dem Badewasser eine Rosmarin- oder Lavendelessenz zuführen, die mit feinstem Olivenöl, angepflanzt und geerntet am Gardasee, angereichert wurde. Wir verwenden für unsere Produkte nur die besten Ausgangsstoffe der Natur.«

Aber natürlich, dachte Antonio und fühlte, wie er langsam aber sicher ungeduldig wurde. Er öffnete den Mund, um der Werbetirade der jungen Frau Einhalt zu gebieten.

Doch sie holte Luft und versicherte überflüssigerweise: »Darauf legen wir besonderen Wert.« Erneut lächelte sie Antonio gewinnend an.

Das glaube ich dir natürlich alles aufs Wort, dachte Antonio und lächelte zurück, weniger gewinnend, mehr skeptisch und mit dem deutlichen Signal, dass die Bodycreme das höchste der Gefühle war, das sein Geldbeutel gerade noch verschmerzen konnte.

»Grazie tante«, sagte er knapp. »Sie haben mir sehr geholfen.« Er legte seine Kreditkarte auf den Tresen aus bestem Olivenholz, wie er dabei feststellte und sich sogleich fragte, ob er das gut fand. Welcher alte Olivenbaum hatte für diese Extravaganz sein langes Leben eingebüßt? Kiefer hätte es in seinen Augen auch getan.

Filippa Carbone schob die Kreditkarte in ihr Lesegerät, riss nach wenigen Augenblicken den Bon ab und reichte ihn Antonio mit den Worten: »Ich bin sicher, Ihre Frau wird begeistert sein! Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen noch eine Probe unserer neuen Parfümkreation beilege?« Sie erwartete keine Antwort. Wie hätte er dagegen sein sollen? Auf die Papiertüte in passendem, garantiert recyceltem Ökobraun war werbewirksam ein dunkelgrüner Olivenbaum gedruckt, der seine Äste in einer breiten Krone nach allen Richtungen ausstreckte. In elegantem Bogen prangte darüber der Schriftzug: Casa di lusso naturale. Mit dieser Tüte konnte man sich ruhigen Gewissens überall sehen lassen. Ein Flakon, nicht länger als ein Zentimeter, gefüllt mit einer roséfarbenen Flüssigkeit, wanderte zu dem kunstvoll verpackten Osterei in die ökologisch unbedenkliche Papiertüte. Antonio hatte nun auch den mit Jasminblüten versetzten Rosenduft im Gepäck und war gespannt auf Marissas Reaktion. Plötzlich freute er sich auf den Ostersonntag und die Freude im Gesicht seiner Frau, wenn sie das wunderbare Ei aus Muranoglas auspacken würde. Kurz streifte ihn der Gedanke an seine Schwiegermutter Elvira, die an diesem Tag die Arbeit eines umfangreichen Familienmittagessens auf sich nahm. Er hoffte, dass seine Frau die Geschenkfrage für die Schwiegereltern selbst lösen würde. Fast sehnte er nun seinen Schreibtisch in der Questura herbei. Dort fiel ihm die Wahl leicht. Es gab nur dunkelgraue Pappmappen, die es abzuarbeiten galt. Immer eine nach der anderen. Er musste nicht nach Aussehen oder Geruch entscheiden. Mit einem freundlichen »Buongiorno« verließ er den Laden und sah noch, wie das Lächeln der jungen Verkäuferin jäh erstarb und sie ihm eigentümlich nachdenklich hinterherblickte.

4

Maria Eck, 12.30 Uhr

»Jetzt ham mer da amal sieben Anten und oamoi Knödel mit Soß für den jungen Mann.« Jovial kündigte der Kellner die Speisen an. Über der rechten Schulter jonglierte er ein riesiges Tablett, auf dem kunstvoll geschichtet halbe Enten mit Blaukraut und zweierlei Knödeln in einer glänzenden, dunkelbraunen Sauce auf schwerem Gastronomieporzellan lagen. Ausholenden Schrittes war er über den Steinboden und die Perserteppiche den Gang entlanggekommen. Dieser trennte die Tischreihe vor den Panoramafenstern von einer weiteren, die entlang der Wandseite aufgestellt war. Daneben gab es zahlreiche Extrazimmer, die alle belegt waren und wo sich verschiedene Familien beim Essen animiert unterhielten. Mit erstaunlicher Behändigkeit hob der Kellner einen Teller nach dem anderen vom Tablett und stellte sie vor den Gästen ab.

»An Guadn mitanand!« Dann eilte er zurück in Richtung Küche.

Georg genoss zufrieden das Drumherum im Lokal: die plaudernden Gäste, die gemütliche Atmosphäre und die traumhafte Lage. Vom Restaurant Maria Eck, auf einer Anhöhe gemeinsam mit der Wallfahrtskirche gleichen Namens gelegen, bot sich durch die Panoramafenster ein atemberaubender Blick auf den Chiemsee und die Berge. Breitwieser hatte seine Familie zu einem Mittagessen am Palmsonntag eingeladen, weil er wusste, dass er an Ostern Dienst und für einen solchen Luxus keine Zeit haben würde. Zurückgelehnt in einen der geschnitzten Holzstühle des Lokals, beobachtete er mit Freude die Gelassenheit seiner Mutter. Sie saß am Stirnende der Familientafel in ihrem Rollstuhl und nahm immer wieder ihre große Familie in den Blick und jetzt sichtlich begeistert die knusprige Ente in Angriff. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht. Allein für diesen Anblick war Georg unglaublich dankbar und wusste, dass er einmal alles richtig gemacht hatte. Rundherum saßen seine Schwester Barbara mit ihren Kindern Corinna, Konrad und Tobias. Sogar sein Schwager Franz, der normalerweise nie den Bauernhof alleinließ, wenn er am Wochenende zu Hause und nicht in der Schreinerei war, in der er die Woche über arbeitete. Für Franz waren die Kühe, Hennen und die Felder das Wichtigste im Leben. Manchmal fürchtete Georg, dass auch seine Schwester und die Kinder in seiner Hierarchie erst danach kamen. Aber da konnte er sich täuschen. Und es ging ihn auch nichts an. Seine Schwester machte einen glücklichen Eindruck und das sollte ihm genügen. Neben der Mama Katharina Breitwieser saß noch ihre polnische Pflegerin Maria, die inzwischen fest zur Familie gehörte, des Bayerischen auch schon ganz gut mächtig war und in ihrer lustigen Ausdrucksweise alle zum Lachen brachte. Eine zufriedene Familie prostete sich mit Weißbier und Cola zu, säbelte begeistert das Entenfleisch von den Knochen und sprach dem Blaukraut und den Semmel- wie Kartoffelknödeln zu. Nur Tobias mochte keine »Gummiadler«, wie er alles Geflügel nannte, und stürzte sich auf seine drei Semmelknödel, die in einem Suppenteller gefüllt mit Schweinebratensauce schwammen.