Der österreichische Biologe Paul Kammerer wurde durch seine aufsehenerregenden Experimente mit Geburtshelferkröten berühmt. In einer anderen Versuchsserie verwendete er zwei Arten von Salamandern, den schwarzen Alpensalamander und den gefleckten Feuersalamander. Die Ergebnisse seiner Arbeiten waren eine wissenschaftliche Sensation.

Der Naturwissenschaftler Dipl.-Math. Klaus-Dieter Sedlacek, Jahrgang 1948, studierte in Stuttgart neben Mathematik und Informatik auch Physik. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufspraxis in der eigenen Firma widmet er sich nun seinen privaten Forschungsvorhaben und veröffentlicht die Ergebnisse in allgemein verständlicher Form. Darüber hinaus ist er der Herausgeber mehrerer Buchreihen unter anderem der Reihen 'Wissenschaftliche Bibliothek' und 'Wissen gemeinverständlich'.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Neubearbeitung

Coverdesign, Buchblock und überarbeiteter Inhalt:

Klaus-Dieter Sedlacek

Internet: https://toppbook.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-7528-2710-1

Soweit Textteile der Gemeinfreiheit unterliegen,

werden für diese keine Immaterialgüterrechte wie Copyright geltend gemacht.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die gegenwärtig verbreitetsten Lehr- und Handbücher der noch jungen, selbstständig gewordenen Vererbungswissenschaft (Bateson, Baur, Häcker, Hart, Johannsen, Macfie, Strasser, Teichmann, Thomson, De Vries, Ziegler) nehmen der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gegenüber durchweg einen mehr oder minder ablehnenden Standpunkt ein. Ja, jene Schriftsteller, die noch vor wenig Jahren anerkannt hatten, dass gewisse Tatsachen zugunsten der Vererbung erworbener Eigenschaften sprechen (R. Goldschmidt in der 1. Auflage seiner „Einführung in die Vererbungswissenschaft“, 1911), sind darin in neuen Auflagen viel zurückhaltender geworden: der 3. Auflage von Goldschmidts Werk wird es seitens Fritz Lenz als besonderer Vorzug angerechnet, dass die „berühmten“ Salamander-Experimente Kammerers daraus mit ebenso viel Recht weggelassen wurden wie Guthries Eierstocks-Vertauschungen zwischen weißen und schwarzen Hennen.

Wieder andere Schriftsteller, die entschiedene Anhänger der Vererbung erworbener Eigenschaften sind, schieden trotzdem diese Vererbungsart — als seien sie dazu gezwungen, um voll genommen zu werden — gerade aus ihren Vererbungslehren aus und verwiesen sie in besondere Werke (L. Plate aus seiner „Vererbungslehre“ in „Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung“). Noch ein Autor, der stets als Anhänger galt, zollt in seinem jüngsten Werk den gegnerischen Lehrgebäuden des Selektionsmechanismus, Mendelismus, Mutationismus so begeisterte Zustimmung, dass man sich von Seite zu Seite fragt: verficht oder bekämpft er nunmehr die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften? (O. Hertwig, „Das Werden der Organismen“).

Womöglich schroffer, als es im Schrifttum zum Ausdrucke gelangt, ist die Vererbung erworbener Eigenschaften auf den bisherigen Versammlungen der deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft (Wien 1922, München 1923) und entsprechenden Kongressen der „Genetiker“ abgelehnt worden. In Wien z. B. wurden förmliche Resolutionen gefasst, des Inhaltes: so viel sei nun einmal ganz gewiss, dass es die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht gebe. Eine außerordentliche Dürftigkeit der Problemlösungen, insbesondere ein völliges Versagen und Eingestehen des Bankrottes, was Erklärungsmöglichkeiten der menschlichen Vererbung anbelangt, waren die naturgemäßen Folgen.

Legt man sich die Frage vor, wie es zu solcher Einseitigkeit, zu solch starrem Dogmatismus kommen konnte, so findet man Antwort teils bei der inneren Entwicklung unserer Wissenschaft, teils aber auch bei der Entwicklung unserer äußeren, politischen Lage.

Innerhalb der Wissenschaft war es das Zusammentreffen — oder, wenn man das Bekanntwerden ihrer Schriften in Rechnung zieht: die rasche Aufeinanderfolge — Weismanns und Mendels, wodurch die Vererbung erworbener Eigenschaften in Misskredit gebracht wurde. Vielleicht war es besonders eindrucksvoll, dass die aus den Ergebnissen Weismanns und Mendels entwickelten Theorien sich in Bezug auf die Wirksamkeit der Auslese scharf widersprachen und trotzdem in der Leugnung der Vererbung erworbener Eigenschaften übereinkamen. Es kann übrigens nicht oft genug betont werden, dass nicht Mendel selbst dies aus seinen Erfahrungen folgerte: Mendel beschrieb die Resultate seiner Bastardierungsversuche und fast nichts weiter; erst seine Nachfolger und Nachentdecker zogen daraus die weitgehendsten Schlüsse. Nicht im gleichen Grade, aber doch im Wesen gilt dasselbe von Weismann: auch seine Jünger und Nachbeter waren päpstlicher als der Papst.

Weismann, Mendel und die von ihnen begründeten Schulen bedeuteten anfangs eine notwendige und wohltätige Reaktion auf eine Epoche der Kritiklosigkeit, in der man die Vererbung erworbener Eigenschaften als etwas Selbstverständliches hingenommen und Anekdoten — nach Art derjenigen vom Stier, dem eine Stalltür den Schwanz abgequetscht hatte und der von nun ab nur noch schwanzlose Kälber zeugte, oder von der Kuh, die sich ein Horn abgestoßen hatte und Kälber mit schlaff herabhängenden Hörnern gebar — für bare Münze genommen hatte. Nach und nach jedoch erstarrte die Reaktion selber zur „Reaktion“, d. h. zum Rückstand und Rückschritt: jenen Modeschwankungen zufolge, von denen der Fortgang wissenschaftlicher Forschung eben sowenig frei ist wie irgendein anderer Zweig menschlicher Betriebsamkeit, gilt die Nichtvererbung erworbener Eigenschaften heute beinahe als ebenso selbstverständlich wie ehedem ihre sichere und ausnahmslose Vererbung.

Der Trägheit unseres Denkens sagt ja die Nichtvererbung der erworbenen Eigenschaften zweifellos viel besser zu als die hier vertretene entgegengesetzte Ansicht. In unseren Denkbedürfnissen sah Einstein den Hauptgrund der Ablehnung, als ich mich — Gast an seinem Tisch — mit ihm darüber unterhielt. Die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften erfordert das schwierigere relative Denken; sie verlangt es, dass wir uns das Lebewesen und den Kreislauf seines Lebens — von der Zeugung zur Entwicklung und zurück zur Zeugung — in Relation zur Außenwelt denken. Wir neigen aber zu dem bequemeren absoluten Denken: Das verleitet uns, den Lebenslauf beziehungslos zur übrigen Welt und dann umso leichter den Verlauf der Vererbung als etwas Unabänderliches, fremden Einflüssen Unzugängliches sehen zu wollen.

Mit der Vererbung erworbener Eigenschaften steht oder fällt des ferneren der menschliche Fortschritt: wenigstens soweit er sich nicht bloß mithilfe der äußeren Überlieferung, sondern innerlich und organisch vollzieht, also wahrer Fortschritt, „Höherentwicklung" (Goldscheid) ist. Alle fortschrittlichen Maßnahmen in Haus und Schule, privater und öffentlicher Wohlfahrtspflege, Erziehung, Verwaltung und Regierung empfangen tieferen Sinn eigentlich erst dann, wenn es eine Vererbung erworbener Eigenschaften gibt: denn nur dann dienen sie nicht bloß dem flüchtigen Dasein der Personen, sondern dem dauernden Leben der Generationen. Kein Wunder also, dass alles, was im privaten und öffentlichen Leben rückschrittlich („reaktionär“) gesinnt ist, sich gewaltsam gegen die Zumutung wehrt, als seien persönlich erworbene Eigenschaften irgendwie und irgendwann vererblich.

Bewusst, halbbewusst und unbewusst haben sich die Gelehrtenrepubliken, wie sie unsere heute größtenteils reaktionären Hochschulen darstellen, jener Abwehr einer so umstürzlerischen Doktrin vielfach angeschlossen. Das dunkle oder wachbewusste Empfinden, es gehe beim Kampfe gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften um mehr, als nur um die Entscheidung einer vererbungstheoretischen Frage: Es gehe vielmehr um die gesamte Entwicklungslehre — um die Lehre vom Artenwandel und der Entstehung höher gearteter Lebewesen aus tiefer stehenden, die ohne Vererbung erworbener Eigenschaften nicht geschehen kann —: dieses vollauf berechtigte Gefühl hat dem Streit in gelehrt reaktionären Lagern eine dort ganz ungewohnte Heftigkeit, Skrupellosigkeit und Parteilichkeit verliehen.

So ist denn eine „Reaktion wider die Reaktion“ dringlich notwendig geworden. Ebenso notwendig, wie gegen die kritiklose Anerkennung der Vererbung aller erworbenen Eigenschaften in der Epoche vor Weismann, ist heute der Widerstand gegen die kritiklose Ablehnung der Vererbung erworbener Eigenschaften seit Weismann. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, ist der Umschwung bereits auf dem Marsch Schon mehren sich die Stimmen, dass der beispiellose Aufschwung der mendelistischen Bastardforschung auf einem toten Punkt angelangt sei; dass der Mendelismus und die Methoden der „exakten Erblichkeitslehre“ (W. Johannsen), sowie der Mutationstheorie (De Vries und Schule) versagen, wo es sich darum handelt, die unleugbaren Erscheinungen der Deszendenz, der Rassen-, Art- und Gruppenbildung zu erklären.

Schon mehren sich auch wieder die Untersuchungen, die die Vererbung erworbener Eigenschaften zum eigentlichen Gegenstand haben: zwar getrauen sie sich noch nicht recht, die dabei gemachten, bejahenden Erfahrungen mit diesem verwegenen Namen zu bezeichnen; sie hüllen sich in allerlei mehr oder weniger hochgelehrte, mehr oder minder unverständliche Deckworte, wie „kumulative Nachwirkung“, „oszillierende Mutation“, „transgressive Ökologismen“, „phänotypische Übertragung von Modifikationen“ usw. usw. Aber eines Tages werden diese Hüllen voraussichtlich fallen und wir werden geläutert zu den positiven Anschauungen Lamarcks, Goethes und Darwins zurückkehren.

Dem zu erwartenden Umschwung vorzuarbeiten, ihn vorbereiten zu helfen und damit einstweilen auch ein „Leichtes“ — dieser Ausdruck wird hier verschieden ausgelegt werden! — Gegengewicht zu bieten zur eingangs gekennzeichneten, einseitig negativen Haltung der modernen Vererbungsliteratur: das ist für mich eine reizvolle und — wie ich glaube — verdienstvolle Aufgabe gewesen. Ich unterzog mich ihr um so lieber, als es vielfach meine eigenen, von der Gegnerschaft mit allen dialektischen Mitteln bestrittenen Forschungen sind, die ich dabei ins Treffen führe; und um so lieber, als ich selbst der Vererbung erworbener Eigenschaften gegenüber einen skeptischen Standpunkt eingenommen hatte, bevor sich in meinen Forschungen die sie bestätigenden Ergebnisse häuften.

Die Resultate anderer Forscher habe ich deswegen nicht außer Acht gelassen, auch nirgends den gegnerischen Standpunktvernachlässigt, diesen vielmehr — wie man mir nach Lektüre zubilligen wird — als Advocatus Diaboli recht energisch vertreten. Auf Vollständigkeit erhebt meine verhältnismäßig knapp gehaltene Schrift keinerlei Anspruch; weder in Hinsicht auf fremde noch auf eigene Untersuchungen; weder im Hinblick auf positive noch auf negative Tatsachen und Auslegungen.

Diese Unvollständigkeit wird man mir wahrscheinlich ebenfalls als Unzulänglichkeit vorwerfen. Aber einerseits ist die heutige, ungeduldige und übersättigte Leserschaft (die fachliche und die nicht fachliche) der Aufnahme und Durcharbeitung umfangreicher Werke nicht günstig gestimmt. Ein dickleibiges Vererbungsbuch, den vielen bereits bestehenden (wenn auch anders gesinnten) hinzugefügt, hätte wenig Aussicht gehabt, die im Sinne seines Zieles doch sehr erwünschte, weite Verbreitung zu finden.

Andererseits hoffe ich, dass es mir gelang, nichts Grundsätzliches und Grundlegendes vermissen zu lassen. Die Unvollständigkeit bezieht sich mehr darauf, dass es möglich gewesen wäre, fast jede wichtige Versuchsanordnung, jede wesentliche Vererbungserscheinung allenfalls noch durch zahlreiche andere Beispiele zu belegen. Es fehlt daher wohl das Erdrückende, aber auch das Ermüdende des Beweismaterials in meinem kleinen Buche; sein Zweck wird jedoch trotzdem erfüllt sein, wenn meine Bemühung Erfolg hatte, das Problem von all seinen aufschlussreichsten, prinzipiellen Seiten zu beleuchten.

Noch eine Eigenart meiner Schrift wird vermutlich Missbilligung herausfordern und bedarf daher eines Wortes vorbauender Rechtfertigung: ich wende mich mit meinen Ausführungen — wie ich es jetzt schon seit geraumer Frist zu tun pflege — auch an die Laienwelt. Meine Darstellung ist gewiss nicht populär in der Weise, dass sie als „leichte“ Unterhaltungslektüre genossen werden könnte; aber sie will jedem Gebildeten, ja jedem, der ein gesundes Denkvermögen sein eigen nennt, das Eindringen in den Gegenstand und die Gestaltung eines selbstständigen Urteils ermöglichen.

Gerade dies ist der Punkt — so wird man mir entgegenhalten —, wo ich notgedrungen scheitern, meine Erwartungen enttäuscht sehen muss Nur der Fachmann sei zu einem wirklich tiefgründigen, dem Stande unseres Wissens angemessenen Urteile befähigt. ln der Tat gehören gerade in unserer Frage außergewöhnliche und ausgebreitete Fachkenntnisse dazu, um in der Kritik und Antikritik nicht sehr arg fehlzugreifen.

Andererseits hat alles Wissen vor solchen Fehlgriffen nicht beschützt; hat alle Fachgelehrsamkeit unser Problem vor schwersten, fast unübersteigbar gewordenen Vorurteilen nicht behütet. Sogar also zugegeben, dass der gebildetste, der denkfähigste Laie ein zutreffendes, auch der wissenschaftlichen Diskussion standhaltendes Urteil nicht wird gewinnen können, so wäre es doch nicht das erste Mal, dass er als kräftiges Ferment in den trägen Stoffumsatz des Geistes eingreift. Ein gewisser Druck der öffentlichen Meinung; ein gewisser Gegensatz zwischen ihr und den Lehrmeinungen der Professoren hat — ob mit verbrieftem Recht oder nicht — bisweilen schon recht heilsam auf die Erforschung der Wahrheit eingewirkt.

Einem ähnlichen katalytischen Prozess — wie er sich z. B. durch das Wirken Carl Vogts, Büchners, Bölsches, Haeckels, Ostwalds zwischen Volk und Wissenschaft vollzog — sehe ich auch heute wieder mit freudiger Erwartung entgegen! Möge er die berufenen Forscher bald dazu zwingen, die Prüfung der Vererbungstatsachen aufs neue und von Grund auf zu beginnen.

Wien, im Dezember 1924.

Paul Kammerer

Vorwort des Herausgebers

Als Kammerer sein Werk über die Vererbung erworbener Eigenschaften schrieb, gab es den Begriff „Epigenetik“ noch nicht. Dennoch betrifft alles, was er schrieb, das was wir heute als Epigenetik bezeichnen. Die Experimente, die er durchführte, scheinen die „Vererbung“ epigenetischer Prägung zu beweisen. Dadurch war er seiner Zeit weit voraus. Doch seine Forschungsarbeiten werden von der Epigenetik-Fachwelt bisher wenig beachtet. So ist es mir eine besondere Freude, eine Neubearbeitung seines Buchs nun der Öffentlichkeit vorzulegen und damit einerseits der Epigenetik-Forschung einen Dienst zu erweisen und andererseits dem interessierten Sachbuchleser, dank der populären Darstellung, eine interessante Lektüre zu bieten. Um den Bezug zur heutigen Epigenetik-Forschung herzustellen, habe ich einen Anhang über die „Epigenetik“ und zwei neue Forschungsberichte hinzugefügt, die im Grunde zeigen, dass man in Fragen der „Vererbung“ epigenetischer Prägung keineswegs weiter ist, als es Kammerer war. Einzig die Erklärung, was im mikrobiologischen Bereich passiert, ist neu hinzugekommen.

Stuttgart, im Sommer 2018

Klaus-Dieter Sedlacek

Neuvererbung

oder Vererbung erworbener Eigenschaften

Ererbte und erworbene Eigenschaften

Wir alle sind die Träger einer Summe von Eigenschaften, an denen wir uns als Personen, als Angehörige einer bestimmten Familie, einer bestimmten Rasse und als Menschen zu erkennen vermögen. Bei Weitem die meisten körperlichen und geistigen Eigenschaften haben wir bereits von unseren Eltern, Großeltern und noch älteren Vorfahren übernommen; nur die wenigsten Eigenschaften haben wir erst im Laufe unseres individuellen Daseins angenommen.

Nicht jener Familien-, Rassen- und allgemein menschlichen Eigenschaften, die uns allesamt bereits angeboren waren; sondern ausschließlich dieser, die durch eigene Lebensführung hinzugekommen waren, dürfen wir uns als im strengen Sinne „persönlicher“ Eigenschaften rühmen. Mögen jene anderen sich an uns in einer noch nie da gewesenen Auswahl verbunden haben: Sie sind doch Ahnenerbe und kein eigener Erwerb.

ln den berühmten Versen

Vom Vater hab ' ich die Statur, des

Lebens ernstes Führen; vom

Mütterchen die Frohnatur,

Und Lust am Fabulieren ...

führt Goethe seine glänzenden Anlagen auf die Erzeuger zurück; im wissenschaftlichen Sinne spricht er sich damit die Persönlichkeit ab. Erst wenn man würdigt, was hinzugekommen ist; dass er die überkommenen Anlagen zur höchsten Stufe der Vollendung steigerte, lässt man den; ureigensten Wesen Goethes Gerechtigkeit widerfahren.

Gesetzt, ich verdanke meinem Vater eine hohe, eigentümlich modellierte Stirne und eisernen Fleiß; meiner Mutter eine schmale, gerade Nase und musikalisches Talent; dem Großvater väterlicherseits große, leuchtende braune Augen und dunkelbraune Haare; der Großmutter die Neigung dieses Haupthaares, frühzeitig zu ergrauen. Es gesellen sich ferner den genannten und anderen Familienmerkmalen die Rassenmerkmale weißer Hautfarbe und lotrecht aufeinander passender Kiefer sowie die Menschenmerkmale des umfangreichen Hirnschädels, aufrechten Ganges, der Fähigkeit zu gegliederter Sprache und Werkzeugbenutzung: so habe ich all das ohne mein Zutun geerbt; an alledem habe ich kein Verdienst.

Wird aber mein Antlitz von der Sonne gebräunt; stählt häufige harte Arbeit gewisse Muskelgruppen; vernarbt eine Wunde und bleibt durch die Narbe dauernd sichtbar; habe ich mein ererbtes Sprachtalent durch Erlernen einer Anzahl bestimmter Sprachen und mein musikalisches Talent durch gewandtes Spiel auf einigen Instrumenten zur Ausbildung gebracht: so darf ich darin mit Recht meinen selbst erworbenen Besitz sehen.

Ich war dann gehorsam dem Gebot: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Gerade aber das Fortsetzen, wo der Vorfahr aufhören musste: die Unentbehrlichkeit des organisch Überlieferten, um Neues daraus zu gestalten; die Unmöglichkeit einer Schöpfung aus dem Nichts macht es zuweilen schwierig, zwischen ererbten und erworbenen Eigenschaften, vom alten Bau den neuen Anbau zu unterscheiden.

Zu beurteilen, dass z. B. unser Gebiss — Zahl, Anordnung und Form der Zähne — ererbt wurde, ist uns noch möglich, trotzdem wir es nicht fertig zur Welt bringen, sondern als verborgene Anlage, die sich erst später entfaltet. Wir wissen aber, dass die Zahnknospen in besonderen Höhlen (Alveolen) schon vorbereitet liegen: Obwohl der Säugling scheinbar zahnlos geboren wird, braucht er das „Zahnen“ weder zu lernen noch zu üben; von selbst durchbricht das Milchgebiss den Kiefer. Wir sind kaum in der Lage, durch Veilchenwurzeln, Beißringe u. dgl. den Vorgang zu befördern, seine Beschwerden zu mildern.

Schon an der Muttersprache ist minder leicht zu erkennen, was ererbt, und wie viel erlernt ist. Würde das Kind sprechen lernen, ohne dass wir es lehren? Nur der Unkundige wird die Frage selbstverständlich verneinen; wird ferner darauf verweisen, dass ein Kind in fremder Umgebung sich die fremde Sprache anscheinend ebenso spielend aneignet, wie diejenige, in deren Umgang seine Vorfahren und Volksgenossen aufwuchsen. Ist daher das Sprechen ganz und gar eine erworbene Eigenschaft? Oder ist nicht doch ebenfalls eine ererbte Disposition, eine angeborene Anlage vorhanden, vergleichbar den Zahnknospen, nur im jetzigen Falle nicht ohne fremde Hilfe an die Oberfläche dringend?

Die Entscheidung ist kaum mit wünschenswerter Sicherheit zu treffen, weil es nicht angeht, Kinder versuchsweise ohne Sprechunterricht aufzuziehen. So werden wir beizeiten auf die Notwendigkeit des Tierversuches hingewiesen. Von Edelfinken, Distelfinken und Grasmücken, die als hilflose Nestlinge in die Gewalt des Menschen kamen und fern von ihresgleichen groß gezogen wurden, berichtet Lloyd Morgan, dass sie trotzdem das Lied ihrer Artgenossen singen, obgleich nicht so laut und schön.

Romanes erzählt aber auch, dass in zerstörten Indianerdörfern Südamerikas und Kaliforniens zuweilen ganz kleine Kinder zurückblieben, die dank der gesegneten Tropennatur von Früchten, Beeren und Wurzeln ihr Leben fristeten: bei ihnen soll sich aus dem kindlichen Lallen eine selbst erfundene Sprache entwickelt haben; ja aus der verhältnismäßigen Häufigkeit solcher Vorkommnisse will Romanes verständlich machen, weshalb bei den Indianerstämmen so zahlreiche grundverschiedene Sprachen unabhängig nebeneinander entstehen konnten.

Eine Tatsache wenigstens wird schon durch dieses Beispiel nahe gelegt: Jeder Mensch ist ein Produkt aus angeborenen und angenommenen Eigenschaften. Keine Individualität ist denkbar, die ihren Erbschatz nicht selbsttätig und durch die Lebenslage dazu gezwungen bereichert hat. Noch eine folgenschwere Frage erhebt sich auf solchem Grunde: Können vom Individuum erworbene Eigenschaften sogleich oder später in Generationsbesitz übergehen? Können höchstpersönliche Eigenschaften — unter dafür günstigen Umständen — in Familien- und Rasseneigenschaften verwandelt werden?

Dass letztere — die angeborenen Eigenschaften —, gleichwie sie von den Vorfahren ererbt wurden, auf die Nachfahren getreulich wieder weitervererbt werden, ist nie zweifelhaft gewesen. Ja wir kennen heute mit annähernder Genauigkeit die Gesetze, nach denen diese Vererbung geschieht, und den Mechanismus, der sie zuwege bringt. Die ererbten Eigenschaften gehorchen den von Gregor Mendel entdeckten und nach ihm benannten Vererbungsregeln, von denen im gegenwärtigen Buche nicht ausführlich, aber doch noch die Rede sein soll.

Die Mendelschen Regeln finden ihren sichtbaren Ausdruck in der kaleidoskopischen Harmonie, den Spaltungen und Wiedervereinigungen eines Stoffes, der im Keimbläschen enthalten ist und nach Zusatz künstlicher Farbstoffe unter dem Mikroskop deutlich hervortritt: das „ Chromatin" der Zellkerne wird daher als. Vererbungssubstanz angesehen; die kristallartigen Stücke („Chromosomen“), in die sie bei jeder Teilung zerfällt, gelten als Träger, Gefäße oder zumindest Fahrzeuge (R. Goldschmidt) der erblichen Eigenschaften, beziehungsweise der Anlagen, die sich während der Entwicklung zu fertigen Eigenschaften ausgestalten. All das bis ins einzelne klar zu machen, fehlt hier Raum und Anlass; genaueres ist in jedem Lehrbuch der Biologie und in jeder allgemeinen Vererbungslehre zu finden.

Welches aber ist das Schicksal der persönlich erworbenen Eigenschaften? Sterben sie mit der Person oder erstrecken sie sich manchmal wenigstens — über persönliche Grenzen hinaus in das Leben nachkommender Generationen? Vieles hängt, wie wir gegen Schluss des vorliegenden Buches besser einsehen werden — von der richtigen Beantwortung ab.

Sklaven der Vergangenheit
oder Werkmeister der Zukunft?

Wenn erworbene Eigenschaften — wie eine Mehrzahl heutiger Lebensforscher annimmt — sich nicht vererben, so gibt es keinen wahren, organischen Fortschritt: der Mensch lebt und leidet vergeblich; was immer er erobert, geht mit seinem Tod verloren; Kind und Kindeskind müssen immer wieder von vorne anfangen.

Gewiss, sie stützen sich auf das äußere Erbe, auf Vermögen, mündliche und schriftliche Überlieferung: aber all das ist kein sicherer Besitz. Kein Menschenhirn vermag alle Errungenschaften vorausgegangener Geschlechter immer wieder aufs neue zu umfassen; keines behält dann — und sei es auch nur im eigenen Spezialberuf — noch Kräfte übrig, um auf den mühselig neu errungenen Gütern der Vergangenheit weiterzubauen. Gewiss, wenn endgültige wissenschaftliche Erkenntnis dergestalt unsere Entwicklungshoffnungen zerstört, so müssten wir uns der Wahrheit bei all ihrer Trostlosigkeit beugen: gegen Tatsachen gibt es keine Auflehnung, sondern nur Ergebung. Ist aber die negative Erkenntnis wirklich schon endgültig? Gibt es nie und nimmer Vererbung des Neuen?

Wenn erworbene Eigenschaften sich gelegentlich vererben, so sind wir nicht ausschließlich Sklaven der Vergangenheit, die unentrinnbar an der Kette ihres Ahnenerbes schmachten; sondern wir sind auch Werkmeister der Zukunft, die sich von der schweren Bürde teilweise entlasten und glücklichere, gesündere, höher tragende Gaben dafür eintauschen können. Erziehung und Kultur, Gesundheitspflege und Wohlfahrt sind dann keine Bestrebungen, die bestenfalls nur der Person nützen, an der sie sich gerade betätigen; sondern jede Tat, ja jedes Wort und sogar jeder Gedanke hinterlässt möglicherweise generative Spuren. Freilich in doppelter Möglichkeit: gleichwie laut Schillers Wort „jede böse Tat fortzeugend Böses muss gebären“, ebenso jede gute Tat Gutes; wobei „fortzeugend“ und „gebären“ nicht — wie es der Dichter meint — in ihrer übertragenen, sondern in ihrer buchstäblichen Bedeutung zu verstehen sind.

Wo immer die Alternative in entwicklungshemmendem Sinne erledigt wird, werden wir — wie allgemein üblich — von „erblicher Belastung“ sprechen. Ist hingegen die Erledigung der Höherentwicklung förderlich, so werden wir ein gut gewähltes Wort von Georg Hirth adoptieren und sie „erbliche Entlastung“ nennen. Einerlei, ob eine schädliche Eigenschaft aus dem Erbvorrat getilgt oder eine günstige ihm einverleibt wurde, werden wir „Entlastung“ darin sehen. Denn obgleich im zweiten Falle etwas hinzugekommen ist, die Summe erblicher Eigenschaften sich vermehrt und nicht vermindert hat, so bietet doch dies neue Gute eine Hilfe, das Gewicht schlimmer Vergangenheiten leichter zu ertragen und womöglich seiner ledig zu werden.

Gibt es also — je nach unserer Lebensführung — erbliche Belastung und erbliche Entlastung? Je nach Wahl und Einsicht generationenweisen Rückschritt oder Fortschritt? Die Frage birgt eine gar nicht abzuschätzende sozialpolitische Bedeutung; und wenn es meinen einführenden Worten gelang, das menschliche Interesse wachzurufen, das wir alle daran nehmen müssen, so werden mir meine Leser willig folgen, wenn ich jetzt in der unter- menschlichen Lebenswelt die Antwort suche.

Die Bedeutung des Zuchtversuches

Denn weder direkte Beobachtung der Familie, noch statistische Häufung und Vergleichung vieler Tausend einfacher Beobachtungen kann uns die Lösung bringen. Sie kann einzig durch planmäßige Zuchtexperimente erfolgen, zu denen man Menschen selbstverständlich nicht benützen darf. Wir sind daher auf Tier- und Pflanzenzuchten angewiesen, die noch den Vorzug einfacherer, übersichtlicher Verhältnisse darbieten anstelle der ungemein verwickelten, verwirrenden Lebensäußerungen des Menschen und der menschlichen Gesellschaft.

Welchen Aufschluss gibt uns aber die Vererbung der Pflanzen und Tiere darüber, ob bei uns erbliche Entlastung möglich ist? Nun, was das betrifft, dürfen wir uns getrost auf die wunderbare Einheit der lebenden Natur verlassen. So oft noch irgendeine Gesetzmäßigkeit irgendwo im niederen Tier oder Pflanzenreich entdeckt wurde, erwies sie sich bindend auch für die „Krone der Schöpfung“. Deshalb beruht der ansehnlichste Teil unseres medizinischen Wissens auf dem Tierversuch. Ferner hatte Augustinerprior G. Mendel die S. 15 erwähnten Vererbungsregeln im Klostergarten zu Brünn zuerst an Erbsen und Levkojen aufgefunden; dann wurden sie von anderen Forschern an Hühnern, Mäusen, Meerschweinchen u. dgl. bestätigt, endlich ebenso in menschlichen Stammbäumen (z. B. Habsburgerlippe, Rot-Grün-Blindheit u. a.) als gültig befunden.

Wenn mithin Pflanzen und Tiere ihre erworbenen Eigenschaften vererben, so dürfen wir das Problem auch für den Menschen im bejahenden Sinne als gelöst betrachten. Der gefällige Leser möge deshalb geduldig den nun kommenden, ihm vielleicht etwas fremden und trockenen Schilderungen folgen: selbst wenn sie von Lebewesen handeln, die uns scheinbar ganz ferne stehen und uns gar nichts angehen, so betreffen sie eigentlich doch fortwährend den Menschen; wenn nicht ihrem besonderen Inhalte nach, so doch im Prinzip dürfen die Ergebnisse ohne Weiteres sofort auf den menschlichen Lebenslauf und Zeugungskreislauf übertragen werden.

Schmetterlingsversuche

Die grundlegenden Versuche über Vererbung erworbener Eigenschaften wurden an Schmetterlingen durchgeführt. Werden Puppen vom „kleinen Fuchs“ (Vanessa urticae —

Abb. 1 mittlere Reihe) im Eiskasten aufbewahrt, so liefern sie zum großen Teil Falter, die dunkler gefärbt sind (b, c) als normale (a). Die Verdunkelung äußert sich als Verdüsterung der Grundfarbe und als Vergrößerung schwarzer Flecke, die zu ausgedehnten Flächen miteinander verschmelzen. Beides tritt am Männchen (c) schärfer hervor als am Weibchen (b): es ist eine allgemeine Erfahrung, dass das männliche Geschlecht für Veränderungen empfänglicher, gegen Schädigungen empfindlicher ist, als das weibliche; jenes ist das progressive, dieses das konservative Element in der Stammesgeschichte. Viele aus verdunkelten Faltern gezogenen Nachkommen (d) sind fast so dunkel wie die Eltern (b, c), mithin dunkler als die unbeeinflussten Großeltern (a); und zwar selbst dann, wenn die Puppen nicht wiederum im Eiskasten, sondern bei normaler Zimmertemperatur gelegen hatten.

Abb. 1 Temperaturversuche an Schmetterlingen
Obere Reihe: Stachelbeerspanner (Abraxas grossulariala) nach Chr. Schröder; Mittlere Reihe: Kleiner Fuchs (Vanessa Urticae) nach Standfuß; Untere Reihe: Bärenspinner (Arctia caja) nach E. Fischer, a normale Falter; b Weibchen; c Männchen, durch Temperaturextreme geschwärzt; d Nachkommen künstlich geschwärzter Falter, bei mittlerer Temperatur gezogen. (Aus H. Przibram, Experimentalzoologie, III. Band.)

So verläuft der klassische Versuch von Standfuß (1898). Ganz entsprechend verliefen auch die Versuche von E. Fischer (1901) am braunen Bärenspinner (Arctia caja — Abb. 1, untere Reihe); mit dem methodischen Unterschiede, dass seine Puppen nicht während der ganzen Puppenruhe, sondern nur mit Unterbrechungen dem Frost ausgesetzt wurden; dafür jedoch einer durch Kältemischung erzeugten, tieferen Temperatur von — 8 Grad C. Die Verdüsterung (b, c) zeigt sich abermals in Gestalt einer Verbreiterung und Verschmelzung dunkler Zeichnungsstücke (besonders auf den Hinterflügeln); sowie in einer Einschränkung der netzförmigen weißen Zeichnung auf den Vorderflügeln. Beides beim Männchen (c) stärker als beim Weibchen (b); beides ebenso bei den in mittlerer Zimmerwärme aufgezogenen Nachkommen (d).

Der ebenfalls vollkommen analoge Versuch von Chr. Schröder (1903) am Harlekin oder Stachelbeerspanner (Abraxas grossulariala Abb. 1 obere Reihe) erzielt die Verdüsterung der Grundfarbe, Ausbreitung schwarzer und Schwund gelber Zeichnungselemente nicht durch Frost, sondern durch Hitze. Die Erfahrung, dass gegensätzliche Extreme in unserem Falle sehr hohe und sehr niedrige Temperatur — gleiche Veränderungen auslösen, hat sich auch sonst vielfach bestätigt. Schröder exponierte die Harlekin-Puppen dreimal täglich während je 11/2 Stunden einer Temperatur von 38 Grad C., wiederum mit weitergehendem Effekt beim Männchen (c); und bei den Nachkommen (d) wiederum, trotzdem die Temperaturerhöhung in dieser Generation ganz unterblieben war.

Abb. 2: Erwerbung von Veränderungen, vier Möglichkeiten
A Beeinflussung des Körpers ohne Veränderung der Keime (erworbene Eigenschaft wird nicht vererbt);B Beeinflussung der Keime ohne Veränderung des Körpers (die Veränderung würde als „Mutation" in folgender Generation plötzlich erscheinen);C Somatische Induktion, eigentliche Vererbung erworbener Eigenschaften(Übertragung der Veränderung aus dem Körper in den Keim);D Parallel-Induktion, Scheinvererbung, Nachwirkung (gleichzeitige direkte Beeinflussung von Körper und Keim).Nach H. E. Ziegler.

Unverbildeter Laienverstand ist geneigt, zu glauben, dass die Vererbung erworbener Eigenschaften — der künstlich aufgezwungenen Schwarzfärbung bei Schmetterlingen — hiermit exakt bewiesen war. Alsbald jedoch erhoben sich gegnerische Stimmen, welche die spätere Vererbungsforschung zu manchem Umweg gezwungen, ihr aber auch manche Vertiefung und Klärung abgerungen haben. Stets ist das Für und Wider einer Streitfrage besonders lebhaft, wenn die Moral aus der Naturgeschichte menschliche Bedeutung hat; nie ist der Geist der Verneinung stärker, als wenn er zugleich Geist des Rückschrittes ist und sich — bewusst oder unbewusst — dem menschlichen Fortschritt entgegenstemmt.

Wege der Veränderung und Vererbung

Wenn wir in beschriebener Art Wärme oder Kälte auf ein Lebewesen (in unserem Falle auf einen Schmetterling) wirken lassen, so kann dies auf die paarweise im Hinterleibe gelegenen Keimorgane in viererlei Kombinationen weiterwirken (Abb. 2):

1. Der äußere Einfluss (in unserem Falle die Temperatur) verändert nur einen begrenzten Körperteil (verdunkelt in unserem Falle die Flügelfärbung), lässt aber den übrigen Körper und die Keime unverändert (Abb. 2, A). Diese Kombination ist bei Weitem die häufigste; sie traf auch bei einem beträchtlichen Teile der Schmetterlingszuchten ein und gibt uns zugleich den Aufschluss, dass gewiss nicht alle, sondern vielleicht nur die wenigsten erworbenen Eigenschaften sich vererben oder — vorsichtiger ausgedrückt — schon in der nächstfolgenden Generation erbliche Spuren wahrnehmen lassen. Dass jede erworbene Eigenschaft sogleich erblich wird, hat auch der begeistertste Anhänger dieser Lehre nie behauptet.

2. Die umgekehrte Kombination (Abb. 2, B) wurde bisher am seltensten beobachtet: der äußere Einfluss verändert nur die Keime, lässt aber den ganzen übrigen Körper unverändert. ln Towers Zuchten am Kartoffelblattkäfer (Leptinotarsa — Abb. 4) werden wir bald ein scheinbar hierher gehöriges Beispiel kennen lernen. Im Anschluss an die bisher besprochenen Schmetterlingszuchten aber sei bemerkt, dass es gewiss gut gewesen wäre, auch die in erster Generation anscheinend unverändert gebliebenen Exemplare zur Fortpflanzung zu bringen: es ist gar nicht ausgeschlossen, dass sie veränderte Nachkommen gezeugt hätten, trotzdem sie äußerlich dem Temperatureinfluss Widerstand geleistet hatten. Durch diese leider unterbliebene Kontrollzucht wäre dem noch zu erörternden Einwand, es handle sich nicht um Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern nur um Auswahl von vornherein geeigneter Exemplare, wirksam begegnet worden.

3. Der äußere Einfluss verändert die Flügelfärbung, also zunächst einen örtlich scharf begrenzten Körperbezirk: hier setzt sich die physikalische Energie (Wärme o. dgl.) in physiologische um; das heißt, die Flügelveränderung wird im Körper zu den Keimen weitergeleitet, sei es durch Reizleitung des Nervensystems, sei es im Wege des Stoffwechsels und Säftekreislaufes (Abb. 2, C). Seitdem die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften in der Lebensforschung auftauchte, stellte man sich den Übergang des Neuerwerbs vom Körper („ Soma “) auf den Stoff, aus welchem die Nachkommenschaft erwächst („Keimplasma“) in dieser Weise vor: die Körperschichten vermitteln zwischen Außenwelt und Innenwelt, zwischen Lebensraum und Keimorgan; und zwar nicht einfach, weil jene Schichten für den physikalischen Reiz durchlässig sind; sondern sie spielen ihre Mittlerrolle durch eigene Lebensverrichtungen. Bereits Ch. Darwin hat diesen Übertragungsvorgang grundsätzlich in seiner „Theorie der Pangenesis“ angenommen; Detto hat dafür die Bezeichnung „Somatische Induktion“ eingeführt.

1. Endlich ist noch folgende Kombination denkbar, die die Fälle 1 und 2 in sich vereinigt (Abb. 2, D): Derselbe äußere Einfluss, der in einer für uns unmittelbar sichtbaren Weise z. B. nur die Flügel verändert, wirkt in Wahrheit gleichsinnig auf den ganzen Körper mit Einschluss der Keimorgane. Und dieselbe Veränderung, die dort (am Körperteil) ihre fertige Ausprägung erfährt, wird hier (im Keim) als verborgene Anlage vorbereitet, zur Auferstehung in nächster Generation. Detto nannte den Vorgang „Parallelinduktion“: was sich außen am Körper entwickelt, wird parallel im Keimplasma angelegt.

Bei unserem bisherigen Objekt — dem Schmetterling — ist leicht einzusehen, dass der Temperatureinfluss alle Körperschichten durchdringen und sich als solcher auch im Keimstoff geltend machen kann. Ist doch der Schmetterling ein „kaltblütiges“, genauer, ein „wechselwarmes“ Tier, dessen Körpertemperatur sich nach der Umgebungstemperatur richtet: ist’s draußen frostig, so ist er in der Tat sehr kaltblütig; ist’s außen warm, so ist er aber bald auch recht heißblütig. Für sämtliche anderen Einflüsse der Umwelt (Licht, Feuchtigkeit, Nahrung, ja Zug, Druck, Stoß und Schnitt) suchte H. Przibram nachzuweisen, dass sie den Keim auf direktem, physikalischem Wege erreichen können, und zwar auch bei warmblütigen Tieren (Säugern, Vögeln), sogar mit Einschluss der Wärmeschwankungen, weil auch die Warmblüter (zumal im Jugendzustand) kein ganz gleichmäßig warmes, von der Außentemperatur unabhängiges Blut besitzen.

Der Einwand, es handle sich nicht um „somatische Induktion“, sondern um „Parallelinduktion“, das heißt um direkte Beeinflussung der Keime, ist zum Haupteinwand gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften geworden. Der Unkundige wird allerdings fragen: Wird durch direkte Einwirkung auf die Keime nicht ebenfalls Vererbung vollzogen? Bezeichnet die Unterscheidung in somatische und Parallelinduktion nicht bloß zwei verschiedene Mechanismen oder Wege, auf denen neue Eigenschaften den Keimen einverleibt werden? Ist nicht aber das tatsächliche Endergebnis dasselbe, und zwar positiv im Sinne der Vererbung erworbener Eigenschaften?

Wahre Vererbung oder bloße Nachwirkung?

Uneingeschränkt kann diese Frage nicht bejaht werden. Gewiss ist die Möglichkeit gegeben, dass ein äußerer Einfluss, der ohne Vermittlung des Körpers den Keim erreicht, dort dauernde Änderungen („Mutationen“) zuwege bringt. Wahrscheinlicher jedoch hinterlässt der äußere Reiz, der den Keim direkt beeinflusst, auch dort nur vorübergehende Änderungen („Modifikationen“), die spätestens in der Enkelgeneration verschwinden, wenn der modifizierende Reiz die Großeltern traf, sodann aber unter Rückkehr normaler Lebensbedingungen aufhörte. Wir verstehen diese Erwartung aufgrund folgender Überlegung:

Betrachten wir einmal die Keimchen nicht mehr als integrierendes Gewebe des elterlichen Körpers, sondern als jüngste Stadien der kommenden Generation. Das Ei sei also jetzt nicht als Zelle des Mutterleibes, sondern bereits als allerkleinstes Kind angesehen. Legt nun ein direkt von außen kommender Einfluss in diesem Keim oder Kind potenziell dieselbe Eigenschaft an, die der erwachsene Elternorganismus aktuell zur Schau trägt, so ist die Eigenschaft nicht bloß bei den Eltern, sondern abermals beim Kind ein Neuerwerb. Wir dürfen streng genommen gar nicht von „Vererbung“ sprechen: Vererbung geschieht ja aufgrund eines organischen Zusammenhanges zwischen Eltern und Kind. In unserem Falle fehlt — die neue Eigenschaft betreffend — ein derartiger Zusammenhang: Keim und Körper haben diesbezüglich nichts miteinander zu schaffen; Keim und Körper erwerben die neue Eigenschaft ganz unabhängig voneinander. Wir dürften daher höchstens von „Scheinvererbung“ oder besser von „Nachwirkung“ sprechen.

Das ist mehr als bloße Spitzfindigkeit und logische Unterscheidung. Angenommen (Abb. 3), die Eltern erleben eine