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Ein Käfer wie ich

Erwin Moser, geboren 1954 in Wien und 2017 dort verstorben, wuchs im österreichischen Burgenland auf, wo er eine Ausbildung zum Schriftsetzer absolvierte. Die Liebe zum Fabulieren und das Zeichnen hat er früh für sich entdeckt, wie er berichtet: »In der Schule war ich im Zeichenunterricht längst schon aufgefallen. Was ich in Mathematik verpatzte, versuchte ich in den Zeichenstunden auszubügeln. Einmal erwischte mich der Mathelehrer, wie ich in der Geometriestunde anstatt Würfel oder solchem Zeug eine Horde reitender Indianer zeichnete. Der war vielleicht wütend! ›Das kann er!‹, hat er geschrien. ›Aber davon kann man nicht leben, Moser!‹«

Dass man sehr wohl vom Zeichnen und vom Geschichtenerfinden leben kann, bewies Erwin Moser viele Jahre. Seine Bücher standen auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, er wurde mit dem japanischen Owl-Preis ausgezeichnet und erhielt den Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln. Seine Geschichten und Bilder gehören heute zum Kanon der Kinderliteratur. 2014 wurde in seinem Heimatort Gols das Erwin Moser Museum eröffnet.

Inhalt

1. TEIL
Am Teich

1. Kapitel
Die Zuckermelone

2. Kapitel
Das gelbe Ei mit den roten Streifen

3. Kapitel
Melonko, die Ameise

4. Kapitel
Der Maulbeerbaum

5. Kapitel
Freund Maikäfer

6. Kapitel
Die Flugreise

7. Kapitel
Baldur, der Schwärmer

8. Kapitel
Ein großes Ereignis

9. Kapitel
Schmatzimilian

10. Kapitel
Nepomuk, der Zwergmäuserich

11. Kapitel
Die Fahrt über den Tümpelsee

12. Kapitel
Das Konzert

13. Kapitel
Schmatzimilians rätselhaftes Verschwinden

2. TEIL
In den Häusern der Menschen

14. Kapitel
Flirr, die Libelle

15. Kapitel
Die Hornissen

16. Kapitel
Der Flug zu den Häusern der Menschen

17. Kapitel
Hanna, die Spinne

18. Kapitel
In der Küche der Menschen

19. Kapitel
Der Dachboden

20. Kapitel
Der Schönheitswettbewerb

21. Kapitel
Nächtlicher Besuch

22. Kapitel
Wieder auf dem Maulbeerbaum

1. TEIL

Am Teich

1. Kapitel

Die Zuckermelone

Ich bin ein Mehlkäfer und für Käferverhältnisse schon ziemlich alt. Seit einigen Jahren wohne ich auf einem Dachboden, wo es sehr ruhig ist und mich selten jemand stört. Genau der richtige Ort für einen alten, ruhebedürftigen Mehlkäfer wie mich.

Vorne, neben dem Stiegenaufgang, steht eine Mehltruhe, die an einer Seite ein Loch hat. So komme ich bequem zu meinem Lieblingsessen, dem Mehl. Aber nicht immer ging es mir so gut. Geboren bin ich zum Beispiel unter der Rinde eines morschen Baumstrunks. In den ersten Jahren meines Lebens habe ich Mehl nicht einmal vom Hörensagen gekannt. Lange Zeit habe ich mich von dem Holz des Baumstrunks ernähren müssen, und das war auch der Grund, warum ich nicht fliegen konnte. Mehlkäfer können nämlich normalerweise auch fliegen. Ich konnte es nicht. Und von dieser Zeit will ich jetzt erzählen.

Wie gesagt, ich lebte in meiner Jugend in einem morschen Baumstrunk, der mir gleichzeitig als Futter diente. Mit der Zeit hatte ich viele Höhlen und Gänge in das weiche Holz gegraben und es mir behaglich eingerichtet. Der Baumstrunk stand am Rande eines Tümpelsees, den ich von meinem Standort aus gut überblicken konnte. Im Sommer war hier immer viellos. Im Wasser, an Land und in der Luft wimmelte es da manchmal nur so von den verschiedensten Insekten.

Eines Sommertages, ich hatte gerade die Arbeit an einem neuen Gang begonnen, besuchte mich Fritz, der Tausendfüßler. »He! Mehli!«, rief er herauf. »Komm raus! Unten am Wasser gibt’s was zu sehen! Die roten und die schwarzen Ameisen streiten sich schon wieder!«

Das wollte ich mir natürlich nicht entgehen lassen, und so unterbrach ich meine Arbeit und folgte Fritz, der die Böschung zum Wasser hinunterrannte. Dicht am Ufer kletterten wir auf eine hohe Unkrautpflanze, die große, breite Blätter hatte.

Auf dem obersten Blatt ließen wir uns nieder und beobachteten die folgende Szene:

Nicht weit von unserem Standort wuchs auf der sandigen Böschung eine Zuckermelonenpflanze. Sie hatte nur eine einzige Frucht: eine wunderschöne, goldgelbe Zuckermelone. Die roten Ameisen hatten diese Melone schon vor Tagen entdeckt und waren natürlich voller Ungeduld, sie zu verspeisen. Aber wo sie es auch versuchten, die Oberfläche der Melone war für ihre Beißerchen zu hart, und sie fanden nirgends eine Stelle, an der sie sich bis zum süßen Fleisch der Melone durchnagen konnten. Tag für Tag krabbelten sie auf der schönen Frucht herum und überlegten hin und her, wie sie die Sache anpacken sollten. Eine besonders schlaue Ameise hatte dann eine gute Idee: Man braucht nur den Stängel der Melone durchzunagen, so dass sie nicht mehr weiterwachsen kann, und wartet dann in aller Ruhe ab, bis sie zu faulen beginnt. Ist einmal irgendwo eine faule Stelle in der Melonenhaut, so ist es für eine Ameise leicht, sich ins Innere vorzunagen.

An und für sich war das keine schlechte Idee. Aber die Kundschafter der feindlichen schwarzen Ameisen hatten die Melone in der Zwischenzeit ebenfalls entdeckt und die schwarzen Soldaten ihres Stammes benachrichtigt. Diese kamen gleich anmarschiert und wollten die roten Ameisen, die eben dabei waren, den Stängel der Melone durchzunagen, vertreiben.

Als Fritz und ich unseren Beobachtungsplatz eingenommen hatten, war die Rauferei bereits voll im Gang. Rund um die Melone tobte die Schlacht. Die schwarzen Ameisen hatten sich auf die roten gestürzt und versuchten nun, diese zum Wasser hin abzudrängen. Aber so leicht ließen sich diese nicht verjagen. Sie wehrten sich verbissen, und obwohl sie in der Minderheit waren, sah es so aus, als ob sie den Kampf gewinnen würden.

»Sieh dir das an«, sagte Fritz und stampfte ärgerlich mit den vordersten zehn Beinen auf, dass das Blatt zitterte, »da bringen sie sich wegen nichts und wieder nichts gegenseitig um. Wenn sie sich die Melone teilen würden, hätten beide Parteien genug zum Fressen!«

»Ach ja«, sagte ich, »du kennst ja die Ameisen. Die werden sich nie ändern. Die roten und die schwarzen Ameisen sind schon seit undenklichen Zeiten Todfeinde. Da kann man nichts machen.« Nun war es den roten Ameisen tatsächlich gelungen, ihre Feinde von der Melone wegzudrängen. Langsam wichen die Schwarzen zurück. Viele Tote und Verwundete lagen schon herum. Plötzlich hörten wir es donnern. Das heranziehende Gewitter hatten wir vollkommen übersehen. »Schnell weg hier!«, rief Fritz und wollte schon hinunterklettern, da begannen die ersten Tropfen zu fallen. Jetzt saßen wir schön in der Patsche!

»Warte, Fritz!«, rief ich. »Es hat keinen Sinn, wir erreichen unsere Höhlen nicht mehr!«

Auch die Ameisen hatten das Gewitter bemerkt und rannten eilig in alle Richtungen davon, um einen sicheren Unterschlupf zu finden. So ein heftiger Regen ist eine verdammt gefährliche Sache für uns Insekten. Trifft dich ein Regentropfen – zack! –, schon zappelst du auf der Erde, oder, noch schlimmer, du wirst vom Wasser fortgerissen, und niemand kann dir helfen.

Fritz und ich taten deswegen das einzig Vernünftige in dieser Lage – wir krochen auf die Unterseite eines starken Blattes der Unkrautpflanze und klammerten uns mit aller Kraft fest. Fritz hatte es da leicht. Wo der sich mit seinen hundertvierundvierzig Beinen festkrallt, bringt ihn nichts mehr vom Fleck. Aber auch ich hielt mich gut fest. Das Blatt zitterte heftig unter den aufprallenden Regentropfen, doch es hielt stand. Auf der Unterseite war es trocken. Trotzdem wäre mir in diesem Moment wohler gewesen, wenn ich in meinem Baumstrunk gewesen wäre.

Fritz rief mir etwas zu. Doch durch den Lärm des Unwetters konnte ich ihn nicht verstehen. Er zeigte hinunter, in Richtung der Melone. Ich drehte den Kopf und sah gerade noch, wie die schöne gelbe Zuckermelone die Böschung hinunterkollerte und mit einem Platschen in den Tümpel fiel. Sie tauchte gleich wieder auf und trieb langsam zur Mitte des Tümpelsees hinaus.

Die mit großer Wucht heruntersausenden Regentropfen hatten das Werk der Ameisen vollendet. Der angenagte Melonenstängel hatte dem Regen nicht standgehalten und war abgerissen. Na, die Ameisen würden Augen machen, wenn sie das sahen!

Wir überstanden das Gewitter recht gut. Glücklicherweise war es bald zu Ende. Fritz und ich waren trocken geblieben. Die Sonne kam wieder heraus und schickte ihre Strahlen herunter, als ob es nie ein Unwetter gegeben hätte. Wir kletterten auf die Oberseite des Blattes und ruhten uns aus.

»Das wäre vorbei«, sagte Fritz erleichtert. »Und alles nur wegen dieser idiotischen Ameisen!«

Wir warteten noch eine Weile, bis der Großteil des Regenwassers versickert war, dann trennten wir uns und gingen nach Hause.

2. Kapitel

Das gelbe Ei mit den roten Streifen

Am nächsten Tag, als ich wieder mit dem Graben meines neuen Ganges beschäftigt war – wen höre ich da? – Fritz!

»He, Mehli!«, rief er aufgeregt. »Komm raus, ich hab was Tolles entdeckt!«

Dieser Fritz! Wenn er mich nur einen Tag in Ruhe arbeiten lassen könnte! Jeden Tag kommt er mit einer neuen Sache daher, und ehe man sich’s versieht, steckt man bis zum Halspanzer in Schwierigkeiten. »Lass mich in Ruhe!«, rief ich daher zurück. »Ich hab heute keine Lust zu gefährlichen Unternehmungen. Außerdem will ich endlich meinen neuen Gang fertiggraben!«

Aber so leicht ließ sich mein vielfüßiger Freund nicht abweisen. Er krabbelte in das Eingangsloch meiner Behausung und kletterte die drei Stockwerke zu mir herauf. »Sei kein Spielverderber, Mehli!«, sagte er.

»Komm mit, ich hab was Wunderschönes entdeckt. Ich schwör dir, so etwas hast du noch nie in deinem Leben gesehen. Du musst es ganz einfach sehen! Abgesehen davon, brauche ich deine Hilfe. Ich will es nämlich in meine Wohnung transportieren, und alleine schaffe ich es nicht. Du musst mir tragen helfen!«

»Jetzt brems dich aber!«, sagte ich. »Wovon redest du überhaupt?«

»Na, von dem Ding, das ich gefunden habe! Komm, Mehli, lass die öde Graberei und komm mit. Ich sage dir, das musst du gesehen haben!«

»Fritz, sei mal für eine Minute vernünftig. Was ist das für ein Ding, das du da gefunden hast?«

»Unten an der Böschung, in der Nähe der Melonenpflanze, liegt es. Gestern war es noch nicht dort. Ich glaube, die Menschen haben es hingeworfen. Es ist fast so groß wie eine Melone, vollkommen rund und über und über mit Haaren bewachsen. An einer Stelle ist ein Loch, aus dem es ganz seltsam riecht. Ich glaube, man kann’s auch essen.«

Da soll nun einer draus schlau werden, was das ist.

»Fritz«, sagte ich, »komm zu dir! Wenn das komische Ding so groß wie eine Melone ist, wie willst du es dann in deine Höhle befördern?«

»Lass mich doch ausreden!«, sagte er. »Das haarige Ding will ich ja gar nicht. Das andere will ich … Oh, das ist sooo schön. Ich muss es haben! Und du musst mir helfen!«

»Bleib ruhig, Fritz, ganz ruhig. Ich helf dir ja. Aber vorher erzähl mir alles schön der Reihe nach!«

Endlich beruhigte sich der Tausendfüßler. »Also, ich trabte heute Morgen zur Melonenranke hinunter, weil ich mir die Sache näher ansehen wollte. Aber der Regen hatte die Spuren der Ameisenschlacht vollkommen weggespült, und abgesehen vom durchgenagten Stängel gab es nichts Interessantes mehr zu sehen. Also spazierte ich das Ufer entlang und kam bald zu der Stelle, wo die Menschen manchmal ihren Unrat hinwerfen. Plötzlich sah ich das runde, haarige Ding. Ich ging vorsichtig näher ran und betrachtete es von allen Seiten. Dann entdeckte ich das Loch, und als ich näher hinsah, bemerkte ich neben dem Loch das wunderschöne gelbe Ei mit den roten Streifen. Leuchtend gelb ist es, und diese roten Streifen … einfach herrlich! Ich muss es haben …«

»Bist du sicher, dass es ein Ei ist?«, fragte ich.

»Ja, natürlich!«, sagte Fritz. »Ein Ei, ein ganz seltenes Ei. Hab noch nie so eins gesehen.«

»Und wie groß ist es?«

»Na ja, ungefähr so groß wie ein gewöhnliches Käferei.«

»So. Und das willst du haben?«

»Ja, unbedingt!«

»Fritz«, sagte ich, »überlege doch einmal logisch. Dort liegt ein Ei. – Gut! Ein schönes Ei. – Auch gut! Aber weißt du, was für ein Wesen in dem Ei drinnen ist? Du sagst selbst, dass du so ein Ei noch nie gesehen hast. Und wenn ich so überlege, fällt mir auch kein Insekt ein, das gelbe Eier mit roten Streifen legt. Was nun, wenn du dieses Ei dann in deiner Höhle hast und es schlüpft ein bösartiges Tier aus? Hast du daran schon gedacht?«

»Unsinn«, sagte Fritz, »aus so einem schönen Ei kann nur ein schönes, liebes Baby ausschlüpfen, da bin ich mir sicher. Geh, Mehli, verdirb mir nicht die Freude. Schau es dir wenigstens an. Wenn du es siehst, wirst du mir recht geben!«

Ich seufzte. Was soll man da machen? »Also gut«, sagte ich. »Aber in deine Wohnung tragen wir es nicht. Das ist zu riskant. Wir könnten das komische Ei eventuell an einen abgeschiedenen Platz schaffen und es beobachten, bis die Baby-Larve oder was sonst drinnen ist, ausschlüpft. Dann sehen wir weiter.«

Fritz war mit meinem Vorschlag einverstanden, und wir verließen meinen Baumstrunk und gingen zum Abfallplatz der Menschen.

Als wir gerade den Unkrauturwald am Rande der Sandböschung passieren wollten, hörten wir unten am Wasser die zischenden Stimmen von Ameisen. Leise krochen wir weiter, dabei immer im Schatten der Unkrautblätter bleibend. Eine Gruppe von zwölf roten Ameisen war eben dabei, eine vertrocknete Erbsenhülse aufzubrechen. Wir errieten sofort, was sie vorhatten. Sie machten sich Boote, mit denen sie dann zu der Zuckermelone hinausfahren wollten, die in einiger Entfernung vom Ufer schwamm. Die leeren, halbierten Erbsenhülsen sollten ihnen dazu dienen.

Ja, Ameisen sind nicht dumm, wenn es darum geht, Futter zu beschaffen. Wenn sie nicht so grausam und rücksichtslos wären, könnte man sie manchmal direkt bewundern.

Fritz und ich umgingen die Melonenranken und passten dabei auf, dass uns die Ameisen nicht entdeckten.

Es war ziemlich heiß. Die Sonne brannte mir mächtig auf den Rückenpanzer und verursachte mir ein leichtes Gefühl der Schlappheit in den Beinen. Wir Mehlkäfer sind eben nicht dazu geschaffen, tagsüber bei Sonnenschein herumzurennen. Wenn Fritz nicht wäre, ich glaube, ich würde selten meinen Baumstrunk verlassen.

Endlich erreichten wir die Stelle, an der die Menschen ihren Mist ablagerten.

»Dort, hinter dem Kalksteinblock ist es!«, sagte Fritz und krabbelte freudig und ungeduldig weiter. Wir bogen um die Ecke und ich sah sofort das »große runde, haarige Ding«. Es war eine Kokosnuss. Eine Schwalbe hatte mir einmal von diesen seltsamen Früchten erzählt, deswegen erkannte ich sie sofort. Die Schwalbe wollte mich damals mit ihren interessanten Geschichten aus meinem Loch locken. Aber das ist eine andere Geschichte … Jedenfalls wusste ich nun, dass das gelbe Ei mit den roten Streifen, zusammen mit der Kokosnuss, aus dem fernen Land im Süden stammte. Die Sache begann mich zu interessieren.

Wir waren bei der Kokosnuss angekommen. Fritz stutzte plötzlich und schrie erschrocken auf: »Es ist weg!« Schnell rannte er um die Kokosnuss herum. »Es ist weg! Es ist weg, es ist weg!«, jammerte der Tausendfüßler. »Mein schönes Ei! Sie haben mein schönes Ei gestohlen!«

»Wo hat es denn gelegen?«, fragte ich.

»Hier, da, neben dem Loch!«, sagte Fritz. »Das waren die Ameisen. Jede Wette! Diese elende Bande!«

Ich kletterte auf die Kokosnuss und sah mich in der Gegend um. Und richtig, ich brauchte nicht lange zu schauen, da sah ich gerade noch, wie drei rote Ameisen mit dem gestreiften Ei im Eingangsloch ihres Hügels verschwanden. Der Ameisenhügel war zwar mindestens fünf Meter weit entfernt, aber meine scharfen Augen hatten es sehr deutlich gesehen. Ich kletterte wieder hinunter und sagte: »Fritz, du hast recht gehabt. Es waren die Ameisen. Ich habe sie eben noch gesehen, wie sie dein Ei in ihre Burg geschleppt haben!«

Der Tausendfüßler wollte sofort aufbrechen und sich das gestreifte Ei zurückerobern, was natürlich völlig sinnlos gewesen wäre. Die roten Ameisen hätten uns auf der Stelle mit ihren giftigen Bissen getötet. Mit Mühe gelang es mir, Fritz zu beruhigen. Schließlich krochen wir durch das Loch ins Innere der Kokosnuss und probierten diese exotische Speise. Sie schmeckte wirklich nicht schlecht.

»Fritz, vergiss das Ei«, sagte ich kauend. »Das ist jetzt im Ameisenbau. Die Ameisen würden es niemals freiwillig herausgeben, das weißt du genau. Wahrscheinlich füttern sie damit ihre Königin.«

Fritz hatte sich auf den Rücken gelegt und schaute nachdenklich in das dunkle Gewölbe der Kokosnuss. Oje, dachte ich, wenn er diesen Gesichtsausdruck annimmt, kommt meistens nachher eine haarsträubende Idee heraus.

»Mehli, ich weiß, was wir machen«, sagte Fritz und lächelte schlau. »So leicht gebe ich mich nicht geschlagen. Wir gehen zu Babalubo, dem weisen Erdkäfer. Der muss uns sagen, wie wir den Ameisen beikommen können!«

Was sollte ich machen? Wenn sich Fritz was in den Kopf setzt, ist er nicht mehr davon abzubringen. Ich glaubte zwar nicht, dass uns Babalubo in dieser Sache helfen könnte, beschloss aber, Fritz zuliebe mitzugehen. Außerdem hatte ich Babalubo schon lange nicht mehr gesehen, und ich freute mich auf diese Begegnung, da man herrlich mit ihm plaudern konnte. Der weise Erdkäfer wohnte aber auf der anderen Seite des Tümpelsees, wo die Böschung aus einer feuchten, lehmigen Erde bestand. Dort hatte er ein gut getarntes Loch, das tief ins Erdinnere führte.

»Okay, Fritz«, sagte ich. »Gehen wir zu Babalubo. Aber heute nicht mehr. Erst morgen. Der Weg ist sehr weit. Wir müssen ja den ganzen Tümpel umgehen. Das ist eine Wanderung von einem ganzen Tag. Mir tun jetzt schon die Füße weh, wenn ich nur daran denke.«

»Ausgeschlossen!«, rief Fritz. »Mehli, du bist der lahmste Käfer, den ich kenne! Wir gehen natürlich sofort zu Babalubo. Morgen kann es bereits zu spät sein. Auch werden wir nicht gehen, sondern schwimmen!«

»Fritz, du spinnst!«, sagte ich. »Keine zehn Hirschkäfer bringen mich ins Wasser! Ich und schwimmen – du musst den Verstand verloren haben!«

»Mehli, jetzt wirst du unvernünftig. Wir werden uns natürlich ein Boot oder etwas Ähnliches besorgen und darauf hinüberrudern. Damit ersparen wir uns den langen Marsch. Was die Ameisen können, das können wir schon lange!«

»Alles gut und schön«, sagte ich. »Aber bedenk doch die vielen unheimlichen Tiere im Wasser … hu, mich gruselt!«

»Wenn du die Frösche und Kröten meinst, die sind harmlos«, sagte Fritz. »Die werden uns nichts tun.«

»Und Bonko, der böse Wasserkäfer, was ist mit dem? Ist der etwa auch dein Freund?«

»Ach was«, sagte Fritz, »wir warten, bis es dunkelt, und fahren dann los. Bonko schläft um diese Zeit sicher schon.«

Ich gab mich geschlagen. Fritz hatte mich wieder einmal überredet. Nach einigem Suchen fanden wir ein vertrocknetes, an den Rändern aufgebogenes Blatt, das sich ideal als Boot verwenden ließ. Es war federleicht und würde sicher schnell schwimmen. Wir versteckten es am Ufer und kletterten dann wieder in die Kokosnuss, wo wir den Einbruch des Abends abwarteten.

3. Kapitel

Melonko, die Ameise

Fritz war prächtiger Laune und voll Unternehmungsgeist. Ich selbst aber bekam ein etwas mulmiges Gefühl, wenn ich an die bevorstehende Wasserfahrt dachte.

Endlich brach draußen die Dämmerung an. Wir warteten noch eine Weile und stiegen dann zum Wasser hinunter. Die warme Abendluft war von vielfältigen Geräuschen erfüllt. Unsichtbar, zwischen den Wassergräsern verborgen, sangen die Unken. Dazwischen schmetterten die Wasserfrösche ihre lauten, knarrenden Schreie in den Himmel. Fritz zerrte das Blattboot aus dem Gestrüpp und gemeinsam setzten wir es aufs Wasser. Jetzt wurde es ernst. Wenn nur Bonko schon schlief! Mit zittrigen Knien bestieg ich das schwankende Blatt. Fritz folgte. Er ließ dabei sein Hinterteil mit den letzten zehn Beinpaaren über den Rand des Bootes ins Wasser hängen und begann, sie rasend schnell zu bewegen. Das Blattboot setzte sich in Bewegung. Zügig glitten wir über das dunkle Wasser. Das Ufer entfernte sich immer mehr. Rechts von uns tanzte ein Mückenschwarm dicht über der Wasseroberfläche. Es war schön anzusehen. Wie leicht sie sich in der Luft hielten – scheinbar vollkommen schwerelos. Ach ja, fliegen müsste man können! Schauernd blickte ich über den Blattrand ins Wasser. Es war klar und spiegelglatt, doch man sah nicht den Grund. Nur schwarzbraunes Halbdunkel unter einer schimmernden Oberfläche.

Fritz war ins Keuchen gekommen. Aber er lächelte, als ich ihn besorgt ansah. Nun mussten wir bald die Mitte des Teiches erreichen. Plötzlich sah ich einen dunklen Gegenstand vor uns auftauchen. Angestrengt sah ich hin. Die Melone! »Vorsicht, Fritz!«, sagte ich. »Dort vorne schwimmt die Zuckermelone. Rudere leiser, möglicherweise sind noch Ameisen dort!«

In einem Sicherheitsabstand umfuhren wir die schwimmende Frucht. Als wir sie von der anderen Seite sehen konnten, erblickten wir die Erbsenboote der roten Ameisen. Sie waren also noch hier! Offenbar arbeiteten sie in Nachtschicht, um so schnell wie möglich ans süße Fleisch der Melone zu gelangen.

»Mehli, ich habe eine Idee«, sagte Fritz plötzlich. »Das ist die Gelegenheit! Wir machen die Boote der Ameisen los, so dass sie abtreiben, dann können sie nicht weg!«

»Nein, Fritz. Lass das! Es ist zu gefährlich! Außerdem hat es wenig Sinn. Die Ameisen würden früher oder später von ihren Genossen an Land mit neuen Booten abgeholt werden. Ich beschwöre dich, fahr weiter!«

Aber Fritz hörte nicht auf mich. Er steuerte unser Blattboot auf die an der Melone vertäuten Erbsenboote zu. Wir waren keine fünf Zentimeter davon entfernt, da ertönte vom obersten Punkt der Zuckermelone ein spitzer Alarmschrei. Ein Wachtposten der Ameisen hatte uns entdeckt! Gleich darauf tauchten fünf weitere Ameisen auf, die sofort zu den Erbsenbooten hinunterkletterten.

»Kehr um! Kehr um!«, schrie ich.

Fritz hatte die Gefahr erkannt und strampelte wie ein Irrer mit den Hinterbeinen. Das Blattboot wendete. Die Ameisen waren in die Erbsenhülsen gesprungen und verfolgten uns mit wildem Geschrei und Gezische. Fritz hatte noch mehr Beine ins Wasser geschoben und ruderte, so schnell er konnte. Aufatmend bemerkte ich, dass wir das schnellere Schiff besaßen. Die Boote der Ameisen blieben immer weiter zurück. Zornige Schreie und Flüche wurden uns nachgeschickt. Ich zeigte den Ameisen eine lange Nase.

Fritz schnaufte wie eine asthmatische Seidenraupe.

»Schneller, Fritz!«, rief ich. »Du schaffst es!«

Dann geschah es!

Als ob ein Blitz zwischen die Boote der roten Ameisen gefahren wäre, wurden sie urplötzlich in die Luft geschleudert. Mir stockte der Atem bei diesem Anblick. Ein schwerer, massiger Körper war inmitten des aufspritzenden Wassers aufgetaucht. Fritz hatte zu rudern aufgehört. Gebannt beobachteten wir das Schauspiel. Plötzlich wusste ich, was geschehen war! Bonko, der Wasserkäfer, hatte die Boote der Ameisen zum Kentern gebracht. Denen konnte niemand mehr helfen.

Die Wasseroberfläche war längst wieder still und glatt, als Fritz und ich noch immer wie erstarrt in unserem Blattboot hockten. Lange wagten wir nicht, uns zu rühren oder zu sprechen. Der Schreck war uns in sämtliche Glieder gefahren. Die gekenterten Erbsenboote trieben still dahin. Von den Ameisen war nichts zu sehen und nichts zu hören. Wir konnten nur hoffen, dass Bonko wieder in seine düsteren Gefilde unter Wasser zurückgekehrt war. Wir getrauten uns keine Bewegung zu machen, denn wir fürchteten, dass der schwarze Wasserkäfer auch noch auf uns aufmerksam werden könnte.

Vom Ufer her tönten die Rufe der Unken, als ob nichts geschehen wäre. Als wir so über das Wasser blickten, bemerkten wir auf einmal nicht weit von unserem Standort eine Bewegung im Wasser. Es war eine rote Ameise, die den Angriff des Wasserkäfers überlebt hatte und verzweifelt gegen das Untergehen ankämpfte.

Ich sah Fritz an – er erriet sofort meine Gedanken und steuerte unser Boot mit sachten Schwimmbewegungen auf die Ameise zu. Gemeinsam zogen wir sie ins Trockene. Erschöpft blieb sie in einer Wasserlache liegen. Fritz wagte es nun, weiterzufahren, und wir nahmen wieder Kurs auf das andere Ufer.

Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit, eine rote Ameise ausgiebig aus der Nähe zu betrachten. Das Tier besaß sechs dünne, aber kräftige Beine, die mit scharfen Krallen besetzt waren. Der auffallend dicke Hinterleib schimmerte rötlichbraun. Am Kopf saßen die gefürchteten, zangenförmigen Oberkiefer, mit denen die Ameisen ihre Feinde beißen, um sodann eine giftige Flüssigkeit aus dem Hinterleibsende in die Wunde des Opfers zu spritzen. Die gerettete Ameise rührte sich nicht. Offenbar war sie vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ohne weitere Zwischenfälle erreichten wir das andere Ufer. Bonko war nicht mehr aufgetaucht.

»Was machen wir mit der da?«, fragte ich Fritz und deutete auf die Ameise.

»Wir nehmen sie mit«, sagte Fritz. »Vielleicht ist sie uns noch von Nutzen.«

Ich weckte die Ameise. Sie kam zu sich und sah uns aus verschreckten Netzaugen an. Sie schien sich an das Vorgefallene zu erinnern, denn sie nahm eine Demutshaltung ein und gab leise, zischende Laute von sich, die eindeutig freundschaftlicher Art waren.

Fritz sah sie misstrauisch an. Ob er wohl an das alte Insektensprichwort dachte, welches hieß: Traue nie einer Ameise?

»Wie heißt du?«, fragte ich die Ameise.

Sie antwortete mit einem traurig klingenden Zischen. Mehr würden wir wohl aus ihr nicht herausbringen. Weder Fritz noch ich verstanden die komplizierte Sprache der Ameisen.

»Von jetzt an heißt du Melonko!«, sagte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Mel- wie Melone und -onko wie Bonko!«

Fritz lachte. Die Ameise schien zu unserer Überraschung verstanden zu haben; denn sie nickte eifrig mit dem Kopf, zeigte mit einem Vorderbein auf sich und zischte:

»Zschschmelsssonkisss …!«

Sie verstand also unsere Sprache, konnte sie aber offenbar nicht sprechen. Vermutlich waren ihre großen Oberkiefer daran schuld.

Wir kletterten nun alle drei die Lehmböschung hinauf und suchten das Eingangsloch zu Babalubos Bau. Fritz ging voran, gefolgt von Melonko, und zum Schluss ging ich. Es dauerte nicht lange und der Tausendfüßler hatte das gut getarnte Loch gefunden. Wir betraten den schmalen, kühlen Gang, der anfangs viele Windungen hatte, aber schon bald schnurgerade ins Erdinnere führte. Die Dunkelheit machte uns nichts aus, da wir alle drei in unserem ureigenen Element waren – der Erde.

Babalubo hatte unser Kommen bemerkt und kam uns abwehrbereit entgegen. Aber der Erdkäfer erkannte Fritz und mich sofort, als er uns sah. Wir wurden in eine geräumige Wohnhöhle geführt, wo wir Babalubo ausführlich unsere Erlebnisse berichteten. Die Ameise hatte sich etwas abseits hingesetzt und starrte teilnahmslos vor sich hin.

Als wir mit unserem Bericht zu Ende waren, kratzte sich Babalubo nachdenklich am Kinn. Der alte, behäbige Erdkäfer hatte eine wunderschöne, dunkelgrün schillernde Rückenfarbe. Niemand wusste, wie alt er tatsächlich war. Den Gerüchten nach mochte er sogar älter als Bonko sein, und der hatte gewiss seine zwanzig Jahre auf dem Buckel.

Babalubo sprach: »Liebe Freunde, eure Geschichte ist wirklich höchst interessant, aber das Ei mitten aus dem Ameisenbau herauszuholen, ist eine sehr, sehr gefährliche Angelegenheit. Es ist unmöglich, ungesehen in einen Ameisenhügel einzudringen. Unmöglich!«

»Das wissen wir«, sagte Fritz. »Deswegen kommen wir ja zu dir, Babalubo. Bitte, du musst uns helfen, das Ei zurückzuholen, bevor es die Ameisen aussaugen.«