Edda ist verzweifelt. Nachdem Herr Audorn ihr eröffnet hat, dass er ihr Großvater ist, haben die Schwierigkeiten gerade erst ihren Anfang genommen. Der gerissene Stifter hat einen Weg gefunden, Edos Taaffeit-Formel zu rekonstruieren, und braucht dafür Eddas Hilfe. Dabei scheut er keine Mittel, um Edda hierfür zu zwingen und ihr gleichzeitig zu zeigen, dass er in ihrem Leben fortan die Fäden ziehen wird. Gemeinsam mit ihrem Onkel René begibt sich Edda auf eine spannende Reise in die Vergangenheit ihres Vaters, die sie schließlich zu einem geheimnisvollen alten Leuchtturm führt.

Währenddessen gerät Eddas geliebte Familie in eine tragische Existenzkrise, die zu einem jähen Zusammenbruch von Eddas Kindheit führen wird.

Edda sieht nur eine Möglichkeit, um ihre Familie zu retten und weiß, dass sie bereit sein muss, einen hohen Preis dafür zu bezahlen…

Alexandra Schmidt wurde 1990 geboren und studierte an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Debütreihe Die Betonys wie auch ihr Nachkriegsthriller Flanders Fluch sind seit 2018 im deutschen Buchhandel erhältlich.

Weiterhin erschienen:

Ira – Zorn des Taaffeits (Die Betonys, Bd. I)

Gula – Gierige Flammen (Die Betonys, Bd. II)

Flanders Fluch

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Alexandra Schmidt

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7481-6196-7

Für Norden
meine schmerzlich vermisste Heimat…

Inhaltsverzeichnis

Prolog 1987

Der Straßenlärm wird von dickflüssigen Nebelschwaden geschluckt. Durch die Suppe hindurch sind noch nicht einmal die Lichterketten der Weihnachtsbeleuchtung zu erkennen, die noch das eine oder andere Fenster zieren. Das Jahr ist frisch geboren, dennoch trägt es die Erblast des Vorjahres in sich und verspricht den Ausbruch einer Krankheit, die noch zu schlummern scheint.

Er weiß, dass es ein ereignisreiches Jahr werden wird. Woran das liegt, kann er nicht genau sagen, doch er fühlt es. Etwas ist im Begriff zu geschehen und unwillkürlich fragt er sich, wo er wohl zum nächsten Jahreswechsel stehen wird.

Die Frau, der sein Herz gehört, ist noch nicht von der Arbeit zurück. Allein sitzt er an dem Chaos seines Schreibtisches und hat die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt; in einer Hand dreht er eine Fotofilmspule, die Knöchel der anderen hat er an den Mund gelegt. Vor ihm liegen noch zwei weitere Filmspulen auf dem Tisch. Er grübelt. Die Versuchung ist groß, gar keine Frage. Aber er muss sich noch gedulden; überstürzte Handlungen könnten die gesamte Arbeit gefährden. Wenn er jetzt aus Eitelkeit unvorsichtig handelt, wird er es später bitter bereuen. Lieber noch ein Weilchen warten, statt direkt alles preiszugeben. Zuerst muss er noch einmal hinfahren und es zu Ende bringen. Doch all das braucht seine Zeit.

Sein Blick gleitet neben sich. Auf dem Boden hockt das Mädchen und spielt mit dem Plüschteddy, den es zu Weihnachten bekommen hat. Er krault seiner Tochter den Krauskopf; blond wie das Engelshaar ihrer zauberhaften Mutter, doch zottelig wie das seine. Dann versinkt er wieder in Gedanken.

Nein, er wird es nicht tun! Er wird sich gedulden und den rechten Zeitpunkt abwarten.

Entschieden greift er nach einem lose auf dem Tisch flatternden leeren Umschlag und stopft alle drei Filme hinein, dazu verfasst er eine kurze Notiz, die er faltet und beifügt. Dann leckt er den Rand des Umschlags an und pappt ihn zu. Fertig! Er wird ihn seinem Schwager zur Aufbewahrung geben. So ist es besser; zwar nicht unerreichbar, aber dennoch aus seiner unmittelbaren Reichweite gebracht, um zu verhindern, dass er voreilig handelt. Es sind sonderbare Zeiten und jeden Tag könnte es zu einer Kurzschlussreaktion kommen.

Die Wohnungstür klackt und das Mädchen springt auf, um der Mutter entgegenzueilen.

»Du bist noch auf?«, hört er ihre energische, aber ruhige Stimme durch die offenstehende Bürotür dringen. Hinter der Stimme schiebt sich ihre kleine, anmutige Gestalt durch den Türrahmen. »Wieso liegt die Kleine noch nicht im Bett?«, fragt sie kopfschüttelnd. Unter ihren Augen ruhen tiefe Schatten.

»Sie konnte nicht schlafen«, erklärt er abwesend und reicht ihr den dicken Umschlag. »Gibst du den bitte deiner Schwester? Sie soll ihn ihrem Mann geben.«

»Wieso gibst du ihm den nicht selbst in der Universität?«, will sie wissen und nimmt das Kuvert entgegen.

»Weil ich nicht will, dass er dort herumliegt. Du kennst ihn doch! Er soll sofort verschwinden und das soll deine Schwester ihm sagen. Er muss ihn sicher aufbewahren!«

25 Jahre später

Freitagabend
Robinie zu Schotendorn

Jähe Stille hat sich in dem weitläufigen Raum ausgebreitet, in dem bis eben noch angeregt gesprochen wurde. Man kann die Staubkörner zu Boden rieseln hören, die in den Strahlen der tiefstehenden Sonne vor dem Fenster tanzen. Der alte Mann, der mit dem Rücken an seinem wuchtigen Schreibtisch lehnt, bricht diese Stille zunächst nicht und lässt ihr Raum, für sich selbst zu sprechen. Nicht einmal sein flaches Atmen ist zu hören.

Edda fühlt seinen Blick auf sich ruhen. Aber für sie scheinen sich gerade die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit zu verwischen; in ihrem Kopf dreht sich alles und die Welt muss in der Tat einen Augenblick lang aufgehört haben, sich zu drehen. Eddas Finger halten das Blatt Papier noch immer ausgebreitet und ihre Augen fixieren es, als könnten sie die Anordnung der Buchstaben nur durch bloßes Hinstarren verändern. Das können sie nicht. Eine schier untröstliche Ausweglosigkeit schwillt in Eddas Magen an, wie sie sie vor sehr vielen Jahren als Kind das letzte Mal verspürt hat. Wie in Zeitlupe hebt sie den Blick und sieht den alten Mann an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.

Leonard Audorn lächelt. »Mit Speck fängt man Mäuse, Edda. Aber für kleine Ratten muss man sich gelegentlich kreativere Köder einfallen lassen. Ich sehe, ich habe einen für dich gefunden.«

Seine Stimme kommt von ganz weit weg. Edda fühlt sich allein und verloren. Dazu das Gefühl, das sie am meisten hasst: Machtlosigkeit.

Noch immer rührt sich Edda nicht, hält das Blatt zwischen Zeigefingern und Daumen und hat vergessen, wie man atmet. Audorn stößt sich mit den Händen von der Schreibtischkante ab und tritt zu ihr.

»Es ist deine freie Entscheidung«, erklärt er so liebenswürdig, dass man ihm fast glauben könnte. »Rede dir nicht ein, ich würde dich damit zwingen. Du kannst frei wählen; ich bin ja kein Unmensch. Darüber hinaus stehe ich zu meinem Wort: nichts von alledem wird Wirklichkeit werden, wenn du tust, worum ich dich gebeten habe. Nichts.«

Edda hat verlernt zu sprechen oder auch nur zu denken. Das Einzige, was Platz in ihrem Kopf hat, ist das Begreifen, dass sie hier an einem Punkt im Leben angekommen ist, da sie alles andere als eine freie Wahl hat.

Sie schluckt einmal schwer.

»Ich habe dich aus der Fassung gebracht, mein Liebes«, zeigt sich Audorn gekünstelt betreten. »Aber Krokodilstränen sind hier gänzlich unnötig. Du schaust drein, als hättest du dich mit einem unveränderlichen Zustand bereits abgefunden, was hier ja noch längst nicht der Fall ist, hm? Verzweifeln darfst du, wenn du meine Bitte ausgeschlagen hast.« Seine sanfte Drohung lässt Edda eine Gänsehaut über den Rücken fahren.

Sie fühlt seinen Finger am Kinn, mit dem er ihr Gesicht dem seinen zuwendet. Audorn schenkt ihr ein väterliches Lächeln, aber dahinter schimmert unverhohlener Genuss.

»Sieh dies nicht als eine Niederlage an. Du bist noch sehr jung und hast daher auch noch einiges zu lernen. Dafür sind Großväter ja da.«

Mit dem Fingerknöchel wischt er ihr über die Wange. Edda gibt keinen Ton von sich.

»Ich wiederhole, mein Kind: nichts hiervon« Und er deutet auf das Blatt Papier. »wird eintreten, wenn ich mit dir rechnen kann. Darüber hinaus wirst du alles erhalten, was ich dir versprochen habe. Ich finde meinen Vorschlag nicht so fade, will ich meinen. Also was ist? Sind wir uns einig?«

Edda sieht ihm in die Augen und er hält den Blick problemlos. Sie weiß, dass es keine Alternativen mehr gibt. Also nickt sie kaum merklich.

»Ich wusste, dass wir auf einen Nenner kommen«, schnurrt der Alte. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst, um dich zu beruhigen. Ich habe ja für alles Verständnis.«

Er lässt sie stehen und geht aus dem Raum. Als das leise Klicken der Tür verrät, dass er weg ist, gleitet Edda das Blatt aus der Hand.

Eine Stunde zuvor

Zwischen
Selve und Schotendorn

»Ich kann es nicht fassen, dass du mich dazu überreden konntest«, grummelte Edda missmutig und kaute auf ihrer Halskette herum, während die Landschaft hinter dem Fenster an ihr vorbeisauste.

Erste Erdtöne durchzogen das noch üppige Laub der Bäume und eine milde Septembersonne ergoss ihre Strahlen gleißend, sodass die silbrigen Spinnenfäden in der Luft schimmerten. Der Altweibersommer war bis nach Selve vorgedrungen.

»Eigentlich haben wir doch Grund zum Feiern. Immerhin bist du erstmals freiwillig bei mir eingestiegen«, scherzte René, der am Steuer saß, mit einem selbstzufriedenen Seitenblick.

»Nur, weil ich dir zuvorkommen wollte«, grunzte Edda. »Was ist denn das für eine neue Einstellung von dir? Du gibst nach, bevor du es überhaupt mit dem Kämpfen versucht hast?«

»Ich schone meine Kräfte«, korrigierte Edda mit Nachdruck und grinste säuerlich. »Um beispielsweise aus brennenden Villen flüchten zu können und übergewichtige Blagen auf dem Rücken zu tragen.«

Darüber lachte er leise und meinte: »Haben die letzten zwei Wochen nicht genügt, um dich davon zu erholen? Brauchst du noch eine Pause?«

»Nein, mir geht es gut. Zumindest global gesehen. Aber, dass du mir ausgerechnet das Wochenende vermiesen musst, nehme ich dir noch einmal so übel.«

René schaltete hoch, denn sie fuhren auf die Autobahn. »Ich vermiese dir gar nichts. Immerhin bringe ich dich doch heute noch zurück.«

»Ja, aber in welcher Stimmung bin ich dann?«, schnaufte Edda unversöhnlich. »Außerdem weiß ich nicht, ob ich dir glauben kann, wenn du behauptest, mich auch dann zurückzubringen, wenn ich nein sage. Und genau das wird der Fall sein!«

»Wir haben dir diesbezüglich beide unser Wort gegeben.«

»Jetzt geht es mir schon viel besser!«

»Du bist wirklich ein Quälgeist!«

»Ich bin untröstlich«, zeigte sich Edda unbeeindruckt und wippte ungeduldig mit dem Knie, denn sie brauchte eine Zigarette und durfte hier drin nicht rauchen. »Ihr vergeudet eure Zeit.«

Langmütig entgegnete René: »Höre dir doch erst einmal an, was er dir sagen will. Du sollst ihm ja gar nichts schenken.«

»Darum geht es doch nicht«, sagte Edda ungehalten. »Ich bin keine von euch und habe auch allen Grund, das nicht zu wollen. Da kann er mir noch so viel anbieten, ich will nicht

Seufzend verdrehte René die Augen und sie schwiegen eine ganze Weile. Die Strecke nach Schotendorn konnte sich ziehen, doch der Feierabendverkehr lag schon hinter ihnen und so kamen sie zügig voran.

Edda war müde und erschöpft von der Woche und hatte sich auf ein erholsames Wochenende gefreut. Claudia hatte sie für Samstagfrüh zu sich und Tewes zum Frühstück eingeladen und ansonsten wollte Edda eine entspannte Zeit nur für sich allein genießen. Im Bromedornhaus war zurzeit niemand; Carl und Astrid waren mit Gunnar und seiner Familie auf einige Tage an die Küste gereist, damit Carls schleichende Genesung dort Fortschritte machen konnte.

René hatte Edda in der Mittagspause in ihrem Lieblingsbistro abgefangen und sie auf das Anliegen seines Vaters angesprochen, mit dem dieser sie schon vor einigen Tagen hat behelligen lassen. Edda hat schon damals ihre Ablehnung geäußert und war sich natürlich völlig klar darüber, dass der alte Mistkerl dies wohl kaum so stehenlassen würde. Im Bistro hat René sie solange belagert, bis er ihr endlich sein Ehrenwort gab, dass sie nur einmal mit ihm kommen und mit Audorn persönlich sprechen solle. Danach würde er sie persönlich zurückbringen und dies sei auch schon mit seinem Vater fest vereinbart. Da Edda in Renés Schuld steht, hat sie sich also breitschlagen lassen und ist widerwillig mitgekommen.

»Ich verstehe auch gar nicht,«, brach Edda nach einiger Zeit das Schweigen. »wieso ihr gerade auf mich kommt. Was kann ich, das nicht auch andere Fotografen können?«

»Andere Fotografen gehören nicht zur Familie«, erklärte René wie nebenbei, als handle es sich hier um eine uralte Selbstverständlichkeit, die niemand in Frage stellen würde.

»Das tue ich auch nicht«, versetzte Edda gnadenlos, aber René grinste nachsichtig.

»Na komm, mich magst du doch«, meinte er und setzte einen knisternden Ton ein.

»Manchmal«, gab Edda zurück und schaute ihn stirnrunzelnd an. »Zumindest, wenn du es gerade gut mit mir meinst.«

»Ich meine es immer gut mit dir.« Die grauen Augen glommen dabei undurchsichtig und Edda wog zweifelnd den Kopf hin und her.

»Da bin ich mir nicht ganz sicher.«

Am Horizont war bereits Robinie zu erkennen; oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist.

Der rechte Teil des herrschaftlichen Anwesens aus Gründerzeit ist nur noch eine Ruine und Edda konnte die Flammen selbst jetzt noch auf ihrem Gesicht fühlen, die ihr entgegengeschlagen waren, als sie mit Orla dort hinaus floh.

»Lasst ihr den verschmorten Teil wiederaufbauen?«, wollte Edda wissen.

René zuckte mit den Schultern. »Mal schauen, ob sich das lohnt. Irgendwie hat der Anblick doch etwas, meinst du nicht auch? Erinnert an einen Neuanfang.«

Nachdenklich sah Edda ihn dabei aus dem Augenwinkel an. René kannte seine Waffen und wusste sie einzusetzen. Ihm diese vermeintlich zärtliche Art bedingungslos abzukaufen, konnte ein Fehler sein.

Es war komisch, als sie das Gebäude schließlich von Nahem sah, denn es kam ihr vor wie gestern, als sie hier gewesen war. Sie stieg mit René aus und folgte ihm über den Schotterweg zu dem erhaltenen, noch immer gewaltigen Teil des Herrenhauses, wobei sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob und genüsslich inhalierte.

René ging etwas zügiger als sie und Edda blickte ihm mit Beklemmungen nach. Es war ihr immer noch befremdlich, wie nah sie mit diesem Kerl verwandt war – und dass er dabei auch noch so unfassbar gut aussah, machte das Ganze trotzdem nicht leichter. Sie musste sich nur ihre gemeinsame Vergangenheit in Erinnerung rufen, um sogleich wütend die Stirn in Falten zu legen. »Was schaust du so finster?«, fragte René mit einem Blick über die Schulter. »Das merkt man ja, ohne hinzusehen. Du musst keine Angst haben, Süße.«

»Ich habe keine Angst!«, knurrte Edda und ließ den Rauch ihrer Zigarette durch die kleine Himmelfahrtsnase entweichen.

Nachdem sie aufgeraucht hatte, folgte Edda René ins Innere und ließ sich von ihm durch Korridore im Gründerstil und Treppen hinaufführen. Die alten Stufen knarrten. »Hast du eigentlich jemandem Bescheid gesagt, wo du bist?«, wollte René mit einem Blinzeln wissen.

»Das wüsstest du wohl gerne, was?«, gab Edda bissig zurück. »Wenn ich plötzlich verschwinde, wissen ohnehin alle, wo sie suchen müssen.«

»Wahrscheinlich«, nickte René und kam vor einer Tür zum Stehen, an der er kurz klopfte. Dann bedeute er Edda, sie solle hineingehen. Fragend sah sie ihn an. »Kommst du nicht mit?«

»Nein, er wollte einen Moment mit dir allein reden. Ich komme nachher wieder und hole dich. Geh ruhig rein, er beißt dich nicht.«

Unzufrieden tat Edda, wie ihr geheißen und trat durch die Tür. Vor ihr erstreckte sich ein geräumiges, helles Zimmer mit zahlreichen Bücherregalen und einem massiven Schreibtisch in der Mitte. Ein bis zum Boden reichendes Fenster ließ die Strahlen der Abendsonne herein und tauchte die Räumlichkeit in rötliches Licht. Ein Klavier stand unweit einer Sitzgarnitur. Es war nicht so groß wie der Flügel, den Edda damals in diesem Haus gesehen und der wohl den Brand nicht überlebt hatte, doch es war ein schönes Instrument. Dies war vermutlich Robinies Bibliothek.

Leonard Audorn stand am Fenster, seine hohe, schlanke Gestalt hob sich dunkel von dem gleißenden Licht ab. Er wandte sich zu Edda um, als diese geräuschvoll die Tür hinter sich schloss, und schenkte ihr ein fröhliches Lächeln, das Edda nicht erwiderte.

»Das ging ja schneller als ich erwartet habe«, kicherte der alte Mann und trat zu ihr.

Mit dem Rücken an der Tür lehnend entgegnete Edda bloß: »Dann haben wir es auch umso schneller hinter uns.«

»Magst du vielleicht etwas trinken? Du solltest den hausgemachten Holundersaft versuchen. Sehr gesund!« »Nein, lieber nicht, Herr Audorn«, sagte Edda übertrieben höflich und mit Betonung. »Ich bleibe nicht lange.« Mit einem amüsierten Seitenblick nahm Audorn dies zur Kenntnis.

Dann folgte er Eddas Blick zum Klavier.

»Kannst du darauf spielen?«, fragte er interessiert.

Knapp nickte Edda und wippte mit dem Fuß, um ihre Ungeduld zu demonstrieren.

»Magst du mir nicht etwas vorspielen? René tut es fast nie; das hat man wohl davon, wenn man seine Kinder dazu zwingt, ein Instrument zu erlernen.«

»Herr Audorn, ich raste gleich aus«, erklärte Edda zuckersüß und mit feurigen Augen. »Sie wollen mit mir sprechen, obwohl Sie meine Antwort bereits kennen. Wozu also?«

Mit einem verschmitzten Lächeln entgegnete Audorn: »Ich hatte Sehnsucht nach meinem einzigen Enkelkind.« »Lassen Sie das!«, wurde Edda lauter, denn sie wollte das böse Wort nicht hören. »Wenn es nur das ist, dann haben Sie mich jetzt gesehen und ich kann wieder gehen.«

»Nicht so hastig, meine Liebe«, machte Audorn eine beschwichtigende Handbewegung. »Ist ja schon gut. Setz dich.«

»Ich stehe lieber.«

»Wie du willst. Ich hatte dir ja bereits kürzlich schon schriftlich angedeutet, dass ich deine Fähigkeiten als Fotografin benötige, um einen… dringlichen Sachverhalt zu klären.«

»Ja, das ist mir bekannt«, summte Edda zappelig. »Sie haben mir eine lächerlich hohe Entlohnung dafür angeboten, weshalb ich es mir nur so erklären kann, dass es hier um etwas Illegales geht.«

»Ganz und gar nicht«, versicherte Audorn ruhig. »Ich würde von dir niemals etwas Illegales verlangen. Es geht um Folgendes, schau mal her.« Er gab ihr einen Wink mit dem Finger und trat an seinen Schreibtisch, um aus einer Schublade einen sichtlich alten Umschlag herauszuziehen.

Edda trat einen Schritt näher, zeigte ihr Desinteresse jedoch unverhohlen. Audorn holte aus dem Kuvert eine alte Fotofilmspule, die er hochhielt.

»Um dieses gute Stück geht es. Dieser Film ist schon sehr viele Jahre alt und die Aufnahmen, die sich darauf befinden, stammen von niemand Geringerem als von deinem Vater.« Edda spitzte die Ohren, verzog aber keine Miene. »Wie du weißt, ist bei dem Brand von vor wenigen Wochen die gesamte Forschung deines Vaters vernichtet worden.«

»Was mich gar nicht so traurig macht«, gab Edda kühl zurück. »Die Formel hat für nichts als Unruhe und Leid gesorgt. Meinen Vater hat sie das Leben gekostet und Carl ist für sein weiteres Leben entstellt.«

»Edda, du machst es dir zur Aufgabe, in allem das Schlechte zu sehen«, tadelte Audorn seufzend.

»Und Sie verdrehen hingebungsvoll die Wahrheit.«

Sie schauten einander angriffslustig an und Edda schürzte überheblich die Lippen. Schließlich fuhr der alte Herr fort: »Jedenfalls bin ich über Carl an diesen Film gelangt. Das war kurz vor dem Brand. Er gab mir zunächst einen Umschlag, nachdem er mich darüber unterrichtet hatte, dass Edo einen gefälschten Formelteil entwickelt habe und deshalb die Forschung für ihn so erschwert würde.«

Er machte eine bedeutungsschwere Pause und Edda konstatierte ungeduldig: »Und darin war dieser Film?«

»Oh nein, keineswegs«, korrigierte Audorn und legte den Film vor Edda auf die Tischplatte. »Darin waren Fotos. Sie zeigten die fotografische Abbildung von Dokumenten, Notizbüchern und sonstigen Schriftstücken. Kannst du dir denken, was Carl auf diesen vermutete?«

»Wieso vermutete?«, antwortete Edda mit einer Gegenfrage. »Konnte man das auf den Fotografien etwa nicht erkennen?«

»Leider nein, das ist der entscheidende Punkt«, nickte Audorn betrübt. »Es waren entweder schlechte Aufnahmen oder – was ich eher annehme – eine schlechte Entwicklung der Bilder.«

»Sie glauben jedoch, dass es die Taaffeit-Formel war, stimmt’s?«

Audorn nickte.

»Davon gingen wir beide aus. Ich schätze, dass Carl seinerzeit Sorge hatte, die Bilder fachmännisch entwickeln zu lassen, da er fürchtete, fremde Augen könnten sie sehen und ihren Wert erkennen.«

»Er hätte damit doch bloß zu mir zu kommen brauchen«, sagte Edda verstört, biss sich jedoch sogleich auf die Lippe, denn genau das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen.

»Die Entwicklung der Bilder hat er schon vor vielen Jahren vorgenommen«, erklärte Audorn. »Da warst du vermutlich noch ein kleines Kind. Die Negative sind irgendwo in der Versenkung verschwunden. Womöglich hat Carl sie damals eigenmächtig entwickelt; wir haben noch nicht näher darüber gesprochen.«

»Und woher kommt nun dieser Film?«, hakte Edda misstrauisch nach.

»Den habe ich in Rüster gefunden, kurz bevor du dazugestoßen bist«, antwortete Audorn zwinkernd und Edda schenkte ihm eine giftige Grimasse. »Davon weiß Carl noch nichts. Ich sagte es ihm auch nicht, als er hier war, weil ich ja nicht zwingend davon ausgehen kann, dass sich ausgerechnet auf diesem Film weitere Aufnahmen der Formel befinden.«

»Woher nehmen Sie diese Vermutung überhaupt?«

»Aus der Tatsache, dass der Film zwischen den Apparaturen lag, die Carl dort aufgebaut hatte. Wenn sich herausstellen sollte, dass zumindest Teile der Formel gerettet wurden und auf diesem Film vor sich hinschlummern, könnte ich das Projekt vielleicht retten. Carl würde es doch sicherlich begrüßen, meinst du nicht?«

»So, so«, gab Edda nur zurück.

Eine kurze Pause ließ sie das Gehörte einen Augenblick lang verdauen. Dann breitete Audorn gönnerhaft die Arme aus: »Nun, Edda, bist du gefragt. Ich brauche jemanden, dem ich soweit vertrauen kann, dass er den Film entwickelt; und wer eignet sich da besser als jemand aus den eigenen Reihen, der dies niemals zu seinem eigenen Vorteil nutzen würde, hm?«

Audorn sah sie vielsagend an und Edda verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn Sie so jemanden finden, sei es Ihnen gegönnt«, lächelte sie kalt. »Ich mag nicht und ich werde nicht. Selbst, wenn Carl Bescheid wüsste und mich seinerseits bitten würde, wäre meine Antwort dieselbe. Ich boykottiere diese Wiederbelebung des Projekts, denn es bringt kein Glück.«

»Ich war doch noch gar nicht fertig«, unterbrach Audorn sie und wirkte keineswegs entmutigt. »Du sollst es ja nicht umsonst machen…«

»Ich will auch kein Geld von Ihnen!«, bellte Edda bestimmt.

»Wer redet denn von dem schnöden Mammon?«, hohnlächelte Audorn. »Damit kann ich dich nicht locken, das habe ich bereits in der Vergangenheit erfahren dürfen. Was übrigens seinen Reiz hat, muss ich sagen; das macht die Sache doch gleich viel anspruchsvoller. Ich hatte da noch ganz andere Dinge im Sinn. Wenn du das für mich tust, reihe ich dich dort ein, wo du hingehörst.«

»Nein!«, rief Edda, die ahnte, was da kam.

Unbeirrt trat der große alte Mann vor sie und schaute sie an wie ein Greifvogel, der seine Beute vor sich hat, während er verkündete: »Ich werde dich offiziell als meine Enkeltochter anerkennen, somit auch Edo als meinen Sohn. Du bist dann in der direkten Erbfolge, gemeinsam mit René. Das ist doch keine Kleinigkeit. Du bist die letzte Generation und ich will, dass sie rechtmäßig fortgeführt wird.«

Voller Widerwillen glitt Edda mit der Zunge über ihre Schneidezähne und suchte nach einem Ausweg.

»Herr Audorn, Sie erkaufen sich Ihr Schweigen doch schon seit jeher«, blieb sie hart. »Wieso schmieren Sie keinen anderen Fotografen?«

»Muss ich mich jetzt wiederholen?«, fragte Audorn unwirsch. »Es soll nicht nach außen dringen und solange ich nicht weiß, was auf dem Film ist, will ich auch niemanden schmieren, der nicht aus unseren Reihen stammt.«

»Das macht die Angelegenheit für Sie umso bedauerlicher«, antwortete Edda. »Außerdem bin ich gar keine so gute Fotografin wie Sie glauben.«

»Du hast deinen Fotografenmeister gemacht«, widersprach Audorn eindringlich.

»Um meinen Meister unter Beweis zu stellen, muss ich noch längst keine Aufträge annehmen, die ich nicht mit meinen Grundsätzen vereinbaren kann«, erklärte Edda entschieden.

Nichtsdestotrotz wirkte Audorn unbekümmert und zuversichtlich. Das beunruhigte sie. »Ist dies dein letztes Wort, mein Kind?«

Wenngleich ihr bei seinem sanften Ton eine Gänsehaut über den Rücken lief, nickte Edda.

Audorn lachte leise. »Das dachte ich mir schon.«

»Wozu dann das Ganze?«

»Oh, ich habe nicht gesagt, dass ich mich geschlagen gebe. Nun denn, aber vielleicht war das heute auch alles