1. Auflage

© Dieter Scheidig 2018

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783752802061

Lektorat und Gestaltung: Timo Kölling

Prälektorat: Eva-Maria Thun

Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved

INHALT

RUDOLSTADT
2012

„Die Betroffenheit durch das Wirkliche hält man gern für das, was die Wirklichkeit des Wirklichen ausmacht.
Aber die Betroffenheit durch das Wirkliche kann den Menschen gerade gegen das absperren, was ihn angeht, angeht in der gewiß rätselhaften Weise, daß es ihm entgeht, indem es sich ihm entzieht.“

Martin Heidegger, Was heißt Denken?

DAS MÄRCHEN

Die Geschichte, die ich euch erzählen will, ist völlig erdacht. Spinnert ist sie noch dazu. Eben ein richtiges Märchen. Wolkenschieberei – Möglichkeitsphantasien halt, etwas aus der Zeit gefallenes… in's Nichts gerichtetes.

Es begann damit, dass ein Mensch namens Osterloh, gekleidet in einen schwarzen, wollenen Mantel kurzen, eher sportlichen Schnittes und mit Baskenkappe, seit über einer Stunde mit der S-Bahn in Berlin unterwegs war. Dieses Häusermeer! Dieses gigantische Häusermeer… Er hatte gestern seinen mürben Kleinwagen am Stadtrand gelassen, Nähe Stahnsdorf. Dieser große Waldfriedhof mit all seinen übergroßen Grabmälern und Mausoleen! Er, Sven, hatte das Grab von Friedhelm Jöster besucht und hernach nicht der Versuchung widerstehen können, in der nahen Bahnhofsschänke Starkbier zu trinken. Tiefgoldenbraunes Winterbräu mit durchaus acht Prozent Alkoholgehalt. Eine seiner ganz wenigen Schwächen: Fassbier! Neben der für preiswerte Trödel-Antiquitäten, vor allem aber für Bibliophiles!

Mit dem Blech-Japaner in die doch ziemlich entfernte Innenstadt zurückzukurven, um dann im Gewühl und dicken Sumpf des Prenzlauer Berges einen Abstellplatz für die zweifarbige Karre zu finden, war bei seinem Trunkenheitsgrad nicht mehr möglich gewesen. Dieser durchaus realen Selbsteinschätzung nachgebend, war er vor vierundzwanzig Stunden mit Bus und S-Bahn nach seiner Heimatstraße gefahren, wo er seit zwanzig Jahren ein hohes Berliner Zimmer in einer Hinterhoflage bewohnte. Nicht seine Traumwohnung, nicht seine Traumstadt. Sein Geburtsort ebenfalls nicht: Er stammte aus einem Kaff am Ilm-Fluss, Vierheim benamt. Seit ihn eine ABM am Ende des Studiums nach Spree-Athen verschlagen hatte, wohnte er hier in der Zochernstraße.

Ofenheizung! Erst zur Untermiete, dann selbst mit einem Untermieter, seit fünfzehn Jahren allein. Nach seinem Bibliothekarstudium in Leipzig feierte er ein Jahr arbeitslos, das heißt, er beantragte Sozialhilfe, weil er durch das vorangegangene Studium „kein Einkommen zur Grundlage der Berechnung von Arbeitslosengeld hatte“, wie es im Vierheimer Arbeitsamt herzig hieß… dann kam die ABM. Was für ein Unwort!

Alle Welt bekam in den beginnenden 1990ern diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ein begrenztes Zeitfenster, danach wurden die Menschen wieder auf den trüben „ersten Arbeitsmarkt“ entsorgt.

Nicht so Sven Osterloh, der sich in der Stadtbibliothek Berlin-Weißensee unentbehrlich zu machen versuchte. Versuchte! Richtig! Er versuchte es…

Andere wären genauso geeignet gewesen; die praktische Intelligenz von Studienabsolventen, ja von allen Menschenkindern ist statistisch und praktisch nun eben etwa gleich – Gaußsche Normalverteilung im Durchschnitt –, das Verlangte wird der Eine oder Andere gleichermaßen schaffen. Dadurch scheinen die Individuen wohl austauschbar. Aber eben nur durch ihr identisches Leistungsvermögen, nicht durch den tatsächlichen Gewinnst, die wirkliche Ausbeute, den realen Entlohnungsbezug: Der Eine gewinnt durch soziale Molekularketten, etwa weil seine Mutter die Leiterin der Einrichtung, nennen wir sie Frau Melfert, kennt; der Andere, weil Frau Melfert auf ein Adventure mit ihm hofft. Im Falle, der Leiter hieße Herr Melfert und die Absolventin Fräulein, funktioniert's andersrum! Den Fähigkeitsgrad, das Verlangte zu tun, haben recht viele, die bezahlte, unbefristete oder nach erfolgreichem Unentbehrlichmachen entfristete Arbeits-Stelle nur sehr Wenige!

Und so wird es immer eine Metaphysik der Auswahl des Glücklichen geben, welche sich der Einsicht der neidvollen Zeitgenossen entzieht. Da heißt's dann eben nur: „Der hat ne Bombenstellung!“ Bei Sven nun lagen die Dinge nicht wesentlich anders: Er geriet in einer wirren Zeit – den beginnenden 1990ern – in den Bibliotheksbau aus roten Klinkern. Tolle Bude im Bauhaus-Stil. Diese eckigen, schlichten Dinger aus den 20er Jahren. Das Haus sprang in der grauen Flucht der Straßenbebauung zurück und war von einer dichten Reihe von Linden beschattet. Vor Osterlohs Dienstzimmer rauschte und summte es jedes Frühjahr.

Aber inwieweit lagen die Dinge bei Sven anders? Keine sozialen Molekularketten? Fortune? Klar! Es begab sich an einem kalten Wintermorgen in der Zeit des Endes von Svens begrenztem Arbeitsvertrag, dass der alte Jöster, ein abgehalfterter DDR-Armeeoffizier, auf seinem Weg von Wohnung (Neubau, dritter Stock) zu Bibliothek einfach umfiel. Tot! Herz! Der Major, der „Medtscher“, wie er allgemein genannt wurde, war für die Türschlösser, Feuerlöscher und den Arbeitsschutz verantwortlich gewesen und hatte keinen blassen Schimmer von Büchern und Literatur. Sven dagegen lebte in den Druckseiten, kannte nicht nur eben die Klassiker, sondern schlug sich bis Max Frisch und Günther Grass durchaus mit Erfolg.

Und den hatte er, den sollte er haben, denn er beerbte durch ein gütiges Geschick und die Gnade des Leiters die Stellung des grauen Jöster mit der Auflage, auch in der von gestandenen Alt-Mitarbeitern als undankbare Tätigkeit empfundenen Ausleihe-Beratung Dienst zu schieben.

Er hing dem vorgestrigen nächtlichen Traum nach, erinnerte sich: Er war in Goethes Sterbeszene dabei… wie er sich im Lehnstuhl auflehnte, halb Marabu, halb Olympier, Sven seine kalte Hand gab, ihn nach der Uhrzeit frug, 's war merkwürdig… im Sinne des Wortes. Goethe war ein Mittelding zwischen Jöster und einem Marabu.

Gleich gestern hatte er deshalb hastig, wie fast jedes Jahr (wenn er's denn nicht vergaß), des Jösters bescheidene und unkrautbestandene Urnengrabstelle besucht und ihm von anderen Gräbern und Papierkörben bescheiden entnommene Blumen und Trauerflor mitgebracht. Etwas zu kaufen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.

Die Bahn war kühl und zur Nachmittagsstunde nur spärlich besetzt. Eine nach Eau de Cologne fuselnde Neubauoma stand drei Haltestellen breithüftig schwankend neben dem bärtigen Kontrolleur und düselte diesen über ihr Gesichtspflaster voll. Sven schaute einem glatzköpfigen Mann von hinten in die aufgeschlagene Bild-Zeitung. Irgendeine schmalgesichtige Schönheit lächelte ihn süffisant an. Lichtblitze blendeten ihn dauernd. Scheiß gestrige Sauferei. Dazu noch Schwindelgefühl. Bist halt ein Mann in den besten Jahren, dachte Sven in einem Anfall äffischer Selbstverspottung. Heute holte er jedenfalls seinen ältlichen Japaner und hörte dann, an der Waldfläche angekommen, in der Nähe Geknalle und Hundegeblaff.

Scheiß Jagd, dachte er! Die ganze Friedhofsruhe zum Täkser. Er war nochmal rasch zu Jösters Grab gelaufen,