Titel
Friederike Schmöe
Wieweitdugehst
Kea Laverdes vierter Fall
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
 
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1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Susanne Tachlinski
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: atyclb / photocase.com
Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3558-4
 

 

Tag 1

1
Ich stand auf die Scorpions. Wind of change. Der Song war nicht mehr taufrisch, aber mein nagelneuer MP3-Spieler ließ mich die Aussicht auf einen Abend im Bierzelt besser ertragen. Change. Veränderung. Ein Zauberwort. In meinem Leben veränderte sich ständig alles. Zurzeit war ich auf der Suche nach einem neuen Wagen. Mein alter war bei einer Bombenexplosion pulverisiert worden. Irgendwie war in meinem Leben ein Häkchen auf der Liste mit der Aufschrift ›Bombe‹ gesetzt worden.
»Was hast du gesagt?« Nero schloss seine Wohnungstür ab.
»Nichts«, sagte ich müde. Oktoberfest. Nichts für mich. Wir stiegen die Treppe hinunter und traten auf die tropisch warme, spätsommerliche Hohenzollernstraße hinaus. Schwabing tobte und brodelte. Wir wurden von einer Woge Fußgänger umspült und davongetragen. Ich hasste es.
»Markus freut sich. Er hat mehrmals gefragt, ob wir gemeinsam kommen«, ermunterte Nero mich. »Die Platzreservierung fürs Bierzelt hat er über Beziehungen gekriegt. Frag mich nicht, wie er das gemacht hat.«
Schon gut, ich habe verstanden, Käptn. Mein Freund, Mann, Lover, Amant Nero Keller, Hauptkommissar am Landeskriminalamt in München, war froh, dass die Beförderung an ihm vorbeigegangen war und seinen Kollegen Markus Freiflug erwischt hatte. Markus würde von nun an eine Koordinationsstelle zur Vernetzung von Ermittlerteams in Sachen Cyberkriminalität leiten. Zuerst hatte Nero sich bewerben wollen. Doch letztlich war ihm seine Dozententätigkeit wichtiger, die er vor ein paar Wochen wieder aufgenommen hatte. Er bildete in ganz Bayern Kollegen im Umgang mit dem Internet und Computerkriminellen aus.
»Kea?« Er sah mich von der Seite an. »Du bist mit deinen Gedanken ganz woanders, kann das sein?« Sanft berührte seine Hand meinen Ellenbogen. Eine Tussi im Lederdirndl rempelte mich an. Die bemühte Folklore ging mir auf die Nerven. Das ganze Fest ging mir auf die Nerven, die ständigen Berichte in der Zeitung über die Mengen an Bier, die bereits getrunken, die Hendln, die verspeist worden waren. Die Massengaudi infizierte mich nicht.
»Kann sein.« Es gab Momente, in denen mochte ich nicht dabei gestört werden, wie ich meinen Gedanken nachblickte. Wie eine alte Frau am Fenster, auf ein Kissen gestützt, sah ich ihnen beim Promenieren zu. »Sorry.« Unsere letzten Tage waren nicht übermäßig harmonisch gewesen, und ich gab mir Mühe, zu einem entspannten Umgangston zurückzukehren.
»Ich weiß, du hasst die Wiesn.«
»Ich dachte, du kannst sie nicht ab.«
Nero lachte. Das gefiel mir. Er tat es zu selten. Zu gestresst war er von seinem Job, zu unsicher, ob die Beziehung mit mir hielt, weil ich ein freier Vogel war, eine Schneegans, die einem unerklärlichen Ruf folgend jederzeit bereit war, in die Subarktis aufzubrechen. Bei dem ganzen Chaos und Lärm um uns herum erschien mir die Subarktis tatsächlich wie ein leuchtender Außenposten des Paradieses.
Wir sprangen in die Straßenbahn. Ich hatte auf nichts Lust, weder auf das Oktoberfest noch auf Neros Kollegen, und ich beneidete alle, die an den folgenden Stationen ausstiegen. Dieser Wiesn-Termin war ein Kompromiss. Und Kompromissbereitschaft war nicht so meine Art.
»Ich habe nicht vor, bis in die tiefe Nacht zu bleiben«, sagte ich gegen das Rattern der Tram und das Grölen einiger Fahrgäste anschreiend, die sich schon eine satte alkoholische Grundlage für die kommenden Stunden angetrunken hatten. »Morgen will ich raus nach Fürstenried und ein Auto anschauen.«
»Nein. Nein, wir bleiben nicht übermäßig lange.« Nero verbarg sein leises Stöhnen mehr schlecht als recht.
Weder er noch ich hätten die Augen zu verdrehen brauchen. Es war auch völlig unnötig, dass ich den Kopf an die Scheibe lehnte und zum Fenster hinaussah, in einen blassen, dunstigen Spätnachmittag, während in meinen Ohren zum x-ten Mal der Wind der Veränderung besungen wurde. Denn dieser Abend wurde anders. Ganz anders.
2
Menschenansammlungen verursachten mir Atembeschwerden. Die Terrorvideos von vor wenigen Tagen beruhigten mich auch nicht sonderlich. Ich verabscheute die Mannschaftswagen der Bundespolizei, den ganzen Aufwand, mit dem die unmittelbar an die Theresienwiese angrenzenden Straßen abgeriegelt waren. Ich glaubte nicht an den Terrorismus, obwohl ich selbst schon sein Opfer gewesen war. Genervt ließ ich die Taschenkontrolle am Eingang über mich ergehen. Dass Nero und seine Kollegen mitten in der Woche Zeit hatten, das Oktoberfest unsicher zu machen, kam einem Wunder gleich. Die Herrschaften arbeiteten üblicherweise sogar an den Wochenenden. Ich sollte gute Miene zum bitterbösen Spiel machen.
»Das Wiesn-Attentat ist jetzt fast 30 Jahre her«, warf Neros Kollegin, Sigrun West, ein. Sie war die einzige Frau in einem Trupp Männer. Zäh, kompetent, überarbeitet. Mich mochte sie nicht. Klar, ich hatte den bestaussehenden Mann aus ihrem Team geschnappt. Nichts gegen Markus Freiflug mit seiner Nickelbrille und dem Pferdeschwanz. Beides ließ ihn wie einen Linken aussehen, aber in Wirklichkeit vertrat Freiflug konservative bayerische Werte. Daher rührte vermutlich die Beförderung. Mit Bodo Roderick, dem Dritten im Bunde, war auch nicht viel anzufangen: ein blasser, weißblonder Typ mit ausdrucksloser Stimme. Nero hielt viel von ihm, fachlich, verstand sich, aber aufs Fachliche konnte ich für meinen Teil pfeifen. Und dann erst der vierschrötige Ulf Kröger, dem pausenlos die Schuppen auf die Schultern rieselten! Arme Sigrun. Auf große Ausbeute war in diesem Laden nicht zu hoffen.
Zur allgemeinen Überraschung brachte Kröger eine Frau mit. Sie trug ein grellblaues Dirndl, passende Haferlschuhe und eine Gürteltasche um die Hüften, an dem sie mit rotlackierten Fingern nestelte. »Das ist Vicky.«
Nero legte den Arm um mich.
»Wo ging die Bombe damals eigentlich hoch?«, fragte Roderick. »War das nicht irgendwo hier am Haupteingang?«
Das Thema Bombe in Verbindung mit Menschenmengen traf genau meine schwächste Stelle. Gänsehaut lief mir über die Arme. Ich räusperte mich. Nero zog mich etwas fester an sich. Sofort fühlte ich mich beengt. Mein Instinkt meldete Alarmstufe eins.
»An der Brausebadinsel. Eine Rohrbombe«, referierte Sigrun West und boxte sich den Weg frei. »Seht zu, dass wir zusammenbleiben!« Ihre Ohrhänger baumelten wild.
Ich war bei einem Bombenanschlag auf dem Sinai schwer verletzt worden, hätte beinahe nicht überlebt, besaß seitdem eine künstliche Hüfte. Eine Sepsis hatte mich für Wochen niedergestreckt. Definitiv hatte ich keinen Gesprächsbedarf in Sachen Rohrbomben.
»Sie bestand aus einer zuvor geleerten Mörsergranate, die mit 1,39 Kilo TNT neu befüllt und in einen präparierten Feuerlöscher gesteckt wurde«, rief Sigrun uns zu, während sie einem Mann auswich, der mit seiner Zuckerwatte schlenkerte.
»Schon gut«, beschwichtigte Markus Freiflug mit einem Blick auf mich. »Hast dich extra vorbereitet, was?«
Roderick rempelte einen angetrunkenen Mann mit Gesichtstattoo an und sagte: »Mal ehrlich, glaubt ihr, dass die Islamisten das Oktoberfest sprengen?«
Keiner antwortete. Oder ich hörte nichts. Es war zu laut. Schrille Stimmen näselten durch übersteuerte Lautsprecher: ›Kommen Sie, machen Sie Ihre Fahrt, noch ist es Zeit, kaufen Sie Ihr Glück.‹
»… muss man ernst nehmen«, kam es von Freiflug.
»Alle meinen jetzt, es geht um das Oktoberfest«, bestätigte Sigrun. »Aber in Wirklichkeit geht es vermutlich um ein anderes Ziel.«
Verdammt, ich hatte keinen Nerv, mich um Attentatsdrohungen zu kümmern. Dann würde ich vollends durchdrehen und sofort den Rückzug antreten. Ich wollte nicht in der Masse aufgehen. Der Gaudizirkus stieß mich ab. Die Masse schien Schutz zu bieten – und barg doch Gefahr. Begriffen die paar Tausend das nicht, die auf der Wiesn von einer Herde gleichgesinnter Vergnügungssüchtiger geschluckt werden wollten?
Zudem gab es abgesehen vom Oktoberfest eine Menge neuralgischer Punkte auf diesem Globus. Wer garantierte einem, dass die Terrordrohung nicht letztlich nur dafür da war, die Leute fickrig zu machen? Oder die Konzentration der Exekutive auf ein bestimmtes Ziel zu lenken, dann jedoch auf ein ganz anderes, folglich unbewachtes loszugehen?
»Denkt mal«, Roderick spitzte bedeutungsvoll die Lippen, »Terror ist eine sehr nützliche Sache. Jede Seite kann ihn für sich nutzen.«
Knallpeng, das war eine harte Aussage für einen bayerischen Beamten.
»Glauben Sie, unser Bundesinnenminister hat ein paar arabische Studenten dafür bezahlt, ein Video ins Netz zu stellen, in dem Deutschland der Krieg erklärt wird, damit er sich noch mehr Zugriffe auf unsere Privatsphäre erlauben kann?«, fragte ich.
»Kea!«, murmelte Nero.
Aber genau darum ging es, und keiner aus dem LKA-Team, niemand, der mit hörenden Ohren und sehenden Augen durch die Welt ging, konnte diesen Gedanken ausblenden. Wer wurde vor wem geschützt? Wer profitierte am meisten von der Angst?
Mir stand der Schweiß im Nacken. Warum sollte ich den Abend noch komplizierter machen, als er ohnehin schon war? Ich beobachtete die Leute. Meine Augen schossen Schnappschüsse. Jemand mit einer viel zu großen und augenscheinlich schweren Tasche. Ein Hund, bepackt mit einem komischen Polster auf dem Hintern. Wauwau als Selbstmordattentäter, formulierte ich meine Schlagzeile. Jemand, der in einem hoffnungslos überfüllten Abfalleimer wühlte. Eine Frau mit Kopftuch, die sich zu schnell durch die Menge drängte. Ein Mann, allein unterwegs. Wer ging allein auf die Wiesn? Verstohlen musterte ich Neros Kollegen.
Auch Freiflug hatte keine Freundin. Polizeioberrat Woncka, den das Team für den heutigen Abend begreiflicherweise nicht auf die Wiesn eingeladen hatte, war längst geschieden. Vicky mit ihrem Dirndl konnte ich nicht einordnen, aber ich blieb bei meiner Meinung, dass Nero und ich das einzige Paar waren, das trotz der unsäglichen Arbeitszeiten des LKA-Teams noch zusammenhielt.
Zusammenhalten, ja, so konnte man das nennen.
Ich war verunsichert. Irgendetwas war in meinem Leben dabei, sich zu regen. Wind of Change. Als verschöben sich tektonische Platten, ab und an gab es ein Erdbeben, nichts Schlimmes, nur eben Bewegung. Kleine Vulkane spien ein wenig Rauch aus. Dinge, Ereignisse, Gefühle, die ich unter den Teppich kehren konnte. Noch.
Mein Job als Ghostwriterin gefiel mir. Ich tauchte gern in fremde Leben ein, ich brauchte das Schreiben, ich liebte Texte. Außerdem stand mir das Freiberuflertum gut. Ich konnte meine Arbeitszeiten selbst einteilen, hatte keinen Polizeioberrat, der mir dazwischenfunkte und mir Vorschriften machte. In meinem Beruf gab es außer Diskretion überhaupt keine Vorschriften. Ghostwriter durften alles. Lügen, beschönigen, weglassen, hinzudichten, wenn der Kunde es wünschte. Die Hauptsache war, dass nachher ein Buch auf dem Tisch lag und mein Konto einen Zahlungseingang verbuchte. Meine Einnahmen hatten in diesem Jahr schon im August das Gesamtergebnis des vergangenen Jahres überflügelt. Also lag auch finanziell alles im grünen Bereich. Deshalb gönnte ich mir gerade eine Auszeit.
Wenn aber beruflich nichts zu beanstanden schien, musste der Druck, der sich in meinem Leben aufbaute, aus dem Privaten stammen. Nero?, dachte ich und sah ihn von der Seite an, während wir uns durch das Gedränge schoben. Sein Arm hatte mich fest im Griff, er war groß, stark, selbstsicher, ein Beschützer, ich mochte den italienischen Bart, die braunen Augen, ich mochte alles an ihm. Wir kannten uns nun schon eine geraume Weile, knappe zwei Jahre. Hatten Zeit für die Liebe gehabt. Nur stand da ein großes Aber zwischen uns, das ich nicht zu deuten vermochte.
Nero war ein Pedant. Er hatte strenge Anforderungen an sich selbst. Er salutierte jeden Morgen vor seinen Pflichten. Wenn ich mal einen Tag blaumachte, warf er mir vor, dem Herrgott den Tag zu stehlen. In seiner ganzen Art signalisierte er, dass Müßiggang aller Laster Anfang sei. Er verstand nicht, dass Ghostwriting eine kreative, künstlerische Tätigkeit war, die von Pausen lebte. Ich brauchte leere Stunden, um weiterzudenken, eine Geschichte, ein Leben auszuschmücken. Wenn ich schrieb, war ich ein spielendes Kind.
Unsere Berufe waren zu verschieden.
Oder war es noch etwas anderes?
»Die Untersuchungen zum Oktoberfestattentat sind nie abgeschlossen worden«, rief Kröger durch das Gedränge. Seine Hand hielt Vickys Ellenbogen umschlossen, als wollte er sie abführen. »Erst im Mai gab es eine Anfrage der Grünen im Bundestag. Die werfen den Kollegen, die damals ermittelt haben, vor, Hilfsangebote des BKA abgelehnt zu haben.«
»War es nicht so?« Sigrun West hüpfte um einen Dackel herum, der ein weiß-blau gerautetes Trikot trug. »Allerdings sind dann doch BKA-Beamte zur Soko ›Theresienwiese‹ dazugestoßen.«
Kröger warf seiner Kollegin einen wütenden Blick zu.
»Die Sache ist gegessen.«
»Du warst in der Soko, damals, oder, Ulf?«
Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Ich bekam Panik. Nicht wegen Kröger und seiner Schuppen, nicht wegen Sigruns immer schriller werdender Stimme. Nein. Ich ertrug die Menschen um mich herum nicht, die Wärme ihrer Körper, die Gerüche: Popcorn, Schweiß, gebrannte Mandeln. Ich hatte genug davon, die Unterwäsche durch die Shirts der Frauen zu sehen und die feuchten Gesichter angetrunkener Männer. Der Japaner mit Gamsbarthut, der neben mir auftauchte wie ein U-Boot, gab mir den Rest. Ich stöhnte auf und machte mich aus Neros Arm los.
Er sah mich still von der Seite an. Ja, leide du nur an meinen seltsamen Panikattacken. Denk nur, es sei wegen meiner Erinnerungen an den Sinai.
Was machte ich hier? Ich tastete nach meinem Pferdeschwanz. Wie lange hatte ich mein Haar nicht mehr offen getragen? Wie lange war ich nicht beim Friseur gewesen? Weil ich keine Zeit hatte? Warum trug ich Turnschuhe und Jeans, nichts Sommerliches? Aus Angst? Weil ich vielleicht würde rennen müssen? Immer fluchtbereit, so war mein Leben. Gib dem Vertrauen keine Chance, denn Vertrauensseligkeit wird sich irgendwann rächen.
»Das war ein Einzeltäter«, beharrte Kröger.
»Quatsch in Tüten«, entgegnete Sigrun. »Sogar in Italien hat die Polizei an die 20 Rechtsextreme festgenommen. Wegen Verdacht auf Mittäterschaft.«
»Kinder, wohin zuerst?«, griff Bodo Roderick vermittelnd ein. »Ich schlage vor, wir probieren das Teufelsrad. Das müssen wir machen, bevor wir was im Magen haben, ansonsten …«
Neros Hand berührte meine Schulter. Sehr zart, sehr vorsichtig.
Ich wollte fort. In mein einsames Haus am Ende der Welt, weit weg von der Wiesn, dem Krach, den Menschen. Wollte an meinem weitläufigen Hang sitzen und über die Hügel ins Fünfseenland schauen, meine beiden Graugänse schnattern hören und ein Glas Chianti trinken. Mit wie wenig man mich zufriedenstellen konnte!
»Ja, lasst uns ein paar Runden drehen«, nickte Freiflug. »Kein Jobtalking heute, bitte.«
»Im Merkur stand, es gibt eine neue Geisterbahn«, zwitscherte Vicky. »The Demon. Sollen wir?«
3
»Ich möchte nicht«, wehrte ich ab und stemmte meine 80 Kilo Lebendgewicht gegen Neros ausgestreckte Hand. »Macht, was ihr wollt, aber ich will da nicht rein.« Hoch vor mir ragte ›The Demon‹ auf. München sprach von nichts anderem mehr als von dieser ach so innovativen, angesagten Geisterbahn.
»Bodo hat schon die Karten«, versuchte Nero mich zu überzeugen.
Als wenn das ein Argument wäre. »Ich gebe ihm die Kohle zurück. Aber in die Geisterschachtel kriegt ihr mich nicht rein.« Angewidert starrte ich auf einen bluttriefenden Schädel, der von einem mechanischen Arm über der Einfahrt vor- und zurückbewegt wurde. Über Lautsprecher drang ein gequältes Jaulen in den frühen Abend. Nein, danke. Sinn fürs Makabre hatte ich nur auf dem Papier.
Zwei Frauen standen ebenfalls unschlüssig da. Die ältere setzte sich schließlich in die Gondel, die jüngere kam ihr nach, sprang jedoch auf und lief davon, ein Handy am Ohr. Die Gondel ruckte, fuhr an, und ich sah das entsetzte Gesicht der Frau, die nun ohne schützende Begleitung in die Bahn gezogen wurde.
Sigrun West nutzte die Gunst der Stunde und schlüpfte mit Nero gemeinsam in eine Gondel. Kröger führte seine Vicky zur nächsten. Freiflug und Roderick hockten sich hinter die Kollegen. Vor ihnen hatten ein paar Jungs ihren Spaß. Sie waren 13, vielleicht 14. Einer von ihnen versuchte, sich zu zweien seiner Kumpels in einen Bob zu quetschen, wurde aber von der Aufsicht zur nächsten Gondel dirigiert.
›The Demon‹. Ich erinnerte mich, heute im Münchner Merkur einen Artikel über die innovativen Horrorszenarien in dieser neuen Geisterbahn überflogen zu haben. Nicht mein Ding. Das Grauen des wirklichen Lebens reichte mir völlig aus.
Die Jungen verschwanden in der Düsternis. Derjenige, der allein in einer Gondel saß, blickte verunsichert unter dem Schirm seiner Baseballkappe hervor. Die Selbstsicherheit des Heranwachsenden schmolz angesichts der schaurigen Rufe aus der Geisterschachtel. Der Schlund der G-Bahn verschluckte eine Gondel nach der anderen. Gemächlich. In einer Geisterbahn musste man sich so richtig Zeit zum Fürchten lassen.
Ich klickte auf meinem MP3-Spieler herum und wartete auf bessere Zeiten. Hinter mir schwangen sich die Leute ins Teufelsrad. Kreischen, Lärm, Lautsprecherstimmen, höllisch verzerrt: ›Lose, Lose, Lose kaufen, nicht am Glück vorüberlaufen.‹ Ich schaltete die Musik aus, bei dem Krach war keine Silbe mehr zu verstehen.
Ich sah gern Leuten zu. Wenn ich Szenen aus den Leben meiner Kunden schrieb, orientierte ich mich an Beobachtungen, die ich in der Wirklichkeit gemacht hatte. Details wurden wichtig. Wie bewegte sich jemand, wie stand er da, wenn er wartete, tänzelnd, wie festgewachsen, welche Grimasse schnitt er beim Blick in seine Geldbörse?
In Gedanken versunken ortete ich das Leben um mich. Mit einem gewissen Argwohn. Es konnte jederzeit etwas geschehen; etwas Unerwartetes, Gefährliches, Tödliches. Dies hatte mich das Leben gelehrt. Die Bombe, die mein Leben in Stücke gerissen hatte, war im Hard Rock Café in Scharm El-Scheich explodiert. Mitten unter Touristen, die auf eine gute Zeit abonniert waren. So wie die Oktoberfestfreaks. Spaß, Vergnügen, Thrill, Nervenkitzel, Alkohol, Sex. Ich lehnte mich gegen die Querstange, die den Aufgang zu ›The Demon‹ sicherte, und sah auf die Uhr. Wie lange waren die schon da drin?
Irgendwann fiel mir auf, dass die Gondeln stillstanden. Fahrgäste suchten sich einen Platz, aber die Gondeln bewegten sich nicht. Plötzlich lag Aufregung in der Luft, ein bitterer Geschmack, ein unhörbar hoher Ton.
»Das stimmt jetzt nicht«, sagte ich laut zu mir selbst, ohne im Getöse meine Stimme zu hören. »Ich bilde mir das ein. Neurose total.«
Der Mann an der Kasse verließ sein Häuschen und rannte zu der Stelle, wo die Gondeln aus der Bahn herauskommen mussten. Man sah den Bug eines Bobs. Um mich herum blieben Leute stehen. Die grausame Dynamik des Unglücks zog Menschen an. Ich stieg die Stufen zur Kasse hoch und lief an der Front von ›The Demon‹ entlang, boxte mich durch die Menge und kam neben dem Kassenmann zu stehen.
»Was ist los?«
»Ein Kurzschluss. Wir müssen die Notversorgung ankriegen, um die Leute rauszuholen.« Er machte sich an einem Schaltkasten zu schaffen. »Aber hier tut sich nichts.« Nervös wischte er sich die Finger an seiner Latzhose ab. Seine Ohrmuscheln waren von oben bis unten gepierct. Er rollte das r, als gelte es das Leben.
»Das gibt’s doch nicht!«
»Wir haben eine komplette zweite Versorgung hier liegen.« Verzweifelt schlug er auf einzelne Schalter, fuhr mit dem Finger über einen Schaltplan.
Ich schnüffelte. »Es riecht verbrannt!« Meine Stimme wurde schrill. Jetzt kommt der Augenblick, wo dir die Nerven durchgehen, nicht, Kea?, dachte ich cool. Das Déjà-vu. Alles schon mal gehabt. Hilflos im eigenen Blut liegen, diesen metallischen und gleichzeitig verbrannten Geruch in der Nase haben. Du hast nur eine dunkle Ahnung von dem, was geschehen ist, doch du willst es nicht genau wissen, noch nicht, noch nicht …
Neben mir tauchte eine junge Frau auf. Sie hielt ihr Telefon wie einen Faustkeil in der Hand und schrie: »Was ist los? Meine Mutter ist dort drin. Was ist los?«
Ich quetschte mich durch die Klapptüren der Ausfahrt.
»Ruhig, Miss«, hörte ich den Kassenmann sagen.
»Nero?«, schrie ich in die Schwärze hinein. »Nero?« Der erste Bob, der halb aus der Bahn herausragte, war nicht besetzt.
»Kommen Sie zurück«, schrie Latzhose mir nach, ließ den Schaltkasten im Stich und rannte mir hinterher.
»Rufen Sie mal lieber die Feuerwehr«, gab ich zurück. Ich hörte schon die Sirenen. Automatischer Alarm, klar, auf der Wiesn durfte man nichts dem Zufall überlassen. Sicherheit und Schutz vor Massenpanik standen ganz oben auf der Liste. Nero hatte mir kürzlich einen Vortrag darüber gehalten, nachdem er mit ein paar Kollegen von der Wiesn-Polizei zusammengetroffen war. Aber Islamisten in der Geisterbahn? Oder der Verfassungsschutz? Das kam mir zu billig vor.
Eine Hand griff nach meiner Schulter. »Bleiben Sie hier.«
Die Sirenen wurden lauter. Ich zückte mein Handy und hielt das leuchtende Display ins Dunkel.
»Bleiben Sie verdammt noch mal hier!«, brüllte der Kassenmann.
»Leck mich.« Schritt für Schritt ging ich in die Geisterschachtel hinein. Roch verschmorten Kunststoff, Metall, Staub. Flehte meine Augen an, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war ganz still. Als habe der Stopp der Gondeln die Welt gebremst. Ich lauschte. Rief noch einmal: »Nero?«
Ich stolperte. Überall lagen Kabel, ganze Stränge, armdick. Der Geruch nach verschmortem Kunststoff verätzte mir die Nase. Neben mir ragten Schatten auf. Gespenster und Konsorten. Nur ein bisschen Technik und Pappmaschee, dachte ich. Kabel und Supertechnologie, digital, der neueste Schrei. Uninteressant. Wieso fürchtet man sich vor diesen Kunstgeistern?, dachte ich. Das wahre Leben bietet genug Schockierendes, wovor es einem wahrhaftig grauen kann.
»Warten Sie, mein Handy hat eine Taschenlampe«, rief eine Stimme hinter mir. Ich erkannte die junge Frau wieder, die mit ihrem Telefon auf den Kassenmann losgegangen war. »Ich hätte hier auch drin sein sollen, aber ich bekam einen Anruf, auf den hatte ich die ganze Zeit gewartet, und nun ist meine Mutter allein.« Ihre Stimme wurde schrill vor Panik.
»Und mein Freund mit seinen ganzen Kollegen, das halbe LKA.« Ich rutschte aus. Die andere hielt mich fest. Dann ging die Notbeleuchtung an. Ein grüner Lichtschein, der aus dem Nirgendwo zu kommen schien.
»Schauen Sie! Auf dem Boden! Wie im Flugzeug«, flüsterte sie.
Ich sah längliche Pfeile, die zum Ausgang wiesen.
»Nero?«, schrie ich.
Keine Antwort. Mein keuchender Atem hallte im Dunkel wider. Irgendwo weit weg meinte ich, eine Bewegung zu sehen, als gleite eine der Gruselfiguren in Eigenregie davon. Wir folgten den Schienen, auf denen die Bobs rollten.
»Verstehen Sie, warum jemand sich freiwillig fürchten will?«, fragte ich halblaut.
»Ja. Als Test. Um sich nachher zu freuen, dass alles nur eine Täuschung war.«
Jemand kam auf uns zu. Ich blinzelte. Sah eine kleine Gestalt, die sich durch die Finsternis tastete.
»Hier ist der Ausgang!«, rief ich.
»Mom!« Meine Begleiterin stieß mich beiseite und lief auf die Frau zu, die ihr entgegentaumelte. Die Ältere wäre beinahe gestürzt, aber die Jüngere fing sie auf und drückte sie an sich. »Mom.«
»Nero?«, schrie ich.
»Kea!«
Hatte ich ihn wirklich meinen Namen rufen hören, oder hatte ich mich getäuscht?
»Nero, wo seid ihr, zum Teufel!«
Hinter mir wurden die Klapptüren der Bahn mit Gewalt aufgerissen. Tageslicht flutete herein. Geblendet schloss ich die Augen. Kerle in voller Feuerwehrmontur stürmten die Geisterbahn und kommandierten: »Kommen Sie raus, kommen Sie raus!«
Ich wehrte mich, sah Sigrun West aus den Tiefen von ›The Demon‹ auf mich zukommen, an jeder Hand einen Jugendlichen.
»Wo ist Nero?«, schrie ich ihr entgegen. »Wo ist Nero?«
Neben ihr tauchte Markus Freiflug aus. Das lange Haar aufgelöst, schob er mit Krögers Hilfe Dirndl-Vicky und zwei weitere Buben dem Ausgang entgegen.
»Wo ist Nero?« Mir wurde übel vor Angst. Und heiß.
Sigrun stand neben mir. »Los, raus!«
Ich sah das Flackern in ihren Augen, während ich der Hand des Feuerwehrmannes endlich nachgab, die mich zum Rückzug zwang.
4
Im Licht der Notbeleuchtung beugte sich Nero Keller über den Jungen, der auf dem Gondelsitz in sich zusammengesunken war.
»Bodo, schnell!«
Sie hievten den Körper hoch und legten ihn zu Füßen des Sensenmannes ab.
»Kein Puls«, sagte Bodo Roderick. »Zu spät.«
Nero keuchte. Nur nicht aufgeben. Herzdruckmassage. »Jetzt du!«
Roderick gab Mund-zu-Nase-Beatmung.
Nero zählte mit. Sie hatten den Rhythmus bei der letzten Fortbildung eingeübt. Roderick war ihm nicht besonders sympathisch, aber die Zusammenarbeit klappte immer. Ob sie hinter Rechnern saßen oder einen Lehrgang in Erster Hilfe absolvierten.
Nero lauschte auf Rodericks Atemzüge, auf die wenigen Geräusche, die in das Innere der Bahn drangen. Die Stille war gespenstischer als alles Heulen, Winseln und Jaulen zuvor.
»Das Herz ist stehen geblieben. Nichts zu machen«, keuchte Roderick.
»Nicht aufgeben! Das ist ein Kind.« Dankbar dachte Nero daran, dass Sigrun und Kröger die anderen Jugendlichen eingesammelt hatten. Noch wuselten irgendwo im Körper der Geisterbahn Leute auf der Suche nach dem Ausgang herum. Nachdem die Klimaanlage ausgefallen war, wurde es schnell stickig und heiß. Aber Nero hatte die Sirenen gehört. Er wusste, dass keine Gefahr bestand. Keine echte Gefahr. Außer für diesen Jungen, dessen Herz ausgesetzt hatte und nun nicht wieder anspringen wollte. Kann das passieren?, fragte er sich, während er im Takt seines eigenen Kommandos den schmalen Brustkorb traktierte. Der Junge war 13, vielleicht 14, noch ein richtiges Kind. Blass, aber das konnte auch an der grünen Beleuchtung liegen.
Nein, es liegt nicht an der Beleuchtung. Er ist tot. Wir haben ihn viel zu spät gefunden, dachte Nero.
Roderick wies auf den Sensenmann. »Der hat seine Hand nicht zurückgezogen, als die Gondel an ihm vorbeikam. Das war Absicht. Die Isolierung ist ab. Schau mal.«
»Los, beatme ihn.« Erschöpft lehnte Nero sich gegen die Gondel. Der Geruch nach verschmortem Kunststoff verursachte ihm Übelkeit. In der Enge konnte er sich kaum bewegen.
»Sei vorsichtig, wer weiß, was hier noch alles unter Strom steht.« Roderick kniete sich über den Bub. »Hat er geschrien?«
Nero hob den Kopf. Er hörte Schritte, sah den Lichtkegel einer Taschenlampe.
»Notärztin kommt!«, rief eine Stimme.
»Hier herüber! Hier liegt ein Kind. Bewusstlos.«
›Tot‹ wollte er nicht sagen.