Für meine Frau und meine Kinder.
Ich habe dieses Buch für euch geschrieben
– vorausgesetzt, dass ihr es nie lest.
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2. Auflage 2020
 
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Übersetzung: Sascha Mattke
Redaktion: Werner Wahls
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Stephanie Druckenbrod
Umschlagabbildung: Shannon Faulk Photography und shutterstock
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-89879-952-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-856-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-857-5
 
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Inhalt

Vorbemerkung des Autors
Direkt in die Hölle
Fenster zur Welt
Eine kriminelle Ader
Ode an Wall Street Poker
Besuch von Mutter
Die Übergabe
Ich ruf’ dich auf dem Handy an
Networking
Schwanz oder Teppich
Die Roadshow
Der wilde, wilde Osten
Mittagspause
Der Warren Buffett von Shanghai
Bluetooth
Die Beschattung
Von Prinzen und Knödeln
Der erste Schultag
Weil sie Puppen sind
Die Minibar
Telefonkonferenz-Etikette
Das Böse rauslassen
Ein langer Tag
Regen machen
Epilog

Vorbemerkung des Autors

»Goldman fucking Sachs. Schon mal gehört?«

Es war der perfekte erste Tweet für mich. Der Ausdruck Schon mal gehört? ist unter Bankern so verbreitet (und so irritierend), dass er längst zu einer Art Running Gag geworden war – ein Banker sagt zu einem anderen »Hübsche Krawatte. Brooks Brothers?«, und der lässt ihn mit »Nein, Charvet. Schon mal gehört?« auflaufen. Ich habe mich über diese Angewohnheit gern lustig gemacht, indem ich konsequent selbst »Schon mal gehört?« dranhängte, wann immer ich schamlos einen bedeutenden Namen oder Ort fallen ließ.

Noch ein paar Stunden zuvor war ich mit einer Gruppe von Freunden, alle aus der Finanzwelt, in einer Bar in Hongkong gewesen. Die Märkte hatten sich nach den Abgründen der Finanzkrise wieder gefangen, doch auch der Sommer 2011 war noch eine schwierige Zeit.

Die Occupy-Bewegung gewann gerade an Schwung – die Bevölkerung war immer noch wütend. Trotz des Crashs am Immobilienmarkt, der darauffolgenden Krise und der anschließenden Rettungspakete war noch kein einziger Banker strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Die Boni waren weitgehend erhalten geblieben und der Aktienmarkt hatte sich nach den Tiefständen im Jahr 2009 stürmisch erholt. Die Tatsache, dass die meisten Menschen von dieser Erholung nichts hatten und dass die Einkommensungleichheit neue historische Rekorde erreichte, schürte das Feuer von Zorn und Missgunst nur noch weiter. Einer meine Freunde erzählte nur halb im Scherz, seine Frau sei in Manhattan beinahe aus einer Arztpraxis hinauskomplimentiert worden, nachdem andere hörten, wie sie der Rezeptionistin sagte, sie sei über Goldman Sachs versichert. Die Anti-Wall-Street-Stimmung grassierte. »Verdammter Pöbel.«

Am Morgen dieses Tages hatte ich in der Daily Mail einen Artikel über den anonymen Twitter-Account @CondeElevator gelesen, der höchst amüsant die interessantesten Gespräche aus den Aufzügen des berühmt-berüchtigten Condé-­Nast-Gebäudes in New York wiedergab. Verflucht noch mal, dachte ich mir. Wenn die Leute so begeistert sind von solchen Banalitäten, kann ich mir gar nicht vorstellen, was los wäre, wenn sie von den haarsträubenden Sachen erfahren, die Banker so sagen und machen. Denn trotz all der Verteufelung und der negativen Aufmerksamkeit hatten die meisten Leute immer noch keine Ahnung, wie die Wall-Street-Kultur wirklich aussieht. Und so wurde im vom Alkohol geschwängerten Nebel des Abends in der Bar die Geburtsstunde von @GSElevator eingeläutet – einem neuen Twitter-Account unter dem Motto: »Was in den Aufzügen von Goldman Sachs gesagt wird, bleibt nicht in den Aufzügen von Goldman Sachs. E-Mailen Sie mir, was Sie hören.« Der Plan war ganz einfach: Ich wollte auf unterhaltsame und lehrreiche Weise die »Kultur« der Wall Street vermitteln.

Für Goldman Sachs entschied ich mich aufgrund der Rolle der Investmentbank als öffentlicher Feind Nr. 1, wegen der Faszination der Bevölkerung für den »Vampirkraken« des Finanzwesens und wegen der absurden Behauptung seines CEO Lloyd Blankfein, »die Arbeit Gottes« zu tun. Außerdem hatte ich erst kurz zuvor den mühsamen Prozess durchlaufen, den prestigeträchtigen Job als Leiter der asiatischen Anleihensyndizierung bei Goldman Sachs zu bekommen (was immerhin Bloomberg und anderen Agenturen eine Nachricht wert war). In dieser Zeit bekam ich den Eindruck, dass die Kultur bei Goldman Sachs sozusagen eine Extremversion der allgemeinen Banker-Kultur ist. Das Aufzug-Motiv behielt ich schlicht als Hommage an den ursprünglichen Condé-Nast-Account als meinen Ideengeber bei. Ich ließ aber keinen Zweifel daran, dass es bei mir nie buchstäblich um Gespräche aus den Aufzügen von Goldman Sachs gehen sollte.

In den folgenden Tagen berichteten Daily Mail, Gawker, ZeroHedge, New York Post und andere Medien über @GSElevator. Freunde riefen an und hielten mir vor, die Quelle der Indiskretionen zu sein – oder ein Verräter, je nachdem, was sie von dem Account hielten. Andere Freunde wurden selbst verdächtigt. Es gab sogar eine Exfreundin von mir, die jedem, der ihr zuhörte, sagte, dass ich dahintersteckte. Plötzlich war mein dummer betrunkener Scherz außer Kontrolle geraten. Er gefährdete meine Identität und meinen Lebensunterhalt und drohte, unschöne Folgen für mich und meine Freunde zu haben.

Als mich also die New York Times kontaktierte und nach einem Interview fragte, log ich den Reporter an. Ich sagte ihm, ich würde tatsächlich schon lange bei Goldman Sachs arbeiten. Denn wen interessiert schon die Wahrheit? Es ging doch nur um einen sinnlosen Twitter-Account mit 2000 Followern. Und noch wichtiger: Die Details zu meiner Person waren ohnehin irrelevant. @GSElevator ist nicht einmal eine reale Person. Es ist die konzentrierte Widerspiegelung einer Kultur und einer Mentalität, die Zusammenfassung des »typischen Bankers«. Jede Konzentration auf mich als Person ginge deshalb am Thema vorbei. Ich will es so sagen: Als Plattform für das Einreichen aufgeschnappter Kommentare arbeitet @GSElevator ebenso sehr bei Goldman Sachs wie bei JPMorgan, Morgan Stanley oder sonst irgendeiner Bank. Aber wie gesagt, das ist uninteressant. Wichtiger war mir, dass die Authentizität meiner Stimme Menschen in aller Welt und aus allen Bereichen der Gesellschaft aufwühlte und faszinierte.

Ich hatte keine Ahnung, was der Twitter-Account auslösen würde. Was ich aber wusste, war, dass ich im Laufe meiner Bankerkarriere einige Geschichten – manche sinnlos, manche dämlich – zusammengetragen hatte. Direkt nach dem College hatte ich im Festverzinslichen-Bereich von Salomon Brothers angefangen. Meine Karriere begann in den Nachwehen der geplatzten Dotcom-Blase, dann arbeitete ich die ganze Finanzkrise hindurch und auf drei unterschiedlichen Kontinenten in der Branche. In dieser Zeit erfreute ich mich eines bunten Berufslebens inmitten einer turbulenten und bedeutenden Zeit in der Geschichte der Finanzmärkte und der Gesellschaft im Allgemeinen.

Als »einer der umtriebigsten Syndikatsmanager in Asien« habe ich alles gesehen. Ich habe eng mit dem Investmentbanking und mit Handel und Vertrieb zusammengearbeitet, mit Konzern- und Staatskunden, mit Vermögensverwaltern und Hedgefonds. Ich habe Geschäfte mit jeder Bank an der Wall Street gemacht und den Verkehr im Epizentrum der Wall Street geregelt: in der Anleihensyndizierung.

Nachdem ich Hongkong verlassen hatte, machte ich mir nicht mehr so viele Sorgen darüber, dass meine Urheberschaft herauskommen könnte. Ich begann, in meinen Tweets konkrete Details und Ereignisse zu nennen, die meine Identität für viele Leute in der Finanz-Community offensichtlich machen mussten. Dabei war ich nicht etwa subtil. In einem Artikel für Business Insider empfahl ich zum Beispiel einen Besuch bei dem Friseur Sammy im Mandarin Oriental in Hongkong. Der ist so alt und zittrig, dass ich mir schon lange immer wieder den Spaß gemacht hatte, Kollegen aus dem Ausland für eine Rasur mit offenem Messer zu ihm zu schicken.

Als ich dann beschlossen hatte, ein Buch zu schreiben, wusste ich, dass meine Identität nicht einmal das extrem schlecht gehütete Geheimnis bleiben würde, das sie bis dahin war. Tatsächlich setzte ich sogar fest auf meine Enttarnung: Meine Hülle fallen zu lassen, war die einzige Chance, offen und glaubwürdig über die Position zu sprechen, von der aus ich all die schockierenden Erlebnisse beobachtet und genossen habe.

Dieses Buch ist keine Anklage gegen eine bestimmte Bank, keine Enthüllung, keine moralische Fabel und keine Bekehrungsgeschichte. Ich will nichts weiter, als schonungslos die Seele der Wall Street so zu zeigen, wie sie noch nie zuvor gezeigt wurde. Keine Erleuchtung, keine Entschuldigungen. Keine Hemmungen.

Viele der Namen und einige der Merkmale und Beschreibungen von Menschen sowie kleinere Details in diesem Buch wurden verändert, um die Identität der Betroffenen zu schützen. Ich will weder absichtlich noch aus Versehen die Karriere oder das Privatleben von Leuten beschädigen. Viele der in diesem Buch erwähnten Personen sind noch heute enge Freunde von mir. Und an diejenigen, für die ich mich einen Scheiß interessiere: Zum Glück für euch haben mich die Rechtsanwälte dazu gebracht, eure Namen unkenntlich zu machen.

Direkt in die Hölle

Wenn du in nur einer Sache gut sein kannst, nimm Lügen: Wenn du gut lügen kannst, kannst du alles gut.

Jedes Jahr lernen Kinder eine wertvolle Lektion für das Leben: Reiche Kinder liebt der Weihnachtsmann viel mehr.

Manchmal entschuldige ich mich, auch wenn ich gar nicht gefurzt habe. Die Leute sollen glauben, meine würden nicht stinken.

Mein Abfalleimer bekommt besseres Essen als 99 Prozent der Weltbevölkerung.

Statistisch gesehen ist egal, wie die Mutter deiner ersten Ehefrau aussieht.


Fenster zur Welt

»Entschuldigung, darf es noch eine Runde Bloody Marys sein?«

Es ist August 2001, und ich hänge im Windows on the World herum, ganz oben in Turm Eins des World Trade Center. Bei mir sind ein paar Kollegen aus meinem Analysten-Jahrgang bei Salomon Brothers. Es ist erst 9.30 Uhr, aber das interessiert uns nicht weiter – die meisten meiner Trinkkumpane sind entweder aus Europa oder haben gute Kontakte. Alle anderen in unserem Jahrgang aber würden es nie wagen, die Schulung ausfallen zu lassen. Sie sitzen direkt gegenüber im Auditorium von 7 World Trade Center und machen sich brav Notizen über Finanzbuchhaltung, Anleihenmathematik und solches Zeug.

Ich bin wegen der verpassten Stunden ganz entspannt. Ich war schon früh im Auditorium, um mich auf der Anwesenheitsliste einzutragen, und ein freundlicher Kollege hat versprochen, mir eine SMS zu schicken, sollte es einen spontanen Zählappell geben. Bislang ist nichts gekommen, aber zur Sicherheit habe ich ein Päckchen Marlboro Lights in der Tasche – für den Fall, dass ich ein Alibi für die Zeit brauche, in der ich die zwei Aufzüge nach unten nehmen und über die Straße zurück in die Bank gehen kann.

Außerdem haben wir schließlich Grund zum Feiern. Wir haben es geschafft. Die Wall Street. Der Gipfel, würden manche sagen, für jeden ambitionierten und gut ausgebildeten College-Absolventen, der in sein Berufsleben startet. Die genauen Zahlen weiß ich nicht mehr, aber wir werden täglich daran erinnert, wie glücklich wir uns schätzen können: Für die rund 350 Stellen weltweit hat die Bank ungefähr 25.000 Bewerbungen bekommen.

Ich schaue aus dem Fenster im 107. Stock und fühle mich selbstsicher, fast unbesiegbar. Das war nicht immer so. In meinem Vorstellungsgespräch bei Lazard Frères, einer angesehenen Investmentbanking-Boutique und der letzten echten Partnership an der Wall Street, wäre ich beim Blick aus dem 75. Stock vor Schwindel beinahe ohnmächtig geworden. Nach einem ganzen Tag mit Gesprächen in der letzten Runde bei Bear Sterns schickte ich versehentlich eine E-Mail an den Leiter des Bereichs Schwellenmärkte, in der ich mich bedankte und erklärte, wie gern ich für JPMorgan arbeiten würde. Im Vorstellungsgespräch bei Goldman Sachs wollte irgendein Arschloch von mir wissen, mit welcher lebenden oder toten Person ich mich am liebsten zum Abendessen treffen würde. Ich glaube, er war nicht sehr beeindruckt, als ich statt Marcus Aurelius oder Alexander Hamilton Tupac Shakur nannte. Doch trotz dieser Patzer: Letztlich wollte ich Fixed Income machen, Festverzinsliche, und dafür gab es vermutlich keinen besseren Ort als Salomon Brothers – zumal seit Kurzem die riesige Vertriebsplattform und Bilanz der Citigroup dahinter stand.

Ein Problem allerdings gibt es: Mein Analysten-Jahrgang ist der größte in der Geschichte des Investmentbanking bei Salomon Brothers. Wir wurden nach Quoten eingestellt, die Mitte 2000 festgelegt wurden, also bevor klar wurde, dass die Dotcom-Party vorbei war. Nirgendwo ist das schmerzhafter offensichtlich als im Team für europäische TMT (Telekom-, Medien- und Technologieunternehmen), das 40 Junganalysten bekommen hatte. Gleich am ersten Tag der Schulung wurden sie darüber informiert, dass es nur 7 offene Stellen im Team gibt. Sie müssen also vor dem Ende der Schulung entweder einen Platz in einem anderen Team finden oder gleich wieder gehen.

Mit der Ausnahme von TMT werden die meisten neuen Analysten erst kurz vor Ende der Schulung für ein bestimmtes Team eingeteilt oder eingeladen. Ich selbst hatte schon nach einem Praktikum im vergangenen Sommer ein Angebot für den Bereich Fremdkapitalmärkte bekommen, also weiß ich, dass ich in dieses Team kann, wenn ich möchte. Für die meisten anderen Analysten aber beginnt der eigentliche Wettkampf jetzt erst. Wie sie feststellen müssen, ist einer der begehrten Einstiegsjobs an der Wall Street nicht etwa schon das Ziel, sondern erst der Startblock. Wenn man sich die rosigen Gesichter um unseren Tisch im Windows on the World so anschaut, umgeben von leeren Bierflaschen und halb gegessenen Selleriestangen, würde man das allerdings kaum glauben.

Später an diesem Nachmittag bekommen wir die erste von mehreren unheilvollen Warnungen.

»Eine Erinnerung für Sie alle: Sie sind nicht nur verpflichtet, an allen Schulungsstunden teilzunehmen, sondern auch dazu, sich professionell zu verhalten und sie ernst zu nehmen. Zudem wird es nächsten Dienstag die erste Prüfung geben, in Rechnungswesen. Die schlechtesten 10 Prozent werden höchstwahrscheinlich gehen müssen.«

Ein vornehm klingender junger Brite, einer meiner Trinkkumpane, hebt die Hand. »Aber ich habe Altertumswissenschaft in Oxford studiert. Das scheint mir nicht fair zu sein«, sagt er. Offensichtlich haben die Schulungen doch einen gewissen Sinn.

»Was glauben Sie denn, wofür die Schulungen da sind? Ich bin sicher, Sie werden es schaffen.«

Mich beeindruckt das überhaupt nicht. Ich habe Finanzwissenschaft und Ökonomie studiert. Ich muss vielleicht noch lernen, wie man Excel ohne Maus bedient, ansonsten aber brauche ich keine Schulung.

Wie sich zeigt, hat der Personalmensch nicht geblufft. Am Tag nach der ersten Prüfung werden auf zwei großen Pinnwänden hinten im Auditorium die Ergebnisse bekannt gegeben. In einem halbherzigen Bemühen um Datenschutz stehen auf der ersten Tafel die Namen aller Teilnehmer sowie jeweils ein zufälliger Zahlencode; auf der zweiten Tafel ist der Code jeder Person und das dazugehörige Prüfungsergebnis zu sehen.

Natürlich schaut jeder zuerst nach seinem eigenen Ergebnis – ich habe mit Bravour bestanden. Anschließend verbringen wir alle die nächsten zehn Minuten damit, indiskret von Tafel zu Tafel zu gehen, zu schwätzen und die Ergebnisse unserer Freunde und Gegner nachzusehen. Die Personalabteilung versucht nicht einmal, zusammenfassende Statistiken oder nähere Informationen über die Ergebnisse zur Verfügung zu stellen. Dadurch müssen diejenigen, die weniger gut abgeschnitten haben, in Unsicherheit leben, während sie auf die endgültige Bestätigung ihres Schicksals warten. Erst am Abend werden die untersten 10 Prozent mit einer kurzen, unter der Tür ihrer temporären Firmenwohnung durchgeschobenen Nachricht informiert. Wir anderen sind alle ein bisschen neidisch auf die Leute, die jetzt keinen Mitbewohner mehr haben.

In der Gruppe gibt es eine gewisse Nonchalance und Gleichgültigkeit diesem Vorgehen der Bank gegenüber, das wir alle befremdlich und spannend zugleich finden. In der nächsten Woche passiert es noch einmal, nach der Mathematikprüfung – wieder müssen die schwächsten 10 Prozent gehen. Ich selbst habe wieder nichts zu befürchten. Es ist jetzt Blut im Wasser, und ich muss zugeben, dass ich das ganze Theater ein wenig amüsant finde.

Mit einigen der Betroffenen habe ich durchaus Mitgefühl. Ich hoffe nur, sie haben die Quittungen für die ganzen Luxussachen aufgehoben. Traurig anzusehen: Einer der Jungs versucht sogar, seine neue Uhr zu verkaufen, bevor er die Stadt verlässt. Aber was zum Teufel soll ich mit einer Movado anfangen?

Nachdem die Prüfungen erledigt und die Schlechtesten ausgesiebt sind, beruhigt sich alles etwas, und der Schwerpunkt der Schulungen verschiebt sich auf Sachen wie PowerPoint, Excel, Finanzmodelle und Präsentationstechniken. Jeder von uns bekommt einen Arbeitsplatz in einer leeren Etage von 7 World Trade Center, um dort gemeinsam an Gruppenprojekten und einzeln an Hausaufgaben zu arbeiten.

Die Hausaufgaben sind ein Witz. Fünf Minuten vor dem Unterricht springe ich an meinen Computer, rufe das geteilte Laufwerk auf und finde dort die fertige Hausaufgabe von jemand anderem. Ich ändere den Namen und schaue kurz, ob mir die Antworten vernünftig erscheinen, dann drucke ich sie aus und gehe in die Schulung. Viele der Leute in meinen Jahrgang, vor allem die, mit denen ich mich umgebe, machen es genauso.

Doch an einem Tag kommt unser Personalbetreuer ins Auditorium und baut sich vor uns auf. »Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass wir acht von Ihren Kollegen entlassen mussten, weil sie Hausaufgaben kopiert haben.«

Ein paar in meinem Jahrgang – viele von ihnen sollten nicht mehr lange dabei sein – schauen sich gegenseitig an, erschrocken über die Vorstellung, dass jemand betrogen haben könnte. Der Rest von uns schaut sich ebenfalls an und ist erleichtert, dass er nicht erwischt worden ist. Wieder einmal zeigt sich hier der uralte Konflikt zwischen denen, die in der Klasse immer ganz vorne sitzen wollen, und den Schülern, die es auf die hinteren Bänke zieht.

Von diesem Tag an bin ich etwas vorsichtiger. Statt fünf Minuten komme ich jetzt zehn Minuten früher. Den kopierten Hausaufgaben verleihe ich mit eigenen Formatierungen, ein paar neuen Formulierungen und sogar ein paar sehr individuellen Fehlern meine persönliche Note.

Nach einer Woche werden noch einmal vier Leute wegen kopierter Aufgaben gefeuert. Dieses Mal, so zeigt sich, hatten einige unserer hinterlistigeren Klassenkameraden Dateien auf dem Laufwerk manipuliert und teils sogar ausschließlich falsche Antworten hinterlassen. Meine Gruppe hat eine relativ einheitliche Meinung dazu: Wer so dumm ist, sich beim Schummeln erwischen zu lassen, hat an der Wall Street wahrscheinlich sowieso nichts zu suchen.

Am nächsten Tag feiern wir unser Durchkommen. Wir lassen die Schulung ausfallen, treffen uns zu einem flüssigen Frühstück im Wolkenkratzer und gehen dann mittags im Steakhouse Peter Luger essen.

Anschließend wird es wieder ruhiger. Die Personalabteilung versichert, soweit es keine weiteren disziplinarischen Maßnahmen geben müsse, seien alle nötigen Entlassungen jetzt erledigt. Der Rest der Schulung spielt sich recht ereignisarm im Auditorium ab – oder eben, für einen ausgewählten Teil von uns, oben auf der anderen Straßenseite. Die Abende sind der Teamstärkung gewidmet. Wir spielen Bowling bei Lucky Strike und betrinken uns auf Fahrten über den Hudson River. Ich bin nicht der größte Fan von Namensschildern und Kennenlernveranstaltungen, aber es ist bestimmt geschäftlich sinnvoll, alle Mitglieder meines Jahrgangs mal getroffen zu haben.

Am letzten Tag der Schulungen lädt die Bank zu einer feierlichen Motivationsveranstaltung im Auditorium von 388 Greenwich Street. Dicke Fische wie Mark Simonian (globaler Leiter TMT), Sir Deryck Maughan (Chairman und früherer CEO von Salomon Brothers), Michael Klein (Leiter Investmentbanking) und Tom Maheras (Leiter Fixed Income) halten mitreißende Reden darüber, dass es keine Bank auf der Welt gibt, für die sie lieber arbeiten würden, und für uns keinen besseren Ort für den Start in unsere Finanzkarrieren.

Jetzt haben wir das Gefühl, es wirklich geschafft zu haben – die 272, die noch dabei sind. Ich bin etwas zu spät gekommen und stecke auf einem Sitzplatz hinten in der Mitte fest, von dem aus ich unmöglich unbemerkt verschwinden kann. Kurz nach dem Beginn steht ein paar Reihen vor mir ein Typ auf, den ich ein bisschen kenne, und versucht, sich nach draußen zu schieben. Mann, der traut sich was! Mitten in einer Rede arbeitet er sich durch die Reihen und zwingt die Leute, aufzustehen, damit er rausgehen kann.

»Entschuldigung. Darf ich? Sorry.« Es ist wie im Kino, nur dass der Raum hier hell erleuchtet ist, und dass er einen Master of the Universe unterbricht, der auf der Bühne engagiert über das redet, was ihm am wichtigsten ist – sich selbst.

Zehn Minuten später kommt der Typ wieder zurück in den Raum. Dieses Mal ist sein Gesicht gerötet und er hat Tränen in den Augen. »Entschuldigung. Darf ich? Sorry«, sagt er erneut, während er sich zurück zu seinem Platz kämpft. Scheiße, ist seine Mutter gestorben? Was zum Teufel ist passiert? Als er an seinem Stuhl ankommt, setzt er sich nicht hin, sondern beugt sich nach unten, nimmt die charakteristische blau-grüne Stoffreisetasche von Salomon Smith Barney und macht kehrt. Sein fleckig rotes Gesicht beginnt komplett zu leuchten, und aus den aufgequollenen Augen kommt ein Wasserfall aus Tränen. »Entschuldigung. Darf ich? Sorr- oh, ah, oh.« Er bekommt nicht einmal mehr die Worte richtig heraus. Weil er versucht, nicht zu laut zu schluchzen, beginnt er fast zu hyperventilieren. Es ist kein schöner Anblick. Und dann ist er verschwunden.

Auf der Bühne kommt unterdessen Sir Deryck Maughan zum Ende seiner Rede. »Ich gratuliere den Mitgliedern des Analysten-Jahrgangs 2001, dem am besten qualifizierten Jahrgang in unserer langen Geschichte.«

Fünf Minuten später steht eine Analystin auf und verlässt den Raum. Nach ein paar Minuten kommt sie zurück, holt ihre Handtasche und die Reisetasche und geht. Sie sieht gefasster aus als ihr Vorgänger, aber dennoch geschockt. Ein paar Leute in den hinteren Reihen beginnen zu vermuten, dass irgendetwas nicht stimmt. Von meinem Platz aus kann ich sehen, wie die Gehende für eine Freundin mit den Lippen die Worte »Ich bin gefeuert« formt. Die meisten Anwesenden etwa ab der Mitte des Raums wissen aber noch nichts von dem, was sich hinter ihnen abspielt.

Fünf Minuten später steht wieder jemand auf und macht sich auf den Weg nach draußen. Er scheint nicht verstanden zu haben, dass er gleich einen Arschtritt bekommt. »Junge, nimm deine Sachen einfach gleich mit«, ruft jemand von hinten, womit er mehr als nur ein paar Lacher erntet.

Durch die Störungen und das von hinten nach vorn wandernde Flüstern beginnen langsam weitere Anwesende zu verstehen, was sich abspielt. »Scheiße, ich hatte einen Zettel unter der Tür, dass ich um 10.15 Uhr in die Personalabteilung kommen soll. Das ist in zehn Minuten. Ich hatte gedacht, es geht darum, in welches Team ich komme«, sagt eine Asiatin neben mir, mit der ich vorher noch nie gesprochen hatte. Dann steht sie auf, sagt »Es war toll, Leute« zu niemand Besonderem und geht hinaus.

Inzwischen hat sich die Neuigkeit und die Bedeutung der Nachrichten von der Personalabteilung im gesamten Jahrgang herumgesprochen. Alle, die eine Benachrichtigung bekommen haben, stehen jetzt auf und beginnen, den Raum zu verlassen.

Vorne auf der Bühne macht Michael Klein völlig unbeirrt weiter. Er versichert uns, dass wir eines Tages alle so sein können wie er.

Später erfahre ich, dass der erste Gefeuerte die Personalabteilung bekniet hatte, für ihn in den Hörsaal zu gehen und seine Tasche herauszuholen, um ihm den tränenreichen Gang der Schande zu ersparen. Er wurde nicht erhört. Aber keine Sorge: Wie ich höre, ist er jetzt ein erfolgreicher Broker.

 

Wenn man zu spät zu einem Termin kommt, sollte man keinen Starbucks-Kaffee in der Hand haben.

Wenn dich jemand etwas fragt, auf das du die Antwort nicht kennst, mach ihn nieder. Besser ein Arschloch sein als dumm wirken.

Es ist okay, die Chance auf ein gesundes Leben mit 80 oder 90 gegen mehr garantierten Spaß mit 20 oder 30 einzutauschen.

Trag keine Schuhe, die so auffällig sind, dass man sie unter einer Toilettentür erkennt.

Was man seiner Tochter raten sollte, hängt ganz wesentlich davon ab, wie attraktiv sie ist.


Eine kriminelle Ader

»Sie mögen in dieser Situation ungeschoren davongekommen sein, aber in meinen Augen sind Sie nichts als ein Betrüger.« Mein Betreuer, Mr. Cobb, ist soeben in mein Wohnheimzimmer geplatzt, um diese erbauliche Überlegung an mich weiterzugeben.

Er schaut mich an (während mein Kopf eifrig über ein Lehrbuch gesenkt ist), schaut hinüber zu meiner Stereoanlage (aus der leise klassische Musik tönt) und verdreht die Augen. Wäre ich nicht erst 14 Jahre alt gewesen, hätte er wahrscheinlich auch noch Onanierbewegungen mit der Hand dazu gemacht.

Um fair zu bleiben: Seine Beurteilung ist gar nicht so weit daneben. Nur zwei Minuten zuvor hatte ich gehört, wie er sein nicht unerhebliches Gewicht die Treppe hochschleppte. Ich hatte schnell das Computerspiel Maelstrom auf meinem McIntosh beendet, mein Chemiebuch geöffnet und statt The Chronic von Dr. Dre die CD mit Vivaldis Vier Jahreszeiten eingelegt, die ich meiner Mutter stibitzt hatte.

»Mr. Cobb, aus Ihrem Mund würde ich das als Kompliment verstehen.«

Scheiß auf den Typen. Als mein Betreuer in der zehnten Klasse sollte er mein Verbündeter sein, meine Vaterfigur fern der Heimat, der Mann in meiner Ecke, ein Vorbild in diesen für die Charakterbildung wichtigen frühen Teenager-Jahren. Stattdessen sucht er ständig nach Gelegenheiten, mir am Zeug zu flicken. Und jetzt kann ich nichts mehr tun, um seine Meinung über mich zu ändern.

Ein paar Tage zuvor hatte ich mein erstes Aufeinandertreffen mit den Autoritäten in meinem Internat Choate Rosemary Hall. Nach dem Unterricht hatte ich beschlossen, mir im Gemeinschaftsraum des Wohnheims einen Stuhl zu schnappen, um dort mit Freunden herumzusitzen. Der Stuhl brach unter meinem eigentlich bescheidenen Gewicht sofort zusammen. Bei einer kurzen Untersuchung stellte ich fest, dass jemand vorher ein Bein abgebrochen und es so wieder angebracht hatte, dass es stabil erschien. Es war eine Falle für Doofe gewesen.

Meine Reaktion darauf war zugegebenermaßen ziemlich unreif. Ich nahm den Stuhl und schmiss ihn mehrmals auf den Boden, bis er zersplitterte und zerbrach. Den Raum ließ ich mit zerbrochenen Holzstücken und zerfetzten Stücken weichen Polsters zurück.

Am Abend, bei unserem wöchentlichen Wohnheimtreffen, stellte unser Hausvorsteher Mr. Gadua (dem wir den Spitznamen »der Trottel« gegeben hatten) Fragen zu dem zerstörten Stuhl. »Ich möchte, dass die Person, die den Stuhl kaputtgemacht hat, vortritt«, sagte er. Natürlich meldete sich niemand.

Am nächsten Tag erhielt ich eine Vorladung zu meinem Dekan – jemand musste mich verraten haben. Ich werde vor die Disziplinarkommission gestellt, erfuhr ich. Mir drohte nicht nur eine Strafe für den Stuhl: Weitaus gravierender war, dass mir ein Verstoß gegen den Ehrenkodex vorgeworfen wurde, weil ich den Trottel belogen hatte. Bei Fragen der Ehre neigen Internate dazu, humorlos und selbstgerecht zu werden.

Mein erster Instinkt war, zu behaupten, ich hätte den Stuhl zerstört, um zu verhindern, dass jemand anderes sich darauf setzt und Schaden nimmt. Das aber hätte nicht als Ausrede für die Kodex-Verletzung gereicht. Also beschloss ich, ganz einfach zu argumentieren: »Meiner Meinung nach ist es, in Bezug auf den Stuhl, nicht möglich, etwas zu zerstören, das bereits zerstört ist. Als uns der Trottel nach dem Stuhl fragte, bin ich nicht vorgetreten, weil ich wirklich nicht weiß, wer ihn zerstört hat.« Ich wurde freigesprochen.

Schon in diesem noch leicht zu beeindruckenden Alter wusste ich, dass ich an die Wall Street wollte. Ich hatte mich noch nie gern Autoritäten untergeordnet, schon gar nicht so dämlichen wie Mr. Cobb oder dem Trottel. Meine Begeisterung für die Wall Street begann damit, dass ich im Kabelfernsehen den Film Wall Street sah und das Buch Liar’s Poker von Michael Lewis (dt. Wall Street Poker) las, und dann Den of Thieves von James B. Stewart (dt. Club der Diebe), The Predator’s Ball von Connie Bruck und Barbarians at the Gate von Bryan Burrough und John Helyar (dt. Die Nabisco Story. Ein Unternehmen wird geplündert). Im ersten Jahr auf dem Internat brach sie dann richtig aus. Ich entwickelte eine Faszination für die Finanzmärkte, die Männer, die sie steuerten, und die materiellen Vorteile, die damit einhergingen.

Noch stärker wurde dieser Reiz, als an den Besuchswochenenden die Eltern von überall her kamen. Die Wall-Street-Papas waren die Coolen, mit Sportwagen und einer Neigung zu derben Sprüchen. Sie erzählten unserem Dekan, wir würden das Wochenende mit ihnen in Connecticut verbringen, und ließen uns dann in New York City verschwinden, wo wir uns eine Suite im Waldorf Astoria nahmen und uns mit Hilfe des Concierge-Service in Strip-Clubs wie Scores oder die Au Bar schummelten. In dieser Zeit internalisierte ich die wichtigste Lebensregel: »Dumme Menschen müssen Regeln einhalten, für kluge Menschen sind sie nur eine Orientierung.«

Meiner Erfahrung nach zieht die Wall Street allgemein Menschen mit einer bestimmten Mentalität an. Dann nimmt sie diese Menschen, zerlegt sie und setzt sie so wieder zusammen, dass sie optimal zu ihrer einzigen Bestimmung passen – dem Geldverdienen. Prioritäten sind relativ. Vorstellungen von Reichtum sind relativ. Moral und schlechtes Benehmen sind relativ. Erwartungen und Standards für harte Arbeit und Intelligenz sind relativ. Die Wall Street operiert in ihrer eigenen Realität. Hier heißt es Anpassen oder Sterben.

Auf gewisse Weise war das Internat eine hervorragende Vorbereitung auf eine Arbeit im Investmentbanking. Denn nicht nur die Papas der Wall Street waren anders, auch ihre Kinder. Sie hatten in einem viel jüngeren Alter eine viel weiter entwickelte Sichtweise als der Rest von uns – eine gewisse Selbstsicherheit, eine Fressen-oder-gefressen-werden-Mentalität, und beim Umgang mit Autoritäten sogar eine gewisse kriminelle Ader. Sie waren die Kinder, die es irgendwie schafften, mit einem Attest vom Arzt einen eigenen Kühlschrank in ihrem Zimmer haben zu dürfen. (Offensichtlich kennt jeder Investmentbanker mindestens einen Arzt, der ihm einen Gefallen schuldet. Wo sollten wir auch sonst unser Ritalin herbekommen?) Ihre Eltern erlaubten ihnen nicht nur, Regeln zu brechen, die sie ihrer Ansicht nach nicht beachten sollten, sondern unterstützen und ermunterten sie dabei. Internatsschüler dürfen keine Autos auf dem Campus-Gelände haben? Kein Problem, stell es einfach auf den Parkplatz vor der öffentlichen Bibliothek in der Stadt. Die Schüler dürfen keine Mobiltelefone besitzen (wir befinden uns Mitte der 1990er Jahre)? Sei schlau – lass dich einfach nicht erwischen. Die Regeln beachten können die Kinder mit den Stipendien oder, noch schlimmer, die Weltverbesserer. Wir sprechen uns dann in 20 Jahren noch mal.

Die Banker-Kinder versuchen erst gar nicht groß, sich im Rahmen einer »Meritokratie« zu bewegen, in der jeder nach seinen wahren Verdiensten beurteilt wird. Du schaffst im SAT-Test für die Uni-Zulassung nicht mehr als 1300 Punkte, weil du ein Idiot bist? Kein Problem. Lass dir eine Lernschwäche diagnostizieren, dann kannst du alle Standardtests ohne Zeitbegrenzung ablegen. Ein Freund und Klassenkamerad von mir kam bei den SATs nur auf 1100 Punkte. Zwar hatte er bessere Chancen, weil schon sein Vater diese Uni besucht hatte, doch für eine Zulassung an der University of Pennsylvania hätte es trotzdem niemals gereicht. Nur ein Attest später wiederholte er die Tests ohne Zeitvorgabe. Statt wie der Rest von uns vier Stunden lang unter strenger Aufsicht in einer Sporthalle zu sitzen, bekam er eine ganze Woche in einem ruhigen Klassenzimmer fast ohne Kontrolle. So konnte er Vokabeln, Analogien und mathematische Probleme leicht heimlich in seinem TI-82-Taschenrechner speichern, um zu Hause noch mal nachzusehen und Fehler am nächsten Tag zu korrigieren. Seine 1400 Punkte im zweiten Versuch waren angesichts der Umstände immer noch peinlich – wie wenn man mit Insiderhandel nur 50.000 Dollar verdient. Doch sie reichten aus, um ihn von der Warteliste für die Penn University zu holen. Heute arbeitet er für einen Hedgefonds in London und fährt einen Ferrari. Das Auto war zwar billiger als ein neuer 5er von BMW, und er hat nur irgendeinen mittleren Bürojob, aber seinen Facebook-Freunden fällt nichts davon auf. Er wurde sozusagen im Strafraum geboren und hat den Ball dann ins Tor gestolpert. Aber wenigstens kann er seine Freunde (und sich selbst) davon überzeugen, dass er ein echter Torjäger ist und sich gegen alle durchgesetzt hat. Der Zweck heiligt die Mittel. Wenn man an der Wall Street erfolgreich sein will, muss man dieses Konzept gut verstehen, und auf dem Internat bekam ich jede Hilfe dafür.

Als naiver Junge aus Texas brauchte ich eine Weile, um diese Mentalität zu begreifen. Aber dann holte ich rasch auf. Als ich in die Oberstufe kam, war ich derjenige, der in seinem Schrank über dem Minikühlschrank die Sega-Spielkonsole und den Fernseher versteckte.

Auch andere unverzichtbare Fertigkeiten für das Bankerdasein lernte ich im Internat: Mobbing, Schikanieren und die Kunst gelungener Streiche. Eines Abends verlässt ein Junge aus meinem Gang sein Zimmer, um zu duschen; er ist einer von diesen Deppen, die nachts kurz vor dem Ausschalten des Lichts noch duschen gehen, um morgens Zeit zu sparen.

Duschstreiche sind ziemlich verbreitet. Jemand stiehlt einem das Handtuch, sperrt einen aus dem Zimmer aus, oder beides. Das ist langweilig. Dem Jungen hier ist das schon so oft passiert, dass er mehr oder weniger mit einer Hand auf dem Handtuch duscht. Ich weiß allerdings, dass wir beide für dieselbe Matheprüfung am nächsten Morgen um 8 Uhr lernen. Also gehe ich in sein Zimmer, nehme sein Mathematikbuch und seinen Hefter voller Notizen, stopfe sie in seinen Kleiderschrank und versperre ihn, indem ich sein Kryptonite-Fahrradschloss durch die Griffe der Tür stecke. Den Schlüssel lasse ich im Schrank.

Dann, weil es nun einmal so üblich ist, schließe ich auch noch sein Zimmer ab.

Als der Typ zurückkommt, denkt er, das sei schon der ganze Streich. Jemand hat ihn ausgesperrt, während er duschen war – keine große Sache. Ins Handtuch gehüllt, geht er nach unten und bittet den Hausvorsteher, hochzukommen und ihm mit dem Generalschlüssel sein Zimmer aufzuschließen. Ungefähr 15 Minuten später hat er sich vermutlich zum Lernen hingesetzt und bemerkt, dass seine Bücher fehlen und dass sich vor seinem Kleiderschrank ein Kryptonite-Schloss befindet. Jetzt muss er wieder runter und die Lage unserem Vorsteher erklären. Der muss die Campus-Security rufen, die jemanden aus der Verwaltung nach oben beordern muss, um die Kleiderschrank-Tür mit einer Säge zu öffnen. Der ganze Prozess kostet ihn zwei Stunden seiner wertvollen Lernzeit.

Zwar gab es Verdachtsmomente, doch es kam nie heraus, wer der Bösewicht/das Superhirn hinter dieser Aktion war. Ich bin jedenfalls ziemlich sicher, dass ich in dem Test besser abgeschnitten habe als er. Meine Transformation weg vom jungen, naiven Kerl aus Texas machte gute Fortschritte.

Meistens stand ich unter irgendwelchen Sanktionen oder Bewährung, und immer unter irgendeinem vagen Verdacht. Aber ich entwickelte bald Gefallen am Absurden und die Fähigkeit, mich schnell auf jede Situation einzustellen.

An einem denkwürdigen Abend an einem Wochenende im Frühling kommt beides zusammen. Ich sitze in meinem Zimmer, von dem man über den Hof und die Parkplätze hinweg die Tennisplätze im Blick hat. Der Parkplatz ist erstaunlich voll, und auf allen Courts sind Spieler und Zuschauer zu sehen. Es sind mehr Eltern da als an einem normalen Internatssamstag mit Sportveranstaltungen. Also muss wohl gerade ein Heimspiel gegen eine normale Schule in der Nähe stattfinden.

Ich spiele ganz ordentlich Tennis, habe mich in der Schule aber nie dafür interessiert. Denn im Golf-Team war es deutlich lustiger. Weil wir dort ungefähr ein Dutzend Schüler mit nur einem Trainer waren, konnte er unmöglich jeden von uns im Auge behalten. Zusammen mit ein paar Freunden fasste ich also den Plan, immer gut genug zu spielen, um ins Team aufgenommen zu werden, aber nie gut genug, um uns für die besten Sieben zu qualifizieren, die auch zu Turnieren fahren mussten.

Ein paarmal pro Woche fuhren wir mit dem Bus hinüber in den Farms Country Club und spielten dort neun Löcher. Trainer DeMarco beobachtete jeden beim Abschlag und spielte dann nacheinander mit jedem von uns ein Loch, um alle sehen und fair beurteilen zu können. Wir sorgten immer dafür, dass wir zu den letzten Gruppen am Abschlag gehörten. Wenn wir dann das Loch mit dem Coach hinter uns hatten, blieben noch sechs oder sieben Löcher, während derer wir ungestört das Bier trinken konnten, das wir in unseren Golftaschen versteckt hatten – um dann am achten Loch die leeren Dosen wegzuwerfen.

Ich habe also absichtlich das Golfturnier verpasst und sitze untätig in meinem Zimmer herum. Aus irgendeinem Grund beschließe ich dann, mich etwas zu amüsieren, indem ich meine Lautsprecher vor das offene Fenster stelle und auf die Tennisplätze richte. Doggystyle von Snoop Doggy Dogg. Track 7. Lautstärke hoch. Play.

»Lodi Dodi«, beginnt Snoop, und erinnert seine Gegner dann daran, dass sie ihn gern oral befriedigen können. Der Sound ist sofort spür- und hörbar. Die meisten Zuschauer draußen drehen sich abrupt um und schauen hoch zu den Zimmern, um die Quelle der Störung zu identifizieren. Ich drehe die Lautstärke so weit hoch, dass es fast meine Kenwood-Lautsprecher zerreißt.

Bald spielen auch die Spieler nicht mehr weiter. Ich weiß nicht genau, ob das daran liegt, dass sie sich für die laute Musik interessieren, oder daran, dass sie den Spielstand nicht mehr verstehen können. Dann sehe ich den Tennistrainer, Mr. Goodyear, wie er fieberhaft die Fenster absucht. Der Typ ist so steif, dass er sogar am Wochenende eine Fliege trägt. Er lässt sein Klemmbrett fallen und rennt dann im vollen Sprint auf das Wohnheim-Gebäude zu.

Scheiße. Was ich soeben getan habe, ist trotzig, unreif und, am schlimmsten von allem, in seiner Dummheit nicht zu verteidigen. Mir bleiben wahrscheinlich nur 30 Sekunden, um irgendwie einen Ausweg zu finden.

Ich tauche vom Fenster weg, ziehe mich aus, schnappe mein Handtuch, verlasse das Zimmer und renne den Flur hinunter zu den Duschen; die Musik lasse ich weiterplärren und achte bei der Flucht noch darauf, mein Zimmer abzuschließen. Ich bleibe so lange in der Dusche, bis sich mein Puls normalisiert hat, dann trockne ich mich ab und mache mich auf den Weg zurück.

Mr. Fliege wartet vor meiner Tür. Er redet auf einen von den Security-Leuten ein, der an seinem riesigen Schlüsselbund herumfummelt, um den Generalschlüssel für unser Haus zu finden. Goodyear sieht mich kommen und fängt an zu schreien: »Ist das Ihr Zimmer? Öffnen Sie die verdammte Tür!«.

»Sie ist nicht zugeschlossen. Ich schließe nie ab«, sage ich, cool und entspannt. Weil die Lautsprecher nach draußen gerichtet sind, können wir uns gut verstehen – auch wenn die Wände und Böden zittern, als wären wir bei einem Konzert hinter der Bühne. Sobald wir im Zimmer sind, zieht Goodyear den Stecker.

Ich erkläre rasch, dass der Vorfall alle Merkmale eines schlecht durchdachten Streiches hat. Jemand hat offensichtlich ausgenutzt, dass ich vertrauensvoll meine Tür offengelassen habe, während ich in der Dusche war. »Ich weiß nicht, wer das gewesen sein könnte, aber hier spielt jeder jedem Streiche.« Fliege schleicht enttäuscht davon. Er wird noch etwas warten müssen, bis er mich erledigen kann. Überraschenderweise zwinkert der Security-Mann mir zu. Er weiß eben, wer der Boss ist.

Eine der wichtigsten Lektionen für mein Leben bekam ich dann im letzten Jahr meiner Schulzeit. Zwei Englischlehrer hatten meinem Mitbewohner und mir unabhängig voneinander dieselbe Aufgabe gegeben: ein Essay über Beowulf. Was als unschuldige und aufrichtig gemeinte gemeinsame Brainstorming- und Ideenfindungssitzung begann, eskalierte dann bald dahingehend, dass wir uns zusammen über einen Laptop beugten und unsere Ideen gemeinsam festhielten. Das dauerte ein paar Stunden, in denen wir locker plauderten und uns beim Tippen abwechselten. Das Endergebnis war phänomenal.

Eine Woche später aber werde ich schon wieder zum Dekan zitiert. Schon wieder muss ich vor den Disziplinarausschuss, dieses Mal wegen des Vorwurfs des Betrugs, ein Vergehen, das mit Suspendierung bestraft werden kann. Wenn man im letzten Jahr suspendiert wird, muss man die Universitäten, bei denen man sich bewirbt, darüber informieren. Im Prinzip würde das heißen, ich habe verschissen.

Das Urteil lautet 5:0 Stimmen für eine Bewährung für meinen Mitangeklagten und ebenfalls 5:0 für meine Suspendierung. Er ist in zwei Sportarten in der Auswahlmannschaft, ich dagegen bin ein leistungsschwacher Nichtsnutz, der bei der Anhörung nicht mal von seinem eigenen Betreuer unterstützt wurde.

Es gibt keine Gerechtigkeit auf dieser Welt. Das ist eine wichtige Lektion für junge Menschen, vor allem, wenn sie an die Wall Street wollen. Später habe ich gesehen, wie einige der besten Händler und Verkäufer gefeuert wurden, während wertlose Arschlöcher bleiben durften. Wen man kennt, ist genauso wichtig, wie was man weiß; und wie man wahrgenommen wird, ist wichtiger als jede Realität.

Zufällig weiß ich, dass der Schülerdekan, zugleich mein Englischlehrer im Vorjahr, eine Schwäche für mich hat. Also mache ich etwas Ungewöhnliches – ich lege Berufung gegen das einstimmige Urteil ein. Zwingend argumentiere ich, dass es hier um einen Fall von unautorisierter Zusammenarbeit geht, nicht etwa um direktes Betrügen. Am Tag darauf wird meine Suspendierung widerrufen. Soweit ich weiß, war das der erste Fall in der Geschichte des Choate-Internats, in dem eine einstimmige Entscheidung des Disziplinarausschusses wieder aufgehoben wurde.

 

Früher wurden unerwünschte Personen auf Inseln geschickt. Heute muss man selbst eine Insel kaufen, wenn man vor ihnen Ruhe haben will.

Natürlich würde ich meine Haare abrasieren, wenn meine Frau Krebs bekommt. Aber ich höre nicht auf zu trinken, nur weil sie schwanger ist.

Das Einzige, was noch beeindruckender ist als meine Leistungen, ist mein Lebenslauf.

Wenn hinter mir am Geldautomaten eine sexy Frau steht, lasse ich immer die Quittung stecken, damit sie meinen Kontostand sieht.

Nur Neandertaler greifen zu körperlicher Gewalt. Ich zerstöre lieber Seele, Hoffnung oder Ego von Menschen.