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Der Autor

Dr. Franz Ruppert, geboren 1957, ist Professor für Psychologie an der Katholischen Stiftungshochschule München und approbierter Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Er leitet weltweit Weiterbildungen und psychotherapeutische Seminare. Er ist Autor zahlreicher Bücher über Psychotraumata und ihre Folgen, die in viele Sprachen übersetzt sind.

www.franz-ruppert.de

Das Buch

Franz Ruppert beschäftigt sich mit den biologischen, psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten menschlicher Sexualität. Er beschreibt, wie sexuelle Psychotraumata entstehen und welche Folgen sie haben. Sexuelle Traumata zeigen sich in unterschiedlichsten psychischen und physischen Symptomen, unter denen die Betroffenen massiv leiden.

Mit der von Franz Ruppert entwickelten Identitätsorientierten Psychotraumatherapie (IoPT) wird es möglich, sexuelle Psychotraumata mithilfe der »Anliegenmethode« ins Bewusstsein zu bringen und Schritt für Schritt aufzulösen. Sexualität kann dann wieder als kreative Kraft erlebt werden, die Freude und Lust bereitet und zur Entwicklung einer gesunden sexuellen Identität verhilft.

FRANZ RUPPERT

LIEBE, LUST
UND TRAUMA

Auf dem Weg zur
gesunden sexuellen Identität

Kösel

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Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Illustrationen im Innenteil (Abb. 7, 8, 11, 12): Wolfgang Pfau, Baldham;

übrige: Kösel-Verlag, München

Redaktion: Mihrican Özdem, Landau

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24592-4
V001

www.koesel.de

Eine gesunde Psyche unterscheidet
Ich von Du und Wir,
Gegenwart von Vergangenheit,
Realität von Scheinwelten,
Leben von Tod.

INHALT

VORWORT

SEXUALITÄT – EINE NATURKRAFT

Lebenshöhepunkte oder Abgründe?

Warum gibt es Sexualität?

Geschlechtsdimorphismus

Gier nach Sex

Gene weitergeben?

Sexualität und Menschwerdung

Sex und Sexualität

Selbstbefriedigung

Penetration und Lust

Befruchtung und Mutter- und Vaterwerden

SEXUALITÄT UND PSYCHE

Typisch männlich – typisch weiblich?

Sexuelle Vorbilder

Ablösung von Mutter und Vater

Peers und Internet

SEXUALITÄT UND LIEBE

Ursprung der Liebe

Verliebtsein, Sexualität und Partnerschaft

Sexualität und Elternschaft

Familie und Beruf

SEXUALITÄT UND IDENTITÄT

Entwicklung gesunder sexueller Identität: Ich = Ich

Identifikationen: Ich = Du

Identität = Sprache?

Zuschreibungen: Du = Ich

Vergleiche, Abgrenzungen, Konkurrenz: Ich ≠ Du

Ich bin, was ich nicht bin?

Sexuelle Identität

Welche Sexualität ist »normal«?

Künstliche Befruchtung

Transgender

SEXUALITÄT UND GESELLSCHAFT

Sexualität und traditionelle Gesellschaften

Patriarchale Gesellschaften

Matrilineare Gesellschaften

Sexualität und moderne Gesellschaften

Sexualität, Faschismus und Totalitarismus

Sexualität, Kultur und Migration

Sexualtheorien und Gesellschaft

Risiken für die sexuelle Entwicklung

Intersexualität

Psychische Unreife

Ideologien

Sexsucht

Sexualität und grundlegende Interessenskonflikte

Konflikt zwischen Selbsterhalt und Fortpflanzung

Konflikte zwischen Frauen- und Männerinteressen

Konflikte innerhalb der Geschlechter

Konflikte zwischen Eltern- und Kinderinteressen

Konflikte zwischen Geschwistern

Konflikte zwischen verschiedenen Populationen

Konkurrenz oder Kooperation?

SEXUELLES PSYCHOTRAUMA

Die menschliche Psyche

Allgemeine Merkmale eines Psychotraumas

Schwierige Gefühle: Wut, Scham, Stolz und Ekel

Wut

Scham

Stolz

Ekel

Die Psychotrauma-Biografie

Das Trauma der Identität

Das Trauma der Liebe

Trauma durch eigene Täterschaft

Das Trauma der Sexualität

Was ist ein sexuelles Psychotrauma?

Folgesymptome sexueller Traumatisierungen

Selbstverletzendes Verhalten

Essstörungen

Psychische »Krankheiten«?

Gewalt oder Verführung?

Sex als Psychotrauma-Überlebensstrategie

Sexualtrauma-Partnerschaften

Neuinszenierungen

Stalking

Trauma-Täter

Mutterterror

Trauma-Täter-Haltungen

Trauma-Opfer-Haltungen

Täter-Strategien

Der Fall Staufen im Breisgau

Traumatisierte Gesellschaft

Sexuelles Trauma in der Kunst

Sexuelle Traumatisierung von Kindern in Familien

Unmittelbare Reaktionen in der Traumasituation

Trauma-Überlebensstrategien der Kinder

Trauma des gesamten Bindungssystems

Teufelskreis der sexuellen Traumatisierung

IDENTITÄTSORIENTIERTE PSYCHOTRAUMATHERAPIE (IOPT)

Warum Psychotherapie?

Welchen Sinn haben Traumata?

IoPT als Psychotherapieform

Vorbemerkungen

Die Anliegenmethode

Das Anliegen

Reden, um den Schmerz nicht zu fühlen

Praktisches Vorgehen bei der Anliegenmethode

Die therapeutische Haltung

Gruppentherapie

Einzeltherapie

Die Trauma-Biografie von ihren Wurzeln her auflösen

Anschluss ans gesunde Ich finden

Schamgefühle aushalten

Wohin mit der Wut?

Wie Vertrauen fassen?

Konkret werden

Zurück in den Körper

Ich-Sein und konstruktive Partnerschaft

Wie mit den Tätern umgehen?

Therapeutische Arbeit mit Tätern

MEIN PERSÖNLICHES FAZIT

LITERATUR

DER AUTOR

ANMERKUNGEN

VORWORT

Was ist Sexualität? Wofür ist sie gut und wofür nicht? Wann ist Sexualität lustvoll und für die Beteiligten befriedigend? Warum kann sie zum Stressthema Nummer 1 für viele von uns werden? Weshalb kann sie süchtig machen? Wodurch kann Sexualität zu einer Erfahrung werden, die das gesamte Leben eines Menschen zerstört? Warum fühlen sich manche Menschen im eigenen Körper falsch und wollen lieber das andere Geschlecht haben?

Sexualität hat vielfältige biologische, psychologische, soziologische und politische Dimensionen. Sexualität ist nicht nur für jeden Einzelnen von uns und für unsere intimen Beziehungen von erheblicher Bedeutung. Die Stellung der Geschlechter zueinander und die Formen der Reproduktion sind ein wesentlicher Kern gesellschaftlicher Verhältnisse. Sexualität bestimmt letztlich sogar die Weltpolitik.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil in meiner psychotherapeutischen Praxis sexuelle Psychotraumata sehr häufig aufscheinen. Viele Menschen suchen dringend nach Lösungen für dieses hochtabuisierte und schambesetzte Thema. Ich habe mittlerweile das theoretische Hintergrundwissen und eine praktikable Methode entwickelt, um hier unterstützend wirken zu können.

An die Öffentlichkeit gerichtet ist mein Appell, das Phänomen sexuelles Psychotrauma ernst zu nehmen. Es hilft meines Erachtens wenig, weiterhin mit verschwommenen Kategorien wie »Missbrauch« oder »sexualisierte Gewalt« zu operieren. Wir stochern sonst mit unserem Alltagsverstand blind im Nebel herum, moralisieren viel zu viel und arbeiten uns weiter an dem sich auftürmenden Berg von Symptomen ab, statt deren wahre Ursachen zu sehen. Wir werden so weder den Psychotrauma-Opfern gerecht noch begreifen wir die Psychotrauma-Täter und können sie von ihrem endlosen Tun abhalten.

Wir müssen die hochkomplexen Opfer-Täter-Dynamiken in unserer eigenen Psyche verstehen, sonst sind wir ihnen weiterhin hilflos ausgeliefert. Nur so können wir aus Gesellschaften, die ihre Mitglieder fortlaufend traumatisieren, aussteigen und konstruktive Formen des Zusammenlebens entwickeln (Ruppert 2018). Unsere Sexualität ist ein enormes kreatives Potenzial, mit dem wir uns gegenseitig viel Freude und Lust bereiten könn(t)en, wenn wir damit beginnen, sie in der Mehrheit frei von Psychotraumata zu leben.

Ich bin nicht Vater geworden. In meinen frühen Zwanzigern nicht, weil ich die Nase voll hatte vom Wickeln, Fläschchen geben, aufs Töpfchen setzen und Kinderwagen durch das Dorf schieben – das musste ich bei meinen vier Geschwistern ausgiebig tun. Als Ältester hatte ich meine überforderte Mutter zu unterstützen, die aus Geldnot auch noch zum Arbeiten gehen musste. Weg von zu Hause wollte ich meine mühsam errungene Unabhängigkeit nicht gleich wieder für »Familie und Kinder« preisgeben. Ich sah dieses Lebensprogramm, wie ich es bei meinen Eltern und Verwandten miterlebte, nicht als nachahmenswert an.

In meinen späten Zwanzigern wollte ich, ausgestattet mit einem wachsenden kritischen Bewusstsein, keine Kinder in eine Welt setzen, die ich als extrem bedrohlich für mich empfand. Nachdem ich mich persönlich stabilisiert und weiterentwickelt hatte, ich war jetzt in den Vierzigern, versuchte ich es mehrmals, inklusive mit künstlicher Befruchtung, doch noch Vater zu werden. Aber da war es schon zu spät. Es war ein schmerzhafter Prozess, das zu realisieren.

Heute weiß ich: Meine Angst vor eigenen Kindern hatte ihre tieferen Wurzeln darin, dass ich mein erstes Lebensjahr nur mit viel Glück überlebte. Ich war meinen Eltern nicht willkommen und hatte die Zeit im Bauch meiner Mutter nur überlebt, indem ich mich von mir selbst abspaltete. Ich bin bei einem traumatisierenden Geburtsprozess beinahe gestorben. Mein Schreien als Säugling wurde mit Gewalt unterdrückt. Ich wäre fast verhungert, weil ich zu früh abgestillt wurde. Isolation, Einsamkeit und die Unfähigkeit meiner traumatisierten Eltern zu liebevollen Gefühlen hätten mich als Kleinkind fast zum Aufgeben gebracht. So war es mir schließlich auch nicht möglich, meine Sexualität im Rahmen einer gesunden Identität zu entwickeln.

Weil ich ein Mann bin und damit nur ein Geschlecht in- und auswendig kenne, will ich in diesem Buch nicht beanspruchen, zum Thema Sexualität eine neutrale Haltung zu haben, die ich objektiv darstellen könnte. Wiewohl ich mich durchaus als Wissenschaftler verstehe, der ideologiekritisch ist und für den Fakten mehr als bloße Meinungen und Glaubenssätze zählen. Zumindest hoffe ich, von einer wissenschaftlichen Grundhaltung geprägt zu sein. Ich rücke von meinen Fehlannahmen gern ab, wenn ich neue Einsichten gewinne. Oder wenn andere mich von etwas überzeugen, das mir bislang unbekannt war und ich so noch nicht wissen und denken konnte.

Psychologie ist eine Subjektwissenschaft, die von Psychologen gemacht wird. Jedes Subjekt hat seine eigenen blinden Flecken. Als praktizierender Psychotherapeut kann ich zumindest auf eine nicht unerhebliche Anzahl von empirischen Fallstudien mit sexuell traumatisierten Menschen verweisen. Dennoch gilt klar auch für mich: Ich kann meine blinden Flecken beim Thema Sexualität nicht selbst erkennen. Ich brauche dazu die Spiegelung meiner Mitmenschen, den kritischen Diskurs und auch für mich selbst kompetente psychotherapeutische Begleitung. Einmal pro Monat mache ich daher für mich eine Anliegenarbeit, um meiner Identität weiter auf die Spur zu kommen. Um auch meine Sexualität in einer Weise leben zu können, die für mich und andere konstruktive Beziehungen ermöglicht.

Wenn ich in diesem Text die männliche grammatikalische Form verwende, sind immer Männer wie Frauen gemeint, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt. Ebenso sind Menschen gemeint, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen.

München, im Mai 2019

Franz Ruppert

SEXUALITÄT – EINE NATURKRAFT

Lebenshöhepunkte oder Abgründe?

Sexualität ist höchste Lebenslust und Schaffenskraft. Sie kann ebenso zum größten Zerstörungspotenzial eines Menschen ausarten. Sexualität kann uns Menschen zu den emotionalen Höhepunkten unseres Lebens hinführen. Sie kann uns gleichwohl auch in den Abgrund unseres Daseins reißen. Sie kann das Begehrenswerteste und das Gefürchtetste im Leben eines Mannes oder einer Frau sein. Sie kann die Fantasie ins Unermessliche beflügeln und sie kann völlig sprachlos machen. Menschliche Sexualität kann zum Inbegriff des Guten wie des Bösen werden.

Woher kommt diese extreme Spannbreite an Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, Gedanken und Handlungen, wenn es um unsere Sexualität geht? Ist hier eine Naturkraft am Werke, der auch wir Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind? Eine Urgewalt, die wir nie werden zähmen können, weder durch Religion und Moral, noch durch Verfassungen, Gesetze oder unseren Verstand? Sind wir für immer dem Rausch der Sinne, den orgiastischen Entladungen unseres Körpers, seinen unbewussten hormonellen, mikrobiologischen und makromolekularen Abläufen willenlos ausgeliefert? Müssen wir uns mit Vergewaltigungen, sexueller Traumatisierung von Kindern, Prostitution und Pornografie abfinden und das alles für »normal« erklären, um darüber nicht verrückt zu werden?

Wer kennt sich, wenn er die eigene Sexualität nicht versteht? Wenn er von Triebkräften gesteuert wird und Dinge tut, die ihm selbst und anderen Schaden zufügen? Ich habe in den 20 Jahren meiner psychotherapeutischen Tätigkeit mittlerweile verstanden, dass Sexualität den menschlichen Organismus von Anbeginn seines Daseins durchdringt und viele seiner Verhaltensweisen beeinflusst. Ich weiß nun, dass es einer Vielzahl günstiger Entwicklungsvoraussetzungen bedarf, damit sich seine Sexualität in die Identitätsentwicklung eines Menschen integriert, sich nicht verselbstständigt, nicht ins Leere läuft und Tod statt Leben hervorbringt. Ich wurde und werde mit zahllosen Beispielen sexueller Traumatisierungen konfrontiert. Ich habe manches mitgeteilt bekommen, was ich mir zuvor lieber nicht hätte vorstellen mögen. Ich habe gelernt, warum jemand zum Sexualtrauma-Täter wird. Ich verstehe auch, weshalb es Sexualtrauma-Opfern oft nicht gelingt, sich von ihren Tätern zu lösen, sie die Täter sogar lieben und ihnen nachtrauern, wenn sie nicht mehr da sind.

Warum gibt es Sexualität?

Was lebt, entsteht, wächst, vermehrt sich – versucht es zumindest – und vergeht. Leben bringt fortlaufend neues Leben hervor. In der einfachsten Form teilt sich ein Lebewesen (z. B. eine Alge, ein Bakterium, ein Schimmelpilz). Daraus entstehen neue eigenständige Abkömmlinge. Pflanzen vermehren sich durch Sprossungen und Keimlinge. Indem jedes einzelne Lebewesen diesen Daseinszweck verfolgt, wächst die Population solange, bis ihr durch äußere Bedingungen Grenzen gesetzt werden (Verknappung der Energie- und Nahrungsmenge, Änderung des Klimas, Fressfeinde). Ungeschlechtliche Vermehrung ist einfach und unkompliziert. Es bedarf dazu keines zweiten Lebewesens. Es entstehen so »Kinder«, die ihren »Eltern« genetisch gleichen (Klone).

Unter Sexualität verstehen wir die Fortpflanzung durch zwei Geschlechter. Durch den Austausch von Genmaterial zwischen den Eltern entstehen Kinder, die diesen zwar ähnlich, nicht aber mit ihnen identisch sind. So entsteht Individualität, die sich in zweierlei Hinsicht bewährt:

Lebewesen, deren Umwelt sich nur wenig ändert (z. B. die Umwelt der unterirdisch lebenden Nacktmullen) können sich die Vermehrung durch Klonung leisten. Alle höher entwickelten Formen von Lebewesen, die sich in unterschiedlichen Ökosystemen behaupten können, vermehren sich trotz allen Aufwands und nicht unerheblicher Risiken, die damit verbunden sind, geschlechtlich.

Das Ziel, durch sexuelle Vermehrung eine Neukombination von Genen und Chromosomen als den Grundbausteinen des lebendigen Organismus hervorzubringen, führt auch dazu, Sex zwischen nahen Verwandten möglichst auszuschließen. Im Tierreich (z. B. bei den sich wahllos paarenden Bonobos) scheinen immunologische Parameter am Werk, um eine erfolgreiche Befruchtung durch den eigenen Vater oder Bruder zu verhindern. Bei uns Menschen gibt es zusätzlich das Inzesttabu, das den Geschlechtsverkehr zwischen Familienmitgliedern moralisch ächtet. Zudem ist aufgrund der Kenntnisse der Genforschung bekannt, dass Verwandtenehen zu mehr körperlichen wie geistigen Defekten und Behinderungen bei den Kindern führen, weil dann ein defektes Gen des einen Partners nicht durch das gesunde Gen des anderen Partners kompensiert werden kann.

Der Blick auf die Evolution des Lebens zeigt, dass sich das Prinzip Sexualität allmählich herausgebildet hat. Es äußert sich in unterschiedlichen Spielarten und Zwischenformen, z. B. im Zwittertum oder in der Selbstbefruchtung (Wickler und Seibt 1990). Manche Fischarten können ihr Geschlecht abhängig von ihrem Lebensalter und den ökologischen Bedingungen, unter denen sie leben, sogar mehrfach wechseln.

Bei manchen Tierarten, z. B. bei Schildkröten, wird das Geschlecht durch die Wärme festgelegt, mit der die Eier ausgebrütet werden. Bei uns Menschen hingegen wird die Frage »Männchen« oder »Weibchen« durch spezielle Chromosomen in den Keimzellen vorbestimmt. Paaren sich eine Eizelle und ein Spermium mit jeweils einem X-Chromosom, wird daraus eine Frau. Trifft ein Ei mit einem X-Chromosom auf ein Spermium mit einem Y-Chromosom, wird daraus ein Mann. Bis zur sechsten Woche nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle tragen alle neu gezeugten Kinder Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach machen die Gene einen männlichen oder weiblichen Organismus aus ihnen. Ein XY-Chromosomenpaar lässt Hoden, später den Penis wachsen, XX führt zu Eierstöcken und Klitoris. Das SRY-Gen, das sich auf dem Y-Chromosom befindet, bestimmt die Richtung dieser Differenzierung. Das Fehlen von ihm erlaubt es den Keimdrüsen, sich zu Eierstöcken weiterzuentwickeln.1

Einen großen Unterschied macht es, ob sich die befruchteten Eier außerhalb oder innerhalb des Elternkörpers entwickeln. Fischweibchen geben ihre Eier ins Wasser, Fischmännchen sprühen ihre Spermien darauf, und der Laich wird dann in der Regel seinem Schicksal überlassen. Schildkröten vergraben ihre befruchteten Eier im Sand und der Rest wird von der Sonne und den Gezeiten erledigt. Daher kommt es für den Fortpflanzungserfolg vor allem auf die Masse der befruchteten Eier an. Sich selbst überlassen, ist der Nachwuchs leicht eine Beute für andere Lebewesen. Das Prinzip lautet daher hier: viele erzeugen, damit einige wenige überleben.

Vogelarten, die ihre Eier außerhalb des weiblichen Körpers ablegen, müssen hingegen selbst brüten und auch nach dem Schlüpfen der Jungen gemeinsam Brutpflege betreiben, so lange, bis der Nachwuchs flügge ist und das Nest verlässt. Dieser Aufwand reduziert die Anzahl der Jungen, deren Aufzucht ein Elternpaar übernehmen kann. Qualität geht in diesem Fall daher vor Quantität. Auch bei uns Menschen ist es meist der Einling, den eine Mutter austrägt, gebiert und großzieht. Lebend geborene Zwillinge sind die Ausnahme, von zwei befruchteten Eizellen wird oft schon innerhalb der ersten Schwangerschaftstage und -wochen ein Kind vom mütterlichen Organismus unbewusst eliminiert. Die Richtung ist klar: Klasse statt Masse. Zu diesem Trend tragen auch die Maßnahmen zur Reduktion der Säuglingssterblichkeit in einer Gemeinschaft bei. Wenn nahezu jedes Kind überlebt, schränkt das die Anzahl der Geburten pro Frau ein.

Geschlechtsdimorphismus

Biologisch betrachtet, gibt es nur zwei Geschlechter. Das eine Geschlecht, das zum Zwecke der Fortpflanzung auf die Herstellung von »Eiern« spezialisiert ist, wird als »weiblich« bezeichnet. Das andere Geschlecht, das auf die Spermienproduktion festgelegt ist, wird »männlich« genannt. Etwa 400 bis 500 Eizellen können von einer Frau aus ihren beiden Eierstöcken im Laufe ihres Lebens für die Fortpflanzung zur Verfügung gestellt werden, im Durchschnitt je eines pro Monat. Männer hingegen können Millionen von Spermien täglich neu in ihren Hoden produzieren.

Da bei uns Menschen die Eizellen innerhalb der Frau befruchtet werden und der Nachwuchs zwischen 37 und 42 Wochen in deren Bauch heranreift, führt diese äußerst ungleiche Arbeitsteilung in Bezug auf die Vermehrung zu unterschiedlichen weiblichen und männlichen Phänotypen:

Die unterschiedlichen Funktionen von Frauen für die »Kinderpflege« erfordern auch erhebliche psychologische Unterschiede. Frauen müssen sich auf das Kind emotional einstellen können. Sie brauchen Einfühlungsvermögen (Empathie) und viel Liebe für das Kind, damit sich dieses so empfindliche, verletzliche und von seiner Mutter äußerst abhängige Wesen gut entwickeln kann. Denn jeder Mensch ist eine Frühgeburt, die noch mindestens ein Jahr nach der Geburt intensiven Körperkontakt braucht. Männer haben im Prinzip nach dem Zeugungsakt ihre biologische Schuldigkeit getan. Sie sind, zumindest auf der körperlichen Ebene, gleich wieder in der Lage, sich nach einer neuen Geschlechtspartnerin umzusehen. Nur wenn sie sich bewusst dazu entschließen, ihre Funktion als verlässlicher Partner und Vater ernst zu nehmen, erhalten sie durch den Kontakt mit ihrer Partnerin und dem Kind die Chance, auch emotional zu reifen und persönlich zu wachsen (Garstick 2013).

Gier nach Sex

Dort, wo die Vermehrung außerkörperlich stattfindet und keine Brutpflege für den Nachwuchs erforderlich ist, erscheint das Dasein der Männchen und Weibchen wie ein manisches Streben nach Sex, nach möglichst häufigem Geschlechtsverkehr in heftigen Konkurrenzkämpfen mit den Artgenossen. Für den erfolgreichen Sexualakt wird zuweilen das eigene Leben geopfert, wie das Beispiel der Gottesanbeterin, einer Heuschrecke, zeigt, die das Männchen als Proteinzugabe nach der Befruchtung anschließend verspeist (Miersch 2002, S. 114).

Der Sexualakt kann im Tierreich auch ein Gewaltakt sein. So jagen z. B. mehrere Delphinmännchen ein Delphinweibchen und fügen ihm körperliche Wunden zu, um zu ihrem Begattungsziel zu gelangen. Hochranginge Pavianmännchen reiten auch auf rangniederen Männchen auf und penetrieren sie anal. Männchen und Weibchen verhalten sich oft wie Jäger und Gejagte. Weibchen werden von den Männchen wie Siegestrophäen in ihrem Harem gesammelt und überwacht. Diese Form von Sex ist für beide Geschlechter mehr mit Stress als mit Lust verknüpft. Sex und Aggression sind oft gar nicht voneinander zu unterscheiden.

Gene weitergeben?

Die Vorstellung, dass Lebewesen, die sich sexuell vermehren, den Zweck verfolgen, ihre Gene weiterzugeben, halte ich für wenig überzeugend. Denn weder haben die Pflanzen und Tiere nur den Hauch einer Vorstellung davon, was Gene sind. Noch würde das Verlangen nach Paarung so übermächtig sein, wenn nicht unwiderstehliche Lockstoffe (Pheromone), belohnende Hormone (Dopamin, Oxytocin), sexuelle Schlüsselreize und die lustvolle Erregtheit der Geschlechtsorgane den gesamten Organismus in einen rauschhaft-geilen Zustand brächten, der nur im Sexualakt wieder zur Ruhe kommen kann. Für die Tierwelt haben wir dafür Begriffe wie »Brunft«, »Läufigkeit«, »Rausche«. Diese ekstatischen Sinnesempfindungen und der Orgasmus als Anreiz genügen, um nach sexueller Vereinigung zu gieren, koste sie, was sie wolle. Sexueller Kontakt mit einem anderen Lebewesen wird aufgrund dessen zum Wert an sich. Er trägt seine Belohnung in sich selbst. Nachwuchs entsteht daraus zwangsläufig. Wer das nicht will, muss Vorsorge dafür tragen und eine geeignete Form von Empfängnisverhütung erfinden. Auf der unbewussten molekularbiologischen Ebene gibt es diese; bewusst dazu in der Lage sind aber erst höher entwickelte Lebewesen wie wir Menschen.

Lust auf Sex haben und Fortpflanzung sind also schon im Tierreich und nicht erst bei uns Menschen zwei getrennte Realitäten. Die von Evolutionsbiologen aufgestellte Vermutung, es gehe bei der Sexualität vor allem darum, sich möglichst oft zu vermehren, trifft für uns Menschen nicht zu. Zwar gibt es auch bei menschlichen Weibchen wie Männchen den instinktiven Wunsch, sich zu vermehren. Dieser »Kinderwunsch« kann in bestimmten Lebensphasen auch ganz dringlich werden. Doch kämpfen in der Praxis ihres Alltags Frauen vielfach damit, noch nicht oder nicht schon wieder schwanger zu werden. Auch Männer mögen die Vorstellungen haben, Vater möglichst vieler Kinder zu sein. Doch haben sie in der Realität oft Angst davor, Vater zu werden, weil das psychische, moralische und finanzielle Verpflichtungen mit sich bringt, die ihre Kräfte übersteigen. Auch Männer wollen daher nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen Vater werden, wenn sie Sex haben und sie anschließend die Verantwortung für ein daraus entstehendes Kind übernehmen sollen. Viele Männer haben auch Angst davor, dass ihnen eine Frau ein Kind »unterjubelt«.

Kinderreichtum korreliert bekanntlich hoch mit einem niedrigen Bildungsniveau von Frauen und Männern, dem alternativlosen Eingebundensein in kulturelle und religiöse Traditionen, dem Unwissen über Verhütungsmöglichkeiten und dem nicht vorhandenen Zugang zu wirksamen Kontrazeptiva. Völlig irrwitzige Vorstellungen wie »Sex mit einer Jungfrau heilt AIDS« tun ein Übriges, um Kinder in die Welt zu setzen, um die sich dann niemand kümmert. Hinzu kommt, dass auch in den reicheren Ländern vor allem schwer traumatisierte Frauen eher ungewollt schwanger werden, was sich z. B. in Teenager-Schwangerschaften und wiederholten ungeplanten Schwangerschaften von Frauen mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung manifestiert. Ebenso ist festzustellen, dass hoch traumatisierte Männer eher ungewollt Vater werden, weil sie sich der Tragweite ihre Verantwortung für ein Kind nicht bewusst sind. So berichtete z. B. eine Studentin in einem Seminar über einen sexuell traumatisierten Mann, der bereits drei Kinder hatte, für die er mehr recht als schlecht Vater sein konnte. Kaum getrennt von seiner Frau, war er sofort mit einer neuen Partnerin zusammen, die auch gleich von ihm schwanger wurde.

Sexualität und Menschwerdung

Wesentlich für den Übergang von der Biologie der Pflanzen und Tiere hin zum Menschsein erscheint mir, dass Eltern ihre Kinder nicht nur als Objekte betrachten, die austauschbar und wie Gegenstände behandelt werden (z. B. indem man ein neues Kind zeugt, wenn ein anderes stirbt, und ihm den Namen des verstorbenen Kindes gibt). Sobald Kinder als Subjekte gesehen werden, mit ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten, bildet das eine Bewusstseinsschranke dafür, sie in beliebiger Zahl »zu haben« und »großzuziehen«. Daher vollzieht sich die Menschwerdung meines Erachtens als ein fortschreitender Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Subjektivität, die mit Ich- und der Willensbildung einhergeht. Wer sich als Mensch seiner selbst bewusst wird, kann auch andere als Subjekte wahrnehmen und wertschätzen. Wer sich hingegen seiner Bewusstwerdung verweigert und diese Chance nicht nutzt, sofern sie ihm geboten wird, muss sich nicht wundern, wenn er von anderen Menschen auch nur als Objekt behandelt wird. Wer sich selbst als Objekt und von inneren Impulsen getrieben erlebt, wird auch andere wie Objekte behandeln. Wenn sich Männer und Frauen als Subjekte erleben, werden sie sich gegenseitig nicht zu Sexobjekten herabwürdigen. Wenn sich Eltern als Subjekte erleben, auf deren Individualität und Bewusstsein es ankommt, können sie auch bei ihren Kindern deren Einzigartigkeit würdigen, wertschätzen und ihre Identitätsentwicklung fördern (Hüther 2018). So könnten wir Menschen allmählich den Übergang schaffen vom Kampf ums reine Überleben hin zur gemeinsamen Gestaltung eines guten Lebens für Frauen, Männer und Kinder. Das wäre zugleich ein Segen für unsere pflanzliche und tierische Mitwelt.

Sex und Sexualität

Oft wird unter »Sexualität« nur die Betätigung der Geschlechtsorgane oder der Geschlechtsakt (Sex) verstanden. Das ist meines Erachtens zu kurz gegriffen. »Sex machen« oder »Sex haben« ist nur ein Teilaspekt von Sexualität. Ein sexuelles Wesen zu sein, ist das Grundprinzip des gesamten Lebens eines Menschen von Anfang an. Schon im Mutterleib werden die Eierstöcke der nächsten Frauengeneration angelegt, schon dort haben männliche Ungeborene ihre erste Peniserregung. Sämtliche Reifungsvorgänge des menschlichen Organismus haben seine Fortpflanzungsfähigkeit zum Ziel. Ein Mädchen soll eine empfängnisfähige Frau werden, ein Junge ein zeugungsfähiger Mann. Sich mit dem eigenen Geschlecht zu vergleichen (»Wie hübsch oder stark bin ich?«), um das andere Geschlecht zu werben (»Was gefällt dir an mir?«), einen möglichen Geschlechtspartner ins Auge zu fassen und auszuwählen, das alles sind geschlechtsspezifische Verhaltensweisen. Sie prägen das Wahrnehmen, Fühlen, Vorstellen und Denken von Männern wie Frauen oft den ganzen Tag. Weil auch bei uns Menschen die befruchtbaren Eizellen eher rar und ein kostbares Gut, Spermien jedoch in Hülle und Fülle vorhanden sind, herrscht hier, wie oft in der Natur, das schon von Charles Darwin postulierte Prinzip »Damenwahl« vor. Frauen wählen den Geschlechtspartner aus und veranlassen die Männer, ihre Potenz und Virilität durch Körpergröße und Muskelmasse zur Schau zu stellen und in Rangkämpfen mit anderen Männern zu beweisen. Auch die Menschenmänner konkurrieren untereinander und sind im Allgemeinen weniger wählerisch als Frauen, wenn es um die Gelegenheit für Sexualverkehr geht.

Mit dem Einsetzen der körperlichen Geschlechtsreife (Pubertät) wird die Psyche eines Kindes, die wesentlich auf die Eltern hin ausgerichtet ist, bekanntermaßen neu justiert (Kasten 1999). Mit dem Ansturm der Geschlechtshormone im Inneren wird das Außen verstärkt sexualisiert wahrgenommen. Nahezu jeder wird jetzt darauf abgescannt, ob er für einen sexuellen Kontakt infrage kommt.

Während dies für Männer von nun an bis ins hohe Alter gilt und 18- bis 30-jährige Männer unter dem Einfluss von Testosteron geradezu sexbesessen werden können, variiert bei Frauen das sexuelle Begehren in Abhängigkeit vom Menstruationszyklus und ihren fruchtbaren Tagen. Ihr sexuelles Interesse flaut mit zunehmendem Alter eher ab. Durch die Menopause wird ihnen klar, dass sie nun keinen Kinderwunsch mehr realisieren können. Scheidentrockenheit, die mit Alter zunimmt, lässt sie auch vor dem Sexualverkehr zurückschrecken, weil er sehr schmerzhaft werden kann (Tietz 2017). Männer können selbst noch im hohen Alter mit der Vorstellung leben, (noch einmal) Vater zu werden. Da Frauen ältere Männer wegen ihres hohen sozialen Status durchaus attraktiv finden – umgekehrt wollen Männer eher jüngere und gut aussehende Partnerinnen –, ist das nicht grundsätzlich ausgeschlossen.

Jedoch tickt die biologische Uhr nicht nur bei Frauen. Deren Fruchtbarkeit lässt bereits ab dem 35. Lebensjahr deutlich nach. Auch bei Männern nimmt mit steigendem Lebensalter die Qualität der Spermien ab. Die Rate der Fehlmutationen nimmt zu und damit das Risiko, dass die gezeugten Kinder genetisch bedingte Krankheiten aufweisen. Ebenso nimmt die Belastung durch Umweltgifte im Leben eines Menschen zu und beeinflusst die Gesundheit der Ei- wie Spermienzellen. Daher wird es auch durch künstliche Befruchtung immer unwahrscheinlicher, den Kinderwunsch zu erfüllen, je älter die daran beteiligten Männer und Frauen sind.

Selbstbefriedigung

Sexuelle Erregungszustände begleiten die gesamte Entwicklung eines Menschen. Schon bei Säuglingen lässt sich beobachten, dass sie sich durch rhythmische Press- und Schaukelbewegungen selbst stimulieren (Bischof 2014). Sexuelle Selbstbefriedigung (Onanie, Masturbation), also die autonome Entdeckung der eigenen Lustfähigkeit und deren Ausübung, hatte jedoch bis vor Kurzem noch einen schlechten Ruf. Religiöse Moralisten verteufelten sie als »Sünde der Selbstbefleckung« (Metz 2017, S. 224 ff.), mehr aufgeklärte Menschen dichteten ihr schädliche Folgen für das Wachstum und die Sehkraft an und warnten z. B. vor der Gefahr des Rückenmarksschwundes. Der Abscheu vor der Onanie bei Kindern scheint in Amerika im 19. Jahrhundert zur Einführung von männlicher Genitalbeschneidung jenseits religiös begründeter Riten geführt zu haben. »Eine Abhilfe für Masturbation, die bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung […] Die Operation sollte durch einen Chirurgen ohne Betäubung vorgenommen werden, da der damit verbundene Schmerz einen heilsamen Effekt auf den Geist hat, insbesondere wenn er mit der Vorstellung von Bestrafung verbunden ist.« (Kellogg, 1888). Harvey Kellogg hatte auch die brutale Idee, die Klitoris von Mädchen mit Säure zu verätzen.

Auch in sich aufgeklärt gebenden Gesellschaften wird über sexuelle Selbstbefriedigung noch eher schamhaft geschwiegen. Sie wird zwar toleriert, doch schwingt die Besorgnis von einem »Zuviel des Guten« oft mit. Selbstbefriedigung und die selbstbestimmte Lust am eigenen sexuellen Erleben ist zumindest wesentlich besser als

Die Kunst, sich lustvoll selbst zu befriedigen, ist für Hans-Joachim Maaz (2017) die Voraussetzung dafür, gemeinsam mit einem Partner das ganze Terrain der Lust zu erkunden. Doch wie Heike Melzer (2018) in ihrer sexualtherapeutischen Praxis beobachtet, können manche Menschen sich offenbar gar nicht mehr auf einen Partner einlassen, weil sie so ausgeklügelte Wege der Selbststimulation gefunden haben, die ihnen kein anderer Mensch bieten kann. Selbststimulation scheint heutzutage, angestachelt durch das allzeit verfügbare pornografische Material im Internet und raffiniert konstruierte »Womanizer«, Dildos, Vibratoren und Absauggeräte in einem Maße und in einer Intensität zugenommen zu haben, dass nicht wenige sich fragen, wozu sie einen Geschlechtspartner brauchen, wenn es ihnen ohne ihn viel besser und orgiastischer »kommt«. Nicht nur Männer, auch Frauen scheinen immer mehr Gefallen an den kleinen Maschinen zu finden, die ihnen auf Knopfdruck Hyperorgasmen besorgen. Das Geschäft mit der mechanisch erzeugten Lust boomt weltweit. Die Maschinen werden immer menschenähnlicher, und die Menschen, die sie verwenden, ähneln sich in ihren Trauma-Überlebensstrategien immer mehr den von ihnen geschaffenen Sextoys.

Penetration und Lust

Der menschliche Geschlechtsakt ist in seiner Besonderheit bemerkenswert. Ein Teil des männlichen Körpers, der Penis, dringt tief in die weibliche Scheide und damit in den Körper einer Frau ein. Das ist eine massive Grenzüberschreitung. Daher fürchten sich viele Frauen vor der männlichen Sexualität, und viele Männer haben Angst, von Frauen deswegen abgelehnt und zurückgewiesen zu werden. Es bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Frau, damit sie dieses Eindringen in ihren Körper nicht als einen Gewaltakt erlebt. Auch eine anale oder orale Penetration oder ein Zungenkuss sind massive Überschreitungen der körperlichen Grenzen des weiblichen Körpers. Es braucht daher ausdrücklich die Zustimmung der Frau, damit solche Praktiken von ihr nicht als Vergewaltigung empfunden werden.

Zu große Nähe eines anderen Menschen erzeugt normalerweise eine Stressreaktion und Adrenalinausschüttung. Damit geht aggressives Abwehr- oder Schutz suchendes Rückzugsverhalten einher. Im Normalfall sträubt sich bei einem Menschen alles dagegen, einen anderen Menschen oral, genital oder anal in sich eindringen zu lassen. Daher ist der Wunsch von Frauen verständlich, dass der Geschlechtsverkehr als eine Ausnahmesituation von ihnen selbst gewollt und als ein Akt des Miteinanders und der Liebe erlebt wird.

Umso besser also, wenn nicht nur der Mann, sondern auch die Frau beim Sexualakt Freude und Lust empfindet und einen Orgasmus bekommt. Oft werden sexuelle Kontakte erst durch das Vorspiel für beide Partner körperlich tief befriedigend, weil durch den Hautkontakt, das Streicheln, Küssen, das Sich-in-die-Augen-Blicken und Liebkosen Hormone (v. a. Oxytocin) entstehen, die ein Gefühl von Angstfreiheit, Wohlbehagen und Geborgenheit erzeugen. Durch meine eigene sexuelle Lust wecke ich die Lust bei meinem Geschlechtspartner, seine Lust stimuliert wiederum mein Begehren. So nehmen wir uns beide mit auf die Reise, den eigenen und den Körper des anderen immer mehr lustvoll aufzuladen, bis dann im Orgasmus beider Erregungen explodieren, sich auflösen und zu einer wohligen Entspannung führen.

Befruchtung und Mutter- und Vaterwerden

Kommt es durch einen Geschlechtsakt zur Befruchtung, hört die Sexualität für die Beteiligten nicht auf. Männer wollen weiterhin Geschlechtsverkehr. Bei den Frauen hingegen wird dieses Bedürfnis oft schwächer, weil in ihrem gesamten Organismus eine Umorganisation stattfindet, die sie darauf vorbereiten soll, Mutter zu werden. Doch kommt es vermutlich auch hierbei darauf an, wie psychisch gesund oder traumatisiert eine schwanger gewordene Frau ist, ob und wie viel Sex sie weiterhin haben will.

Schwangerschaft, Geburt, dem Neugeborenen die Brust zu geben oder den Hautkontakt mit ihm zu genießen sind ebenfalls zutiefst sexuelle Vorgänge für den weiblichen Körper. Wenn auch der Mann sich psychisch und körperlich auf die Vaterschaft einlässt, kann das für ihn ebenfalls ein Prozess sein, der seine sexuelle Identität dauerhaft verändert und prägt. Muttersein bedeutet Mutterwerden, gleiches gilt für den Vater: Vatersein ist Vaterwerden – körperlich, psychisch und sozial.