Cover

Zum Buch

Im Alter von 16 Jahren wurde Edith Eger 1944 aus ihrem Heimatland Ungarn nach Auschwitz verschleppt. Dort sah sie ihre Mutter in die Gaskammer gehen und musste vor Josef Mengele um ihr Leben tanzen. Es grenzt an ein Wunder, dass Edith die Grauen der Lager überlebte. In den USA baute sie sich ein neues Leben auf und wurde erfolgreiche Psychologin und Therapeutin. Ihr lebensbejahendes Buch ist mehr als die außerordentliche Geschichte einer Holocaust-Überlebenden.

Wie Victor E. Frankl in »… trotzdem Ja zum Leben sagen« weist uns Edith Eger durch ihr persönliches Schicksal und anhand von Beispielen aus ihrer therapeutischen Praxis den Weg, wie wir uns aus unserem inneren Gefängnis befreien können: Wir haben immer die Wahl zu lieben oder zu hassen.

Zur Autorin

DR EDITH EVA EGER ist Psychologin und Therapeutin mit einer Praxis in La Jolla, Kalifornien. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf posttraumatischen Belastungsstörungen. Eger unterrichtet an der University of California, San Diego und ist national und international eine gefragte Rednerin. Sie ist Mutter, Großmutter und Urgroßmutter und lebt in La Jolla.
https://dreditheger.com/

Dr. Edith Eva Eger

mit Esmé Schwall Weigand

In der Hölle tanzen

Wie ich Auschwitz überlebte
und meine Freiheit fand

Aus dem Englischen
von Liselotte Prugger

Für die fünf Generationen meiner Familie:
meinen Vater Lajos, der mich lachen lehrte;
meine Mutter Ilona, die mir finden half,
was ich innerlich brauchte;
meine wunderbaren und unglaublichen
Schwestern Magda und Klara;
meine Kinder Marianne, Audrey und John
und deren Kinder Lindsey, Jordan, Rachel,
David und Ashley
und deren Kindeskinder:
Silas, Graham und Hale

Inhalt

Vorwort

TEIL I – GEFÄNGNIS

EINFÜHRUNG – Ich hatte mein Geheimnis, und mein Geheimnis hatte mich

KAPITEL 1Die vier Fragen

KAPITEL 2Was du in deinen Kopf hineintust

KAPITEL 3In der Hölle tanzen

KAPITEL 4Ein Rad schlagen

KAPITEL 5Die Todesstiege

KAPITEL 6Einen Grashalm aussuchen

TEIL II – FLUCHT

KAPITEL 7Mein Befreier, mein Angreifer

KAPITEL 8Durch ein Fenster hinein

KAPITEL 9Nächstes Jahr in Jerusalem

KAPITEL 10Flucht

TEIL III – FREIHEIT

KAPITEL 11 Tag der Immigration

KAPITEL 12Greener

KAPITEL 13Sie waren dort?

KAPITEL 14Von einem Überlebenden zum anderen

KAPITEL 15Was das Leben erwartete

KAPITEL 16Die Entscheidung

KAPITEL 17Dann gewann Hitler

KAPITEL 18Goebbels’ Bett

KAPITEL 19Einen Stein hinlegen

TEIL IV – HEILEN

KAPITEL 20Der Tanz der Freiheit

KAPITEL 21Das Mädchen ohne Hände

KAPITEL 22Irgendwie teilt sich das Meer

KAPITEL 23Der Tag der Befreiung

Danksagung

Personenregister

Ortsregister

Über die Autorin

Vorwort

VON PHILIP ZIMBARDO, PHD

An einem Tag im Frühling bestieg Dr. Edith Eva Eger auf Einladung des Chefpsychiaters der U.S. Marine einen fensterlosen Kampfjet, der sie auf eines der weltgrößten Kriegsschiffe, den vor der kalifornischen Küste liegenden Flugzeugträger USS Nimitz brachte. Der Jet stieß auf eine winzige, nicht einmal zweihundert Meter lange Rollbahn hinunter und landete mit einem Ruck, als sein Fanghaken das Bremsseil erfasste, das verhindert, dass der Jet ins Meer schlittert. Dr. Eger, die einzige Frau auf dem Schiff, wurde zu ihrer Kajüte in der Kabine des Kapitäns begleitet. Was war ihre Mission? Sie war gekommen, um fünftausend jungen Marinesoldaten zu zeigen, wie sie mit den Widrigkeiten, dem Trauma und dem Chaos in Kriegen umgehen.

Bei zahllosen Gelegenheiten war Dr. Eger die klinische Expertin, die hinzugezogen wurde, um Soldaten, darunter auch Sondereinsatzkräfte, zu behandeln, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung und traumatischen Hirnverletzungen leiden. Wie konnte es sein, dass diese sanfte Großmutter so vielen Militärangehörigen half, Heilung von der seelischen Brutalität des Krieges zu finden?

Bevor ich Dr. Eger persönlich traf, rief ich sie an und lud sie ein, einen Gastvortrag in meinem Psychology of Mind Control-Seminar in Stanford zu halten. Angesichts ihres fortgeschrittenen Alters und ihres Akzents hatte ich sie mir als eine Babuschka der alten Welt mit unter dem Kinn gebundenem Kopftuch vorgestellt. Als sie zu meinen Studenten sprach, spürte auch ich ihre heilenden Kräfte. Mit ihrem strahlenden Lächeln, den funkelnden Ohrringen, dem glänzenden, goldblonden Haar, von Kopf bis Fuß in Chanel gekleidet (wie ich später von meiner Frau erfuhr), stand sie auf dem Podium und erzählte von den schrecklichen und grauenhaften Erinnerungen an ihren Überlebenskampf in den Nazi-Todeslagern mit Humor, mit ihrer optimistischen und quirligen Art und mit einer Präsenz und Wärme, die ich nur als reines Licht beschreiben kann.

In Dr. Egers Leben gab es unendlich viele dunkle Phasen. Sie wurde in Auschwitz interniert, als sie noch ein Teenager war. Trotz Folter, Hunger und der ständig drohenden Gefahr der Vernichtung bewahrte sie sich ihre mentale und spirituelle Freiheit. Sie zerbrach nicht an dem Grauen, das sie erlebte; sie ging daraus vielmehr ermutigt und gestärkt hervor. Ihre Weisheit gründet tief in diesen schrecklichsten Episoden ihres Lebens.

Sie kann anderen helfen, Heilung zu finden, denn sie selbst hat den Weg von Trauma zu Triumph zurückgelegt. Sie hat entdeckt, wie sie ihre Erfahrungen mit der menschlichen Grausamkeit nutzen kann, um vielen anderen Menschen Kraft zu geben – angefangen bei Armeeangehörigen, wie jenen an Bord der USS Nimitz, über Paare, die darum kämpfen, ihre Vertrautheit wiederzuerlangen, und jene, die vernachlässigt oder misshandelt wurden, bis hin zu jenen, die an Sucht oder Krankheit leiden. Von jenen, die geliebte Menschen verloren haben, bis hin zu jenen, die die Hoffnung verloren haben. Und uns alle, die wir an den alltäglichen Enttäuschungen und Herausforderungen des Lebens leiden, ermutigt ihre Botschaft, selbst Entscheidungen zu treffen, um uns von unseren Qualen zu befreien – um unser eigenes inneres Licht zu finden.

Als sie ihre Vorlesung beendet hatte, sprangen sämtliche meiner dreihundert Studenten zu einer spontanen Standing Ovation von ihren Sitzen. Danach stürmten mindestens hundert junge Männer und Frauen die kleine Bühne und reihten sich ein, um dieser außergewöhnlichen Frau zu danken und sie zu umarmen. In den vielen Jahrzehnten, die ich nun schon lehre, habe ich noch nie eine so begeisterte Studentengruppe erlebt wie an jenem Tag.

In den zwanzig Jahren, die Edie und ich nun schon zusammen arbeiten und reisen, habe ich gelernt, diese Reaktion von jedem Publikum auf der Welt zu erwarten, vor dem sie spricht. Das gilt für den »runden Tisch für Helden«, dem Hero Round Table in Flint, Michigan, wo wir vor einer Gruppe junger Menschen in einer Stadt sprachen, die mit großer Armut, fünfzig Prozent Arbeitslosigkeit und wachsenden Rassenkonflikten kämpft. Und das gilt auch für Budapest, die Stadt, in der viele von Edies Verwandten ums Leben gekommen sind und wo sie vor Hunderten Menschen sprach und versuchte, auf einer schwer belasteten Vergangenheit wieder aufzubauen. Ich habe es immer wieder erlebt: In Edies Anwesenheit werden die Menschen verwandelt.

Im vorliegenden Buch verwebt Dr. Eger die Geschichten über die Verwandlung ihrer Patienten mit ihrer eigenen, unvergessenen Geschichte als Auschwitz-Überlebende. Während die Geschichte ihres Überlebens genauso packend und dramatisch ist wie alle Berichte, die dazu schon geschrieben wurden, ist es nicht nur ihre Geschichte, die meine Leidenschaft geweckt hat, dieses Buch in der Welt bekannt zu machen. Es ist die Tatsache, dass Edie ihre Erfahrungen dazu benutzt, so vielen Menschen dabei zu helfen, wirkliche Freiheit zu entdecken. Und deshalb ist ihr Buch viel mehr als eine weitere Erinnerung an die Shoah, so wichtig solche Dokumente für die Vergangenheitsbewältigung auch sind. Ihr Ziel ist nichts Geringeres, als uns allen zu helfen, aus den Kerkern unserer eigenen Köpfe auszubrechen. Auf die eine oder andere Art sind wir alle mental gefangen, und Edies Mission ist es, uns zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass wir genauso, wie wir als unsere eigenen Kerkermeister agieren, auch unsere eigenen Befreier sein können.

Wenn Edie jungen Zuhörern vorgestellt wird, nennen die Leute sie oft »die Anne Frank, die nicht gestorben ist«, denn Edie und Anne waren etwa im gleichen Alter und kamen aus ähnlichen Verhältnissen, als sie in die Lager deportiert wurden. Beide junge Frauen bewahrten ihre Unschuld und ihr Mitgefühl, die sie trotz der Grausamkeit und der Verfolgung, die sie erleben mussten, an das grundsätzlich Gute im Menschen glauben ließen. Natürlich hatte Anne Frank, als sie ihr Tagebuch schrieb, das unsägliche Elend in den Lagern noch vor sich, und das macht Edies Erkenntnisse als Überlebende und als Klinikerin (sowie als Urgroßmutter!) besonders bewegend und fesselnd.

Dr. Egers Buch enthüllt sowohl die dunkelste Seite des Bösen als auch die unbeugsame Stärke des menschlichen Geistes im Angesicht des Bösen. Aber es macht auch noch etwas anderes. Am besten lässt sich Edies Buch vielleicht mit einer anderen Erinnerung an die Shoah vergleichen: Mit Viktor Frankls brillantem Klassiker …trotzdem Ja zum Leben sagen. Dr. Eger teilt Frankls Profundität und sein tiefes Wissen über Humanität, fügt dem aber noch die Wärme und Vertrautheit einer langjährigen Klinikärztin hinzu. Viktor Frankl stellt die Psychologie von Gefangenen vor, die mit ihm in Auschwitz waren. Dr. Eger bringt uns die Psychologie der Freiheit nahe.

Im Rahmen meiner eigenen Arbeit habe ich mich ausführlich mit den psychologischen Grundlagen negativer Arten gesellschaftlicher Einflussnahme beschäftigt. Ich wollte die Mechanismen verstehen, aufgrund derer wir uns anpassen und gehorchen und selbst dann in Situationen ausharren, wenn wir Frieden und Gerechtigkeit nur erlangen können, wenn wir einen anderen Weg wählen: wenn wir heldenhaft handeln. Edie hat mir geholfen zu erkennen, dass Heldentum nicht nur das Vorrecht derjenigen ist, die außerordentliche Taten vollbringen oder impulsiv Risiken auf sich nehmen, um sich selbst oder andere zu beschützen – obgleich Edie beides getan hat. Heldentum ist vielmehr eine Geisteshaltung oder ein Akkumulieren unserer persönlichen und sozialen Gewohnheiten. Es ist eine Art zu sein. Und es ist eine besondere Art, uns zu sehen. Um ein Held zu sein, ist es notwendig, an wichtigen Kreuzungspunkten unseres Lebens aktiv den Versuch zu unternehmen, Ungerechtigkeiten zu thematisieren oder einen positiven Wandel auf der Welt herbeizuführen. Um ein Held zu sein, bedarf es großen, moralischen Mutes. Und in jedem von uns wohnt ein Held, der nur darauf wartet, in Aktion zu treten. Wir sind alle »Helden in Ausbildung«. Unsere Ausbildung zum Helden ist das Leben, sind die täglichen Begebenheiten, die es uns ermöglichen, das zu tun, was einen Helden ausmacht: täglich gute Taten vollbringen; Mitgefühl ausstrahlen, was mit Selbstmitgefühl beginnt; das Beste aus anderen und aus uns herausholen; Liebe bewahren, auch in unseren schwierigsten Beziehungen; die Kraft unserer mentalen Freiheit loben und ausüben. Edie ist eine Heldin – und noch mehr als das, denn sie lehrt jeden von uns, zu wachsen und sinnvolle und anhaltende Veränderungen in uns selbst zu bewirken, in unseren Beziehungen und in unserer Welt.

Vor zwei Jahren reisten Edie und ich zusammen nach Budapest, in die Stadt, in der ihre Schwester lebte, als die Nazis begannen, ungarische Juden zusammenzutreiben. Wir besuchten eine jüdische Synagoge, deren Innenhof ein Denkmal für den Holocaust ist, an den Wänden Fotos aus der Zeit vor, während und nach dem Krieg. Wir besuchten das Denkmal »Schuhe am Donauufer« zum Gedenken an die Menschen – darunter auch Familienmitglieder von Edie –, die im Zweiten Weltkrieg von den Militaristen der faschistischen Pfeilkreuzler ermordet wurden: Man hat sie gezwungen, sich ans Ufer zu stellen und die Schuhe auszuziehen. Dann wurden sie erschossen, ihre Körper fielen ins Wasser und wurden von der Strömung davongetragen. Die Vergangenheit war fühlbar an diesem Ort.

Im Lauf des Tages wurde Edie immer stiller. Ich fragte mich, ob es nach dieser emotionalen Reise, die mit Sicherheit schmerzliche Erinnerungen heraufbeschworen hatte, für sie schwierig sein würde, am selben Abend vor sechshundert Zuhörern zu sprechen. Aber als sie auf die Bühne kam, leitete sie ihren Vortrag nicht mit einer Geschichte über Angst, Trauma oder Entsetzen ein, dem Thema, das unser Besuch für sie vermutlich allzu deutlich hatte aufleben lassen. Sie begann mit einer Geschichte über Freundlichkeit, über eine alltägliche Heldentat, die es, wie sie uns erinnerte, sogar in der Hölle gab. »Ist es nicht erstaunlich?«, sagte sie. »Das Schlimmste fördert das Beste in uns zutage.«

Am Ende ihrer Rede, die sie wie nach jedem Vortrag mit einem hohen Kick beendete, rief Edie ins Publikum: »Und nun lasst uns alle tanzen!« Alle Zuschauer erhoben sich. Hunderte Menschen liefen auf die Bühne. Es gab keine Musik. Aber wir tanzten. Wir tanzten, sangen, lachten, umarmten uns und feierten das unvergleichliche Fest des Lebens.

Dr. Eger gehört zur schwindenden Zahl von Überlebenden, die noch aus erster Hand Zeugnis über das Grauen in Konzentrationslagern ablegen können. Ihr Buch erzählt von der Hölle und von Traumata, die sie und andere Überlebende während des Krieges und danach durchgestanden haben. Und es ist eine weltumspannende Botschaft der Hoffnung und der Chancen für alle, die versuchen, sich von Qualen und von Leid zu befreien. Ob gefangen in schlechten Ehen, zerstörerischen Familien oder ungeliebten Jobs oder mental eingesperrt im Stacheldrahtkäfig selbstlimitierender Überzeugungen, werden Leser aus diesem Buch lernen, dass sie sich unabhängig von ihren persönlichen Lebensumständen für Lebensfreude und Freiheit entscheiden können.

Ich bin hier, und alles ist jetzt ist eine außergewöhnliche Chronik des Heldentums und der Heilung, der Widerstandskraft und des Mitgefühls, des Überlebens mit Würde, der mentalen Belastbarkeit und moralischen Courage. Wir alle können aus Dr. Egers beeindruckenden Fällen und aus ihrer packenden persönlichen Geschichte lernen, Heilung für unser eigenes Leben zu finden.

San Francisco, Kalifornien

Januar 2017

Phil Zimbardo, Psychologe und emeritierter Professor an der Stanford University, hat das berühmte Stanford-Gefängnis-Experiment durchgeführt (1971) und ist Autor vieler beachtenswerter Bücher, unter ihnen Der Luzifer Effekt: Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen (2007), New-York-Times-Bestseller und Gewinner des William-James-Preises. Er ist Gründer und Vorsitzender des Heroic Imagination Projects.

TEIL I

GEFÄNGNIS

EINFÜHRUNG

Ich hatte mein Geheimnis, und mein Geheimnis hatte mich

Ich wusste nichts von der geladenen Waffe unter seinem Hemd, aber in dem Moment, in dem Hauptmann Jason Fuller an einem Tag im Sommer 1980 meine Praxis in El Paso betrat, spürte ich einen Kloß im Hals und ein Kribbeln im Nacken. Im Krieg hatte ich gelernt, Gefahren zu erahnen, noch bevor ich erklären konnte, was der Grund für mein mulmiges Gefühl war.

Jason war hochgewachsen, mit der sehnigen Figur eines Athleten, doch sein Körper war so steif, dass er eher marionettenhaft als menschlich wirkte. Seine blauen Augen waren abwesend, sein Kinn wie festgezurrt, und er wollte – oder konnte – nichts sagen. Ich steuerte ihn zur weißen Couch in meiner Praxis. Er saß angespannt da und presste die Fäuste auf die Knie. Ich hatte Jason noch nie gesehen und keine Vorstellung, was seinen katatonischen Zustand ausgelöst hatte. Er saß kaum eine Armlänge von mir entfernt, seine Seelenqual war offensichtlich, und doch war er weit weg, verloren. Anscheinend bemerkte er nicht einmal meinen silbernen Königspudel Tess, der wachsam neben meinem Schreibtisch stand – die zweite lebende Statue im Raum.

Ich holte tief Luft und überlegte, wie ich beginnen sollte. Manchmal beginne ich eine erste Sitzung damit, dass ich mich vorstelle und kurz über meine Vergangenheit und meine Herangehensweise spreche. Manchmal komme ich direkt auf den Punkt und identifiziere und untersuche die Gefühle, die den Patienten in meine Praxis geführt haben. Bei Jason hielt ich es für wichtig, ihn nicht mit zu vielen Informationen zu überfordern oder ihn zu bitten, sich zu schnell zu öffnen. Er hatte vollkommen dichtgemacht. Ich musste einen Weg finden, ihm die Sicherheit und die Zugewandtheit zu vermitteln, die er brauchte, um das Risiko einzugehen, mir das zu zeigen, was er so sorgsam verborgen hielt. Und ich musste auf die Warnsignale meines Körpers achten, ohne zuzulassen, dass mein siebenter Sinn für Gefahr meine Fähigkeit zu helfen überlagerte.

»Wie kann ich Ihnen von Nutzen sein?«, fragte ich.

Er gab keine Antwort. Er blinzelte nicht einmal. Er erinnerte mich an eine zu Stein verwandelte Figur in einer Sage oder einem Volksmärchen. Welcher Zauberspruch konnte ihn wohl erlösen?

»Warum jetzt?«, fragte ich. Das war meine Geheimwaffe. Die Frage, die ich meinen Patienten bei ihrem ersten Besuch immer stelle. Ich muss wissen, was sie motiviert, sich zu ändern. Warum wollen sie ausgerechnet heute mit mir zu arbeiten anfangen? Warum ist heute anders als gestern oder letzte Woche oder letztes Jahr? Warum ist heute anders als morgen? Manchmal schieben uns unsere Seelenqualen, und manchmal zieht uns unsere Hoffnung. Mit »Warum jetzt?« stellen wir nicht nur eine Frage – wir fragen nach allem.

Eines seiner Augen zuckte und schloss sich kurz. Aber er sagte nichts.

»Erzählen Sie mir, weshalb Sie hier sind«, ermunterte ich ihn abermals.

Er sagte immer noch nichts.

Mein Körper spannte sich an, als eine Welle der Ungewissheit über ihn hinwegrollte und ich mir des heiklen und wichtigen Scheidewegs bewusst wurde, an dem wir uns befanden: zwei Menschen, die einander gegenübersaßen, beide angreifbar, beide bereit zum Risiko, eine Seelenqual zu benennen und einen Weg zur Heilung zu finden. Jason war nicht auf dem üblichen Weg zu mir überwiesen worden. Anscheinend hatte er sich aus eigenem Antrieb entschlossen, meine Praxis aufzusuchen. Aber ich wusste aus meiner eigenen klinischen und persönlichen Erfahrung, dass selbst dann, wenn jemand sich entschließt, Heilung zu finden, es sein kann, dass die Blockade sich noch über Jahre hinzieht.

Falls es mir nicht gelingen sollte, zu ihm durchzudringen, hatte ich angesichts der ernsten Symptome, die er aufwies, nur die Wahl, ihn an meinen Kollegen Dr. Harold Kolmer, Chefpsychiater am William Beaumont Army Medical Center, zu verweisen, wo ich meine Doktorarbeit gemacht hatte. Er würde Jasons Katatonie diagnostizieren, ihn stationär aufnehmen und ihm vermutlich Haldol oder ein anderes antipsychotisches Medikament verabreichen. Ich stellte mir Jason mit immer noch glasigen Augen in einem Krankenhauskittel vor, sein Körper nun vollends von Muskelkrämpfen blockiert und geplagt, die oft als Folge der gegen Psychosen eingesetzten Medikamente auftreten. Ich vertraue der Expertise meiner Kollegen in der Psychiatrie voll und ganz, und ich bin für die medikamentöse Behandlung dankbar, die Leben rettet. Aber ich wehre mich gegen eine voreilige stationäre Behandlung, solange noch die Chance auf eine erfolgreiche therapeutische Intervention besteht. Hätte ich Jason einen stationären Aufenthalt mit medizinischer Behandlung empfohlen, ohne vorher andere Optionen erwogen zu haben, stand zu befürchten, dass er die eine Starre gegen eine andere eintauschte, starre Gliedmaßen gegen unwillkürliche Dyskinäsie-Bewegungen – unkoordinierte, ruckartige Abläufe wiederkehrender Tics und Bewegungen, wenn das Nervensystems das Signal an den Körper schickt, sich zu bewegen, ohne dass das Gehirn den Befehl dazu gibt. Seine Qualen, was immer sie ausgelöst haben mochte, konnten von den Medikamenten stummgeschaltet, aber nicht behoben werden. Er mochte sich besser fühlen oder auch weniger empfinden – was wir oft als Besserung missverstehen –, aber er wäre nicht geheilt.

Was jetzt?, fragte ich mich, während die Minuten sich endlos dahinschleppten und Jason stocksteif auf meiner Couch saß – freiwillig zwar, aber immer noch eingekerkert. Ich hatte nur eine Stunde zur Verfügung. Nur eine Chance. Konnte ich zu ihm durchdringen? Konnte ich ihm helfen, sein Potenzial für Gewalt aufzulösen, die Gewalt, die ich so deutlich spürte wie die Luft der Klimaanlage auf meiner Haut? Konnte ich ihm helfen zu erkennen, dass er unabhängig von seinem Problem oder seiner Qual den Schlüssel zu seiner eigenen Freiheit bereits in Händen hielt? Damals konnte ich noch nicht wissen, dass Jason, falls ich an ebenjenem Tag nicht zu ihm durchgedrungen wäre, ein viel schlimmeres Schicksal als ein Krankenzimmer ereilt hätte – ein Leben in einem wirklichen Gefängnis und dort vermutlich im Todestrakt. Damals wusste ich nur, dass ich es versuchen musste.

Als ich Jason betrachtete, war mir klar, dass ich keine gefühlsbetonte Sprache wählen durfte, wenn ich ihn erreichen wollte; ich musste eine Sprache wählen, die einem Armeeangehörigen angenehmer und vertrauter ist. Ich würde Befehle erteilen. Ich spürte, dass es nur eine Hoffnung gab, seine Sperre zu lösen: Ich musste seinen Kreislauf in Schwung bringen.

»Wir gehen spazieren«, sagte ich. Ich fragte nicht. Ich gab ihm den Befehl. »Wir werden mit Tess in den Park gehen, Hauptmann Fuller. Jetzt sofort.«

Panik huschte über sein Gesicht. Da war eine Frau, eine Fremde mit ausgeprägtem ungarischen Akzent, die ihm sagte, was er zu tun hatte. Ich sah, wie er um sich blickte und sich fragte: »Wie komme ich hier raus?« Aber er war ein guter Soldat. Er stand auf.

»Ja, Ma’am«, sagte er. »Ja, Ma’am.«

Schon bald sollte ich den Ursprung von Jasons Trauma entdecken, und er sollte entdecken, dass wir trotz unserer offensichtlichen Unterschiede auch vieles gemeinsam hatten. Wir hatten beide Gewalterfahrung. Und wir wussten beide, wie es sich anfühlte zu erstarren. Auch ich trug eine Wunde mit mir herum, einen Schmerz, so abgrundtief, dass ich viele Jahre überhaupt nicht darüber sprechen konnte. Mit niemandem.

Meine Vergangenheit verfolgte mich noch immer; ein banges, benommenes Gefühl, immer, wenn ich Sirenen hörte, schwere Schritte oder laute Männerstimmen. Das ist ein Trauma, hatte ich gelernt: ein fast ständiges Gefühl im Bauch, dass etwas nicht stimmt oder dass gleich etwas Schreckliches passiert, automatische Angstreaktionen in meinem Körper, die mich auffordern, wegzurennen, Schutz zu suchen oder mich vor der allgegenwärtigen Gefahr zu verstecken. Mein Trauma kann bei alltäglichen Ereignissen immer noch aufleben. Ein plötzlicher Anblick, ein bestimmter Geruch kann mich in die Vergangenheit versetzen. An dem Tag, an dem ich Hauptmann Fuller kennenlernte, war es mehr als dreißig Jahre her, seit ich aus dem Konzentrationslager des Holocaust befreit worden war. Heute sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Was geschehen ist, kann niemals vergessen und niemals geändert werden. Aber im Lauf der Zeit habe ich gelernt, dass ich selbst entscheiden kann, wie ich auf die Vergangenheit reagiere. Ich kann mich elend fühlen, oder ich kann hoffnungsvoll sein – ich kann niedergeschlagen sein oder glücklich. Diese Wahl haben wir immer, diese Möglichkeit der Kontrolle. Ich bin hier, und alles ist jetzt, das habe ich gelernt, mir immer wieder vorzusagen, bis das panische Gefühl allmählich abebbt.

Immer wieder stoße ich auf Ratschläge wie diesen: Wenn dich etwas stört oder ängstigt, dann sieh nicht hin. Beschäftige dich nicht damit. Geh ihm aus dem Weg. Und so verweigern wir uns vergangenen Verletzungen und Entbehrungen oder aktuellen Unannehmlichkeiten und Konflikten. Einen großen Teil meines Erwachsenenlebens war ich davon ausgegangen, dass ich die Gegenwart nur durchstehen konnte, wenn ich die Vergangenheit und ihre Schrecknisse unter Verschluss hielt. In meinen ersten Jahren als Immigrantin in Baltimore in den 1950er-Jahren wusste ich nicht einmal, wie man Auschwitz auf Englisch ausspricht. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht erzählen wollen, dass ich dort gewesen bin. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte nicht, dass jemand es wusste.

Ich wollte nichts weiter als ein waschechter Yankee sein. Und akzentfrei Englisch sprechen. Und die Vergangenheit totschweigen. Aus meiner Sehnsucht heraus, dazuzugehören, aus meiner Angst heraus, die Vergangenheit könnte mich überwältigen, setzte ich alles daran, meine schlimmen Erlebnisse unter Verschluss zu halten. Ich hatte noch nicht erkannt, dass mein Schweigen und meine Sehnsucht nach Akzeptanz – beides gegründet auf Furcht – eine Art Flucht vor mir selbst waren. Und dadurch, dass ich beschlossen hatte, mich nicht mit der Vergangenheit und mit mir selbst auseinanderzusetzen, hatte ich auch Jahrzehnte nach meiner eigentlichen Befreiung beschlossen, immer noch nicht frei zu sein. Ich hatte mein Geheimnis, und mein Geheimnis hatte mich.

Der katatonische Armeeangehörige, der unbeweglich auf meiner Couch saß, erinnerte mich an das, was ich irgendwann entdeckt hatte: Wenn wir unsere Wahrheiten und Geschichten dazu verdammen, verborgen zu bleiben, dann können unsere Geheimnisse selbst zum Trauma, zu unserem Gefängnis werden. Denn statt unsere Qualen zu verringern, geschieht Folgendes: Wenn wir uns die Möglichkeit versagen, anzunehmen, was immer es sein mag, dann wird es sich als genauso ausbruchssicher wie Gefängnismauern und stählerne Gitter erweisen. Wenn wir uns nicht zugestehen, unsere Verluste, Wunden und Enttäuschungen zu betrauern, sind wir dazu verurteilt, sie immer neu zu durchleben.

Freiheit finden wir nur, wenn wir lernen, das Geschehene anzunehmen. Freiheit bedeutet, dass wir den Mut aufbringen müssen, das Gefängnis Stein für Stein abzureißen. Schlimme Dinge, das ist leider so, passieren jedem von uns. Das ist nicht zu ändern. Wenn Sie Ihre Geburtsurkunde ansehen: Steht da etwa, dass Ihr Leben einfach sein wird? Nein. Aber so viele von uns verheddern sich in einem Trauma oder einer Trauer, unfähig, das Leben in seiner Fülle zu genießen. Das können wir ändern.

Kürzlich wartete ich am Kennedy Airport auf meinen Heimflug nach San Diego und studierte die Gesichter aller Vorbeikommenden. Das, was ich sah, bewegte mich tief. Ich sah Langeweile, Wut, Anspannung, Sorge, Verwirrung, Entmutigung, Enttäuschung, Traurigkeit und, was mich am meisten beunruhigte: Leere. So wenig Freude und lachende Gesichter zu sehen, machte mich traurig. Selbst die langweiligsten Augenblicke in unserem Leben sind Gelegenheiten, Hoffnung, Auftrieb, Glück zu erfahren. Alltagsleben ist auch Leben. Und auch qualvolles und anstrengendes Leben ist Leben. Warum strengen wir uns so oft an, uns lebendig zu fühlen, oder weigern uns, das Leben in seiner Fülle zu spüren? Warum ist es eine solche Herausforderung, Leben ins Leben zu bringen?

Sollten Sie mich nach der häufigsten Diagnose bei den Menschen, die ich behandle, fragen, würde ich nicht Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung an die erste Stelle setzen. Obgleich diese Beschwerden unter den Patienten, die ich kennenlernte, die ich mochte und denen ich den Weg in die Freiheit wies, nur allzu üblich sind. Nein, ich würde sagen, es ist Hunger. Wir sind hungrig. Wir sind hungrig nach Anerkennung, Zuwendung, Zuneigung. Wir sind hungrig nach der Freiheit, das Leben anzunehmen, hungrig danach, uns wirklich zu kennen und wir selbst zu sein.

Meine eigene Suche nach Freiheit und meine jahrelange Erfahrung als approbierte klinische Psychologin haben mich gelehrt, dass Leid universell ist. Aber unsere Opferrolle ist selbstgemacht. Es gibt einen Unterschied zwischen Viktimisierung und Opferrolle. Im Lauf unseres Lebens ist es gut möglich, dass wir alle auf die eine oder andere Weise viktimisiert werden. Irgendwann werden wir aufgrund von Begleitumständen, Menschen oder Institutionen, über die wir wenig oder keine Kontrolle haben, an einem Kummer, einem Schicksalsschlag oder an einem Missstand leiden. Das ist das Leben. Und das ist Viktimisierung. Sie kommt von außen. Es ist der Rüpel aus der Nachbarschaft, der Chef, der tobt, der Ehepartner, der schlägt, der geliebte Mensch, der betrügt, das diskriminierende Gesetz oder der Unfall, der uns ins Krankenhaus bringt.

Im Gegensatz dazu kommt die Opferrolle von innen. Niemand außer Ihnen selbst kann Sie zu einem Opfer machen. Wir werden zum Opfer nicht durch das, was uns passiert, sondern dann, wenn wir an unserer Viktimisierung festhalten. Wir entwickeln eine Opfermentalität – eine Art, zu denken und zu sein, die unbeugsam ist, anklagend, pessimistisch, in der Vergangenheit festgefahren, unversöhnlich, strafend und ohne gesunde Beschränkungen oder Grenzen. Wenn wir beschließen, in den Mauern unserer Opfermentalität zu bleiben, werden wir zu unserem eigenen Kerkermeister.

Eines möchte ich unbedingt klarstellen: Wenn ich über Opfer und Kämpfernaturen spreche, schiebe ich den Opfern keine Schuld zu, denn so viele von ihnen hatten nie eine Chance. Ich könnte niemals diejenigen Menschen beschuldigen, die auf direktem Weg in die Gaskammern geschickt wurden oder die auf ihrer Pritsche starben, auch nicht diejenigen, die sich in die elektrisch geladenen Stacheldrahtzäune warfen. Ich trauere um alle Menschen, die dazu verurteilt sind, in einer Welt von Gewalt und Zerstörung zu leben. Ich lebe dafür, anderen angesichts der unterschiedlichsten Schicksalsschläge den Rücken zu stärken.

Ich möchte auch sagen, dass Leiden nicht hierarchisch eingeordnet werden kann. Es gibt nichts, was mein Leid schlechter oder besser macht als ein anderes, kein Diagramm, mit dem wir die relative Bedeutung eines Kummers versus eines anderen darstellen könnten. Manchmal höre ich: »Momentan setzt mir mein Leben ziemlich zu, aber ich darf mich nicht beklagen: Es ist nicht Auschwitz.« Ein solcher Vergleich kann uns dazu bringen, unseren eigenen Kummer zu bagatellisieren oder kleinzureden. Um eine Kämpfernatur, ein starker Mensch zu sein, ist es erforderlich, das, was war, und das, was ist, ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wenn wir unsere Seelenqualen schmälern oder uns dafür bestrafen, dass wir uns verloren oder isoliert fühlen, oder wenn wir uns vor den Herausforderungen in unserem Leben ängstigen, egal, wie marginal diese Herausforderungen anderen auch erscheinen mögen, dann treffen wir immer noch die Wahl, Opfer zu sein. Wir erkennen unsere Alternativen nicht. Wir richten über uns. Ich möchte nicht, dass Sie meine Geschichte hören und sagen: »Mein eigener Kummer ist weniger bedeutend.« Ich möchte, dass Sie meine Geschichte hören und sagen: »Wenn sie das schafft, dann schaffe ich das auch!«

Einmal hatte ich an einem Vormittag direkt hintereinander zwei Patientinnen, beide Mütter in den Vierzigern. Die erste Frau hatte eine Tochter, die an Hämophilie litt und im Sterben lag. Die Mutter weinte fast die ganze Sitzung lang und fragte mich, wie Gott ihr nur das Leben ihres Kindes nehmen konnte. Mir tat die Frau unendlich leid – sie widmete ihr Leben ausschließlich der Pflege ihrer Tochter, und der bevorstehende Verlust setzte ihr schrecklich zu. Sie war wütend, sie trauerte, und sie wusste nicht, ob sie diesen Schicksalsschlag würde ertragen können.

Meine nächste Patientin kam direkt aus dem Country Club, nicht aus dem Krankenhaus. Auch sie weinte fast die ganze Stunde lang. Sie ärgerte sich, weil ihr soeben gelieferter Cadillac nicht den richtigen Gelbton hatte. Oberflächlich betrachtet, schien ihr Problem lächerlich, besonders im Vergleich zu den Seelenqualen, die meine vorhergehende Patientin wegen ihres sterbenden Kindes litt. Aber ich wusste genug von meiner Patientin, um zu verstehen, dass die Tränen der Enttäuschung ob der Farbe ihres Autos in Wahrheit Tränen der Enttäuschung über andere, wichtigere Dinge waren, die sich in ihrem Leben nicht wie erhofft entwickelt hatten: eine einsame Ehe, ein Sohn, der zum wiederholten Mal von einer Schule verwiesen wurde, die Erwartungen an eine Karriere, die sie aufgegeben hatte, um mehr Zeit für ihren Ehemann und ihr Kind zu haben. Oft stehen die kleinen Ärgernisse in unserem Leben symbolisch für die größeren Enttäuschungen. Die scheinbar unbedeutenden Sorgen stehen stellvertretend für größere Seelenqualen.

An jenem Tag wurde mir klar, wie viel meine beiden Patientinnen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erschienen, miteinander und mit allen Menschen gemeinsam hatten. Beide Frauen reagierten auf eine Situation, die sie nicht kontrollieren konnten, in der ihre Erwartungen auf den Kopf gestellt wurden. Beide haderten und litten, weil etwas nicht so war, wie sie es sich wünschten oder erwarteten; sie versuchten das, was war, mit dem in Einklang zu bringen, was hätte sein sollen. Die Qualen, die beide Frauen litten, waren echt. Beide Frauen waren in der menschlichen Tragödie verstrickt, dass wir uns in Situationen wiederfinden, die wir nicht haben kommen sehen, in denen wir uns nun überfordert fühlen und mit denen wir nicht umgehen können. Beide Frauen verdienten mein Mitgefühl. Beide hatten das Potenzial, Heilung zu finden. Beide Frauen hatten die Wahl – wie wir alle –, sich für Sichtweisen und Aktionen zu entscheiden, die sie von einem Opfer zu einem Kämpfer machen würden, selbst wenn die Begleitumstände, mit denen sie umgehen mussten, sich nicht änderten. Menschen, die Schicksalsschläge überwunden haben, haben nicht die Zeit, zu fragen: »Warum ich?« Für sie ist die einzig relevante Frage: »Was jetzt?«

Ob Sie sich im Frühling, im Sommer oder im Spätherbst Ihres Lebens befinden, ob Sie tiefes Leid gesehen haben oder sich gerade erst jetzt damit auseinandersetzen müssen, ob sie sich zum ersten Mal verlieben oder im Alter Ihren Lebenspartner verlieren, ob Sie sich gerade von einem tiefen Einschnitt in Ihrem Leben erholen oder einfach hier und da etwas ändern wollen, um mehr Freude in Ihr Leben zu bringen: Ich würde Ihnen gerne helfen, einen Weg zu finden, aus dem Konzentrationslager in Ihrem Kopf auszubrechen und die Person zu werden, die Sie sein möchten. Ich würde Ihnen sehr gern helfen, sich von der Vergangenheit zu befreien, von Misserfolgen und Ängsten, von Wut und Fehlern, von Reue und unverarbeiteter Trauer – und frei zu sein, das rauschende Fest des Lebens in vollen Zügen zu genießen. Wir können uns kein Leben ohne Leid aussuchen. Aber wir können uns aussuchen, dass wir frei sein wollen, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen, egal, was uns zustößt, und dass wir das Mögliche wagen. Ich lade Sie ein, die Entscheidung zu treffen, frei zu sein.

Wie die challah, das Brot, das meine Mutter immer zum Sabbatmahl gebacken hat, enthält auch dieses Buch drei Stränge: die Geschichte meines Überlebens, die Geschichte meiner eigenen Heilung und die Geschichten über die wunderbaren Menschen, denen ich den Weg in die Freiheit weisen durfte. Die dabei gemachten Erfahrungen habe ich so wiedergegeben, wie ich sie am besten erinnere. Die Patientengeschichten sind insofern detailgenau, als sie den Kern der Erlebnisse betreffen, doch habe ich alle Namen und Details, die auf einzelne Personen hinweisen könnten, verändert und in manchen Fällen Patientengeschichten zusammengefasst, in denen ähnliche Herausforderungen zu bewältigen waren. Was folgt, ist die Geschichte von Wahlmöglichkeiten, von großen und kleinen, die uns vom Trauma zum Triumph führen können, von Dunkelheit zum Licht, von Gefangenschaft zur Freiheit.