Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Epilog
Impressum
JACQUELYN FRANK
KANE
SCHATTENWANDLER
Ins Deutsche übertragen von
Katrin Reichardt
Prolog
Kane brannte. Sein Geist, seine Sinne und vor allem sein Körper brannten vor Lust und Begehren wie noch nie zuvor. Der Samhainmond am Himmel wuchs immer weiter. In wenigen Tagen würde er seinen Höhepunkt erreichen, doch Kane war schon jetzt so aufgewühlt, als würde die volle Kraft des Gestirns ihn treffen.
Oder vielleicht lag es einfach an ihr.
Seit drei Tagen verfolgte er sie schon, entweder in körperlicher Gestalt oder mit seinem Geist. Seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er jeden ihrer Schritte belauert.
Kane war ein Dämon, ein Geschöpf der Nacht, und er besaß Kräfte, die über die menschliche Vorstellungskraft hinausgingen. Jeder Dämon gebot über ein bestimmtes Element: Luft, Feuer, Wasser, Erde, den Körper oder, wie in seinem Fall, den Geist. Kane war mächtig, doch trotzdem war er schwächer als die anderen Dämonen. Sie nannten ihn Grünschnabel, denn für sie war er noch ein Kind – ein beinahe einhundert Jahre altes Kind. Doch in weniger als zwei Jahren war es so weit, dann würde er endlich erwachsen sein und von ihnen etwas mehr respektiert werden. Nicht so wie sein älterer Bruder oder wie der erstaunliche altehrwürdige Gideon, aber zumindest war er dann kein verdammter Grünschnabel mehr.
Das Alter dieses Menschen, dieser jungen Frau, entsprach gerade einmal einem Viertel seiner Lebensspanne. Sie war so ahnungslos und wusste nichts von seinesgleichen und von den anderen Nachtgestalten, die an den Grenzen ihrer Welt lebten. Vielleicht konnte sie deshalb so unbeschwert sein. Zugegeben, sie war gezeichnet von seelischen Narben, die andere Menschen ihr gedankenlos eingebrannt hatten, doch trotzdem war sie ein temperamentvolles, erdverbundenes Wesen geblieben, so hitzig wie ihr rotes Haar und ihre blitzenden grünen Augen, so rein wie ihre zarte blasse Haut. Sie sprühte geradezu vor Lebendigkeit.
Ihre strahlende Schönheit war auch einem anderen aufgefallen, doch der war ihrer nicht würdig. Sogar sie selbst dachte so. Von Anfang an hatte der Trottel sie gelangweilt, doch sie klammerte sich trotzdem weiter an ihn, an seine Schlichtheit und an seine Beständigkeit. Kane hatte das absurde Treiben aus der Ferne verfolgt und war mit jedem Tag wütender geworden. Das lächerliche Schauspiel strapazierte seine Geduld, doch er konnte nichts tun. Sie war ein Mensch und somit tabu für ihn. Er hätte schon längst von ihr ablassen und sie vergessen sollen, denn seine Nachstellungen würden ihn früher oder später mit Sicherheit in Schwierigkeiten bringen.
Doch die Schwierigkeiten waren schon da – die Schwierigkeiten in Form dieses übermächtigen Brennens, dieses ungezügelten Verlangens und dieses wilden, besitzergreifenden Gefühls, das sich nicht mehr verleugnen ließ.
Er konnte es keine Sekunde länger ertragen, sie am Arm dieser nichtsnutzigen Kreatur zu sehen. Er näherte sich ihr, teleportierte sich in mehreren unkontrollierten Ausbrüchen zu ihr hin und hinterließ bei jedem Satz immer größere Wolken aus Rauch und Schwefel. Er hatte die Kontrolle über seine Gefühle verloren und damit auch die Kontrolle über seine Kräfte. Aber das war unwichtig. Er kam näher. Noch näher. Bald würde er dieser Farce ein Ende bereiten und sie von der Seite dieses Clowns fortreißen, von dem sie sich einredete, dass er ihrer angemessen sei.
Kane materialisierte sich in einer schäbigen Straße in New York mit einem grellen Lichtblitz, doch seine Kräfte, mit denen er den Geist der Menschen beeinflussen konnte, verschleierten seinen furchterregenden Auftritt. Der schöne Rotschopf ging mit seinem sogenannten Date einfach weiter und bemerkte ihn gar nicht.
Schnell schlich er den beiden nach und behielt dabei die zwielichtigen Ecken und Gassen in der Umgebung im Auge. Die Abneigung, die Kane gegen ihren Begleiter empfand, wurde noch tiefer. Kein Mann, der etwas taugte, würde eine Frau in so eine Gegend mitnehmen. Wusste dieser Narr denn nicht, welche Gefahren um sie herum lauerten? Glaubte dieses armselige Exemplar von einem menschlichen Mann ernsthaft, er könnte sie im Notfall beschützen?
Kane drang in die Gedanken der beiden ein und stellte fest, dass ihr Begleiter gar nicht so weit dachte. Noch schlimmer, er schenkte nicht einmal dem Goldschatz, der da an seiner Seite ging, angemessene Aufmerksamkeit! Die Gedanken des Idioten kreisten beinahe einzig und allein um den Film, den die beiden sich ansehen wollten, um Spezialeffekte und um einen bekannten Regisseur. Das sinnliche, einzigartige Wesen an seinem Arm beachtete er dagegen kaum.
Angewidert übernahm Kane die Kontrolle über den Verstand der beiden Menschen, und das Paar blieb stehen. Kane verwischte im Geist des Mannes alle Erinnerungen an die Frau und schickte ihn dann zu den bewegten Bildern weiter, die ihm anscheinend so viel bedeuteten.
Nun war er mit ihr allein, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Es wäre ein Kinderspiel, sie zu sich zu locken und sie willenlos und gefügig zu machen. Aber das war nicht das, was er wollte, oh nein. Sie würde nicht seine seelenlose Sklavin werden, denn es war ihr Geist, der ihn so verzauberte.
Er würde nur ihre Wahrnehmung ein wenig verändern, sie vergessen lassen, was sie gerade vorgehabt hatte, und so eine Möglichkeit schaffen, in ihr Leben einzudringen. Aber zuerst … zuerst musste er sie berühren. Nur eine wundervolle Sekunde lang Verbindung zu ihr herstellen und das Lodern in seinem Inneren besänftigen, damit er wieder klar denken und handeln konnte.
Kane streckte eine Hand nach ihr aus. Seine Hand zitterte und verriet die Macht seiner Gefühle, denen er kaum noch etwas entgegensetzen konnte. Seine Hand brannte voller Erwartung, und die langen Finger kribbelten und zuckten. Sie lächelte sanft und heiter und ahnte nichts von ihrem Schicksal. Er hätte ihr Lächeln nach seinem Willen verwandeln können, es hätte glückselig oder wild und ekstatisch sein können, doch vorerst blieb es bei einem neutralen Gesichtsausdruck. Er berührte einen ihrer hohen Wangenknochen mit den Fingerspitzen.
Oh, süßes Schicksal. Ein beinahe schmerzhaftes Gefühl, dass er das Richtige tat, und ein Gefühl der Erleichterung überwältigten ihn. Er schmiegte eine Hand an ihre hübsche Wange und musste gegen die Tränen ankämpfen, die ihm in den Augen brannten. Sie gehörte ihm. Endlich hatte er sie für sich. Er hatte die Grenze überschritten und trotz der eindringlichen Warnungen, die man ihm sein ganzes Leben lang eingebläut hatte, war kein Blitz vom Himmel gefahren und hatte ihn niedergestreckt. Was sollte denn auch so schrecklich falsch daran sein? Gut, sie war ein Mensch, und er war ein Dämon, aber überwogen denn nicht trotzdem die Gemeinsamkeiten? Waren sie nicht beide Wesen aus Fleisch und Blut? Sehnten sie sich nicht beide nach der Gesellschaft und der Zärtlichkeit eines geliebten Wesens und nach seelenverzehrender Leidenschaft? Die Welt würde nicht untergehen! Das war erst der Anfang!
Da fuhr ein Blitz vom Himmel.
Wie von Zauberhand tauchte Jacob der Vollstrecker aus dem Nichts auf. Angst und Entsetzen durchzuckten Kane. Das plötzliche Erscheinen seines älteren Bruders wirkte wie ein Schlag in die Magengrube. Jacob, der große Bruder, der Kane liebte und der ihn großgezogen hatte, zeigte sich ihm nun von seiner furchterregendsten, schrecklichsten Seite, so wie man ihn nur dann zu sehen bekam, wenn man ein Dämonengesetz übertreten hatte. Jacob war der Vollstrecker, und er war gekommen, um Kane zu bestrafen.
Kanes Kehle war mit einem Mal wie ausgetrocknet, und sein Herz krampfte sich zusammen vor Angst. Für das, was er getan hatte, erwartete ihn die höchste Strafe, die über einen Dämon, abgesehen von einem Todesurteil, verhängt werden konnte. Als hätte er sich verbrannt, zog er die Hand von der Wange des Rotschopfs weg und gab auch ihren Geist wieder frei. Die Frau blinzelte und bemerkte erst jetzt, dass sie zwischen zwei äußerst seltsamen Männern stand und keine Ahnung hatte, wie sie dorthin geraten war.
„Kane, halte ihren Geist fest. Mach es nicht noch schlimmer, indem du ihr Angst einjagst.“
Kane gehorchte augenblicklich, und sie entspannte sich wieder. Ihr Gesichtsausdruck wurde so friedvoll und anmutig, dass Kane vorübergehend sogar die bedrohliche Anwesenheit seines Bruders vergaß. Genau so süß und zauberhaft, wie sie aussah, waren auch ihr Geist und ihre ganze Art. Nur der eisige, drohende Blick seines Bruders konnte ihn davon abhalten, sie noch einmal zu berühren.
„Jacob, was machst du denn an so einem schönen Abend in dieser Gegend?“, platzte Kane heraus, denn ihm fiel leider nichts Besseres ein. Sie waren doch Blutsbrüder. Würde Jacob ihn vielleicht davonkommen lassen?
„Du weißt ganz genau, warum ich hier bin“, entgegnete der Vollstrecker in einem unmissverständlichen, frostigen Tonfall, mit dem er Kane zu verstehen gab, dass er es lieber nicht zu weit treiben sollte.
„Das kann schon sein“, gab Kane zu, aber die unmittelbare Gefahr, in der er schwebte, war noch immer nicht zu ihm durchgedrungen, und er konnte sich nur schwer davor zurückhalten, noch einmal die Hand nach der Frau auszustrecken. Obwohl er sich keiner Schuld bewusst war, senkte er doch den Blick auf den schmutzigen Asphalt und schob die Hände tief in die Hosentaschen, wo er die Finger in das Futter krallte und sich krampfhaft festhielt. „Ich wollte nichts tun. Ich war nur … unruhig.“
„Verstehe. Und du wolltest die Frau verführen, um dich zu beruhigen?“, fragte Jacob geradeheraus und verschränkte die Arme wie ein Vater, der seinen widerspenstigen Sohn zurechtweist – einen immerhin fast hundertjährigen Sohn, was angesichts des Ernsts der Lage aber keiner von ihnen lustig fand.
„Ich wollte ihr nicht wehtun“, wehrte sich Kane. Er würde ihr niemals wehtun. Sie war so kostbar, und sie bedeutete ihm alles. Er wollte ihr so aufrichtig und inbrünstig seine ganze Liebe schenken, wie er nur konnte.
„Ach nein?“, entgegnete Jacob voll unüberhörbarem Sarkasmus. „Was hattest du denn dann vor? Wolltest du höflich fragen, ob du deine ganze wilde Natur freundlicherweise an ihr austoben darfst? Könnte man es so ausdrücken?“
Kane schwieg trotzig. Er wusste, dass der Vollstrecker seine Absichten von Anfang an durchschaut hatte. Sich zu wehren oder alles abzustreiten würde es nur noch schlimmer machen. Zudem stand der Beweis für Kanes Verfehlung ja direkt vor ihnen.
Einen flüchtigen, köstlichen Moment lang stellte Kane sich in den lebendigsten Farben vor, wie diese Verfehlung sich hätte gestalten können. Dabei fiel sein Blick wieder auf die Frau, die in all ihrer Schönheit und Gelassenheit vor ihm stand, und er unterdrückte einen lustvollen Schauer. Wäre Jacob doch abgelenkt gewesen und nur eine halbe Stunde später erschienen …
„Das ist eine schwierige Zeit für uns Dämonen, Kane. Die anderen haben genauso mit ihren niederen Gelüsten zu kämpfen wie du“, erklärte der Vollstrecker ungerührt, als wäre er es, der Gedanken lesen konnte, und nicht Kane. „In nicht ganz zwei Jahren bist du erwachsen, und trotzdem lässt du dich von mir erwischen wie ein richtiger Grünschnabel.“ Da war dieses Wort schon wieder. Diese abwertende Bezeichnung. „Überleg doch mal, was ich jetzt gerade alles tun könnte, wenn ich nicht meine Zeit damit verschwenden müsste, dich vor dir selbst zu schützen.“
Die Bemerkung war wie ein Schlag ins Gesicht und traf Kane tief. Süßes Schicksal, Jacob hatte recht. Immer wenn es auf Samhain zuging, lastete die Bürde seines Amtes noch schwerer auf ihm als sonst, und das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass sein kleiner Bruder ihm Scherereien machte. Jacob hatte sich sein Amt nicht ausgesucht, nein, es war ihm nach dem unerwarteten Verschwinden ihres ältesten Bruders Adam überraschend zugefallen. Man nahm an, dass Adam damals, vor vielen Jahrhunderten, einem Nekromanten in die Hände gefallen und durch einen Beschwörungszauber getötet worden war. Jacob hatte seinen geliebten Bruder verloren und zugleich eine schwere Aufgabe geerbt, die ihn in seiner Welt mit einem Schlag zum Ausgestoßenen machte, zu einem notwendigen Übel – quasi einer Art dämonischer Innenrevision. Man brauchte solche wie ihn, doch obwohl er weiterhin zur selben Bruderschaft gehörte, wurde er von allen verachtet.