Buch
Als die Fotografin Audrey Kepler das verlassene Thornwood House im ländlichen Queensland erbt, ergreift sie sofort die Chance, ihrem hektischen Leben in Melbourne zu entkommen und einen Neustart zu wagen. In einem staubigen Hinterzimmer des alten, aber noch immer prächtigen Hauses entdeckt sie die verblasste Fotografie eines gut aussehenden Mannes. Wie sie bald herausfindet, handelt es sich um Samuel Riordan, den vormaligen Besitzer von Thornwood House, und Audreys Interesse ist geweckt. Schließlich erfährt sie, dass Samuel beschuldigt wurde, kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krieg eine junge Frau ermordet zu haben, was Audrey nicht glauben will. Doch als sie immer tiefer in Samuels Geschichte eintaucht, hat Audrey die böse Ahnung, dass der Mörder von damals noch lebt. Und dann droht sich ihr Verdacht auf gefährliche Weise zu bestätigen …
Autorin
Anna Romer wuchs in einer Familie von Büchernarren und Geschichtenerzählern auf, weshalb sie sich schon früh für Literatur zu interessieren begann. Sie arbeitet hauptberuflich als Grafikerin und hat viele Reisen ins australische Outback, nach Asien, Neuseeland, Europa und Amerika unternommen, wo sie Stoff für eigene Geschichten gesammelt hat. Ihr erster Roman »Das Rosenholzzimmer« lebt von ihrer Faszination für vergessene Tagebücher und Briefe, dunkle Familiengeheimnisse und alte Häuser und ihrer Liebe zur einzigartig schönen australischen Landschaft. Die Autorin lebt in einem abgelegenen Landsitz im nördlichen New South Wales, wo sie an ihrem nächsten Roman schreibt.
Anna Romer
DAS ROSENHOLZZIMMER
Roman
Deutsch von pociao
und Roberto de Hollanda
Liebe deutschsprachige Leserinnen und Leser,
ich freue mich sehr, dass mein Roman »Das Rosenholzzimmer« bei Ihnen veröffentlicht wird. In den Achtzigerjahren habe ich selbst kurz in Deutschland gelebt; an diese Zeit habe ich sehr schöne und noch sehr lebendige Erinnerungen.
Wie Sie sehen werden, sind es gerade Erinnerungen und vergangene Ereignisse und außerdem Orte wilder landschaftlicher Schönheit, die mich am meisten inspirieren. In meinem Roman »Das Rosenholzzimmer« habe ich diese Elemente zu einer Geschichte von Liebe, Mut und Obsessionen verwoben, die Ihnen hoffentlich sehr viel Freude beim Lesen bereiten wird.
Mit herzlichen Grüßen
Ihre
Die folgenden Zeichnungen von Thornwood House und Umgebung hat Anna Romer exklusiv für die deutschsprachige Ausgabe ihres Romans angefertigt.
Grundriss von Thornwood House
Die Umgebung von Thornwood House
Die nähere Umgebung von Thornwood House
Die Schlucht
Für Sarah
Für ein Leben voller Liebe, Freundschaft und Vertrauen …
Ich bin so froh, dass du meine Schwester bist!
Wer seine Geheimnisse dem Wind anvertraut,
darf sich nicht wundern,
wenn die Bäume sie kennen.
Khalil Gibran
Vorwort
An sonnigen Nachmittagen erinnert die Lichtung am Rand der Schlucht an eine verzauberte Märchenlandschaft. Goldene Lichtstreifen flattern durch die Baumwipfel, Glockenvögel erfüllen die Luft mit ihren hellen Stimmen. Der würzige Duft von Wildblumen treibt auf einer warmen Brise, und aus der Tiefe der schattigen Schlucht hört man das Murmeln eines Bachs, der seinem uralten Lauf folgt.
Doch wenn es Abend wird, verdunkelt sich der Himmel rasch. Schatten schwärmen um die Bäume und vertreiben das Licht. Die Sonne schwindet. Vögel suchen in dichten Akazien und Schlehdorn Schutz, während vom Westen her eine Heerschar dunkelvioletter Wolken heraufzieht und Regen bringt.
Im hellen Mondlicht verwandelt sich die Landschaft erneut und wird zu einem Albtraum aus einer anderen Welt. Das weite Feld mit silbernem Rispengras wird von den schwarzen Stämmen der Ironbarks begrenzt. Mittendrin erhebt sich ein großer Felsen in Form einer Flosse.
Der Felsen zieht mich magisch an. Es ist, als würde er mir etwas zuflüstern und sich Schatten um seinen Sockel versammeln. Ich gehe näher heran. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. In der Dunkelheit stolpere ich und bleibe stehen, um zu horchen, strenge mich an, um eine Stimme zu erkennen, einen erstickten Schrei oder ein Schluchzen – doch ich höre nur das Prasseln des Regens auf den Blättern und das unregelmäßige Keuchen meines Atems. Weiter unten am Hang donnern unsichtbare Wallabys durch das Dickicht, und über mir erklingt ein dunkler Ruf, wahrscheinlich ein Kuckuckskauz.
»Bron … bist du da?«
Ich erwarte keine Antwort, doch als sie ausbleibt, verschärft sich die Angst. Ich taste nach einem abgebrochenen Ast, suche einen Pfad aus niedergetrampeltem Gras, ein vertrautes Wäschestück am Boden … finde jedoch weder eine Spur von meiner Tochter noch von dem Mann, der sie mitnahm.
Ich spähe in die Schatten, versuche, die Silhouetten der Bäume zu durchdringen, die um mich herum schwanken und wogen. Ein Blitz erhellt den Weg, der durch das Unterholz bergauf führt. Ich gehe darauf zu und bleibe erneut stehen. Wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken, ich spüre, dass ich nicht allein bin. Irgendwer ist in der Nähe, es muss der Mann sein. Er versteckt sich hinter den Bäumen. Er beobachtet mich. Ich stelle mir vor, wie sein Blick über mich schweift und er überlegt, wie er am besten zuschlagen soll.
Aber ich bin vorbereitet.
Das zumindest rede ich mir ein, doch in Wahrheit habe ich das Gefühl, dieses Szenario schon tausendmal erlebt zu haben: in dieser einsamen Lichtung zu hocken und darauf zu warten, dass der Tod mich findet, um dann jedes Mal im entscheidenden Augenblick nicht weiterzuwissen.
Mit einem Mal ist es kalt. Der Regen rinnt über mein Gesicht. Die Bäume biegen sich unter einer feuchten Windböe, Eukalyptusblüten wirbeln durch die Luft und verbreiten ihren durchdringenden Duft.
Das Knacken eines Zweiges übertönt den Regen, es hört sich an wie das Brechen eines kleinen Knochens. Ich fahre herum. Ein Blitz reißt die Wolken auf und taucht die Lichtung in Helligkeit. Auf der anderen Seite sehe ich einen einzelnen Schatten. Er löst sich aus der Dunkelheit und kommt auf mich zu.
Ich erkenne ihn sofort wieder.
Er ist groß, die bleichen Züge verschwimmen in der Dunkelheit. Seine feuchte Haut glänzt, und beim Anblick des Gesichts gefriert mir das Blut in den Adern.
»Hallo, Audrey.«
Erst dann sehe ich den Axtgriff in seiner Hand.
1
Audrey, September 2005
Der Himmel über dem Friedhof hing voller Gewitterwolken. Es war erst Nachmittag, doch es wurde bereits dunkel. Eine große Schar von Trauergästen stand im Schutz einer alten Ulme auf dem grasbewachsenen Abhang. In den oberen Ästen wuselte ein unruhiger Schwarm schwarzer Vögel, deren Schreie die Stille durchbrachen.
Krähen. Dunkelheit. Tod.
Das hätte Tony gefallen.
Ich schluckte und wünschte, ich wäre woanders, nur nicht hier, im Regen, in einem geliehenen schwarzen Kleid, und nähme schweigend Abschied von dem Mann, den ich einmal zu lieben glaubte.
Bronwyn stand neben mir. Vor dem dunkelblauen Kleid hoben sich ihr blondes Haar und die helle Gesichtshaut umso stärker ab. Sie war elf, groß für ihr Alter, und auffallend hübsch. Sie hielt einen Regenschirm über unsere Köpfe, mit schmalen blassen Fingern umklammerte sie den Griff.
Trotz des Regens, der Blicke und der gedämpften Stimmen hinter uns war ich froh, dass wir gekommen waren. Egal, was sie sagten, Tony hätte es gewollt.
Der Sarg schwebte an unsichtbaren Drahtseilen über dem Grab. Seitlich davon lag ein Teppich aus Kunstrasen über einem Haufen Erde, mit der man anschließend das Loch wieder zuschütten würde. Riesige Kränze aus weißen Lilien und scharlachroten Flamingoblumen bedeckten den Boden. Sie sahen teuer aus; daneben wirkten meine selbst gepflückten Rosen irgendwie unpassend.
Alles glänzte im Regen: die Messinggriffe des Sargs, die Lilienkränze, die zusammengedrängten Schirme, ja sogar die Glatze des Priesters, der jetzt die Bibel zitierte: »Tief drunten vom Boden her sollst du reden und gebeugt aus dem Staub hervor sprechen, deine Stimme soll der eines Gespenstes aus der Erde gleichen und deine Rede aus dem Staub hervorflüstern.«
Diese uralten Worte wurden durch den Regen gedämpft und mit einer derartigen Feierlichkeit ausgesprochen, dass sie aus einer anderen Zeit zu kommen schienen. Wäre es doch nur wahr! Könnte Tony jetzt zu mir sprechen und erzählen, was ihn in diesen letzten verzweifelten Tagen gequält hatte.
Ein Blitz zuckte quer über den Himmel, dann folgte ein grollender Donner. Die Krähen flogen von den Zweigen auf und flatterten davon.
Bronwyn drückte sich an mich. »Mum?« In ihrer Stimme erkannte ich Panik.
Der Flaschenzug, der den Sarg hielt, setzte sich in Bewegung. Die lange schwarze Kiste senkte sich. Ich ergriff Bronwyns Hand, und wir rückten enger zusammen.
»Alles wird wieder gut, Bron«, versuchte ich, sie zu beruhigen, doch meine Worte klangen schrill und falsch. Wie sollte je wieder alles gut werden?
Ich brauchte etwas, woran ich mich klammern konnte. Tonys Gesicht, wie ich es am liebsten in Erinnerung behalten würde – seine erhitzten Wangen, sein dunkles Haar, das nach allen Seiten abstand, seine leuchtenden saphirblauen Augen, als er das winzige Bündel seiner neugeborenen Tochter auf dem Arm anstarrte.
»Sie ist so schön«, hatte er gemurmelt. »So schön, dass ich mich nicht traue, den Blick von ihr abzuwenden.«
Bronwyn zog mich näher an den Rand des Grabes, und zusammen sahen wir auf den Sarg herab. Es war unfassbar, dass ein Mann, der das Leben so sehr liebte, nun im Regen auf dem morastigen Grund lag. Undenkbar, dass ausgerechnet er so leicht aufgegeben hatte.
Bronwyn küsste das Päckchen, das sie für ihren Vater gemacht hatte, und ließ es auf den Sargdeckel fallen. Darin befanden sich ein Brief an ihn, eine Schachtel mit seinen Lieblingslakritzen und der Schal, den sie ihm zum Geburtstag gestrickt hatte. Ich hörte, wie sie etwas flüsterte, doch ihre Worte gingen im Regen unter. Als ihre Schultern bebten, wusste ich, dass sie weinte.
»Komm.« Wir wandten uns ab und gingen den Hang hinunter zu der Stelle, an der ich meinen alten Celica geparkt hatte. Einige Köpfe wandten sich nach uns um, als wir vorbeigingen, blasse Gesichter vor der grauen Kulisse des Friedhofs.
Ich ignorierte sie, legte den Arm um Bronwyn und ging weiter. Ihr Ärmel war feucht, und durch den Stoff fühlte ich die Kälte ihres Körpers. Sie musste nach Hause, in die vertraute Geborgenheit eines warmen Nests. Sie brauchte Suppe und Toast, einen Schlafanzug und flauschige Pantoffeln …
»Audrey?«
Ich blickte auf und ließ vor lauter Schreck Bronwyn wieder los. Meine Nerven spielten verrückt, mein Mund war wie ausgetrocknet. Diese Angst war albern. Ich holte tief Luft und sagte: »Hallo, Carol.«
Ihr Gesicht war versteinert, man sah ihr die Anspannung an den Augen an. Sie hatte das Haar im Nacken zu einem Knoten geschlungen, und wie üblich war ich überwältigt von ihrer Schönheit.
»Ich freue mich, dass ihr gekommen seid«, sagte sie leise. »Tony hätte es sich gewünscht. Hallo, Bronwyn, Kleines … wie wirst du damit fertig?«
»Gut, danke«, antwortete Bronwyn abweisend und mit gesenktem Blick.
Ich kramte meine klimpernden Wagenschlüssel hervor. »Würdest du bitte im Auto auf mich warten, Bron?«
Sie nahm die Schlüssel und stapfte mit dem auf und ab tanzenden Schirm den nassen Abhang hinunter. Am Fuß des Hügels schlängelte sie sich durch die parkenden Wagen bis zu unserem Celica. Kurz darauf war sie darin verschwunden.
»Wie geht es ihr wirklich?«, wollte Carol wissen.
»Sie kommt schon klar«, erklärte ich, ohne zu wissen, ob es wirklich stimmte.
Wir standen am Abhang, allein. Die Trauergäste eilten durch den Regen zu ihren Autos zurück. Der Friedhof war fast menschenleer. Carol blickte zum Hügel hinauf, sodass ich sie verstohlen betrachten konnte – ihr vollkommenes Gesicht, die teure Garderobe, die aufrechte Haltung. Sie trug ein schwarzes Kleid, eng und elegant, und einen funkelnden Stein am Hals, wahrscheinlich ein Diamant. Feine Krähenfüße umgaben ihre Augen, doch sie schienen ihre strahlende Schönheit nur zu verstärken. Kein Wunder, dass Tony alles für sie aufgegeben hatte.
Als Carol meinen Blick sah, runzelte sie die Stirn. »Ich weiß, was du denkst. Dasselbe wie alle anderen auch … Aber du täuschst dich. Tony und ich waren glücklich, unsere Ehe …« Sie holte zittrig Luft. »Unsere Ehe war genauso stark wie am Anfang. Es ging uns gut, so wie immer.«
»Du solltest nichts merken, Carol.«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen waren feucht. »Aber das ist es ja gerade, nicht wahr, Audrey? … Gerade ich hätte es spüren müssen.«
»Niemand trägt Schuld für das, was Tony getan hat. Du kannst dich dafür unmöglich verantwortlich machen.«
»Ich sage mir nur ständig, dass ich mehr hätte tun müssen … besser aufpassen. Aufmerksamer sein. In der Nacht, als er fortging, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war, verstehst du?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«
»Na ja … wir waren zu Hause im Wohnzimmer. Ich sah fern, Tony blätterte in der Zeitung. Einmal warf ich einen Blick hinüber zu ihm, und er starrte vor sich hin … Sein Gesicht war ganz blass. Dann stand er auf, faltete die Zeitung zusammen, ging auf die Tür zu und sagte: ›Sie haben ihn gefunden. Sie haben ihn gefunden.‹ Anschließend verließ er das Haus. Ich hörte, wie der Motor ansprang und die Reifen auf den Kieselsteinen in der Auffahrt knirschten. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.«
»Was meinte er damit? Wen hatten sie gefunden?«
Carol schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Später blätterte ich durch die Zeitung, die er gelesen hatte, und suchte nach einem Hinweis, fand aber nichts. Nichts, was einen Sinn ergeben hätte. Du kannst dir vorstellen, wie verzweifelt ich war.«
»Hat er nicht angerufen?«
»Nein, das tat die Polizei, zehn Tage später.« Carol kam näher, ihr Blick suchte den meinen. »Es war der schlimmste Schock meines Lebens. Tony war tot, von einem auf den anderen Tag. Als sie mir sagten, man hätte seine Leiche in Queensland gefunden, außerhalb einer kleinen Stadt namens Magpie Creek, glaubte ich, sie meinten jemanden anders. Aber er … er – Herrgott, es kam so unerwartet, so plötzlich. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er eine Waffe besaß.«
Ich zuckte zusammen, und Carols Augen weiteten sich. Eine einsame Träne hing zitternd an ihrer Wimper.
»Tut mir leid, ich hätte es nicht sagen sollen, aber es ist das, was mich am meisten verwirrt. Tony hatte schreckliche Angst vor Waffen. Er hasste jegliche Art von Gewalt, nicht wahr?«
Seit ich über einen gemeinsamen Freund von Tonys Tod erfahren hatte, stellte ich mir dieselbe Frage. Ich fragte mich, warum Tony, ein glühender Verfechter von Gewaltlosigkeit und Liebe, seinem Leben auf so grausame Art ein Ende gesetzt und uns, die ihn liebten, dies angetan hatte.
Zu meiner Überraschung ergriff Carol mein Handgelenk. »Warum hat er das getan, Audrey? Wie konnte er so egoistisch sein?«
Ihre plötzliche Heftigkeit erschreckte mich. Ich suchte nach Worten des Trosts – für mich ebenso wie für Carol –, doch sie bohrte mir die Finger in den Arm und sagte: »Du warst ihm immer so nah, früher jedenfalls. Hat er dir jemals etwas erzählt – von einem Trauma in der Kindheit, von irgendetwas, das ihn bedrückte? War er jemals krank, während ihr zusammen wart? Er hat nichts genommen, jedenfalls weiß ich nichts davon … Aber vielleicht wollte er mich nicht beunruhigen. Könnte eine andere Frau dahinterstecken? Ach Audrey, egal, wie ich es drehe und wende, ich kann einfach nicht verstehen, warum er das getan hat.«
Ihre gequälten Augen waren von blassrosa Ringen umgeben, die Haut um den Mund war fahl. Ich wusste, was sie meinte. Nach außen wirkte Tony viel zu ausgeglichen, um in eine selbstzerstörerische Depression zu fallen. Trotzdem musste ich an die Zeit denken, als wir zusammen gewesen waren, an glückliche Tage, die urplötzlich von wiederkehrenden Albträumen überschattet wurden, an seine wechselnden Stimmungen, an Phasen düsteren Schweigens. Seine beinahe panische Angst vor Gewalt, Blut. Und seinen abgrundtiefen Hass auf Waffen jedweder Art.
»Tony hat nie über seine Vergangenheit gesprochen«, antwortete ich. »Falls er Geheimnisse hatte, dann hat er sie auch vor mir verborgen.«
Carol wandte den Blick ab. »Weißt du, Audrey, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten, wären du und ich vielleicht Freundinnen geworden.«
Ich rang mir ein Lächeln ab, denn ich wusste, dass aus ihr nur die Trauer sprach. Carol Jarman und ich waren viel zu verschieden, als dass wir etwas anderes hätten sein können als Fremde. Wir bewegten uns in verschiedenen Kreisen, kamen aus verschiedenen Welten. Sie war selbstsicher, elegant, schön und hatte einen Lebensstil, von dem ich nur träumen konnte. Ohne Tony hätten sich unsere Wege niemals gekreuzt.
Carol steckte die Hand in ihre Umhängetasche und holte ein kleines, in Stoff eingewickeltes Päckchen heraus. »Das hier habe ich unter seinen Sachen gefunden. Ich dachte, dass du es vielleicht gern haben würdest.«
Ich erkannte den Stoff sofort wieder. Es war ein Schal, den Tony von einer Italienreise mitgebracht hatte, als er zum ersten Mal zur Biennale nach Venedig geflogen war. Er umhüllte einen Briefbeschwerer aus Muranoglas mit einem stahlblauen Schmetterling in der Mitte.
»Danke.« Ich spürte, wie Wärme mich überrollte, umklammerte mit den Fingern den kühlen Gegenstand und erinnerte mich an jene Tage, als Tony und ich glücklich gewesen waren.
»Es könnte sein, dass wir uns nicht wiedersehen«, sagte Carol, »also will ich es dir lieber selbst sagen, als dass du es von der Anwältin erfährst.«
Ich sah zu ihr auf, ganz erfüllt von bittersüßen Erinnerungen. »Was meinst du?«
»Tony hat verfügt, dass das Haus in Albert Park verkauft wird. Ich sage es dir ungern, Audrey, aber ihr müsst innerhalb von vier Wochen ausziehen. Ich würde dich natürlich nicht vor die Tür setzen, wenn du länger brauchst … Trotzdem möchte ich gern so schnell wie möglich mit der Renovierung anfangen, damit ich das Haus zum Verkauf anbieten kann.«
Ich konnte sie nur anstarren. »Innerhalb von vier Wochen?«
»Mach dir keine Sorgen. Tony hätte euch nie im Stich gelassen. Für dich und Bronwyn ist gesorgt«, erklärte sie rätselhaft. Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann drückte sie nur kurz meinen Arm, sacht diesmal, drehte sich um und ging.
Ich beobachtete, wie sie den Hang hinunterschlitterte. Ihre Freunde scharten sich um sie, einige warfen mir einen flüchtigen Blick zu. Anschließend bugsierten sie sie zu den parkenden Wagen. Dort setzte sie sich in einen schimmernden Mercedes und verschwand.
Vier Wochen.
Ich umklammerte den Briefbeschwerer. Tony hatte mich nie wirklich über seine Vergangenheit belogen, doch seine hartnäckige Weigerung, darüber zu reden, hatte mich verletzt; es war immer so, als vertraute er mir nicht. Als ich jetzt auf den Hang blickte, spürte ich die Last seines Schweigens, das all meine Zweifel und Unsicherheit erneut aufwirbelte. In diesem Augenblick wäre ich am liebsten wieder hinaufgegangen und hätte den Briefbeschwerer in sein Grab geschleudert, als letzten bitteren Gruß. Aber es hatte erneut angefangen zu regnen, der Boden war durchnässt, und der Hang machte einen rutschigen Eindruck.
Ich steckte das Päckchen in meine Tasche. Als er noch lebte, hatte mir Tony nur Probleme gemacht; jetzt war er tot, und ich wollte ihm nicht die Gelegenheit geben, mir weiterhin zuzusetzen. Während ich mir das fest vornahm, stieg ich vorsichtig den Hang hinab zum Wagen, wo meine Tochter auf mich wartete.
In den anderen Landesteilen kündigte der September den Beginn des Frühlings an. Hier in Melbourne fühlte er sich noch an wie das verlängerte Ende des Winters. Wochenlanger Regen, kalte Nächte und kalte Morgen. Ein endlos grauer Himmel. Es gab Tage wie heute, an denen man den Eindruck hatte, als würde diese trostlose, trübe Hölle nie ein Ende haben.
Albert Park, das beliebte Viertel am Stadtrand mit seinen denkmalgeschützten Häusern, wo wir wohnten, wirkte kälter und düsterer als alles andere. Tonys Beerdigung hatte uns traurig gemacht. Vor Kälte zitternd traten wir durch das Vorgartentor und schlossen die Haustür auf. Im Innern war es dunkel. Ich schaltete alle Lichter an und drehte die Heizung auf, bis das Haus wie ein Backofen glühte. Bronwyn wollte weder Suppe noch Toastbrot, blieb aber in der Küche, während ich ihr eine Tasse heißen Kakao machte. Danach flüchtete sie sich in die Geborgenheit ihres Zimmers.
Meins war eisig. Ich vergrub den venezianischen Briefbeschwerer unter einem Haufen Wäsche in der untersten Schrankschublade und warf das feuchte Kleid in den Wäschekorb. Dann zog ich eine weiche Jeans und ein altes T-Shirt an, ging ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster.
Silberner Regen prasselte auf die Dächer der Nachbarhäuser und zeichnete Lichtkegel um die Straßenlampen. Die erleuchteten Fenster der nahe gelegenen Gebäude glänzten wie Leuchtfeuer, doch draußen in der Bucht verlor sich das Wasser hinter dem Schleier vorzeitiger Dunkelheit.
Ich zog die Vorhänge zu und umschlang den Oberkörper mit beiden Armen, während ich an Tony dachte. Zum x-ten Mal fragte ich mich, was ihn dazu bewogen haben mochte, eine Waffe zu laden und seinem Leben auf so entsetzliche Weise ein Ende zu setzen. Er hatte viele Gesichter gehabt. Er war ein charmanter und erfolgreicher Künstler gewesen, ein fürsorglicher Vater für Bronwyn, aber er hatte auch an Albträumen gelitten. Und gegen Ende war er ein egoistischer, treuloser Mistkerl gewesen, doch ich hätte ihn nie für jemanden gehalten, der Menschen, die ihm wichtig waren, absichtlich zerstören wollte.
Ich ging ins Esszimmer. Nun war er endgültig fort, sagte ich mir. Keine Spekulationen würden ihn zurückbringen. Es gab keinen Grund, sich von einem Mann im Stich gelassen zu fühlen, der einen vor Jahren verlassen hatte. Trotzdem flammte meine alte Verbitterung jetzt wieder auf. Man würde Bronwyn und mich aus unserem Haus vertreiben, einem Haus, von dem Tony einmal gesagt hatte, dass wir es behalten könnten, so lange wir wollten. Er hatte es am Anfang unserer Beziehung gekauft, nachdem er mehrere sehr erfolgreiche Ausstellungen im Ausland gehabt hatte. Später hatte ich mich nicht mit ihm streiten wollen, als er vorschlug, dass das Haus auf seinem Namen eingetragen bleiben sollte. Ich war froh, weiter dort wohnen zu können, ohne Miete zu zahlen. Damals war ich noch jung und stolz. Ich war wütend auf Tony gewesen und wollte um nichts auf der Welt in seiner Schuld stehen.
Doch jetzt bereute ich es … bereute es um meiner Tochter willen und des Schmerzes, den sie ein Leben lang mit sich herumschleppen würde. Auch Tony tat mir leid, der sehr gelitten haben musste, und Carol, deren Welt sich nur um ihn gedreht hatte. Ich selber tat mir leid wegen meiner egoistischen Sehnsucht, die mir in einsamen, unbedachten Augenblicken zugeflüstert hatte, er würde eines Tages vielleicht wie durch ein Wunder zu mir zurückkehren. Und ich kämpfte mit der Last der Fragen, die er uns hinterlassen hatte. Warum war er in jener Nacht verschwunden, warum war er tagelang bis zu diesem einsamen Nest mitten im Nichts gefahren? Und was hatte ihm schließlich den letzten Anstoß gegeben?
Carol hatte gesagt, sie hätte in der Zeitung nach einem Hinweis gesucht, aber wahrscheinlich war sie zu verzweifelt gewesen, um sich richtig zu konzentrieren. Ich erinnerte mich, dass Tony ein geradezu fanatischer Leser des Courier-Mail gewesen war. Er war in der Nähe von Brisbane aufgewachsen – eins der wenigen Details aus seiner Vergangenheit, die ich ihm hatte entlocken können – und hatte sich über Queensland immer auf dem Laufenden gehalten.
Ich schaltete meinen Laptop ein und ging ins Netz.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Suchergebnisse für den Courier-Mail kurz vor Tonys Tod gesichtet hatte. Nichts stach hervor. Ich starrte so angestrengt auf den Bildschirm, dass mein Nacken verkrampfte, und wollte den Computer gerade ausschalten, als ich in einem letzten Versuch den Namen der Stadt eingab, in der sie Tonys Leiche gefunden hatten: »Magpie Creek«.
Es gab nur einen einzigen Eintrag.
DÜRRE LÖST ZWANZIG JAHRE ALTES RÄTSEL.
BRISBANE; FREITAG: Für die meisten Menschen ist Australiens augenblickliche Dürre – angeblich die schlimmste seit tausend Jahren – ein Grund zu großer Sorge. Für die kleine Gemeinde von Magpie Creek im Südosten von Queensland jedoch hat sie unerwartet ein Rätsel gelöst, das die Stadt seit zwanzig Jahren beschäftigte.
Am letzten Mittwoch nahm eine Gruppe von Agrarwissenschaftlern Wasserproben aus dem nahe gelegenen, fast ausgetrockneten Lake Brigalow Staudamm, vierundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt, als sie auf ein im Schlamm vergrabenes Fahrzeug stieß. Die Feuerwehr und andere Rettungsmannschaften bargen es und fanden darin die Überreste einer menschlichen Leiche.
Der Polizei von Magpie Creek zufolge gehörte der Wagen einem Mann, der im November 1986 von seiner Familie als vermisst gemeldet wurde. Die Ergebnisse der Identifizierung werden erst nach einer forensischen Untersuchung und einer Obduktion der Leiche feststehen.
Ich lehnte mich zurück und starrte so lange auf den Bildschirm, bis ich nicht mehr klar sehen konnte. Vielleicht klammerte ich mich an einen Strohhalm, trotzdem schwirrten mir zahllose Fragen durch den Kopf. Hatte Tony den Vermissten gekannt? War er ein Freund oder Verwandter gewesen? Jemand, dessen Tod ihm so viel bedeutet hatte, dass er seine Frau ohne ein Wort verlassen hatte und sechzehnhundert Kilometer weit in eine Vergangenheit gefahren war, die er doch so offensichtlich hinter sich gelassen hatte?
1986 war Tony vierzehn gewesen. Sein Vater vielleicht? Von der Familie als vermisst gemeldet – Tonys Familie? Eine Familie, über die er in den zwölf Jahren, in denen ich ihn kannte, nie hatte sprechen wollen. Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Es war unwahrscheinlich, bestimmt nur ein Zufall. Wahrscheinlich nichts als das Gedankenspiel eines erschöpften und traurigen Gehirns.
Ich schaltete den Computer aus, ging in die Küche und warf einen Blick in den Kühlschrank. Er war vollgestopft mit Essen, doch meine Hand griff automatisch nach einem Crown Lager. Das Bier war eiskalt und fühlte sich in meiner von Schmerz zugeschnürten Kehle wunderbar an. Während ich trank, fiel mein Blick auf die schwarze Fensterscheibe, in der ich die Frau erkannte, zu der ich in den letzten fünf Jahren geworden war: hohläugig und abgemagert, mit Schatten unter der blassen Haut, die eigentlich frisch und rosig hätte sein müssen. Dieses Jahr würde ich dreißig, doch mein Gesicht spiegelte die graue Resignation eines viel älteren Menschen.
Ich rieb mir die Wangen und strich das Haar glatt. Für die Beerdigung hatte ich mir einen ordentlichen Pferdeschwanz gemacht, der sich inzwischen gelöst hatte. Jetzt sah mein Haar wieder wie immer aus, ein zerzauster Bob aus den Siebzigern. Ich dachte an Carols dezente Eleganz und schnitt der jungenhaft schmalen Person, die sich in der Scheibe spiegelte, eine Grimasse. Das verhärmte Gesicht starrte missmutig zurück, als klagte es mich schweigend an: Begreifst du jetzt, warum er dich verlassen hat? Verstehst du, warum er sie und nicht dich wollte?
Ich wandte mich vom Fenster ab, ging zu Bronwyns Zimmer und klopfte leise an die Tür. Keine Antwort, also öffnete ich sie einen Spaltbreit. Das Licht brannte. Bronwyn war auf der Bettdecke eingeschlafen, das Haar lag fächerförmig auf dem Kopfkissen ausgebreitet, das Gesicht war fleckig vom Weinen. Sie hatte den Schlafanzug angezogen, den ihr Vater ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Inzwischen war er zu eng und vom übermäßigen Tragen ausgeblichen.
»Bron?«, flüsterte ich und strich ihr übers Haar. »Komm, wir decken dich zu, Kleines.«
Bis vor einem halben Jahr hatte Tony sie regelmäßig jeden Sonntag abgeholt. Kaum erklangen die Kirchenglocken über der erwachenden Stadt, bog er mit seinem schwindelerregenden schwarzen Porsche in die Auffahrt und hupte, aber da lief Bronwyn schon auf ihn zu. Ich stand im vorderen Zimmer des Hauses und beobachtete sie mit zusammengepressten Lippen durch die Jalousien. Sechs oder sieben Stunden später hörte ich das vertraute Hupen erneut, und dann kam Bronwyn ins Haus gerannt, erzählte strahlend, wie toll es gewesen war, und zeigte mir mit leuchtenden Augen und vor Freude geröteten Wangen die Geschenke, die er für sie gekauft hatte.
Doch dann waren seine Besuche plötzlich abgebrochen.
Tony ließ sich sonntags nicht mehr blicken. Er vergaß anzurufen und schickte teure Geschenke, statt selbst vorbeizukommen. Ohne jede Erklärung hatte er sich aus ihrem Leben gestohlen. Hilflos sah ich zu, wie der Kummer sich in ihr ausbreitete wie eine Krankheit und mein fröhliches kleines Mädchen in ein Häufchen Elend verwandelte, das durch das Haus geisterte, als würde es nicht dort wohnen, sondern nur darin herumspuken.
Bronwyn seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Ich stopfte die Decke um sie fest und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie roch nach Kakao und Honig, nach frisch gewaschener Wäsche und Zitronenshampoo. Angenehme, vertraute Düfte. Gerade als ich auf Zehenspitzen gehen wollte, fiel mein Blick auf ein Foto, das an ihrer Nachttischlampe lehnte. Ich hatte es seit Jahren nicht gesehen, und es versetzte mich mit einem Stich von Traurigkeit in die Vergangenheit zurück.
Tony saß auf einem niedrigen Mäuerchen, im Hintergrund sah man die Wasserspiele vor der National Gallery von Melbourne. Hinter der Sonnenbrille funkelten seine Augen, und er lächelte auf seine berühmte, hinreißende Art. Er war nicht im üblichen Sinn schön gewesen, sein Gesicht war zu knochig, seine Nase zu lang, die Zähne ein bisschen schief, aber er hatte etwas, das einen fesselte, eine Intensität, die zurückhaltend und betörend zugleich war.
Ich schaltete die Nachttischlampe aus, nahm das Foto mit in die Küche und lehnte es gegen ein Glas Erdnussbutter auf dem Küchentresen, um es im hellen Licht besser betrachten zu können. Es war tröstlich, sein Gesicht anzusehen und so zu tun, als sei er immer noch irgendwo da draußen, mitten im Leben, und nähme sich vielleicht einen Augenblick Zeit, um zu den Sternen aufzusehen und an mich zu denken.
Fast hätte es funktioniert.
Doch dann fiel mir der Sarg ein, der schlammige Hang und das offene Grab unter der Ulme.
Obwohl ich Tony seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, vermisste ich ihn plötzlich unsäglich. Mit ihm war ich eine andere gewesen – stark, kompetent. Ich hatte mehr gelacht, mir nicht so viele Sorgen gemacht, war offen und hatte mich an fremden Orten wohlgefühlt. Nachdem er gegangen war, hatte ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen – war in meine Arbeit geflüchtet, hatte meine Freunde vernachlässigt und mir nichts mehr gewünscht, als mich zu verlieren. Ich verzweifelte an der Gewissheit, dass der Mann, den ich liebte, mich nicht mehr wollte.
Das einzige Licht in dieser düsteren Zeit war Bronwyn gewesen. Obwohl Tonys Auszug sie in Verwirrung gestürzt hatte, war sie nach wie vor ein aufgewecktes kleines Mädchen, beinahe weise mit ihren gerade mal sechs Jahren. Ich fing an, sie zu bemuttern, und wurde von Augenblicken intensiver Nähe belohnt, die wir bis dahin nur selten zusammen erlebt hatten. Schon als Baby hatte Bronwyn eine starke Bindung zu ihrem Vater gehabt. Sie war der winzige Mond, der ständig und inbrünstig um den Planeten Tony kreiste. Wenn sie sich das Knie aufgeschlagen hatte, ein Pflaster oder einen Verband brauchte, kam sie zu mir. Doch anschließend humpelte sie zu Tony, denn sie wusste, dass er der einzige Mensch war, der sie mit einem Kuss trösten und wieder zum Lachen bringen konnte.
Erst nachdem Tony weg war, fanden wir zueinander. Bronwyn kicherte wie eine kleine Verrückte, schlang die Arme um meine Hüften und erklärte, ich sei die schönste und die beste Mummy auf der Welt … Diese Augenblicke hatten mich gerettet.
Ich seufzte. »Verdammt, Tony. Warum musstest du hingehen und dich umbringen?«
Ich hatte ihn auf der Kunsthochschule kennengelernt. Mit siebzehn war ich furchtbar schüchtern gewesen, aber fest entschlossen, Fotografin zu werden. Ich war bei meiner Tante Morag aufgewachsen. Nach ihrem Tod fand ich eine Brownie-Boxkamera unter ihren Hinterlassenschaften. Es dauerte nicht lange, bis ich davon besessen war, und als mir klar wurde, dass es Menschen gab, die sich mit Fotografieren ihren Lebensunterhalt verdienten, hatte ich beschlossen, ihrem Beispiel zu folgen. Da ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte, schrieb ich mich in der Kunsthochschule von Victoria ein.
Tony studierte Malerei und war mir um ein paar Jahre voraus. Er hatte Talent, war geheimnisvoll, beliebt und komisch, aber auf seltsame und verführerische Weise auch verletzlich. Fast sechs Monate lang waren wir Stammgäste in derselben Kneipe, ehe ich mir ein Herz fasste und ihn ansprach. Zu meiner Verwunderung verliebte auch er sich sofort in mich. Nach einem Jahr war ich schwanger. Ich verschob mein Studium, da ich an nichts anderes als an Tony und das Baby denken konnte. Je mehr unser Kind in meinem Bauch wuchs, umso größer wurde meine Zuversicht. Tony liebte mich, und ich war glücklich auf dieser Welt. Dann bekam ich nach und nach Aufträge und hatte zum ersten Mal im Leben das Gefühl, wirklich irgendwohin zu gehören.
Tony hatte schnell Erfolg. Er fand eine erstklassige Galerie, die seine Bilder gut verkaufte. Er machte sich einen Namen als Künstler und arbeitete härter als jemals zuvor. Man lud ihn nach Venedig zur Biennale ein, damals ein Meilenstein in seiner Karriere, aber auch in unserer Beziehung. Bronwyn kam kurz nach seiner Rückkehr zur Welt, und es schien, als könnte das Leben nicht besser sein. Es war so traumhaft, so märchenhaft schön, dass ich nervös wurde. Und dann begann der Niedergang. So langsam, dass ich es anfänglich gar nicht bemerkte.
Tony blieb nun immer öfter weg. Er werde im Atelier arbeiten, sagte er, müsse eine große Gruppenausstellung für die National Gallery vorbereiten. In den nächsten Jahren bildete sich eine Art Muster heraus. Je mehr Tony sich in seine Arbeit vertiefte, desto stärker klammerte ich mich an ihn – und je stärker ich mich an ihn klammerte, umso mehr zog er sich zurück.
Ich kaute an den Fingernägeln, wanderte nachts durchs Haus und fand keinen Schlaf. Meine Fotos wurden düster und trist: Kinder mit leeren Augen; einsame alte Menschen, die Tauben fütterten oder aufs Meer hinausstarrten. Kahle Bäume, verfallene Gebäude, menschenleere Spielplätze. Die Angst nagte an meinem Glück, riss Löcher, die ich nicht zu füllen vermochte. Äußerlich ging das Leben weiter wie üblich. Wir fuhren mit Bronwyn zum Strand oder machten lange Ausflüge aufs Land; wir halfen bei der Organisation von Schulkonzerten, nahmen an Ballettveranstaltungen und Korbballspielen teil, liebevolle Eltern, die wir waren. Doch insgeheim waren wir beide unglücklich.
Ständig gab es Streit. Auf einmal war Geld ein Thema. Wir schliefen nicht mehr miteinander. Als Tony dann immer später nach Hause kam – und schließlich gar nicht mehr –, spürte ich, dass es zu Ende ging.
Wie falsch ich lag! Ohne dass ich es wusste, war das Ende längst da.
Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Küchentresen und riss mich aus meinen Gedanken. Ich ließ es klingeln und wartete darauf, dass der Anrufbeantworter ansprang. Eine Nacht voller Selbstmitleid lag vor mir, und ich wollte sie auskosten. Doch in der letzten Sekunde griff ich in Panik nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Miss Kepler? Margot Fraser, Tonys Anwältin. Entschuldigen Sie bitte den späten Anruf, aber es ist sehr wichtig, und ich müsste dringend etwas mit Ihnen besprechen. Hätten Sie morgen Zeit?«
Ich erstarrte. Tonys Anwältin? Meine Gedanken rasten und wühlten ein schaumiges Gemisch von Schuldgefühlen und Angst auf. Mein Überlebensinstinkt, der so lange eingeschläfert gewesen war, brach hervor. Sag was, warnte er mich: Lass dir irgendeine Entschuldigung einfallen, um Zeit zu gewinnen.
»Morgen ist Samstag«, entgegnete ich leise.
»Es geht um Tonys Testament«, erklärte die Frau. »Und es ist sehr dringend. Ich bin morgen bis vier Uhr im Büro, könnte aber auch zu Ihnen kommen, wenn Ihnen das lieber ist.«
Mein Magen verkrampfte sich. Ein offizieller Besuch war das Letzte, was ich wollte. Es war verrückt, aber ich hatte das Bedürfnis, ihr von dem Gästezimmer zu erzählen – den vielen mit Büchern vollgepackten Kisten, die ich dort untergebracht hatte, Bronwyns altem Fahrrad und dem liegen gebliebenen Nähzeug, das seit Jahren dort verstaubte. Dann würde sie bestimmt nicht mehr darauf bestehen, dass wir sofort auszogen.
»Miss Kepler, sind Sie noch da?«
»Ja, morgen passt schon. Ich komme im Büro vorbei.«
Sie gab mir die Anschrift und sagte: »Irgendwann nach dem Mittagessen? Sagen wir, gegen zwei? Es dauert nicht lange, aber wenn Sie Fragen haben, hätten wir genügend Zeit.«
»Prima«, erwiderte ich hastig und feige wie immer. »Bis dann.«
»Hier ist eine.«
Am Samstagmorgen duftete die Küche nach Toast und frischem Kaffee. Draußen goss es in Strömen. Die beschlagenen Fenster schirmten uns vom Rest der Welt ab. Normalerweise hörte ich gern dem Regen zu, wie er auf das Dach prasselte und durch die Regenrinnen rauschte. Heute jedoch war das Geräusch beunruhigend und erinnerte mich daran, dass es die sichere kleine Welt, die wir uns aufgebaut hatten, bald nicht mehr geben würde.
Bronwyn stieß mich mit dem Ellbogen an und zeigte auf eine Wohnungsanzeige in der Zeitung, die sie auf dem Tisch aufgeschlagen hatte. »Guck doch mal.«
Ich warf einen Blick auf ein Meer von gedruckten Buchstaben. Der Schlaf hatte mich letzte Nacht wieder mal reingelegt und an den Rand der so dringend benötigten Bewusstlosigkeit gelockt, nur um sich dann, als ich gerade wegdösen wollte, wieder aus dem Staub zu machen. Ständig sah ich Tonys Grab vor mir, das von aufgeweichten Blumen umgeben war und sich rasch mit Wasser füllte … Und immer wieder hörte ich Carols aufgebrachte Worte: »Warum hat er das getan, Audrey, warum?«
Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Wie viel?«
»Dreihundertneunzig die Woche«, sagte Bronwyn anerkennend. »Zwei Badezimmer. Klingt nicht schlecht.«
Der Kaffee versengte mir die Kehle, und ich hustete schwach. Zwei Badezimmer klang gut, aber dreihundertneunzig? Unser riesiges altes Haus hatte seine Nachteile, aber die Miete war umsonst. Tony hatte nie Unterhalt für seine Tochter bezahlt, die Genugtuung hatte ich ihm nicht geben wollen. Stattdessen war ich in unserem Haus geblieben, nachdem er zu Carol gezogen war. In den fünf Jahren, die Bronwyn und ich hier allein lebten, hatte ich ein hübsches Sümmchen auf die hohe Kante gelegt, mit der ich uns eines Tages ein eigenes Zuhause kaufen wollte. Ich brauchte nur noch ein paar Jahre mehr.
»Gibt es etwas, das billiger ist?«
»Das ist das Billigste, Mum. Es sei denn, wir quetschen uns in ein Einzimmerapartment.«
Ich rieb mir die Augen und sah, wie meine Ersparnisse im Nu von der Hypothek eines Fremden aufgesogen wurden. »Vielleicht steht morgen was in der Zeitung.«
»Morgen ist Sonntag.« Bronwyns Finger glitt fachmännisch über die Seite. »Sonntags gibt es keine Wohnungsanzeigen.«
Ich starrte sie an und fragte mich, woher ein elfjähriges Mädchen so etwas wusste. Wie sie so ruhig sein konnte, während ich Magenkrämpfe hatte. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Kühlschrank. Nur noch ein paar fürchterliche Stunden. Die Muskeln in meinem Nacken waren angespannt wie Gummibänder. Ich rollte die Schultern, um die Verkrampfung zu lindern, und versuchte anschließend, mich auf den Finger meiner Tochter zu konzentrieren, der sich im Schneckentempo durch das Labyrinth potenzieller neuer Domizile bewegte.
Dann hielt ihr Finger abrupt inne. Bronwyn sah mich aufmerksam an. »Du siehst ständig auf die Uhr. Wollen wir irgendwohin?«
»Die Anwältin deines Vaters will mich heute Nachmittag sprechen. Es dauert nicht lange. Ich bringe dich zum Korbballspielen und hole dich anschließend wieder ab.«
Bronwyns Augen weiteten sich. »Hat er uns was hinterlassen?«
Ich zuckte die Achseln, um ihr keine falschen Hoffnungen zu machen. »Vielleicht hat Carol ihre Meinung geändert, was die vier Wochen angeht. Vielleicht möchte sie, dass wir schneller ausziehen.«
»Ich komme mit.«
»Bitte, ja, Mum?« Sie blickte mich an, ihre Augen waren so blau wie Quellwasser.
»Bitte.«
»Na gut«, gab ich nach. »Aber mach dir nicht allzu viele Hoffnungen.«
Mir blieb das Herz stehen. Dort war Tony gestorben, und mir war augenblicklich klar, dass die kleine Stadt mehr für ihn gewesen sein musste als nur ein zufälliger Zwischenhalt. Ich räusperte mich. »Das ist in Queensland, nicht wahr?«
Bronwyn, die auf dem Ledersessel neben mir saß, beugte sich vor und sah die Anwältin gespannt an. Sie wirkte älter als elf, möglicherweise wegen des dunkelblauen Kleids und der schicken schwarzen Sandalen, die sie unbedingt hatte anziehen wollen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass ihre Stimmung sich aufgehellt hatte, als sie vom Nachlass ihres Vaters erfahren hatte. Ein beträchtlicher Treuhandfonds, auszahlbar an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, und ein riesiges Aquarell von einem Rotkehlchen, das sie seit Langem bewundert hatte.
»Ein Haus«, staunte ich und rutschte unbehaglich auf meinem Sitz hin und her. Wo war der Haken? »Und was ist mit Tonys Ehefrau?«
»Ja, bitte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich höre zum ersten Mal davon.«
Auf dem Foto sah man ein imposantes Gebäude mit einer schattigen Veranda, die um das ganze Haus verlief. Zwei Erkerfenster aus Buntglas und Traufen, die mit filigranen schmiedeeisernen Gittern verziert waren. Der umliegende Garten war ein Labyrinth aus Hortensien- und Lavendelsträuchern mit einem Backsteinpfad, der sich über den grasbewachsenen Hang bis zu einer einladenden Treppe schlängelte. Sonnensprenkel tanzten über den Rasen und eine alte Rosenlaube, die unter purpurfarbenen Blüten erstickte.
Bronwyn seufzte. »Mum, das ist ja toll.«
»Aber Mum …«
Bronwyn warf mir einen kummervollen Blick zu, doch ich ignorierte sie und sah mir das Foto genauer an. Nach Tonys Tod hatte ich mir geschworen, ihn zu vergessen – Bronwyn zuliebe, aber auch meinetwegen. Wie sollte ich das schaffen, wenn wir in das Haus seines Großvaters zogen? Das alte Anwesen wirkte riesig und zugleich rätselhaft. Wahrscheinlich war es voller Geheimnisse, Gespenster und Erinnerungen anderer Leute.
Margot zog ein weiteres Foto aus dem Kuvert. Eine Luftaufnahme, auf der das herzförmige Grundstück zu sehen war. Ein Stück gerodetes Grasland erstreckte sich über das südlichste Viertel, ein grüner Flickenteppich, der von Zäunen und braunen Dämmen durchzogen wurde. In der Mitte des Fotos befand sich das Haus – ein rechteckiges Eisendach, umgeben von weitläufigen Gärten, die sich über den Hügel erstreckten und im Buschland verloren. Im Nordwesten sah man eine Reihe dicht bewaldeter Hügel, aber es gab auch seltsam kahle Stellen, wo der rostrote Boden von Steinformationen durchzogen war.
Sie sammelte die Fotos wieder ein und steckte sie in das Kuvert. »Vermutlich würde es Sie interessieren, was das Grundstück wert ist.«
Ich nickte.
Bronwyn hielt die Luft an.