Zum Buch
Da gibt es den 80-Jährigen, der nicht aus eigenem Antrieb mit seiner Haushälterin zusammenlebt; da gibt es die geschiedene 59-jährige Richterin, die das Älterwerden hasst, manchmal zu laut Klavier spielt und sich nach ihrer Heimatstadt sehnt. Ein ehemaliger Oberst sehnt sich nach der Mulattin, mit der er während des Kolonialkriegs in Afrika zusammenlebte, ein Alkoholiker leidet unter seiner rabiaten Frau und der Tochter Alexandra, die ihn oft nicht in die Wohnung lässt. Als der Vater zum Landstreicher wird, macht sich Alexandra schreckliche Vorwürfe. Eine jüdische Familie aus der Ukraine fühlt sich nach wie vor von Nazis verfolgt, ein Kommunist hat die Traumata der Folter seitens der PIDE nie verarbeitet. Eine ehemalige Schauspielerin, behindert und verarmt, lebt über einer adipösen Witwe. Und dann gibt es noch den Dachboden, über dessen geheimnisvollen Bewohner die absurdesten Gerüchte kursieren …
Aus all diesen Lebens-, Leidens- und Liebesgeschichten spinnt António Lobo Antunes einen dichterischen Kosmos voll Poesie und Melancholie, einen bewegenden Aufschrei von verletzten und verletzbaren Seelen, ein düster leuchtendes Manifest der Menschlichkeit.
Zum Autor
ANTÓNIO LOBO ANTUNES wurde 1942 in Lissabon geboren und hat Medizin studiert. Während des Kolonialkrieges war er als Militärarzt in Angola, arbeitete danach in der Psychiatrie und war lange Jahre Chefarzt in einer Psychiatrischen Klinik in Lissabon. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Sein umfangreiches Werk ist in vierzig Sprachen übersetzt und erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Camões-Preis.
Zur Übersetzerin
MARALDE MEYER-MINNEMANN, geb. 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen, 1997 den Preis Portugal-Frankfurt, 1998 den Helmut-M.-Braem-Preis und wurde dreimal für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
António Lobo Antunes
Ich gehe wie ein Haus
in Flammen
Roman
Aus dem Portugiesischen von
Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand
Für Zé Manel
in Freundschaftsliebe
ZWEITER RECHTS
Ich mag die Wohnung nicht, weil ich mich dort nicht als kleinen Jungen wiederfinde, der auf dem verglasten Balkon spielt, seit unserer Hochzeit wohnen wir darin zur Miete, und das Ergebnis, diese Kinder, dein Asthma, vor allem ich, so unbeholfen, so schwach, als ich ledig war, schützte mich meine Mutter, nicht vor meinem Vater, denn der nahm mich überhaupt nicht wahr, sondern vor meinen Schwestern und vor meinem Bruder, sie prahlte mit mir vor ihren Gästen
– Nimm die Brille ab damit Dona Adelaide diese blauen Augen sehen kann
die Welt ein verschwommener Nebel, Dona Adelaide überrascht
– Wer hätte gedacht dass sie so schön sind?
und dann sofort mitleidig
– Schade die vielen Dioptrien
ich mag weder die Wohnung noch die Möbel, das Wasser in der Blumenvase welker als die Blumen, im Fenster Schreie pfeilschneller Augenbrauen, die sie Schwalben nennen, meine Mutter unvermittelt jung
– Frühling Kleiner
als könnte man den Frühling sehen, womöglich gab es Keramikgeklimper in den Blättern oder mehr Mädchen im Freien, aber ich war für sie nicht vorhanden, die Augenbrauen des Lehrers hoben sich vom Heft zu meinem Gesicht, entschwanden, mich verachtend, über die Dächer
– In jedem Satz drei Patzer
ich mag das Schlafzimmer nicht, aus dem ich den Sessel nicht herausgenommen habe, in den man dich mit der Sauerstoffmaske setzte, ein Pantoffel am Fuß, der zweite verlorengegangen, deine Augenlider atmeten über der Maske, nicht die Lunge, deine Augenlider zwei Kröten mit faltigen Bäuchen, die sauer auf mich waren
– Du hast nie was getaugt
unter dem Haar, das noch viel welker war als die Blumen, ein paar graue Stängelchen, feuchte Blütenblätter, der Fuß mit dem Pantoffel deiner, der Fuß ohne Pantoffel der einer Fremden, monatelang hast du mir die Briefe zurückgeschickt, in denen jeder Satz drei Patzer enthielt
– So was von hartnäckig mir zu schreiben
der Fuß ohne Pantoffel unbekannt, rot, schwoll im gleichen Rhythmus wie die Augenlider an und ab, was schwoll hier nicht alles an und ab, die Wände, das Bett, die dreißig Jahre, die wir zusammen verbracht haben, ich schreibe Ihnen, weil ich Sie schätze, und zu mehr als zu dieser idiotischen Prosa war ich nicht imstande, ich wollte Sie nicht beleidigen, ich mag das Schlafzimmer ebenso wenig wie das Zimmer meiner Söhne, sie sind gegangen, und die Umrisse der Schränke sind auf dem Putz zurückgeblieben, sie fehlen mir und fehlen mir nicht, sie fehlen mir nicht, ihr Fenster geht nach hinten hinaus, früher ein offenes Feld mit Schafen, die den Klang ihrer Schellen kauten, jetzt ein Platz, die Apotheke, Farmácia Salutar, was für ein Name, Gesundheitsapotheke, ein Reisebüro, deine Schulter mit spöttischem Lachen
– Wenn Sie mir weiter schreiben wollen ist das Ihre Sache
mit Brille wie ich, nicht einmal hübsch, nicht einmal sympathisch, was fand ich bloß an dir, ich mag den in einem Altwarenhandel inmitten von Steigbügeln, Laternen, Anrichten gekauften Porzellanhund nicht, du bist gleich auf das Tier zu
– Wie goldig
und obwohl er nicht goldig war, schwieg ich, ich schwieg immer, der Kopf des Tieres nickte
– Blödmann
vom ersten Tag an bis heute
– Blödmann
eine Bulldogge mit den Hängebacken von Dona Adelaide, fragte ich sie etwas
– Hast du was gesagt?
eine verblüffte Pause, das Kinn zögerte, überlegte, entschied sich schließlich
– Blödmann
schüttelte man sie, war der Bauch hohl und eine Schraube klirrte, während das Wasser in der Vase welkte, in der Sonne belebte es sich und welkte dann wieder, ich mag die Wohnung nachts nicht, weil ich mir sicher bin, dass ich allein sterben werde, mein älterer Sohn verlangt Geld, das nicht vorhanden ist, das Gefühl, dass meine Mutter mich in einem August von einst, im Norden, ruft
– Joaquim
meine Schwager auf der Veranda, vor der Veranda der Abhang mit dem Weinberg, sie verspotteten mich
– Trantüte
und mein Vater widersprach ihnen nicht, in seinen Taschen Dutzende Zahnstocher, meine Mutter empört
– Irgendwann hast du keinen einzigen Zahn mehr im Mund
und ich erinnere mich nicht daran, bei ihm ein Lächeln erlebt zu haben, er las ständig Zeitung, meiner Meinung nach las er allerdings gar nichts, wir redeten nicht miteinander, er und ich, der Weinberg, und ohne Nebel sah man in der Ferne die Laternen von Manteigas, worüber reden, so ähnlich waren wir beide, unbeholfen, schwach, was haben Sie je Nützliches getan, Vater, etwas, von dem man was hat, wir starren einander an, und Leere, wenn wir wenigstens, wozu es sagen, es interessiert nicht, ich wohne in diesem zweiten Stock rechts, seit wir geheiratet haben, meine Frau stieg, an meinen Arm geklammert, ohne Brille die Treppe von der Kirche herunter
– Kommt da noch eine Stufe?
im Wohnzimmer verliert der Teppich seine Farbe, das Sofa rammt mir Sprungfedern in den Rücken, und auf der Truhe in der Diele das Kupfertablett für die Post, die Hochzeitsreise in einer Herberge in Sintra, in der Ausländer auf dem Flur hin und her gingen, die Scham wegen meiner herausstehenden Knochen
– Schau mich nicht an
Sintra nachts, Manteigas nachts, mein Schwager, der Architekt
– Das ist nicht Manteigas das ist Seia
meine Frau verwundert
– War das alles?
nahm die Brille vom kleinen Nachttisch
– War das alles?
das Nachthemd mit Schleifchen und Spitzen, das deine Mutter dich gezwungen hatte, in das Gepäck zu falten
– Männer fängt man mit solchen Tricks
und du hättest mich gefangen, wenn ich ein echter Mann gewesen wäre, zu viele Beine, die mich störten, ein loser Knopf
– War das alles?
kurz davor, sich in einem Spalt zu verkrümeln, und ein Holzsplitter bohrte sich in meine Handfläche, du hast ihn mit der Pinzette für die Härchen herausgezogen
– Sei doch keine Memme das tut nicht weh
vermischt mit dem
– Sei doch keine Memme
die Ausländer, die unablässig auf dem Flur unterwegs waren, Seia oder Gouveia, mein Schwager, der Arzt
– Meinen Schätzungen nach Gouveia
und du
– Das kann es doch nicht gewesen sein
neben der Küche der aus dem Brunnen gezogene Kübel, die silberne Teekanne mit Mahagonigriff, darauf drei Margeriten als Relief, meine Mutter, die Hand am Griff, den Zeigefinger der anderen Hand auf dem Deckel
– Noch etwas Tee Senhor Fonseca?
Tee für sie, Milch für mich, die Untertasse mit den Keksen
– Bedien dich nicht vor den Erwachsenen
meine Handfläche
– Ein Splitter den man kaum sieht sei keine Memme
zog sich beleidigt zurück, wenn sie Geheimnisse mit den Freundinnen austauschte und ich hereinkam, meine Frau
– Wechseln wir das Thema
und verächtliche Seitenblicke
– Der ist kein Mann der ist kein Mann
das Wasser, damals lebendig in der Vase, spähte wie die anderen zu mir herüber, wenn sie sich verabschiedeten, Gekicher auf dem Treppenabsatz, Seufzer meiner Frau vor noch mehr Gekicher
– Wenn ich das wäre
meine Mutter bereit, mich auf den Schoß zu nehmen und mich zu retten
– Joaquim
und
– Mutter
sagen, immer wieder
– Mutter
sagen bis zum Einschlafen auf einem kleinen Diwan, den es nicht mehr gibt, an einen Stofflöwen geklammert, dem ein Ohr fehlte, doch sogar ohne Ohr verteidigte er mich gegen die Welt, mein Schwager, der Arzt, zu meinem Schwager, dem Architekten
– Es könnte durchaus Seia sein
Laternen, die nicht fest standen, kamen und gingen, wie der Norden doch atmet, über den Feldern eine Milchstraße aus Grillen, jede mit einem unsichtbaren Windlicht aus Klängen, Gouveia oder Seia, Heimchen oder Maulwurfsgrillen, die Töne erreichten in der Dunkelheit unendliche Entfernungen, hör nur, die ganze Region Beira Alta zirpt, schau, der Knüppel des Verrückten mit dem Umhang, den Hunde anbellten, die noch magerer waren als ich, sie fressen Hühner, Kaninchen, Salazar war kein Diktator, er war, in der Eingangshalle ein paar Wandleuchter mit schiefen Kerzen, ich rückte sie gerade, aber sie neigten sich wieder, er war ein Patriot, der dieses Land auf Vordermann gebracht hat, in Portugal brauchen wir eine Regierung mit fester Hand, es geht dabei nicht darum, dass ich meine Arbeit verloren habe und mich die Angestellten im Ministerium beschimpften
– Faschist Faschist
es geht darum, dass Afrika aufgegeben und für einen Handkuss an die Kommunisten weitergereicht wurde, dein Fuß ohne Pantoffel der einer anderen Person, das Fehlen von Patriotismus, der Mangel an Respekt, die Anarchie, zum Glück haben meine Eltern das nicht miterlebt
– Warum geben Sie nicht auf mir zu schreiben?
wo doch in jedem Satz drei Patzer waren, was ist aus diesem Land geworden, deine Familie einfacher als meine, einer meiner Großväter war General, von deinen hast du mir nichts erzählt, deine Mutter, von meiner Mutter Möchtegerndame genannt, die den kleinen Finger anbeugte, was ihre Gesten kringelte, die sich langsam, feierlich auf den Rand des Stuhls setzte, schwierige Worte auswählte, meine Schwager im Chor Susana isst gern Salat mit saurer Sauce, Sonntags singen Zwerge am See lustige Lieder über Seemänner im Eismeer, und ich schämte mich zutiefst, Dona Susana freundlich wütend
– Wie lustig
gleichzeitig aus dem Mundwinkel
– Schwachköpfe
genau wie mein älterer Sohn, wenn ich ihm kein Geld gebe
– Schwachkopf
daher bin ich nicht bei euch in Lissabon, sondern im Norden auf der Veranda, an einen Löwen geklammert, der Ehemann von Dona Susana trägt übrigens einen Hut mit einer kleinen Feder, Ehrenwort, von einem bestimmten Zeitpunkt an sind die Bäume nicht mehr grün, sondern blau und hinter den Eisenbahnschienen am Fuß des Hanges fast schwarz, an einer Kreuzung das Café, ein kleiner Krämerladen, der Bahnhof, und plötzlich erschien der September mit den Elstern in meinem Kopf, ich hätte nie gedacht, dass die Eukalyptusbäume, meine Mutter über deine Mutter, keine Dame, eine Möchtegerndame, und in fünfundzwanzig Jahren wird die Tochter haargenau wie die Mutter sein
– Meine Schwiegersöhne machen gern Späße haben Sie je einen erwachsenen Mann gesehen machen Sie sich nichts draus
ich hätte nie gedacht, dass die Eukalyptusbäume, im Bilderrahmen der Generalsgroßvater mit Orden, wichtig wichtig
– Eine unverbesserliche Möchtegerndame und deine Braut ebenfalls eine Möchtegerndame
Dutzende, Hunderte, Tausende Elstern tragen können, die nicht nur andere Vögel nachahmen, sondern auch uns nachahmen, im September, wenn die Elstern da waren, wurde ich noch unbeholfener, und sie äfften mich nach
– Mama
nicht
– Mutter
wie meine Schwester und mein Bruder, sondern
– Mama
ein perfekter Möchtegernherr, von wem hast du das bloß geerbt, ich wohne in einer prätenziösen geschmacklosen Wohnung im zweiten Stock, die Kacheln in der Küche grauenhaft, über einem jüdischen Ehepaar, das von wer weiß woher immigriert war, auf der einen Seite und einem Trinker mit Familie auf der anderen, im dritten eine alte Schauspielerin, woher kommen nur die Elstern, erklär mir das mal einer, ein Gebäude ohne Fahrstuhl und Garage, was meine Mutter zwingt, es mit sechsundsiebzig Jahren in ihrer Witwentrauerkleidung zu erklimmen
– Ihr würdet mich doch nicht für sechsundsiebzig halten oder?
flehte uns damit an, den Tod hinauszuschieben
– Den Gedanken an das Ende ertrage ich nicht
die Lippe zittert, die Pupillen rücken zusammen, die Hand mit den Eheringen korrigiert die Gesichtszüge, so wie sie die Fotos der Enkel auf dem Tischchen mit der bodenlangen Decke zurechtrückt, Irina Jorge Sebastião, und die Lampe mit dem Pergamentschirm so gegen die Wand dreht, dass man das Brandloch einer Zigarette weniger bemerkt
– Ihr würdet mich doch nicht für sechsundsiebzig halten?
bei dem wir lieber nicht darüber nachdachten, wer es gemacht hatte, ich mag die Wohnung nicht, Elstern, die die Predigten des Herrn Vikars und das Quietschen der Kutschen bespitzelten, die meine Mutter bespitzelten
– Ihr würdet mich doch nicht für sechsundsiebzig halten?
in der Herberge in Sintra gab es die ganze Woche lang denselben Entenreis und denselben Pudding, serviert von derselben Kellnerin mit den Bastschuhen, die gegen ihre Fersen knallten, die Kissen feucht, ständiges Grau, schob ich das Bein zu dir hinüber, tat dein Fußknöchel reglos auf dem Betttuch so, als schliefe er, aber ich wusste, dass er wach war, näherte ich mich, Protest auf dem Kopfkissen
– Willst du dass ich aus dem Bett falle?
und der Wind änderte die Richtung des Regens, eines Nachmittags lag eine Möwe im Farn, der Geschäftsführer mit einem roten Fleck auf der Wange
– Sie haben Pech mit dem Wetter
du mit dem Schal, denn nie sprach deine Kehle zu mir, sondern die Jacke, der Kragen, der Schal
– Ich hatte Pech
in der Geburtsklinik verschwitzte Haarsträhnen, und das vom Radiergummi der Erschöpfung ausgelöschte Gesicht teilte der Hebamme mit
– Keine Ahnung wie ich zweimal schwanger werden konnte
und dennoch bist du nicht gegangen, wieso, schweigsame Abendessen, bittere Feiertage, du nicht
– Mein Mann
sagtest nicht meinen Namen, du
– Der hier
aber ich bin nicht gegangen, weil ich mich vor einsamen, aus Zitronentee und wirren Träumen gemachten Grippen fürchtete, vor der Traurigkeit der Dämmerungen im Winter, wenn sogar das Klappern unsichtbarer Teller und ein Husten an der Arbeitsfläche in der Küche helfen, ich bin nicht gegangen, weil ich fürchtete, zu einer Möwe in einem Farn zu werden, die fallen wird, die fällt, und im Fallen würde ich mich an den Löwen ohne Ohr erinnern und an das Fahrrad, das sie mir versprochen hatten und das ich nie bekommen habe, an die glückliche Begeisterung, wenn der Briefträger eine Postkarte brachte, wie ich um meine Mutter herumhüpfte
– Lassen Sie mich lesen wie Vater lassen Sie mich lesen wie Vater
und so tat, als würde ich lesen, ohne es zu verstehen, hingerissen vom Profil Salazars auf den Briefmarken, meine Mutter während der Messe
– Bete zu unserem Herrn dass er weiterhin auf uns aufpasst
aus wie vielen Dingen die Vergangenheit besteht, Katzen werden die Möwe ins Gebüsch schleifen, und am nächsten Tag ein Päckchen roter Federn, ein starres Auge, der Schnabel, im Schlafzimmer, in dem mir die Sauerstoffmaske nicht gefällt und die Augen meiner Frau weder anschwollen noch abschwollen, starr wie die der Möwe, der nackte Fuß ebenfalls starr, die Brille auf dem Nachttisch unvermittelt riesig, ich habe sie in der Hoffnung aufgesetzt zu verstehen, was sie sieht, und ich sah überhaupt nichts, nur einen gleichförmigen Nebel, mein jüngerer Sohn
– Keine Ahnung wie ich zweimal schwanger werden konnte
fand den verlorenen Pantoffel und streifte ihn ihr über, mein älterer Sohn beschlug mit seinem Atem das Fenster, die Bulldogge unermüdlich
– Blödmann
und der Regen in der Herberge in Sintra breitete sich auf dem Fußboden aus, meine Mutter nicht wiedergutzumachende sechsundsiebzig Jahre
– Ihr würdet mich doch nicht für sechsundsiebzig halten oder?
ich bin jetzt fast achtzig, als meine Frau starb, nicht meine Frau, meine Gattin, Dona Susana möge mir verzeihen, achtundsiebzig oder neunundsiebzig, eine Frage der Zählung, neunundsiebzig, in einer Schublade fand ich meine Liebesbriefe mit Bleistiftnotizen von dir
– Mangelhaft
wie in der Schule, der Bleistift eine Elster, die sich über mich lustig macht, eine Träne zittert an der Nase meines jüngeren Sohnes, dein Körper schräg auf dem Sessel, das Wasser in der Vase ruhig, ich mag weder die Wohnung noch die Nachbarn, der Trinker aus dem ersten links zertrümmerte die Tür mit einem Hammer
– Jetzt ist es so weit
oder warf die Blumentöpfe in der Eingangshalle um, bevor er, in seine Hose verwickelt, auf die Stufen stürzte, brüllend einschlief, mein Vater brüllte nicht, er nahm hin, und im Schlaf weiterbrüllte, bis seine Tochter ihn wegschleifte und er dabei die Schuhe verlor, sie holte sie später mit dem, was aus seiner Tasche gerutscht war, Münzen, Schlüssel, Papiere, und die Juden spähten vom Treppenabsatz herauf, ich habe nicht einmal bei meiner Hochzeit getrunken, obwohl ich so sehr in Nöten war, habe ich nicht getrunken, was mache ich nachher, wie mache ich es nachher, wo küsse ich sie, wie umarme ich sie, meine Frau kam nach Ewigkeiten dauernden Geheimmanövern aus dem Badezimmer
– Womit beschäftigen sich die Frauen insgeheim Mutter?
in dem Nachthemd mit den besagten Spitzen und Schleifchen, brauchte ein Jahrhundert lang, um die Kleider auf dem Stuhl zusammenzufalten, war ebenso angespannt wie ich, ich dachte
– Ob deine Mutter es dir erklärt hat?
sie legte sich steif hin, wartete, betrachtete dabei die Deckenlampe, ich, die Finger am Krawattenknoten, hatte vergessen, ihn aufzuknüpfen, war mir sicher, dass sie es ihr nicht erklärt hatte, wäre am liebsten Entschuldigungen erfindend gegangen
– Komme gleich wieder
und schnell nach Lissabon gefahren, hätte dort den Schlüssel im Schloss umgedreht, ganz zu schweigen von der gegen die Wand geschobenen Kommode, die dich daran hindern würde hereinzukommen, es gab im ganzen Universum keinen dickeren Ehering als meinen, der mich in jener Nacht an die Matratze heftete, ich hatte das Betttuch bis zur Nase hochgezogen, die Deckenlampe unschlüssig
– Und jetzt?
in Lissabon, wo meine Eltern schliefen, das Summen des Kühlschranks, und Sehnsucht nach dem Kühlschrank, dem Herd, den ich mit ausgepackt hatte, den Ameisen in den Ritzen der Fliesen und den kleinen Dosen mit Petersilie auf der Fensterbank, nachdem ich die Krawatte abgenommen hatte, wuchs die Kleiderlache um meine Beine herum, wie die Schienbeine herausstachen, die Schultern gehörten nicht zu mir, auch nicht der, warum ihm einen Namen geben, du erschrakst bei jedem Ausländer auf dem Flur, und ich erschrak deinetwegen, ein Räuspern, ein Husten, durchdringende Kinderstimmen, als ich mich mit Socken an den Füßen ins Bett legte, nicht daran gedacht hatte, sie auszuziehen, nur überlegte
– Wessen Strümpfe sind das?
du ohne Brille halbblind, was für ein Unsinn, zusammen mit einer Halbblinden in Sintra zu sein, und der Wind im Rollladen, Regen, Büsche, monströse Baumstämme, die die Autoscheinwerfer zusammen mit dicken Steinen und Mauern auf uns schleuderten, deine Mutter theatralisch, Susana isst gern Salat mit saurer Sauce
– Sorgen Sie bitte gut für mein Baby
dein Vater gab mir eine Art Umarmung, die ich nicht spürte, wischte sich mit gerührtem Taschentuch das Doppelkinn ab, deine Familie mit Abstand zu meiner, feierlich
– Sein Großvater ist General
Möchtegerndamen und Möchtegernherren, die heimlich Essen in Plastiktüten steckten, billiger Luxus, kleine Mädchen mit lackierten Fingernägeln, kein Teil von dir zu sehen, wer garantiert mir, dass dein Körper unter dem Betttuch liegt und keine Eidechse, die mich erwürgt, der Lehrer kam aus dem Heft zu mir hoch
– In jedem Satz drei Patzer
also mich schnell zudecken, um in Lissabon ihm und im Norden den Fliegen zu entgehen, die nicht einmal vor meinem Großvater, dem General, Respekt hatten, meine Frau betrachtete die Deckenlampe, und wer von uns beiden macht sie aus, um die Lampe herum zerbrochene Plastikverzierungen, die eine zahnlose Blüte nachahmten, kein Herbergszimmer, ein Kabuff, klemmende Wasserhähne, leckendes Bidet, Mäuse im Mauerfutter, glaube ich, im Norden fraßen sie Hühner, die Köchin
– Passen Sie auf dass sie nicht Sie fressen
und lange war ich außerstande, in den Weinberg hinunterzugehen, der Lichtschalter wahnsinnig weit weg, und die Brautleute hatten nicht den Mut, Kilometer zu durchmessen, um die Lampe auszuschalten und, sich an den Ritzen im Rollladen orientierend, zurückzukehren, in denen sich Wolken häuften, klatschnasse Eulenflüge und November, der die Flecken im Stuck vergrößerte, Hospedaria São Pedro, sollte ich tausend Jahre leben, ich werde dich nicht vergessen, der Lehrer nannte einen Dicken, der mir immer Bonbons schenkte, meinen Mann, ich sagte das meinem Bruder, und mein Bruder
– Und stimmt das etwa nicht?
also lagen du und ich da und bestaunten die Lampe, selbst bei geschlossenen Augenlidern war sie noch da und fügte dem Rosa unserer Adern das der zerbrochenen Blütenblätter hinzu, dein Duft erreichte mich ganz allmählich und jagte mir noch mehr Angst und Schrecken ein, die Tatsache, dass du dein Ohr riebst, machte dich weniger gefährlich, du spürtest wie ich einen Juckreiz und warst daher womöglich menschlich, meine Mutter kraulte mir vor dem Einschlafen immer den Rücken, gab mir den Löwen
– Da nimm
und hätte sie mich nach Sintra begleitet, wäre es einfach gewesen, an die Fensterscheibe geklebte Blätter, Papierstückchen, kleine Zweige, der Eindruck, dass die Ulmen draußen immer größer wurden
– Keine Angst es ist nicht kompliziert
also habe ich, als du wieder dein Ohr riebst, versucht, dein Handgelenk zu packen, und du hast mich weggeschoben, deine Finger genauso verschwitzt wie meine, dein Hals ein pochendes Spatzenherz, hätte ich den Löwen dabeigehabt, hätte ich ihn zerrissen, und wir hätten ihn uns geteilt, jeder hätte sein Stück, und wir wären ruhiger geworden, ich bemerkte meine Strümpfe, denn dein Fuß berührte mich, verschwand, berührte mich wieder und ging nicht mehr weg, ich spürte jeden Zeh durch den Stoff
– Wer hat das Sagen?
– Salazar Salazar Salazar
der Lehrer, ich will euch Scheißpatrioten laut hören, wenn ich frage, wer soll hochleben, antwortet ihr Portugal Portugal Portugal, so dass sogar die Giraffen im Zoologischen Garten bellen, he, Dicker, sag deiner Frau, sie soll wenigstens so tun, als wäre sie ein Mann, ich habe den Lehrer viele Jahre später gesehen, wie er einen Stiefel nachzog, ich fragte ihn
– Erinnern Sie sich an meinen Mann den Dicken?
er mit einem vagen Gesichtsausdruck, der sich nicht auf seinem
– Wer soll hochleben?
– Portugal Portugal Portugal
weichen, schiefen Mund hielt, eine Tüte mit wer weiß was darin beulte seine Tasche aus, anstatt
– In jedem Satz drei Patzer
anstatt
– Wer hat das Sagen
der Lehrer
– Wie bitte?
hatte die Geschichte, die Pronomen, die Tanzabende am Sonnabend im Freizeitclub vergessen, bei denen er mit einer Schneiderin tanzte, hatte Salazar vergessen
– Ich habe ihn auf der Kolonialausstellung aus nächster Nähe gesehen
versuchte es in Schritten auszurechnen, vier oder höchstens fünf
– Wie ist Salazar Herr Lehrer?
und er, indem er mit ernster Rührung über uns hinwegblickte
– Ein Gigant
ganz bestimmt größer als ich in der Herberge in Sintra, den Blick auf der Lampe, in der Schmetterlingsohnmachten flatterten, wäre Salazar an meiner Stelle dort gewesen, wäre dein Fuß nicht rein zufällig da gewesen, ich verstecke mich, verstecke mich nicht, und der Verdacht, dass da eine Pause im Wind, eine Unterbrechung im Regen, plötzlich existierte eine Regenrinne, die Zink tropfte, Susana isst gern Salat mit saurer Sauce, immer dieselbe blödsinnige Leier, der Lehrer
– Aus nächster Nähe
und wuchs dabei, löschte die Entfernung, die ihn vom Giganten trennte, aus, und wir im Chor, in Ekstase levitierend
– Salazar Salazar Salazar
also küsste ich, von ihm ermutigt, leicht deinen Hals, und du stießest mich nicht weg, deine Haut weniger weich, als ich mir vorgestellt hatte, mir war so, als würde die Deckenlampe mich, indem sie sich weitete, zusammenziehen, der Trinker brach die Tür vom ersten links auf
– Jetzt ist es so weit
warf den Garderobenständer um, verteilte Regenmäntel auf dem Fußboden
– Gesindel
erkannte sich nicht im Spiegel
– Wer ist da bei euch?
zog nunmehr gemächlich den Gürtel heraus, ich mag die in einem Altwarenladen gekaufte Bulldogge nicht, die mich anklagt
– Blödmann
wenn ich Interesse zeigte
– Was ist?
eine verblüffte Pause, das Kinn zögerte, überlegte, entschied sich schließlich
– Blödmann
und über dem
– Blödmann
eine Schraube im hohlen Bauch, der Vater meines Schwagers, des Arztes, ist groß, sonor, er nannte mich nicht
– Joaquim
er nannte mich, im Hinausgehen nach der Messe, ich weiß nicht, ob ich unglücklich bin, wie man das Unglück misst, ich muss unglücklich sein, wie kann ich ohne den Stofflöwen glücklich sein, meine Mutter
– Bis er fünf war hat er dieses Tier nie losgelassen
der Vater meines Schwagers, des Arztes, ist groß, und ich bin mager, rundrückig, der Nebel nicht nur in den Büschen, hier im Zimmer trennte er dich von mir, ich spürte deinen Fuß, ohne dich anzusprechen, so wie ich auch den Hals geküsst habe, ohne dich anzusprechen, und kein Seufzer deinerseits, keine Geste, der Vater meines Schwagers, des Arztes, erhängte mich an meinem Kragen, angsteinflößend
– Jockilein
der Trinker befreite sich schließlich mit meditativer Gelassenheit vom Gürtel
– Wo steckst du Alexandra?
durchquerte mit krachenden Taucherschritten, eine Bleisohle nach der anderen, die Wohnung, zermalmte dabei das Stadtviertel und brachte die Gewissheiten der Bulldogge durcheinander, die jetzt zögerte
– Ich bin mir nicht sicher ob ich das richtig gesagt habe
während der Trinker Stühlen Fußtritte versetzte, Töpfe herunterkrachen ließ, Vorhänge herunterriss
– Du entkommst mir nicht Alexandra
der Lehrer auf dem Podium
– Aus nächster Nähe bei der Kolonialausstellung meine Freunde
nannte den Dicken meinen Mann, und heute ist er verwirrt, meschugge
– Wie bitte?
von Tauben umringt, die sich nicht um ihn kümmerten, wer kümmert sich um ihn und gibt ihm etwas zu essen, manchmal ein Wispern
– Portugal Portugal Portugal
und dabei winkt Salazar ihm aus nächster Nähe zu, nehmen sie meinen Löwen, Herr Lehrer, dann geht es Ihnen besser, meine Mutter nahm ihn mir weg
– Du bist schon groß Junge willst du dein Leben lang diesen Lumpen hinter dir herziehen?
und wenn es nach mir ginge, würde ich mein ganzes Leben lang diesen Lumpen hinter mir herziehen, in der Herberge in Sintra beispielsweise brauchte ich ihn so sehr, die Geschäftsführerin
– Was ist das da?
und ich zeige ihn ihr
– Ich kann ohne ihn nicht leben
ich mag die Wohnung nicht, mag das Foto nicht, auf dem wir den Kuchen anschneiden, dein Gesichtsausdruck reumütig, meiner panisch, der Dicke
– Du hast geheiratet?
und die Deckenlampe verfolgte mich wieder, wir beide auf dem Bett starrten sie mit runden Augen an, hätte ich wenigstens den Gürtel, ich falle, stehe wieder auf, falle wieder
– Wo steckst du Alexandra?
reiße die Speisekammer auf, schürfe mir an einer Kante den Ellenbogen auf, stütze mich an den Türfassungen ab und beginne mit mehr Ungestüm aufs Neue, der Vater meines Schwagers, des Arztes
– Jockilein
ich zu meiner Frau, mit erhobener Gürtelschnalle
– Jetzt ist es so weit
unter dem Regen, der wieder eingesetzt hat, und der Wind und die Zweige, du versuchtest, von der Matratze herunterzukommen, es gelang dir nicht, Stimmen auf dem Flur
– Portugal Portugal Portugal
Schniefen, Husten, Alexandra, nicht du, Alexandra oder du
– Schlagen Sie mich nicht
die Richterin aus dem zweiten links, was ist das bloß für ein finsteres Gebäude, drückte beringte Hände an ihre Ohren, in der Hoffnung, ich würde aufhören zu existieren, aber ich existiere, rücklings auf dem Boden, aber ich existiere, ich habe das Sagen, ich soll hochleben, ich bin es, der dich zwischen Kommode und Vorhang hockend entdeckt, die Richterin flüchtet sich hinters Piano
– Jesus Christus
meine Frau reißt sich los
– Nein
ich bin es, in Strümpfen, Liebling, ich bin es, so ungeschickt, so unsicher, so betrunken, ich nenne dich
– Alexandra
falle auf den Teppichboden und richte mich vom Teppichboden auf, falle gegen das kleine Tischchen mit der bodenlangen Decke und richte mich vom kleinen Tischchen auf, Susana isst gern Salat mit saurer Sauce, Sonntags singen Zwerge am See lustige Lieder über Seemänner im Eismeer, ich bin deiner so unwürdig, obwohl
– Jetzt ist es so weit
sei wegen meines Gürtels nicht beunruhigt, wegen meines Zorns, meines Wunsches
– Komm her
dich zu töten, aber werde nicht ärgerlich, vor allem werde nicht ärgerlich, ich tue dir doch nichts, nun werde doch im Bett nicht immer kleiner, verberge dich nicht in dir selber, verlass mich nicht, schau, der Rollladen hat sich an einer Seite gelockert, und wie Sintra sich im Wind bewegt, nicht in einem Wind, in tausend Winden, nicht ein Stängel, tausend Stängel biegen sich, Büsche werden wahnsinnig, Frösche heulen in den Pfützen, Eulen prallen gegen die Wand, dieses Zimmer treibt im Wasser schaukelnd umher, entfernt sich immer weiter vom Land, Jockilein schwebt über deinem Körper, falls der Löwe dich tröstet, reiche ich dir den Löwen rüber, beweg dich nicht, schließ die Augen unter der Lampe und breite die Arme aus, wozu mich mein Lieber oder mein Schatz oder mein Prinz nennen, breite die Arme aus, sei nicht sauer wegen meiner Strümpfe, es lohnt sich nicht, sie auszuziehen, du siehst mich aus nächster Nähe, und das reicht, höchstens ein halber Meter, weniger, vierzig Zentimeter, dreißig, kaum ein Zentimeter, schon kein Zentimeter mehr, wende nicht den Kopf auf der Suche nach der Lampe ab, denn es ist nicht heute so weit, es ist jetzt so weit, bitte
– Schlag mich nicht
bitte noch einmal
– Schlag mich nicht
du bemerkst nicht, wie die Mäuse die Backsteine durchlöchern, achte auf deine Augen, die an- und abschwellen, nicht die Lunge, die Augen, zwei Kröten mit faltigen Bäuchen, dein Fuß ohne Pantoffel unbekannt, rot, alles schwillt an und schwillt ab, die Wände, die Decke, die Bulldogge, die
– Blödmann
und wieso Blödmann, stell mir keine Fragen, halt den Mund, ich zu meiner Mutter
– Schau wie erwachsen ich bin ich bin nicht Jockilein sondern der Joaquim
die Mutter zu meinen Schwagern
– Joaquim ist übrigens größer als Sie
und selbstverständlich ist Joaquim größer, Joaquim ist stärker, Joaquim ist energischer, respektiert mich gefälligst, ich zu meiner Frau voller Verzweiflung, in die der Wind bläst und sie auslöscht
– Ich finde die Stelle nicht
und als ich sie fand, verlor ich sie, will heißen, bevor ich sie fand, war Schluss, ich glaube dich gehört zu haben
– Und das ist alles?
und du nahmst die Brille vom Nachttisch, ich hörte dich sagen
– Nur das?
doch ich lag taub neben dir auf meiner Hälfte der Matratze, und wir betrachteten die Helligkeit der Lampe im anbrechenden Morgen.
ZWEITER LINKS
Morgens, wenn ich aufwache, weiß ich nicht, wer ich bin, weil ich diesen Geruch nicht kenne, der vom Körper in die Betttücher und von den Betttüchern ins Zimmer zieht, nicht der von Müdigkeit, nicht der von Schlaf, der nach alter Frau, die Schubladen im Haus meiner Großeltern rochen so, als ich klein war, die Dinge, die sie berührten, rochen so, die Kleider gleich beim Eingang rochen so, sogar das Essen, das sie mir gaben, roch so, und die Worte, die sie zu mir sagten, rochen so, und heute, wenn ich mich parfümiere, nehme ich den Duft darunter wahr, denke
– Man muss den Geruch einfach bemerken
den das Parfüm, anstatt ihn abzumildern, noch verstärkt, meine Großmutter
– Wenn du erwachsen bist
und versuchte mich zu umarmen, und ich wütend wegen des Geruchs, dieser Geruch, berühren Sie mich nicht, wohnte in Castelo Branco, und meine Erinnerung an Castelo Branco sind die Kälte im Januar und die Jagdhunde meines Großvaters, wie sie im Hof niesen, meiner Großmutter taten die Tiere leid, und mein Großvater, wenn man sie reinholt, verlieren sie ihren Geruchssinn, Fasane, die, aus der Tasche gezogen, auf den Küchentisch gelegt wurden, seit wie vielen Jahrhunderten habe ich den Klavierdeckel nicht mehr geöffnet, bis vor kurzem ein Mann, der jünger war als ich und der, auf dem Sofa die Beine übereinandergeschlagen, mich Eichhörnchen nannte
– Mein kleines pummeliges Eichhörnchen
er arbeitete im Sekretariat des Gerichts, brachte mir Akten, nahm Akten wieder mit, ich las, und er beugte sich vor, streifte beinahe mein Ohr mit der Wange, mein Mann verließ mich, als die Kinder noch klein waren, der Mund des jüngeren Mannes bewegte sich, ohne dass ich etwas hörte, ich hörte, wie mein Mann den Kleiderschrank leerrupfte, eines Nachmittags ließ sich die Handfläche, die sich auf der Stuhllehne abgestützt hatte, auf meiner Schulter nieder, ich blickte hoch, und die Handfläche drückte mich, anstatt mich zu lassen, noch stärker, er roch nicht nach altem Mann, er roch nach Rasierwasser und den Hunden meines Großvaters im Hof, wenn die Hündin bereit war, sie zu empfangen, er drehte den Schlüssel einmal im Schloss, packte mein Kinn mit zwei Fingern
– Seit wann haben Sie keinen Freund Frau Richterin?
und ich schob die Zunge zum Gaumen hoch, daran erinnere ich mich, damit er die herausnehmbare Teilprothese nicht bemerkte, welch Erniedrigung, sie vor dem Zubettgehen zu bürsten, der Nachbar unter mir
– Versteck dich nicht Alexandra
der Sohn des Mieters vom zweiten rechts
– Sie wollen wohl dass Ihre Enkel verhungern das ist es doch?
nicht der Nervenkranke, der fast nie kam, der andere, der jüngere Mann, die Nase an meinem Nacken
– Mache ich Ihnen Gänsehaut Frau Richterin?
der Nachbar unter mir
– Lass mich nicht böse werden Alexandra
wäre ich nicht alt, neunundfünfzig Jahre, so alt, ich erinnere mich an meine Tochter, wie sie sich abwischte, nachdem ich sie geküsst hatte
– Du bist alt
meine Mutter in Castelo Branco, Castelo Branco, Castelo Branco
– Was soll ich denn sagen Mädchen?
und der Dunst der Serra da Gardunha in der Ferne, blau, fliederfarben, lila, und die Zistrosen zogen sich in lauem Hauch bis zu uns hin, es gibt Augenblicke, in denen sie mich noch immer umgeben, und dann ist mein Alter ein anderes, meine Mutter vergaß Daten und die Namen der Leute, sie erstarrte in einer Geste
– Ich weiß nicht
und was wusste sie nicht, was wissen Sie nicht, nun sagen Sie schon, oder aber sie rief mich ans Fenster und wies auf einen Abstand zwischen den Zedern
– Der Lärm des Mondes hindert mich am Schlafen
als würde der Lärm des Mondes überhaupt jemandem erlauben zu schlafen, das tut er nicht, ich habe Wochen gebraucht, bis ich mich an die herausnehmbare Teilprothese gewöhnt habe, nicht ich kaute, es war irgendjemand in meinem Mund, wir sind zwei, der jüngere Mann packte meine Bluse, ohne zu begreifen, dass ich zwei war
– Mein kleines pummeliges Eichhörnchen
und ich sorgte mich
– Er wird den Geruch bemerken
ich habe so viel zugenommen, mein Gott, damals in der Uni war ich ganz dünn, auf der Flucht vor der Polizei, grüne Minnas, Schlagstöcke, und jetzt dreht der jüngere Mann im Justizpalast meinen Stuhl zu sich hin, spielt mit meinen Ringen, zwirbelt an meiner Kette, Castelo Branco und die Wohnung meiner Eltern über dem Restaurant, meine Hand auf seinem Arm
– Kleines pummeliges Eichhörnchen
nicht, um ihn besser fühlen zu können, sondern um ihn aus Scham, weil ich mich hässlich finde, abzuschütteln, die Narbe von der Schilddrüsenoperation, die Falten am Hals, einer der Polizisten fiel hin
– Mach mich nicht sauer Alexandra
und verlor den Helm, ein Student trat ihn und rannte weiter, mir war so, als wären da Schüsse, ich lebe allein, Castelo Branco, Castelo Branco, dessen Mond mich am Schlafen hindert, und Leute, von denen ich nicht weiß, wer sie sind, wenn ich dorthin fahren würde, das Restaurant verändert, unter dem verglasten Balkon auf der Rückseite des Hauses kam der Gestank nach Gebratenem zu uns herauf und verursachte mir Übelkeit, ich glaube, in bin außerstande, mich vor irgendjemandem auszuziehen, und der jüngere Mann berührte meine abgesackte, schwere Brust, nicht nur Falten, Dehnungsstreifen, wischen Sie meinen Lippenstift nicht weg, verschmieren Sie mein Gesicht nicht, passen Sie auf, ich möchte nicht mein Make-up mit dem Taschentuch korrigieren müssen, ich möchte wetten, dass die Sekretariatsangestellten alles mitbekommen, in den Fensterrahmen nicht die Serra da Gardunha, nur Gebäude, der Polizist ohne Helm auf allen vieren im Gras, ein anderer Student tritt ihn schreiend, warum klauen sie ihm nicht den Schlagstock, die Pistole, eines Nachmittags glaubte ich, meine Großmutter würde schlafen
– Schlafen Sie Großmutter?
und meine Mutter erklärte mir nichts, schwieg, Nachbarinnen redeten leise und bewegten sich langsam, stützen sich vorsichtig auf den Möbeln ab, ich hätte nie gedacht, dass Sie so viele Nachbarinnen hatten, Senhora, einer der Hunde im Hof begann zu heulen, ein mächtiges Heulen, das mir heute noch Gänsehaut macht, der jüngere Mann hatte Schwierigkeiten mit den Haken der Bluse
– Naturseide?
nein, keine Naturseide, das wäre übertrieben, meine Schwägerin hat sie mir zu Ostern aus Spanien mitgebracht
– Sieht wie Seide aus findest du nicht?
Vorsicht mit der Rose am Kragen und dieser Rüsche da, etwas heller würde sie mir besser stehen, meine Schwägerin
– Etwas heller würde sie dir besser stehen
Dutzende Nachbarinnen bei meiner Großmutter in Castelo Branco stellten an den Wänden entlang Stühle hin und Flaschen und Kekse auf das Tischtuch, ich zu ihr
– Schlafen Sie angezogen und mit Schuhen Großmutter?
das Kruzifix vom Bettkopf auf ihrer Brust, der Jesus aus vergoldetem Material schimmerte in der Sonne, kratzte man mit einem Nagel daran, wurde das Metall schwarz, eine der Nachbarinnen kämmte sie, eine andere band ihr die Schnürsenkel zu, eine andere verteilte Dahlien auf der Überdecke, von denen ich nur wusste, dass sie sie bei Prozessionen am Balkon befestigten, kaum war das Traggerüst um die Ecke, wurden sie in der Truhe verwahrt, ich zu den Nachbarinnen
– Warum wecken Sie sie nicht auf?
bis sie mich in den Garten schickten, wo ich Gänseblümchen zertrat, der jüngere Mann liebkoste mein Profil, manchmal bin ich wie ein Fisch, nicht einer zum Essen, einer aus dem Aquarium, der die Steinchen am Grund streift, dieser so lange Hals
– Zieh den Mund nicht weg kleines Eichhörnchen
und die herausnehmbare Zahnprothese plötzlich so riesig, dass die Zunge sie nicht mehr verbergen konnte, er stand, und ich saß da mit schmerzendem Nacken, ein Draht stach hinein, stach hinein, und der Arzt betrachtete das Röntgenbild
– Was haben Sie mit dieser Wirbelsäule gemacht Frau Doktor?
im ersten rechts jemand, den ich nicht kenne, im ersten links Stille nach Schlägen und Schreien
– Zwing mich nicht den Kopf zu verlieren Alexandra
wahrscheinlich schlief der Trinker auf dem Fußboden, wahrscheinlich hatte sich die Frau in der Küche eingeschlossen, wahrscheinlich hockte die Tochter in einer dunklen Ecke wie die Hunde in Castelo Branco, wenn sie aufhörten zu heulen, sie wedelten nie mit dem Schwanz, zeigten sich nie fröhlich, vier Rüden und ein Weibchen, die sich Liebkosungen verweigerten, die auf den Stühlen hockenden Nachbarinnen sprachen nicht miteinander, sprachen nicht mit mir, seit sie gegangen sind, rufen mich meine Kinder nicht an, schreiben mir nicht, ihre Gleichgültigkeit tat mir weh, tut mir jetzt nicht mehr weh, sie haben mir gesagt, mein Mann habe in Mosambik geheiratet, genau weiß ich es nicht, er hat mich nie mein kleines pummeliges Eichhörnchen genannt, hat mich nie etwas genannt, und dennoch, nicht, und dennoch, weiter im Text, es hat anschließend nicht viele gegeben, drei oder vier, einen Kollegen von mir, einen Herrn, den ich im Café getroffen habe, einen jüngeren Mann, und das war es schon, sie gingen um die Abendbrotzeit, und ich war für den Rest des Tages allein, hin und wieder fragte meine Schwägerin meinen Schwager
– Was wohl aus ihr geworden ist?
und wählte die Nummer aus dem Notizbuch
– Lebst du noch?
sie war ebenfalls Richterin, allerdings nicht geschieden, und da ist die Serra da Gardunha wieder zurück mit ihrem, sie hat keine Kinder bekommen, ihrem Dunst, das wird immer so sein, das Gebirge, die Zistrosen und die Hunde im Hof, wie sie aus einem Topf fressen oder sehnsüchtig auf Fasane warten, einmal hat die Polizei, als ich Studentin war, meine Schwägerin zwei Tage festgenommen, sie zeigten ihr hektographierte Seiten, primitiv gedruckte Zeitungen, Briefe
– Gehören Sie der Partei an?
die Hunde kümmerten sich um niemanden, besonders um mich nicht, welcher Mensch hat sich in diesem Leben je um mich gekümmert, ihr Stiefvater, ein Typ mit Beziehungen, hatte sie am Ärmel dort herausgezerrt
– Keine Angst die bringe ich wieder zur Räson
sperrte sie in ihr Zimmer ein, nicht dass sie Portugal an Moskau übergab
– Willst du unser Leben kaputtmachen?
und so sehr Moskau auch insistierte
– Wird das noch mal was mit Portugal oder was?
der jüngere Mann kam an ein oder zwei Sonnabenden in diese Wohnung, meine Schwägerin antwortete ihm nicht, gelogen, er kam monatelang in diese Wohnung, bat mich, ihm Geld zu leihen
– Mein kleines pummeliges Eichhörnchen
weil, da ist ein nettes Geschäftchen gerade den Bach runtergegangen, ich erkläre das später, meine Schwägerin am Telefon
– Mir ist zu Ohren gekommen dass du jemanden bei dir empfängst stimmt das?
und der jüngere Mann, was heißt hier Geruch nach alter Frau, Eichhörnchen, wie heißt noch dein Gebirge, Serra da Gardunha, nicht wahr, du duftest nach den Blumen der Serra da Gardunha, da gibt es überall Blumen, schreib nicht meinen Namen auf den Scheck, für den Überbringer, das ist einfacher, während ich dachte, was ist das doch für ein Elend, alt, nicht die Spur, ein hübsches Mädchen, ich zu meiner Großmutter
– Und nicht einmal wo die Nachbarinnen alle da sind wachen Sie auf?
aber sie wachte nicht auf, sie lag mit Schuhen auf der Überdecke, meine Schwägerin
– Was würden deine Kinder sagen wenn sie das wüssten?
und wie sollte ich ihnen klarmachen, dass ich mich allein fühlte, in gewissen Nächten, wenn die Stimmen der Stille mich beunruhigen und die Lastwagen auf der Straße den Müll einsammeln, der Wunsch zu sterben, ehrlich, nicht eigentlich zu sterben, Mitleid mit mir selber, wo ist da schon der Unterschied, heute ist der Abend vor Weihnachen, wir sind alle Brüder, niemand aus meiner Familie in Castelo Branco, außer auf dem Friedhof, und meine Großmutter wartete darauf, dass jemand sie aufmunterte
– Was ist mit Ihnen los Senhora?