Eine Herzensgeschichte aus den Indianerhütten Arizonas.
Gustav Harders wurde 1863 in Kiel geboren. 1889 wanderte er nach Amerika aus und heiratete dort. Er war Pastor und Rektor der lutherischen Kirche und Schule in Milwaukee und diente anschließend bis zu seinem Tod im Jahr 1917 in Indianerreservationen in Arizona als christlicher Missionar.
Ich saß bei weit geöffneten Fenstern und Türen in meinem geräumigen Wohnzimmer. Es war an einem Sonntagnachmittag. Die Haupttür des Zimmers führte über eine breite Veranda direkt ins Freie hinaus. Draußen brannte Arizonas Julisonne. Es war drückend heiß auch zwischen den dicken Steinwänden des Hauses, aber doch erträglicher als draußen in der Sonnenglut und etwas kühler als unter den schattenspendenden hohen Bäumen, deren sich eine große Anzahl auf dem ausgedehnten Eigentum der Regierungsschule der Indianerreservation befanden.
Blickte ich zur Tür hinaus, konnte ich sehen, wie die Hitze aus dem weichen, weißen Sand aufstieg, den die Sonne schon viele Wochen Tag für Tag mit ihren Strahlen durchglüht hatte.
Es war so recht eine Stunde zum Träumen und Nichtstun. Ich lehnte mich in meinem bequemen Schaukelstuhl zurück, schloss die Augen und sah den Mann ganz deutlich vor mir, mit dem sich seit Schluss der heutigen Morgenandacht meine Gedanken beständig beschäftigt hatten.
Das war eine auffallende Erscheinung. Er war einer von der alten Art, wie man ihrer heute nur noch Wenige zu sehen bekommt. Er war der Erste, der mir seit meiner Ankunft in Arizona begegnet war. In seiner hohen, kraftstrotzenden, geschmeidigen Gestalt entsprach er so ungefähr dem Bild, das ich aus meinen Knabenjahren her von einem Indianer hatte. Freilich trug er elegante Schuhe, sorgfältig gebügelte Hosen, ein Faltenhemd, Stehkragen, Krawatte und tadellos geschnittenen Rock; aber das alles saß und hing ihm am Leib in einer Weise, die den Eindruck machte, dass es dem Träger dieser Kleidungsstücke im höchsten Grad gleichgültig sei, ob er die dieselben am Leib habe oder nicht. Er würde ebenso gern ohne sie gehen und doch genau denselben imponierenden Eindruck machen wie mit ihnen.
Wer mochte er sein? Wo kam er her? Er hatte den Saal vor Schluss der Andachtsübungen verlassen, wie er erst nach dem Beginn der derselben gekommen war, und hatte mir so keine Gelegenheit gegeben, mit ihm zu reden.
Wie er eingetreten war, sich nach einem ihm zusagenden Sitz umgeschaut und sich niedergesetzt hatte! Nicht wie einer, dem das ganze Versammlungslokal. nein, wie einer, dem die ganze Welt gehörte.
Dazu war es ganz gegen die Schulregeln dieser Regierungsschule, dass außer den Angestellten und den 300 Kindern jemand ungeladen an den Sonntagsandachten teilnahm.
Ohne Zweifel kannte der Mann diese Regeln, er kümmerte sich aber nicht um sie, für seine Person existierten sie nicht.
Nicht einmal die Eltern der Kinder durften das Schuleigentum betreten. Besuchten sie ihre Kinder, so setzten sie sich jenseits des hohen Drahtgitters. Da machten sie ein Feuer an, kochten und brieten und reichten ihren Lieblingen durch die weiten Maschen des Drahtgeflechts, was sie für sie bereitet und ihnen mitgebracht hatten.
Mir gab es jedes Mal einen Stich durchs Herz, wenn ich das sah. Mein Freund, der Superintendent dieser Schule, bei dem ich als Gast verweilte, meinte aber, es könne nicht anders sein, es müsse so gehalten werden; die Alten wären zu unsauber, sie hätten zu viele Läuse. Ließe man die Kinder in die Hände ihrer Eltern kommen, so hätte man einen beständigen, nie endenden Kampf mit dem Ungeziefer.
Er mochte von seinem Gesichtspunkt aus recht haben. Er sollte die Kinder sauber und rein halten, er sollte zivilisierte Menschen aus ihnen machen. Die Herren Inspektoren, die auf ihren Rundreisen jeden Tag und jede Stunde sich einstellen konnten und immer unangemeldet eintrafen, wollten alles in bester Ordnung vorfinden. Sonst gab es Berichte nach Washington und unangenehme Rüffel von dorther.
Und doch, die Sache hatte noch eine andere Seite. Die Kinder sollten erzogen werden. Ihr Vertrauen, wie das ihrer Eltern, musste zu solcher Arbeit gewonnen werden. Solche Praxis aber, wie sie hier geübt wurde, konnte kein Vertrauen wecken, mehrte im Gegenteil beständig den Hass und die Abneigung der Indianer gegen die weißen Leute. Kein Wunder, dass die Regierungsangestellten klagten, alle ihre Arbeit sei umsonst, die Alten zerstörten systematisch, was den Kindern in jahrelangen Bemühungen beigebracht worden sei. Sobald die Kinder aus der Schule entlassen seien, wo sie gekleidet, beköstigt und beherbergt worden waren und ganz nach Weise zivilisierter Menschen hatten leben müssen, nähmen sie sofort die Lebensweise des „Wilden“ wieder auf und seien genauso wie die Alten.
Mich wollte dünken, jemand, der sich dazu hergab, unter den Indianern und für die Indianer zu arbeiten, müsse auch bereit sein, die Arbeit mit in den Kauf zu nehmen, die Schmutz und Ungeziefer bereiteten. Ich sagte das auch meinem Freund; aber der lachte nur dazu.
Doch zu dem Indianer zurück!
Der Mann war meiner Rede mit Aufmerksamkeit gefolgt. Dabei konnte ich mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass er das nicht tat, um zu hören und zu lernen, sondern um zu kritisieren und zu spionieren. Wiederholt hatte ein abweisendes oder ein spöttisches Lächeln um seine Lippen gespielt. Seine Augen schienen bald wütend zu protestieren, bald höhnisch zu fragen und dann wieder ruhig, kalt, überlegen abzuweisen. Ein paar Mal freilich hatte ich auch das Gefühl, als spiegelten sie ein im Inneren des Mannes sich regendes Interesse wider. Dann wurde der Blick warm, aber nur momentan; ein Willensakt des Besitzers der Augen brachte den Blick zu seiner kalten Ruhe zurück und ließ ihn teilnahmslos und tot erscheinen.
In meinte, ein Geräusch zu hören, schrak zusammen, schlug meine Augen auf, da – vor mir, regungslos, wie ein Bild, stand im Rahmen der Haustür, der, an den ich dachte.
Sofort erhob ich mich und wollte meinen Mund auftun, als der Indianer mir zuvorkam und eben die Frage, die ich an ihn richten wollte, an mich richtete.
„Was willst du?“, herrschte er mich an.
„Danach wollte ich dich fragen, denn du kommst zu mir und nicht ich zu dir.“
„Was willst du?“, fragte er noch einmal, ohne zu beachten, was ich gesagt hatte. Ich fühlte, er sprach in verhaltenem Groll.
„Nicht so, mein Freund! Nicht du hast zu fragen, sondern ich, und ich frage dich jetzt“ – dabei trat ich ihm einen Schritt näher –, „was willst du?“
„Wenn du mir nicht sagst, was du willst“, begehrte er auf, und seine Augen blitzten, „so will ich es dir sagen. Ich weiß, was du willst. Nehmen willst du. Du willst nehmen. Du willst nehmen, wie ihr Bleichgesichter alle nichts anderes wollt oder wisst und gewusst habt, seit ihr in unser Land gekommen seid. Aber du bist schlimmer als sie alle. Du willst uns auch das Letzte nehmen, was wir haben, das Einzige, das dieses Leben noch lebenswert macht, die einzige Lebensfreude, die wir haben. Ich rede nicht ganz richtig, ich sollte mich anders ausdrücken. So ist’s: Das Einzige willst du uns nehmen, was uns hilft, das zu ertragen, was ihr uns vom Leben noch übriggelassen habt.“
Er hielt einen Moment inne und gab mir Gelegenheit, einzuwerfen: „Wovon redest du?“
„Du fragst noch, und du weißt doch, wovon ich rede. Unseren Hass willst du uns nehmen, der uns Kraft zum Leben gibt. O, wie ich hasse, euch hasse, ihr stolzen Bleichgesichter! Und wie wohl das tut, zu hassen!“ Er knirschte mit den Zähnen und schüttelte sich. „O, so wohl!“ Und wieder schüttelte er sich.
Ich wollte etwas erwidern. Er ließ mich nicht zu Wort kommen.
„Mehr noch“, fuhr er fort, „mehr noch! Den Becher willst du uns nehmen, den Becher, den wir an den Mund setzen und leeren und wieder füllen und wieder leeren, bis uns die Sinne vergehen und wir nichts mehr wissen von dem, was wahr und wirklich ist, und alles vergessen, all unseren Jammer und alle unsere Qual.“
Man meinte, während er redete, man könne es ihm ansehen, welchen Genuss ihm das Saufen bereitete und wie das Verlangen nach dem Becher schier in ihm wütete.
„Ja“, fuhr er fort, „den Becher willst du uns nehmen.“ Er krallte die Finger zusammen, als wolle er ihn halten. „Der Becher ist der Trost unseres Lebens. Und auch die Würfel willst du uns aus der Hand reißen, die Würfel und die Karten. Sie helfen uns, die Zeit zu töten, die keinen Wert mehr für uns hat, seit ihr angefangen habt, euch um unsere Dinge zu kümmern. Du willst sie uns nehmen!“ Er sah mich sehr böse an. „Und nicht einmal die einzige Lust willst du uns lassen, die Lust der Nächte, dass wir heute dieses, morgen jenes Weib in unseren Armen haben. Das alles willst du uns nehmen, du, du Bleichgesicht du!“
„Habe ich das gesagt?“, fragte ich mit großer Ruhe.
„Nein, gesagt hast du das nicht. Aber das ist eben deine Tücke. Du kommst nicht frei heraus mit dem, was du willst. Umgarnen, umstricken willst du uns, damit du uns nachher umso sicherer hast.“
„Du tust mir unrecht mit dem, was du sagst.“
Er lachte hell auf. „Unrecht? Ich dir? Nein, du mir. Ich will lügen, stehlen, hassen, morden, saufen, spielen. Ich will das. Dafür lebe ich. Ich will das nicht hergeben. Verstehst du? Ich will nicht. Du sagst, du willst mir das nicht nehmen? Wenn du das nicht willst, warum sprichst du denn so, wie du heute Morgen geredet hast?“
„Ich habe mit keinem Wort von dem allen geredet!“, warf ich ein.
„Nein, das hast du nicht. Aber von dem Jesus hast du geredet. Und wie hast du von ihm geredet! O, ich habe es wohl gemerkt, wenn man dir zuhört, wenn man dir glaubt, was du von dem Jesus sagst, dann gibt man das alles hin. Man muss, und ich werde das nicht tun.“ Dann schwieg er.
„Mein lieber Freund!“, hub ich an.
„Nenne mich nicht Freund. Ich gab dir kein Recht, mich so zu nennen, ich bin nicht dein Freund, sondern dein Feind.“
„Nun denn: mein lieber Feind.“
„So etwas gibt es nicht.“
„Doch! Für dich vielleicht nicht, aber für mich. Und das Liebhaben liegt auf meiner Seite, nicht auf deiner. Du kannst mir weder verbieten noch wehren, dich für einen lieben Feind zu halten.“
Weil er hierauf nichts erwiderte, fuhr ich fort: „Es ist etwas Wahres in dem, was du vorher gesagt hast. Wer Jesum kennen lernt, gibt all die Dinge auf, die du vorher genannt hast. Aber ich sagte euch nicht zu dem Zweck von Jesu, um euch die Dinge zu nehmen. Die gebt ihr eines Tages aus freiem Willen her, indem ihr Jesum bitten werdet, sie von euch zu nehmen. Ich sage euch von Jesu, um euch etwas zu geben. Ihr sollt nehmen. Ich will nicht nehmen, ich will geben. Ich sollt nehmen, nehmen lernen, was Gott euch gegeben hat, euch, wie allen Menschen: das ewige Leben und die Vergebung aller eurer Sünden.“
„Davon sollst du schweigen“, fuhr er auf, „ich will das nicht hören, und schweigst du nicht“, er zog wie zufällig seinen Revolver aus der hinteren Hosentasche und begann damit zu spielen, „und schweigst du nicht, so hast du in mir einen Feind, so bitter, wie du noch keinen gehabt hast.“
„Kannst du schießen?“, fragte ich mit erzwungener Ruhe und deutete auf die Schusswaffe in seiner Hand.
„Ich verfehle nie mein Ziel!“, erwiderte er und sah mich scharf an.
„Siehst du die kleine Blechkanne dort drüben im Sand liegen?“, fragte ich und wies zur offenen Tür hinaus.
„Ja.“
„Schieß und triff sie.“
Der Indianer drehte sich ein wenig auf die Seite, hob den Arm, zielte, schoss und traf.
„Ich kann auch schießen!“, sagte ich, nahm ihm flugs die Waffe aus der Hand, was er ruhig geschehen ließ, und schoss die drei Kugeln, die noch in dem automatischen Revolver saßen, direkt vor seinen Füßen in den Fußboden.
Der Indianer rührte sich nicht von der Stelle. Kein Zucken, kein Zurückziehen auch nur eines seiner Füße konnte ich wahrnehmen.
Mit alter Ruhe fragte er, als ich ihm seine Waffe zurückgab: „Warum hast du die Löcher in den guten Fußboden geschossen?“
„Das will ich dir sagen“, entgegnete ich, indem ich ihm scharf in die Augen blickte, „diese Löcher sollen mir eine stete Erinnerung daran sein, dass hier an dieser Stelle einmal ein Indianer gestanden hat, der da meinte, ich fürchte mich vor seinem Revolver, der sich einbildete, er könne mich glauben machen, dass er es je wagen oder nur daran denken würde, seine Waffe wider mich zu erheben.“
Er sah mich von oben bis unten an, drehte sich langsam um und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
„Du solltest mir deinen Namen nennen, bevor du gehst. Mein Name wird dir durch deine Leute bekannt sein. Ich heiße David Brown!“, sagte ich.
Der Indianer antwortete nicht, sondern schritt durch die Tür, ging über die Veranda und stieg langsam die beiden Steinstufen hinab ins Freie.
„Ich sollte doch den Namen meines Feindes kennen!“, rief ich ihm nach. „Wie heißt du? Willst du mir nicht sagen, wie dein Name lautet?“, bat ich noch einmal, ihm bis auf die Türschwelle folgend.
Weiterschreitend drehte er seinen Kopf auf die Seite und rief mir über die Schulter hinweg zu: „Dohaschtida.“
„Dohaschtida, ich hoffe dich wiederzusehen!“, rief ich ihm nach.
Er gab keine Antwort und schritt hoch erhobenen Hauptes zu seinem Pferd, das er sofort bestieg und in gestrecktem Galopp davonjagte.
Ich sah ihm nach, solange meine Augen ihm folgen konnten. Dann trat ich in mein Zimmer zurück und warf mich erschöpft in meinen Stuhl. Die kurze Unterredung hatte mich angegriffen. Wie sehr, das merkte ich jetzt erst. Mir trat der Schweiß auf die Stirn, und ich fühlte ein Beben in meinen Gliedern. Hätte Dohaschtida mich jetzt gesehen, er würde höhnisch aufgelacht und mich gefragt haben: „Du keine Angst?“
Hatte ich wirklich keine Furcht gehabt? Nein, Furcht war es nicht gewesen, nur der Gedanke hatte mich gepackt, dass mein Leben in Gefahr stehe.
Jetzt, bei ruhiger Überlegung, verwarf ich auch diesen als töricht und lächerlich. Dohaschtida war weder betrunken noch irrsinnig; er war wohl erbittert, erregt, erfüllt von Hass, aber doch nicht in einem solchen Zustand, in dem ein Mensch am Menschen zum Mörder wird.
Dazu die ganze Persönlichkeit dieses Indianers. Obwohl voll Leidenschaft, würde dieser Mann doch nie etwas tun, das nicht das Resultat eines wohl überlegten, klar bewussten, scharf kontrollierten Wollens oder Nichtwollens wäre.
Ich hätte mir die drei Schüsse in den Fußboden sparen können. Ein völliges Ignorieren der Waffe in des Mannes Hand von meiner Seite hätte dieselbe, wenn nicht vielleicht eine bessere Wirkung gehabt.
Ich fragte mich: Wie hätte Dohaschtida gehandelt, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre? So, wie ich handelte? Nein! Er hatte mich auf die Probe gestellt, und ich hatte dieselbe in seinen Augen ohne Zweifel nicht bestanden. Daher der verächtliche Blick, mit dem er mich von oben bis unten angesehen hatte. Er hielt mich wahrscheinlich für einen Furchtsamen, trotz all dem, was ich gesagt hatte.
Ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Es war mir nicht einerlei, was Dohaschtida von mir dachte.
Es litt mich nicht in meinem Stuhl, in meinem Zimmer, unter meinem Dach; ich musste ins Freie, musste Raum, musste Luft haben.
Ich ging hinaus, ließ mir von einem der Schuljungen ein Pferd satteln und ritt in die Berge. Ich hatte kein bestimmtes Ziel, ließ mein Pferd gehen, wohin es wollte, und merkte kaum, dass das Tier höher und höher zu einem der hinter dem Schulanwesen gelegenen Plateau mit mir hinaufkletterte.
Meine Gedanken waren mit Dohaschtida beschäftigt und ich rief mir jedes seiner Worte, sein Mienenspiel, jede seiner Bewegungen ins Gedächtnis zurück. Ich wäre so gern zur Klarheit darüber gekommen, was ihn eigentlich zu mir getrieben, was er von mir dachte, was er mir mit seinem letzten Blick hatte sagen wollen.
Plötzlich schrak mein Pferd zusammen. Ich auch. Ein greller, weit sich hinziehender Blitzstrahl zuckte über den Horizont.
Ich schaute umher. Wir waren oben auf dem Plateau angekommen. Die Sonne war verschwunden, der ganze Himmel war mit grauen Wolken bedeckt. Ich hörte das Sausen eines nahenden Windes. Ein Sturm, wie ich noch keinen erlebt, fegte über das Plateau und nahm meinen Hut auf Nimmerwiedersehen mit sich. Mein Pferd stand still und drehte sich mit dem Rücken gegen den Wind.
Zwei oder drei Minuten dauerte der Sturm. Dann war es still, und ein wolkenbruchartiger Regen setzte ein, begleitet von Donner und Blitz.
Wie doch zuweilen die äußere Umgebung, in der man sich befindet oder in die man plötzlich hineinversetzt wird, eine umgestaltende Wirkung auf unser Denken und Empfinden ausübt! Mir wurde in diesem Augenblick klar, dass ich mich mit meinen Gedanken über Dohaschtida im Dunklen befunden hatte. Es kam wie eine plötzliche Erleuchtung über mich. Dohaschtida hatte mich gar nicht mit Verachtung oder Unwillen angeblickt. Es war etwas wie Enttäuschung oder Betrübnis gewesen, was in seinem Blick gestanden hatte. Es hatte ihn verletzt, er hatte nicht erwartet, dass ich so über ihn dächte, wie ich mich ihm gegenüber ausgelassen hatte. Er hatte gehofft, dass ich ihn trotz alledem, was er gesagt und getan hatte, seiner Mordgedanken fähig gehalten hätte.
Dohaschtida, du willst nicht?
Dohaschtida, du willst doch!
In strömendem Regen, unter Donner und Blitzen, trat ich den Heimweg an. Als ich auf dem Schulanwesen anlangte, schien aber seit geraumer Zeit bereits wieder die Sonne, und diese hatte, unterstützt von einem leichten Wind, meine völlig durchnässten Kleider vollständig an meinem Leib wieder getrocknet.
Am Abend dieses Tages saß ich mit dem Superintendenten der Indianerschule, meinem Freund Van Augustus Sims, auf der Veranda seines Hauses. Ich war seit etlichen Tagen sein Gast, hatte bis zu diesem Tag die Absicht gehabt, noch etwa eine Woche zu bleiben, wurde aber beständig von meinem Freund gedrängt, nicht nur noch länger zu bleiben, sondern ihm die letzten Monate meiner Erholungszeit, die ich im Westen Nordamerikas zubrachte, zu schenken.
Während ich mich in San Franzisko aufhielt, hatte ich einen Brief von Van Augustus erhalten. Er musste irgendwo von meinem zeitweiligen Aufenthalt in Kalifornien gehört haben. Seit unserer Knabenzeit her wechselten er und ich so alle Jahre ein oder zwei Mal einen Brief. Er stand in Regierungsdiensten und hatte es bis zum Superintendenten einer großen Indianerschule in Arizona gebracht. Ich bekleidete eine bescheidene Stellung in der städtischen Verwaltung meines Heimatortes in Pennsylvanien. Wir hatten auf derselben Schulbank gesessen und waren gute Kameraden gewesen und geblieben.
Das Verlangen, einmal wieder über die längst verflossene Schulzeit zu plaudern und Jugenderinnerungen auszutauschen, hatte ohne Zweifel den Anlass zu der an mich ergangenen Einladung gegeben.
Ich nahm dieselbe dankbar an, besonders auch darum, weil ich den Gedanken mit Freuden begrüßte, bei einem Aufenthalt in einer Regierungsschule sowohl diese und die Art ihrer Führung wie auch ganz besonders die mir seit meinem Aufenthalt im Westen lieb gewordenen Indianer näher kennen zu lernen.
Auch heute Abend kam Sims wieder darauf zu sprechen, dass ich noch nicht ans Fortgehen denken, sondern bei ihm bleiben solle, wenigstens noch für einige Wochen.
Ich dachte an Dohaschtida und sagte zu. Sims war so erfreut darüber, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam zu fragen, was mich zu diesem Entschluss getrieben hätte. Seine Freude wäre vielleicht etwas getrübt worden, wenn ich ihm hätte gestehen müssen, dass ein Indianer die Hauptveranlassung sei, weshalb ich mich entschlossen habe, seinem Wunsch nachzukommen.
Gleich bei meiner Ankunft hatte Sims mich gebeten, am Sonntagmorgen bei den Andachtsübungen zu den Indianerkindern und den Angestellten zu reden. Ich hatte ihm erwidert, ich sei kein Prediger; aber er entgegnete, er sei auch keiner und müsse doch jeden Sonntag reden. Bis vor einem Jahr hätten sie Missionare hier gehabt, die seien aber fort, und so müsse er predigen.
„Du weißt“, fuhr er fort, „ich war nie sehr fromm. Es ist mir jeden Sonntag eine Qual, wenn ich reden muss und Dinge sagen, die ich selbst nicht so recht glaube; Geschichten erzählen muss, die ich für halbe Märchen halte. Aber die in Washington herausgegebenen Schulordnungen verpflichten den Schulsuperintendenten zu einer christlichen Religionsübung mit den Kindern am Sonntag, wenn kein Prediger oder Missionar zu haben ist, der bereit ist, der Schule solchen Dienst zu erweisen. Aber du warst immer fromm“, schloss er, „du gingst jeden Sonntag zur Kirche und sogar zur Sonntagsschule und Christenlehre.“
Als ich Sims hierauf erwiderte, dass ich das heute noch tue, sogar schon seit Jahren daheim Superintendent unserer Sonntagsschule sei, da war es um allen meinen Widerstand geschehen. Ich hatte Sims das Versprechen geben müssen, solange ich auf der Reservation weile, sonntags zu den Indianerkindern zu reden.
An diesem Abend kam ich auf Sims’ Bemerkung zurück, dass sie keine Missionare mehr hätten, und fragte ihn, wie das zuginge.
Sims antwortete: „Die Leute sind bei ihren Bekehrungsversuchen müde geworden.“
„Wer? Welche Leute? Die Missionare?“
„O nein, die nicht, aber die Leute, die die Missionare hierhergeschickt hatten, die sie bezahlten.“
„Warum sind sie denn müde geworden?“
„Sie waren zu der Ansicht gekommen, dass die Indianermission ,sich nicht bezahle‘. Nachdem sie einige zwanzig Jahre die Gehälter der Missionare und der Lehrer bezahlt hatten, meinten sie, die Indianer müssten nun endlich einmal anfangen, dies selber zu tun. Die Missionare erhielten Auftrag, dass ein energischer Anfang damit gemacht werde. Als aber die Missionare berichteten, an so etwas sei nicht zu denken, es könnten noch hundert Jahre oder mehr darüber hingehen, bis so etwas möglich sei, da wurden die Leute missmutig. Die Missionare berichteten, sie könnten jetzt nur die Vorarbeit für spätere Geschlechter tun, was freilich eine Arbeit sei, die getan werden müsse, ohne die ein Aufbau des Reiches Gottes nicht zustande kommen könne. Sie sagten ferner, sie könnten wohl hier und dort einzelne Indianer bekehren, aber an den Aufbau eines Gemeindewesens sei noch lange nicht zu denken; ihre Hoffnung beruhe, was das anbelange, erst auf Kindeskindern. Solche Aussichten genügten den Leuten im Osten, die diese Mission hier durch ihre Missionare betrieben, durchaus nicht. Sie erklärten die Arbeit der Missionare für erfolglos und die Indianermission in Bausch und Bogen für aussichtslos und darum für zwecklos. Die sämtlichen Missionsarbeiter wurden einer nach dem anderen abberufen, und so gehört die Indianermission unter diesem Stamm zu den gewesenen Dingen.“
„Hatten die Missionare nicht treu gearbeitet?“, fragte ich.
„Sie hatten mit aller Treue gearbeitet. Jedermann gibt ihnen das Zeugnis!“, erklärte Sims sehr entschieden.
„Und hatten sie wirklich keine Erfolge?“, fragte ich weiter.
„Keine Erfolge?“, wiederholte Sims. „Großartige Erfolge hatten sie! Sie hatten in jeder Hinsicht das Vertrauen der Indianer. Wir Regierungsangestellten haben das nicht. Sie hatten Schulen. Sie hatten wohl nur wenige Kinder, aber diejenigen, die sie hatten, hatten sie auf den Wunsch und aus dem freien Willen der Eltern. Du stelltest das gestern Abend als das Ideal und das einzig Wertvolle hin, als wir davon sprachen, dass die Kinder mit Polizeigewalt in die Regierungsschulen gebracht werden müssen, wenn wir Kinder haben wollen. Die Missionare hatten sogar schon etliche Indianer, die am Sonntag zur Kirche kamen.“
„Waren dies ihre einzigen Erfolge, die sie zu verzeichnen hatten?“, fragte ich.
„Ja!“, sagte er.
„Viel war das freilich nicht.“
„Du irrst. Es war viel. Man muss den Indianer und seine Stellung zum weißen Mann kennen. Man muss die Verhältnisse hier und vieles andere kennen, um richtig abwägen, um ein Urteil über den Wert dessen haben zu können, das erreicht war, wie über das Maß des in den Möglichkeitsgrenzen Liegenden, das erreicht werden konnte. Wer hierfür Verständnis hat, der muss sagen, dass die Missionare viel erreicht hatten und dass nur sehr treue und anhaltende Arbeit zu solchen Resultaten verhelfen konnte.“
Sims hielt inne und fuhr nach kurzem Sinnen fort: „Wir Arbeiter in Regierungsdiensten vermissen die Missionare sehr. Wir empfanden im Verkehr und Handel mit den Indianern etwas von einem besseren Geist, der auf diese von den Missionaren ausging. Jetzt, wo die Missionare fort sind, verschwindet das wieder. Es war alles noch zu sehr im Werden und von der Gegenwart und ständiger Weiterarbeit dieser Männer abhängig. Aber es war da und war ein Zeichen von dem Wert und der Frucht der Arbeit der Missionare. Es galt nur weiterzuarbeiten und zu warten. Aber das wollten die Leute nicht. Sie hätten kein Geld dazu, hieß es; man könne das Geld anderswo besser anwenden, wurde gesagt. Mir hat das nie einleuchten wollen. Wenn ich an die großen, prunkvollen Kirchengebäude denke, die die Christen ihrem Gott bauen, so will mich dünken, dass da reichlich Geld sein muss. Auch glaube ich, dass die lieben Leute ihren Gott nicht recht kennen, wenn sie meinen, er habe mehr Freude an solchen Gebäuden als an der Arbeit, so ein verkommenes Volk, wie die Indianer es sind, aus dem Schmutz und Elend, aus Nacht und Tod zu ziehen. Das eine tun und das andere nicht lassen, das würde mir recht scheinen. Aber das eine tun und das andere lassen, nein, David, das will mir nicht in den Sinn.“
Sims schwieg und schien auf eine Antwort von mir zu warten. Was sollte ich viel dazu sagen? Es war ja richtig, was Sims da sagte, aber es war nun einmal so und ließ sich nicht ändern und war nicht dadurch zu bessern, dass wir darüber redeten. So ging ich nicht auf den angeregten Punkt ein.
„Haben denn die Missionare ihren Leuten im Osten das nicht auseinandergesetzt?“, fragte ich.
„Freilich haben sie das getan. Aber du kennst die Menschen, wie sie sind. Wo findest du einen Menschen, der sich Mühe gibt, dir nur mit seinen Gedanken zu folgen, wenn du ihm etwas auseinandersetzt, es sei denn, dass ein Bekanntwerden mit dem Gesagten ihm persönlichen Vorteil bringt? Hast du nicht Klatsch oder Sensationelles oder etwas die Person deines Gegners Betreffendes zu berichten, so hört dich dieser, wenn es hoch kommt, vielleicht mit halben Ohren an. Versuche es, jemandem, der in einer Sache eine Ansicht gefasst hat, über diese Sache deine Ansicht darzulegen, die aus unbestreitbar besseren Quellen geschöpft ist und mit persönlichen Erfahrungen belegt ist. Es hört dir aus hundert Leuten höchstens einer mit dem Gedanken zu, du möchtest es vielleicht besser wissen als er und seine Ansicht könne verkehrt sein. Die übrigen neunundneunzig haben von vornherein die Absicht, bewusst oder unbewusst, bei ihrer Ansicht zu bleiben. Sie folgen deiner Rede gar nicht, noch erwägen die deine Argumente. Sie warten nur geduldig oder ungeduldig auf den Moment, wo du deine Rede beendest hast, damit sie dir ihre Ansicht noch einmal wieder vortragen können. So zu sein, gebietet dem Menschen seine ihm angeborene Selbstsucht und sein Selbstgefühl. Es geht uns mit den Regierungskreisen in Washington genauso wie den Missionaren mit ihren kirchlichen Organisationen im Osten, von denen sie abhängig waren. Sie alle haben die tollsten und hirnverbranntesten Ansichten über Indianer und Indianererziehung; über das, was man tun könne und tun solle, und – sie halten an diesen Ansichten fest. Da helfen keine schriftlichen und da helfen keine mündlichen Auseinandersetzungen. Die Schlimmsten sind die Herren Inspektoren, die hin und wieder auf ein paar Tage auf den Indianerreservationen erscheinen. Sie bringen ihre fertigen, festen Ansichten mit, wenn sie kommen, und finden dieselben hier bestätigt, weil sie, wiederum bewusst oder unbewusst, nach nichts Weiterem sich umschauen und umhören, als nach solchem Material, mit dem sie ihre Ansichten bestätigen und das sie zur Erhärtung derselben ausnützen können. David, es kostet Jahre sorgfältigen Beobachtens, um sich nur ein wenig Verständnis des Indianers und der Art, wie an ihm zu arbeiten ist, anzueignen. Es kann bei dem verschlossenen Charakter des Indianers und seiner steten Wachsamkeit, dem weißen Mann sein Inneres zu verbergen, nicht anders sein. Aber wie gesagt: Selbstsucht, Selbstbewusstsein, Selbstgefühl. Der Mensch ist ,all I‘, sagt der Amerikaner, ,lauter Ich‘.“
„Dein Urteil über die Menschen ist hart!“, sagte ich. „Doch es gibt Ausnahmen. Die wahren Christen, die sind anders.“
„Derer gibt es wohl nicht sehr viele!“, meinte Sims, und etwas wie ein ironisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
„Vielleicht mehr als du denkst.“
„Mir sind sie nicht begegnet.“
„So hast du Augen und Ohren nicht offengehalten.“
„Es ist meine Gewohnheit, wenn ich unter Menschen komme, dieselben zu beobachten und zu studieren.“
„So stellst du dir unter einem rechten Christen etwas anderes vor als du solltest.“
„Das mag sein. Ich glaube aber, in einem Stück recht zu stehen. In jeder Rede Christi, in jedem Kapitel der apostolischen Briefe, einerlei, welche Lehre behandelt wird, immer zwischenhinein meine ich Kriegserklärungen an des Menschen Selbstgefühl und Selbstsucht zu finden. Es scheint mir das notwendige Resultat eines erneuerten Menschenwillens, ich könnte auch sagen, ein Erfordernis der Nächstenliebe zu sein, dass der Mensch eine Ansicht, die von seiner eigenen abweicht, nicht nur freundlich neben sich duldet, sondern dass er auch bereit ist, sich dieselbe darlegen zu lassen. Und weiter: Hat die andere Ansicht gesunde, klare Gründe für sich, welche die Richtigkeit der eigenen Ansicht zerstören, so darf der Mensch nicht eigenwillig bei seiner Ansicht verharren, sondern muss die andere fröhlich anstelle der seinigen annehmen.“
„Was du da eben ausgesprochen hast, ist das Ideal, dem der Christ nachstrebt“, sagte ich, „aber es geht da gerade so wie mit der idealen Auffassung von Schülergewinnung unter den Indianern. Es sind derer nur Wenige, die solche Ideale verwirklichen. Das Letztere ist aber nicht unmöglich, wie du selbst zugabst, als du zuvor von den Missionsschulen redetest.“
Wir hatten an einem der ersten Abende unseres Zusammenseins eine Unterhaltung über die Polizeigewalt gehabt, die angewandt wurde, um die Indianerkinder in die Schulen zu bringen. Sims vertrat die Ansicht, dass die Indianerkinder unter den obwaltenden Verhältnissen mit Gewalt in die Schulen gebracht werden müssten, weil die Eltern sie sonst einfach nicht schicken würden. Ich hielt daran fest, dass bei solcher Schulung schwerlich etwas Gutes herauskommen werde, man müsse versuchen, den Willen der Eltern zu gewinnen.
Van Augustus verteidigte sich. „Ja“, sagte er, „aber solche Arbeit findet keine Anerkennung, weder in Washington noch bei den Missionsbehörden. Ich würde Knall und Fall abgesetzt werden, wenn ich nach Eröffnung des Schuljahres nach Washington berichten würde: ,Ich habe 25 Kinder in der Schule, nicht 250 wie im vergangenen Jahr; aber die 25 haben die Eltern der Kinder mir freiwillig gegeben. Ich habe es aufgegeben, Polizeigewalt zu gebrauchen, und habe nur versucht, die Eltern von dem Wert der Schulerziehung zu überzeugen und sie dafür zu gewinnen, ihre Kinder mir freiwillig anzuvertrauen.‘ ... Doch an etwas Derartiges wäre gar nicht zu denken. Du musst bedenken, dass wir keinen freien Willen haben zu handeln, wie wir wollen und wie wir es für gut halten. Unsere Arbeit, das Was und das Wie, sind uns bis in die kleinsten Einzelheiten vorgeschrieben. Wir sind nur Werkzeuge, und die Hände, die diese Werkzeuge führen, sind nicht hier, sondern in Washington.“
„Ich weiß das“, sagte ich, „die Menschen sind verschieden. Ich könnte unter solchen Verhältnissen nicht arbeiten.“
„Warum nicht?“
„Wäre es eine Arbeit an Holzklötzen oder Steinblöcken, dann ja. Ich würde daraus zurechthauen, was mein Arbeitgeber verlangt. Aber hier handelt es sich um Menschenseelen.“
„Menschenseelen, nun ja. Aber Indianerseelen. Mir ist bislang noch nichts begegnet als boshafter Starrsinn. Gegen den muss man Gewalt gebrauchen. Man kann anders nichts ausrichten.“
Dies stimmte nun eigentlich durchaus nicht mit dem überein, was Sims von der Arbeit der Missionare gesagt hatte. Ich zog es aber vor, ihm dies nicht vorzuhalten.
Ich sah meinen Freund eine Weile schweigend an und sagte dann: „Sims, ich will dir eine Begebenheit erzählen, die sich heute Nachmittag in dem kleinen Haus zutrug, das du mir für die Zeit meines hiesigen Aufenthalts zur Verfügung gestellt hast.“
Ich schilderte Sims ausführlich mein Zusammentreffen mit Dohaschtida.
Als ich geendet, sagte Sims nach kurzem Schweigen: „David, ich möchte heute Abend noch einen Brief an deine Frau schreiben. Darf ich?“
„Es sollte mich freuen, wenn du das tätest.“
„Ich werde ihr schreiben, dass du die vollen drei Monate, die dir noch von deinen Ferien übrig sind, hier bei mir verweilen wirst.“
„Was du sagst!“
„Und dass du während der Zeit jeden Sonntag hier die Andachten halten wirst.“
„Das weiß ich noch nicht.“
„Das weißt du doch. Also abgemacht. Ja?“
Ich zauderte noch.
„Abgemacht!“, sagte Sims noch einmal und reichte mir die Hand.
Ich nahm sie und sagte: „Abgemacht.“
„Dank dir!“, sagte Sims. „Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Du bleibst nicht meinetwillen, sondern dieses Dohaschtidas wegen. Aber ich habe die Freude, dich hier zu sehen und deine Gegenwart genießen zu können.“
„Das ist hübsch von dir gesagt“, entgegnete ich, „aber ich würde schwerlich dieses Indianers wegen hier bleiben, könnte ich nicht zu gleicher Zeit bei dir sein.“
„Mensch“, sagte hierauf Sims, „glaubst du wirklich, es sei möglich, mit einem Menschen, wie dieser Dohaschtida einer ist –“
Weiter kam Sims nicht. Eine Fensterscheibe klirrte, Glasscherben fielen aufs Fensterbrett und flogen ins Zimmer, und ein handgroßer Stein landete auf der Platte des Tisches, an dem wir saßen, und zertrümmerte einen kleinen Teller, auf den Sims gerade die Asche seiner Zigarre abstreifte.
Wir sprangen von unseren Sitzen auf.
Da, noch ein Stein, noch einer, vier, sechs, acht und mehr Steine flogen durch die Fenster ins Zimmer. Die sämtlichen Scheiben der vier großen Fenster, die das Zimmer hatte, waren zerbrochen: Scherben, Steine lagen überall auf dem Fußboden, den Stühlen, Tischen usw.
Wir flüchteten an die den Fenstern gegenüberliegende Wand des Zimmers, um nicht von einem der Steine oder den Scherben getroffen und verletzt zu werden.
Es war nicht mehr nötig; das Werk war getan, das man beabsichtigt hatte. Es folgten keine weiteren Steinwürfe.
Wir sahen einander sprachlos an. Da ermannte sich Sims. Er rief mir zu: „Komm, schnell, komm mit!“ Er lief zur Tür hinaus, und ich folgte ihm.
Sims lief zur Vordertür des Hauses hinaus, die zugleich Eingangstür zu seinem Zimmer war, die Front des Hauses entlang, um die eine Seitenwand herum und dann quer über den weiten Rasenplatz, der das Wohnhaus von dem Schlafhaus der großen Jungen trennte. Mitten auf dem Rasenplatz holte ich Sims ein.
„Wo willst du hin?“
„In den Schlafsaal der großen Jungen!“, keuchte er. „Das haben etliche der großen Jungen getan. Wir müssen dort anlangen, ehe sie wieder in ihren Betten liegen, wenn wir sie ertappen wollen. Es wird schon zu spät sein. Hosen sind schnell abgeworfen, und weiter werden die Jungen sich nicht angezogen haben, um uns diesen niederträchtigen Streich zu spielen.“
Ja, wir kamen zu spät. Als wir im Schlafsaal der großen Jungen anlangten, waren die sämtlichen Betten gefüllt, und alle, die darin lagen, schienen fest zu schlafen. Sie hatten wenigstens alle ihre Augen geschlossen. Wenn Sims mit seiner Annahme recht hatte, dass etliche der Jungen die Steinwerfer waren, so stellten sie sich schlafend; Zeit, ihre Hosen abzustreifen und unter ihre Decken zu kriechen, hatten sie bis zum Augenblick unseres Eintritts genügend gehabt.
Unverrichteter Sache verließen wir den Schlafsaal und gingen langsam dahin zurück, woher wir gekommen waren.
„Wem galten diese Steinwürfe?“, fragte ich. „Dir oder mir?“
„Wie sollten sie dir gelten können?“, meinte Sims.
„Wenn ich an das denke, was Dohaschtida mir gesagt hat, so liegt der Gedanke, dass es so sei, nicht außer dem Bereich der Möglichkeit. Die größeren Jungen, die ihr hier habt, sind ja schon halbe Männer. Es wäre nicht unmöglich, dass meine Worte ähnlichen Eindruck auf sie gemacht hätten wie auf Dohaschtida und dass sie gleichen Groll wider mich gefasst hätten, wie er ihn fasste.“
„Mach dir doch nicht solche Gedanken!“, sagte Sims abwehrend. „Die Jungen haben sich über irgendetwas geärgert und haben auf diese Weise ihrem Ärger gegen uns und die Schule, die sie nun einmal hassen und von der sie nichts wissen wollen, Luft gemacht. Das ist alles, was dahintersteckt. Es ist gar nicht nötig, die Sache irgendwie tragisch zu nehmen. Wir sind an derartige Ausbrüche des Unwillens der Indianer gewöhnt.“
Es war ja ganz nett von Sims, dass er so redete, und er meinte auch wohl, was er sagte; aber vollständig überzeugen und beruhigen konnten mich seine Worte nicht.
Als wir beim Haus anlangten, fragte ich: „Ich denke, wir trennen uns hier. Es ist Zeit, dass wir uns zur Ruhe begeben.“
Sims erwiderte: „Wir hätten schon noch eine Stunde plaudern können, aber hier draußen ist’s zu kühl und in meinem Zimmer ist’s nicht mehr gemütlich.“
Er lachte, reichte mir die Hand und wir begaben uns zur Ruhe.
Schon vor Tagesgrauen hatte Sims die sämtlichen großen Jungen aus den Betten geholt, und als er um acht Uhr zum Frühstück erschien, wo wir uns zuerst sahen, denn ich hatte lange geschlafen, konnte er mir berichten, dass die Fenster bereits wieder eingesetzt seien und dass in seinem Zimmer alles in alter Ordnung sei.
„Hast du keine Spur von den Tätern entdeckt?“, fragte ich leise.