Bisher vom Autor bei KBV erschienen:

Der Tod fährt Rad

Das Wunder von Hiltrup

Das Mordkreuz von Tilbeck

Der Glöckner von St. Lamberti

Christoph Güsken wuchs in Mönchengladbach auf, studierte in Bonn und Münster und war Buchhändler in Köln. Er verfasste Texte im Geist der legendären Monty Pythons, u. a. für die »Springmaus«. Seit 1995 lebt er als freier Autor in Münster, schrieb zahlreiche Krimis, einige wenig ernste Romane und Hörspiele. Kopflos am Aasee ist der fünfte Kriminalroman um den schrägen Ex-Hauptkommissar de Jong, der bei seiner Suche nach dem Sinn des Ganzen ständig über die schlimmsten Verbrechen stolpert. www.christoph-güsken.de

Christoph Güsken

Kopflos am Aasee

Originalausgabe

© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

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Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-538-0

E-Book-ISBN 978-3-95441-548-9

Was ist der Körper, wenn das Haupt ihm fehlt?

William Shakespeare, König Heinrich VI.

Inhalt

Über den Autor

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

1. Kapitel

Es ist fast Mitternacht. Nur ein paar späte Vögel zwitschern, in der Ferne rauscht beinahe lautlos ein Auto vorbei, ansonsten herrscht andächtige Stille.

Am Nachmittag würde er nie herkommen. Dann ist der See fest in der Hand der Fitness-Junkies. Du kannst nicht verweilen und die Enten beim Schnattern beobachten, weil du ständig jemandem im Weg stehst. Jogger, Biker, Scooter und Walker schieben sich als schier endlose Karawane aneinander vorbei, während alte Leute schwatzend auf Bänken hocken und den Fitten und Aktiven bei ihren Dehnübungen zusehen. Junge, hyperaktive Eltern schaukeln ihre hyperaktiven Babys in den Schlaf, und Hunde zerren ihre Halter an langen, aufrollbaren Leinen hinter sich her.

Er weiß schon, warum er die Nacht abgewartet hat; der See wird dann zum stillen, idyllischen Ort, an dem nachdenkliches Verweilen kein Problem mehr darstellt. An dem das Wort Nachtruhe noch kein Widerspruch in sich ist. Man kann innehalten und sich in aller Ruhe ein nettes Schlückchen gönnen, ohne dass man angestarrt oder um ein Autogramm angequatscht wird.

Und er liebt es, hier am Seeufer herumzustehen und die kalte Nachtluft zu atmen. Einfach so, ohne auf die Uhr zu sehen. Wie früher, während seiner Studienzeit, da hat er gar nicht weit weg von hier gewohnt. Damals, als er noch ein Niemand war, ein kleiner, unwichtiger Schreiberling, den jeder glaubte, herumstoßen zu dürfen.

Jetzt glaubt das keiner mehr.

Mach dir nichts draus, bekanntlich gilt der Prophet nichts in der eigenen Stadt – das hat Selma, eine Kommilitonin, ihm damals mitgegeben. Oder hat sie anders geheißen? Serena? Kann sein, aber Selma ist wahrscheinlicher. Egal, jedenfalls hat sie das mit dem Propheten und der eigenen Stadt erzählt. Selma oder wie auch immer hat später einen kleinen Verlag für Indi-Literatur und Slam-Poetry aufgezogen und damit sogar fast zwei Jahre durchgehalten.

Und sie hatte recht. Den Nagel sozusagen auf den Kopf getroffen. Der Prophet gilt nichts in seiner Stadt. Denn die Stadt strotzt vor Neidern und Besserwissern. Und die gönnen dir nicht den kleinsten Erfolg, legen dir alle Steine, derer sie habhaft werden können, in den Weg. Und niemand glaubt an dich, selbst wenn sie deine Begabung mit den Händen greifen können. Weil sie es nicht glauben wollen. Nicht wahrhaben. Niemand erträgt den Gedanken, dass man ihn selbst übertrumpfen könnte.

Schließlich will jeder gern Prophet sein.

Trotzdem – manchmal denkt er: gerade deshalb – hat er es geschafft. Gegen alle Missgunst und Widerstände. Heute ist er wieder zurück in der Stadt, in der er sich als kleiner, ungeliebter Prophet abgemüht hat, und steht hier, an exakt derselben Stelle, an der er vor zehn oder zwölf Jahren gestanden hat. Na ja, vielleicht nicht exakt derselben. Jedenfalls hat er sich damals nicht ansatzweise träumen lassen, dass er es eines Tages so weit nach oben schaffen würde. An die Spitze.

Charles Nöck. Das ist ein anderer Name für atemlose Spannung. Mittlerweile ein Synonym. Nöck ist eine Marke. Er ist der Garant für Gänsehaut. Niemand beherrscht die Kunst des Cliffhängers wie er, niemand wagt es kompromissloser, die spießigen Grenzen des sogenannten guten Geschmacks zu überschreiten, wenn es darum geht, Gewalt und Schrecken die Masken vom Gesicht zu reißen und sie so zu zeigen, wie sie sind, in aller Ausführlichkeit. Nichts wegzulassen. Nöck ergeht sich in hemmungslosen Blutorgien, suhlt sich in unnötigen Gewaltexzessen – so schimpft Adrian Speck, der bis in die Haarwurzeln eitle TV-Oberkritiker, ohnmächtig und wütend darüber, dass er Nöcks unvergleichlichen Siegeszug an die Spitze der Bestsellerlisten nicht verhindern konnte. Und wenn schon – selbst wenn er damit gar nicht falsch läge! Spannende Geschichten sind grausam, die Welt ist nicht gut. Wir sind erwachsen und wissen: Die Wirklichkeit ist nicht rosig. Sie ist schmutzig und hässlich. Gemein und gnadenlos. Nöck ist fast gerührt von Specks hilflosen Versuchen, auf seinem Erfolg herumzutrampeln, indem er seine Thriller als banalen Schund verunglimpft und damit nur das Gegenteil bewirkt. Außerdem sind sie nur mutig, schnörkellos und realistisch.

Ein junges Pärchen flaniert vorbei, verlangsamt seine Schritte. Sie wirft ihm im Vorbeigehen einen Blick zu. – Hat sie mich erkannt?, überlegt Nöck. Gut möglich. Jetzt sind sie vorbei. Die Frau zückt ihr Handy, sicher googelt sie jetzt seinen Namen. Knapp zehn Jahre ist es her, da hat er drüben am Alten Steinweg in einer Kneipe gehockt und vor weniger als zwanzig Leuten gelesen. Für knappe fünfzig Euro, und die Getränke musste er selbst zahlen. Jetzt wird er die Halle Münsterland füllen – was sage ich: vollstopfen – bis zum letzten Platz. Die Leute erkennen im Vorbeigehen sein Gesicht, googeln seinen Namen. Er ist ein Star. Zurückgekehrt an den Anfangspunkt seines Schaffens, ein Triumphator des Wortes, der es all denen zeigen wird, die ihm damals die Steine in den Weg gelegt haben. Ihn für einen Schwätzer hielten. Eine Eintagsfliege.

Nöck nimmt noch einen Schluck aus dem Flachmann. Eigentlich achtet er sonst peinlich darauf, dass es nicht zu viel wird. Immer nur ein paar Schlucke pro Abend. Schließlich will er sich nicht die Kante geben. Nur hier, am idyllischen Aasee, am Vorabend seines beispiellosen Triumphes, hat es ihn übermannt. Die Flasche ist schon fast leer, und die herbstliche Abendstimmung hat angefangen, sich leicht, aber stetig um ihn zu drehen.

Der Frauenesser. Morgen wird der neue, mit Ungeduld erwartete Mega-Thriller starten, und es wird ein Paukenschlag werden. Die Fans sind geradezu verrückt danach. Viele mögen der Ansicht sein, der globale Hype, der seinerzeit um jeden neu erscheinenden Harry-Potter-Band veranstaltet wurde, sei nicht mehr zu toppen. Nöck hält das für Unsinn. Und er wird es beweisen. Nicht nur mit der üblichen glamourösen Multimedia-Show in der ausverkauften Messehalle. Er, der Star, im Outfit seines Serienmörders, des Frauenessers. Und darüber hinaus findet im Foyer des Landesmuseums am Abend darauf ein festliches Bankett für prominente Fans statt, auf dem ein riesiger Kuchen in Frauenform angeschnitten wird. Der Bürgermeister hat zugesagt, irgendein berühmter Torhüter vom FC Bayern kommt, und selbst das Bistum schickt einen Abgesandten. Anschließend geht es zurück in die Halle Münsterland zu einer Multimedia-Lesung und anschließendem Krimi-Talk mit hochkarätigen Gästen, der übrigens live in Aspekte gesendet wird. Den Ausklang des Spektakels schließlich bildet der Auftritt der Band Manson unlimited, für die der Autor höchstselbst den Leadgitarristen gibt.

Charles Nöck geht ein paar schwankende Schritte. Was für ein Gefühl von Freiheit, hier am See zu wandeln, fernab vom lauten medialen Trubel. Auftanken zu können in der Abgeschiedenheit der städtischen Grünfläche. Kräfte zu sammeln für den großen Auftritt.

Eine ältere Dame mit einem winzigen, hamsterförmigen Hund an einer Aufroll-Leine kommt ihm entgegen. Der Minikläffer schnüffelt am Gras, sie mustert ihn, aber er hat plötzlich keine Lust mehr darauf, erkannt zu werden. Berühmtheit kann nerven … und wie.

Er bleibt stehen, und während er durchpendelt, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, atmet er die kalte Herbstluft ein. Direkt vor ihm hebt sich die Tormin-Brücke schwarz und monströs gegen den Nachthimmel ab. Ein denkmalgeschütztes Bauwerk aus grobem Beton, das Autos, Radfahrer und Fußgänger über den See befördert und das Gewässer damit in zwei Hälften teilt: den alten und den neuen Aasee. Im Sommer stehen bis spät in die Nacht Straßenmusiker unter der Brücke, die den Hall nutzen. Natürlich nicht in Nächten, die so kalt sind wie diese.

Und doch steht da jemand.

Nöck blinzelt. Der Whisky, der ihm so guttut, hat ihm ein winziges bisschen die Sinne vernebelt, sodass seine Augen nicht richtig scharfstellen können. Was nicht bedeutet, dass er gar nichts erkennen kann. Da steht eine Gestalt, männlich, ziemlich kräftig, hünenhaft geradezu, mitten auf dem Gehweg, der unter der Brücke durch seitlich am See entlangführt. In einen dunklen Umhang gehüllt. Das Gesicht wird vom nächtlichen Schatten verdeckt. Oder täuscht er sich? Die Gestalt macht einen Schritt vorwärts, aus dem Schatten heraus, in seine Richtung. Und jetzt sieht er es ganz deutlich, trotz des alkoholbedingten Drehwurms: Da ist kein Gesicht. Nicht mal ein Kopf!

»Echt super«, murmelt Nöck beeindruckt. Mit dem Flachmann prostet er dem Ankömmling zu. »Hey, alter Bekannter, was verschafft mir die Ehre? Du bist nicht zufällig meinetwegen hier, oder was?«

Der Mann ohne Kopf antwortet nicht, wie sollte er auch, ohne Mund. Aber Nöck weiß auch so Bescheid. »Hatte ja keine Ahnung, dass hier und heute schon die Promo anfängt. Zu später Stunde.«

Eine Weile stehen sie sich gegenüber. Dann kichert Nöck. »Ich kenn dich. Ich hab dich nämlich erfunden, was sagst du dazu? Hier drin wurdest du geboren!« Mit dem Finger stupst er an seine Stirn. »Ohne Kopf, aber mit dem tödlichen Schwert, das bist du. Du hast doch das Schwert dabei, oder?«

Ja, der Mann hat ein Schwert. Er zieht es unter seinem Mantel hervor und reckt es hoch in den Nachthimmel. Wie ein Ritter, der in die Schlacht zieht. Im Roman blitzt es furchterregend im Mondlicht, aber heute steckt der Mond hinter einer dichten Wolkendecke, also blitzt es nicht. Man kann die Klinge gerade mal erahnen. Und dass sie sich auf Nöck zubewegt.

»Hey, pass aber schön auf damit! Die Dinger sind messerscharf …«

Anstatt diesen Rat zu beherzigen, holt der Kopflose aus. Im weiten Bogen. Nicht wie ein Ritter in der Schlacht, eher wie der Henker von London.

»Nein, Vorsicht, du Idiot! Hey! Mit dem Ding, du könntest jemanden damit verl…«

Charles Nöck spricht nicht weiter. Der Mann mit dem Schwert hat ihm im wahren Sinne das Wort abgeschnitten. Und nicht nur das. Nöcks Autorenhaupt – mit einem schiefen, ungläubigen Grinsen im Gesicht – kullert das grasbewachsene Ufer hinab.

2. Kapitel

Es war schon Mitte November. Hin und wieder wehte von irgendwoher der Duft nach Glühwein und gebratenen Kastanien herüber – Weihnachten war noch weit weg, und das Wetter gab sich alles andere als winterlich; nur der Einzelhandel, gehetzt vom Fluch der Umsatzmaximierung, konnte sich nicht um altertümlich winterliche Bräuche scheren, geschweige denn um Feste, deren Zauber darin bestand, dass sie nur einmal im Jahr stattfanden und man ihnen langsam und behutsam entgegenfieberte.

Exhauptkommissar Niklas de Jong ärgerte sich über den Kastaniengeruch. Er verstärkte jene winterliche Stimmung, die sich – auch wetterunabhängig – gerade seit dem heutigen Morgen in seinem Inneren ausbreitete. Es war halb elf am Vormittag, ein grauer Dienstagvormittag. Vor einer guten halben Stunde war Giulia abgereist.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Mehr als vielversprechend. Alles versprechend. Als Giulia am Samstagabend überraschend angerufen und sie lange gesprochen hatten. Dass sie sich immer wieder getrennt hatten und doch nie voneinander losgekommen waren, jedenfalls nicht so richtig. Was ja wohl auch etwas zu bedeuten habe. Und sie vorgeschlagen hatte – sie hatte es von sich aus vorgeschlagen! – ob sie noch einen neuen Versuch miteinander starten sollten. Nach all den Jahren die Uhren auf Null stellen. Alles auf Anfang. Natürlich hatte de Jong nicht lange überlegt. Keine Sekunde. Was gab es da auch zu überlegen? Sicher, er kannte Giulia lange genug, um zu wissen, dass die Sache nicht ganz ohne war und eventuell kompliziert werden konnte. Dass bei allem Enthusiasmus Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl gefordert waren. Aber er wusste, worauf er sich einließ, und das schloss auch das Wissen darum ein, dass sich jeder Aufwand lohnte.

Und es war ein Neuanfang geworden, der nichts zu wünschen übrig ließ – genauer gesagt, er hatte anfangs nichts zu wünschen übrig gelassen: Der Montag war ein urgemütlicher Tag in der Stadt gewesen, kühl zwar, aber bei strahlendem Sonnenschein, gekrönt durch ein romantisches Abendessen bei dem Italiener, den sie so manches Mal aufgesucht hatten, um einen Jahrestag zu begehen, dessen abschließender Höhepunkt in romantischem Sex auf dem Oude Meisje bestanden hatte. In dieser Nacht hatte de Jong mitten im Herbst keinerlei Herbstgefühle verspürt, stattdessen vielmehr intensive Frühlingsgefühle. Und das – davon war er felsenfest überzeugt – wäre genau so weitergegangen, wenn die Heizung nicht ausgefallen wäre. Ein banaler technischer Defekt, nichts weiter, machte alle Romantik und allen Neubeginn zunichte.

Zugegeben, es kam nicht von ungefähr. Die Heizung hatte nicht erst seit gestern, sondern immer mal wieder gezickt, nur hatte de Jong das im Sommer schlicht aus den Augen verloren. Ein fataler Fehler, der sich jetzt rächte, denn die Heizung war schließlich nicht irgendeine Anlage unter vielen anderen, so wie die Wasserleitung, die Klospülung oder die Kaffeemaschine. Der Heizung kam eine herausragende, geradezu beziehungsrelevante Stellung zu. Vor allem jetzt, in diesen Nächten, in denen das Thermometer hin und wieder unter null Grad fiel, wenn auch nur ganz geringfügig. Affenkalt, sagte Giulia. Nicht kalt, sondern affenkalt. Keine Wärmflasche in einem noch so flauschigen Bärenkostüm, keine zusätzliche Wolldecke vermochte etwas gegen diese Affenkälte auszurichten. Was aber de Jong streng genommen auch nicht überraschen konnte, denn Giulias berüchtigte Verfrorenheit war ihm seit Jahrzehnten vertraut. Frieren mochte nur in gewisser Weise eine Tätigkeit sein und schon gar niemand bezeichnete sie als Kunst oder Sportart. Trotzdem blieb es eine Tatsache, dass in Sachen Frieren Giulia so leicht niemand das Wasser reichen konnte. Ihre Frostanfälle waren berüchtigt und kamen mitunter völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, sobald nur die Temperatur unter die Zwanzig-Grad-Marke fiel: Giulia war imstande, mitten in der Sonne einen Winterpullover überzuziehen, zur Verblüffung aller Umstehenden und ohne vor Hitze auch nur ansatzweise umzukommen. Und nicht nur einmal hatte sie es geschafft, mit Mütze und Handschuhen an einem Strand auf einem Handtuch zu sitzen.

Aber all das war nichts Neues gewesen. Neu war, dass Giulia inzwischen dazu neigte, alltägliche, rein technisch bedingte Pannen auf eine grundsätzliche, fast metaphysische Ebene zu heben. »Es ist ja nicht nur die Kälte«, hatte sie gesagt. Nicht nur, dass sie eine Nacht gebibbert statt geschlafen hatte, wie sie jedenfalls behauptete. »Es passt irgendwie.«

»Es passt? Was meinst du denn damit: Was passt?«

»Dass die Heizung ausfällt. Dass es kalt ist. Hier auf deinem Schiff.«

»Das ist kein Schiff, sondern ein Hausboot.«

»Von mir aus.«

»Aber es passt doch gar nicht. Im Gegenteil. Sieh dich doch an. Es ist mehr als unpassend.«

»Ich meine damit, es gibt Menschen, die so was magisch anziehen, Niklas. Kälte. Mord. Dunkle Dinge. Sie ziehen es an wie ein Magnet, und niemand kann erklären, wieso.«

»Das mit den Morden ist doch Vergangenheit«, widersprach de Jong. »Außerdem habe ich die nicht angezogen, sondern aufgeklärt.«

»Stimmt. Aber trotzdem hast du dich auf diesem Hausboot eingerichtet, und es ist dir egal, ob man friert.«

»Wieso sollte mir das egal sein?«

»Worauf ich hinauswill: Wärme und Kälte – das ist nicht das, was das Thermometer anzeigt. Vielleicht von außen besehen. Aber es hat auch eine tiefere, menschliche Dimension.«

»Mag sein«, gab de Jong zu. »Aber hier geht es doch schlicht und einfach darum, dass die Heizung streikt. Warum reden wir nicht darüber, anstatt theologisch zu werden?«

»Schlicht und einfach«, wiederholte sie. »Für dich ist das also eine Lappalie?«

»Nein, natürlich nicht. Ich werde gleich heute jemanden anrufen, der sich drum kümmert.«

Sie schwieg einen Moment. Einen unpassend langen Moment, weil er es immer noch nicht schaffte, das Wesentliche hinter der rein oberflächlichen Ebene wahrzunehmen. »Du denkst, ich mache aus einer Mücke einen Elefanten?«

»Aber wer sagt das denn?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass du das von mir denkst.«

Und so waren sie am Ende wieder dort angelangt, wo keiner von ihnen hingewollt hatte: dass sie sich gegenseitig vorwarfen, den anderen gar nicht verstehen zu wollen, mehr noch; das noch nie gewollt zu haben. Und als Giulia schließlich gesagt hatte, es sei wohl besser, wenn sie doch schon jetzt ihren Koffer packte, hatte er es nicht mal geschafft, Einspruch zu erheben. Bevor sie von Bord ging, hatte sie sich nur noch einmal kurz umgesehen.

De Jong war die Lust vergangen, einen Installateur anzurufen. Ihm war danach, sich nach Achtern zu verziehen und den Rest des Vormittags mürrisch auf den Kanal hinauszustarren.

Aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Ausgerechnet heute musste Detlev Rickelrath seine Aufwartung machen. Rickelrath, der Weltenbummler, wie immer mit jeder Menge Reiseanekdoten im Gepäck. Er kam jedes Mal unangekündigt und heute direkt vom Hauptbahnhof, hatte den Trekking-Rucksack, an dem leere Plastikflaschen und eine verschwitzte Isomatte festgeschnallt waren, noch auf dem Rücken. So stand er da und ließ seinen weltgewandten Blick kritisch über das Deck schweifen. »Ich weiß nicht, jedes Mal, wenn ich hier stehe«, sagte er, »kommt mir das alles kleiner vor.«

»Das solltest du nicht auf die leichte Schulter nehmen«, brummte de Jong schnippisch. »Hört sich für mich nach einem Fall für den Augenarzt an.«

Detlev Rickelrath war Globetrotter mit Leib und Seele. Früher hatte er sich in einem Reisebüro verdingt, das aber eines Tages vom Online-Reise-Boom überrollt worden war. Während Rickelrath großzügig geerbt hatte, worauf er sich selbst vorgeschlagen hatte, auf die lästige Jobsuche zu verzichten und stattdessen die Chance zu ergreifen und sein weiteres Leben mit Reisen zu verbringen. »Reisen bildet«, betonte er bei jeder Gelegenheit. »Du machst ganz andere Erfahrungen, wirst bescheidener und lernst das, was du hier hast, mit ganz anderen Augen zu sehen.«

»Vielleicht reicht aber auch schon eine Brille«, schnappte de Jong genervt.

Rickelrath war ein kerniger Typ, braungebrannt und wettergegerbt, einen Kopf größer als de Jong. Ein Jahrzehnt jünger und topfit, weil er, wie er sagte, jeden erdenklichen Langstreckenwanderweg auf dieser Erde schon hin- und zurückgewandert war. Letztes Jahr hatte er von einer Antarktis-Tour berichtet, auf den Spuren von Roald Amundsen, in historischen Schuhen – also keine moderne Wärmetechnik, sondern Winterschuhe nach Stand des neunzehnten Jahrhunderts und selbstgestrickte Socken. Und heute kam er direkt aus Australien, vom Ayers Rock.

»Von da oben kommt einem bestimmt auch alles kleiner vor«, vermutete de Jong.

Der Wanderer schüttelte den Kopf. »Da darf man jetzt nicht mehr rauf. Für die Aborigines ist das ein heiliger Ort. Sie haben was dagegen, dass Tausende von Touristen in die Büsche pinkeln und ihren Plastikmüll hinterlassen.« Also hatte er kurzfristig umgeplant und war an die Küste gezogen. Hatte in Hai-Käfigen getaucht. »Da gibt’s sogar große Weiße«, berichtete Detlev stolz. »Die kommen dir so nah, du brauchst nur den Arm auszustrecken. Da wird’s dir schon anders.«

De Jong, der keine Lust verspürte, Detlev seine Bewunderung für dessen Kaltschnäuzigkeit auszusprechen, suchte stattdessen nach einer entsprechend giftigen Erwiderung, aber ihm fiel keine ein. Also schwieg er.

»Hey, was ist los mit dir, Niklas? Du wirkst heute irgendwie angespannt.«

»Angespannt?«

»Brummig geradezu.«

De Jong warf ihm einen warnenden Blick zu, woraufhin Rickelrath auf ein drittes Adjektiv verzichtete.

»Übrigens haben sie frühlingshafte Temperaturen vorhergesagt.« Das war einer von Detlevs Stärken: Launische Stimmungen perlten wirkungslos an ihm ab. Weil er sie eben überhaupt nicht bemerkte, hatte de Jong anfangs vermutet, aber inzwischen war er davon überzeugt, dass Rickelrath einfach nichts übelnahm. Dazu wirkte er einfach zu fit und zu naturverbunden. Ein wirklich edler Zug, der de Jong aber dummerweise noch neidischer und übellauniger machte.

»Also, ich bin dann auch schon wieder weg.« Rickelrath winkte ihm zu, während er von Bord stapfte. »Muss noch ein paar Sachen besorgen. In zwei Tagen geht mein Flug. Katmandu. Himalaya.«

»Na dann«, sagte de Jong. »Reisende soll man nicht aufhalten.«

Detlev stoppte und drehte sich noch einmal um. »Na ja, soll ich ehrlich sein? Am liebsten würde ich stornieren. Da oben sind massenhaft Touristen. Man kommt überhaupt nicht voran. Auf dem Weg zum Everest gibt es ständig Staus, weil irgendeiner ein Selfie machen will.«

»Und was hält dich davon ab zu stornieren?«, fragte de Jong achselzuckend.

»Ich hab da jemanden kennengelernt.« Rickelraths Stimme hatte in eine weichere, verliebte Lage gewechselt.

De Jong reichte es. Wenn der Kerl jetzt darauf wartete, dass er fragte: Na, wer ist sie denn? Kenne ich sie?, dann hatte er sich aber so was von verrechnet. Stattdessen stand er nur herum und wartete stumm, dass Detlev seine Ankündigung wahrmachte.

»Also gut dann«, wandte der sich endlich zum Gehen. »Ich werde dir Bericht erstatten. So wie immer.«

De Jong blieb noch eine Weile so stehen und starrte dem Weltenbummler hinterher, der sich zur nächsten Bushaltestelle aufmachte. Ich hab da jemanden kennengelernt … Wart’s nur ab, hätte er ihm am liebsten gesagt. Heute wandert ihr noch einträchtig Arm in Arm, aber schon morgen, spätestens übermorgen wirft sie dir vor, dass es affenkalt ist und du dunkle Dinge magisch anziehst …

»Hallo, Nachbar!«

De Jong war so tief in seinen dunklen Gedanken, dass er die Rufe gar nicht zur Kenntnis nahm, jedenfalls nicht auf sich bezog. Als er endlich hochsah, bemerkte er eine Frau auf der anderen Seite des Stegs, der an Bord des Alten Mädchens führte. Die Frau war schlank, irgendwo in den Vierzigern und hatte leuchtend rotes Haar, das nicht gefärbt aussah. In den Händen hielt sie eine Springform mit einem Kuchen darin.

»Hallo«, sagte de Jong.

»Ich bin Camilla.« Die Frau deutete auf das Boot, das seit gestern gleich neben dem Alten Mädchen festgemacht hatte. »Die neue Nachbarin.«

De Jong war das schicke Ding natürlich längst aufgefallen. Aber aus der Sicht seines alten Hausbootes kam ihm das Wort Nachbarschaft nur schwer über die Zunge. Da lag eine mutmaßlich hochseetaugliche Jacht mit allen Schikanen, mit makellos weißem Rumpf und einer Reling aus blank geputztem Messing, das bei Sonnenschein wie pures Gold blitzte. Am Bug prangte in altertümlichen Lettern der Name Medea.

»Ich hab hier ein Geschenk für Sie.« Camilla hielt den Kuchen hoch. »Pflaumenkuchen, selbst gebacken.«

»Das ist sehr nett«, sagte de Jong. »Kommen Sie doch herein.«

Die Frau balancierte mit ihren High Heels über den Steg. Dann stand sie vor ihm, und de Jong atmete ein süßliches Parfum ein, das ihn spontan faszinierte, obwohl er normalerweise für süße Gerüche gar nichts übrig hatte.

»Niklas de Jong«, sagte de Jong. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Gern. Einen Kaffee?« Ohne um Erlaubnis zu bitten, begab sich Camilla mitsamt dem Kuchen nach unten in die Küche. »Ein schönes Boot«, schallte es herauf. »So altertümlich. Urgemütlich.«

De Jong folgte ihr nach unten.

»Wenn auch ein bisschen unterkühlt.«

»Die Heizung macht leider Probleme«, gab de Jong zu.

»Sie Armer«, meinte Camilla und legte ihm in einer mitfühlenden Geste die Hand auf den Arm. »Nachts wird es ja schon richtig kalt, nicht wahr?«

»Es geht«, sagte de Jong.

»Also wenn Sie wollen – Sie kommen einfach auf mein Boot und wärmen sich ein bisschen auf. Was halten Sie davon?« Camilla lächelte ihn an.

De Jong hatte allerdings auch das Gefühl, dass sie ihn hinter dem Lächeln durchdringend musterte. »Nettes Angebot«, sagte er. »Wie wollen Sie den Kaffee?«

»Schwarz mit Zucker, gern.« Camilla fand sich offenkundig schon in der Küche zurecht, hatte ein Messer aus der Schublade geholt und war dabei, den Kuchen anzuschneiden. »Aber natürlich nicht nur zum Aufwärmen.«

De Jong kamen diverse Dinge in den Kopf, die man drüben auf der Hightech-Jacht unternehmen konnte, außer sich aufzuwärmen.

»Ich habe gehört, Sie waren bei der Kripo?«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

Camilla überging die Frage. »Außerdem war die Rede davon, dass Sie in diesen Dingen hin und wieder behilflich sind.«

»Welchen Dingen?«

»Kriminellen Dingen.« Sie grinste. »Deswegen habe ich sozusagen einen Anschlag auf Sie vor. Auf Sie als Experte.«

Das waren also die ›anderen Dinge‹. De Jong ärgerte sich über sich selbst, dass seine Gedanken spontan in eine ganz andere Richtung gegangen waren. »Ja«, sagte er deshalb. »Aber so was mache ich schon länger nicht mehr. Irgendwann muss man mal einen Schlussstrich ziehen.«

Er startete die Kaffeemaschine. Sie meldete sich mit einem leisen, zischenden Knall und qualmte ein wenig. Im selben Moment verlöschten die Kontrolllämpchen, und sie machte keinen Mucks mehr.

»Das auch noch«, sagte de Jong.

»Tja, wenn schon, dann kommt immer alles zusammen, was?« Camilla klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Was denken Sie, sollen wir einfach rübergehen? Bei mir gibt’s Heizung und Kaffee im Überfluss.« Sie schnappte sich die Teller mit dem Kuchen. »Übrigens, wollen wir nicht Du sagen?«

»Warum nicht«, sagte de Jong. »Ich bin Niklas.«

»Also dann, auf gute Nachbarschaft.«

Aber aus dem Kuchenessen wurde dann doch nichts, weil oben an Deck schon wieder jemand wartete: Hauptkommissar Achim Bühlow. Ein Mann um die dreißig, schlank, der ab und an zu hektischen Bewegungen neigte, die de Jong immer an eine heimische Vogelart erinnerten.

»Besuch?«, sagte Camilla und musterte den Gast neugierig.

»Kann ich dich sprechen? Es ist wichtig«, wandte Bühlow sich an de Jong.

»Also ich bin hier gerade …«, sagte de Jong vage und bemerkte Camillas neugierig fragenden Blick. »Das ist Hauptkommissar Bühlow von der Kripo Münster.«

»Die Kripo! – Tja, irgendwann muss man einen Schlussstrich ziehen, was?«, stichelte sie.

»Aber nein«, eierte er herum. »So hab ich das nicht gemeint.«

Camilla stellte die Kuchenteller auf dem Tisch ab. »Ich lass euch jetzt mal allein.«

»Heute Abend«, rief de Jong ihr nach, während sie schon den Rückweg antrat. »Hätten Sie heute Abend eventuell Zeit? Ich meine, du.«

Die rothaarige Frau, schon an Land, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Warum nicht?«, meinte sie. »Dann um neunzehn Uhr? Ich koch uns was Leckeres.«

»Tut mir leid, dass ich dir so in dein Date hineingegrätscht bin«, sagte Bühlow wenige Minuten später. Er war noch recht neu bei der Kripo. Sein Onkel, de Jongs alter Freund Eugen Küppers, hielt ihn mindestens für den neuen Kurt Wallander.

»Das war kein Date«, stellte de Jong richtig.

Sie saßen auf Deck und machten sich über den Pflaumenkuchen her.

»Ich hätte es auch nicht gemacht, wenn es nicht dringend wäre. Wir haben einen Mordfall.«

»Interessant«, sagte de Jong, »aber ich bin nicht mehr bei der Mordkommission. Gottseidank.«

»Genau«, sagte Bühlow. Dieses Genau, selbst an Stellen, wo es nicht passte, war eine Art Tick von ihm. »Es ist aber nicht irgendein Mord.«

»Was ist denn irgendein Mord?«

»Der Tote ist Charles Nöck.«

De Jong pfiff durch die Zähne. »Der Charles Nöck? Der Bestseller-Nöck?«

»Genau der. Sein Torso wurde heute Morgen am Aasee-Ufer aufgefunden. In der Nähe der Torminbrücke.«

»Sein Torso?«

»Er wurde geköpft. Sauberer Schnitt.«

»Und der Kopf?«

»Ist verschwunden. Nöck ist erst gestern in die Stadt zurückgekehrt.«

»Zurückgekehrt?«

»Er hat früher hier gelebt und studiert. BWL.«

»Das wusste ich ja gar nicht«, meinte de Jong. Er nahm sich noch ein Stück Pflaumenkuchen.

»Damals kannte ihn ja auch keiner«, sagte der junge Kommissar. »Genau. Und morgen sollte eigentlich sein neues Buch vorgestellt werden. Der Frauenesser. Eine Bühnenshow in der Halle Münsterland mit allem Drum und Dran.«

»Der Frauenesser«, meinte de Jong mit einem leicht abfälligen Unterton. »Na ja, romantische Liebesgeschichten waren nie sein Ding.«

»Und das ist auch der Punkt. Du schreibst ja auch Krimis, stimmt’s? Und da dachte ich – und der Chef fand übrigens auch, dass das eine gute Idee ist –, dass wir dich hinzuziehen. Weil du sozusagen auf beiden Seiten stehst.«

»Auf beiden Seiten? Mörder und Mordopfer?«

»Nein. Du bist erfahrener Kriminalist und weißt gleichzeitig, wie so ein Mann tickt.«

»So ein Mann. Wen meinst du?« De Jong schüttelte den Kopf. »Aber er tickt nicht mehr, das ist doch das Problem. Und mit Durchgeknallten, die Starautoren den Kopf abschlagen, kenne ich mich überhaupt nicht aus.«

Eine Weile schwiegen sie und starrten auf die graue Wasseroberfläche des Dortmund-Ems-Kanals. De Jongs Blick wanderte weiter, hinüber zur Luxusjacht. Nachbarschaft, dachte er, schön wär’s ja, aber Pflaumenkuchen allein macht uns noch nicht zu Nachbarn.

»Nöck war Autor, und du bist auch einer«, gab Bühlow zu bedenken.

»Das ist etwas völlig anderes. Wir leben in verschiedenen Welten. Er macht Millionen mit seinen Thrillern über essbare Frauen, und ich bleibe auf meinem Kram sitzen und muss sehen, wie ich zurechtkomme.«

»Meinst du nicht, dass es angesichts der Tat angebracht wäre, den Neid erst mal hintanzustellen?«

»Wer sagt, dass ich neidisch bin?«, brauste de Jong auf und war ganz kurz davor zu sagen, dass sie sich gefälligst einen anderen für die Sache suchen sollten. Ganz kurz davor. Aber er verkniff es sich, weil er sonst ja erst recht neidisch gewirkt hätte.

Bühlow zog einen gelben Schnellhefter aus seiner Umhängetasche. Er nahm großformatige Schwarz-Weiß-Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch neben seinem Teller mit Pflaumenkuchen aus: Es waren Aufnahmen vom Tatort, von einem toten Körper, der in einer Blutlache lag. Von der Wunde in Nahaufnahme und von dem Torso. Ein Foto zeigte den Tatort aus größerer Entfernung, das Aaseeufer und die Torminbrücke. Die Polizeiabsperrungen.

»Dr. Hattkämper sagt, dass die Tatwaffe nicht irgendein Messer sein kann«, erklärte Bühlow. »Der Mörder hat ein hochwertiges Schwert benutzt, eine Art Samuraischwert mit einer außergewöhnlich scharfen Klinge.«

De Jong schob die schlimmen Fotos zusammen und gab sie Bühlow zurück. Einen Menschen zu töten, indem man ihm den Kopf abschlug, machte die Sache in seinen Augen auf eine irrationale Art und Weise noch schlimmer. Es blieb ein Torso zurück, der weniger menschlich aussah, nur wie der klägliche Rest von einem Menschen. Der Exkommissar entschied, dass er sich in seinem Leben genug Tatortfotos angeschaut hatte. »Noch ein Stück Kuchen, Herr Kommissar?«, fragte er.

»Die Sache ist die«, sagte Bühlow, während er de Jong seinen Teller zum Auflegen hinhielt, »dass es in den Thrillern des Ermordeten richtig zur Sache geht. Da wird fast nie geschossen, sondern immer zerstückelt, gehäutet und gekocht. Das neue Buch, das morgen mit großem Medienrummel auf den Markt kommt, handelt von einem Täter, der seine Opfer aufisst.«

»Frauen«, sagte de Jong und nickte. »Also warum sucht ihr euch nicht besser eine Profilerin, statt mir die Zeit zu stehlen, die ich dringend für meine literarischen Inspirationen benötige?«

»Der Köpfesammler«, sagte Bühlow.

De Jong verzehrte noch etwas Pflaumenkuchen und schenkte Bühlow dann einen fragenden Blick.

»Das ist zwar nicht sein aktuelles Buch. Es kam vor ein paar Jahren heraus und handelt von einem Mann ohne Kopf, der umgeht und seine Opfer mit einem Schwert enthauptet.«

»Du meinst also, der Mörder bezieht sich auf dieses Buch?«

»Der Köpfesammler, genau.« Bühlow setzte ein listiges Lächeln auf, das etwas Unwiderstehliches an sich hatte, wie de Jong verwundert zur Kenntnis nahm. »Und da kommst du ins Spiel.«

3. Kapitel

De Jong konnte sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass es sich hier mitnichten um ein Spiel handele. Aber eigentlich wollte er nur sagen, dass er überhaupt keine Lust verspürte, ins Spiel zu kommen. Es lagen deutlich wichtigere Dinge an: sich um einen Handwerker zu kümmern, der die Heizung wieder in Stand setzte, und anschließend Giulia ausfindig machen und herausfinden, wie die Chancen standen, dass sie das vergeigte Wochenende abhaken und einen weiteren Neuanfang machen konnten – den vierten oder den vierzigsten, wer wusste das schon.

Aus zwei Gründen ließ er sich aber doch auf die Sache ein: Hauptkommissar Joachim Bühlow mochte kein kriminalistisches Jahrhunderttalent sein, was sein Onkel, Eugen Küppers, offenbar glaubte. Kriminalistisch gesehen tendierte der Junge eher in Richtung Inspector Closeau. Trotzdem unterschätzte man ihn leicht. Was de Jong anging, hatte Bühlow, der mit einem rätselhaften siebten oder achten Sinn ausgestattet zu sein schien, nämlich binnen kurzer Zeit dessen Achillesverse geortet: de Jongs Trägheit, wenn es darum ging, nein zu sagen. Oder: nein heißt nein. Oder: mir doch egal, mach was du willst. Bühlow hatte schnell begriffen, dass bei de Jong »nein« auch »na ja, vielleicht doch« heißen konnte. »Völlig ausgeschlossen« konnte gleichbedeutend sein mit »geht eigentlich nicht, es sei denn …«

Ein Mann ohne klare Kante, hatte Giulia ihn deshalb mal genannt. Und in einem Streit war auch noch Weichei dazugekommen, worauf de Jong ihr vorgehalten hatte, dass sie hart gekochte Eier noch nie gemocht habe. Und dass die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, von Intelligenz zeuge. Bühlow war pragmatischer. Er nahm die Neinschwäche de Jongs als das, was sie war: als ein Potenzial, das er für sich zu nutzen verstand.

So kam de Jong ins Spiel.

Gegen Mittag radelte er zum Aasee, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen. Das erwies sich als recht schwierig, nicht nur weil die Spurensicherung das Ufer großräumig abgesperrt hatte. Sondern auch, weil die schockierenden Nachrichten die Touristen hergelockt hatten. Davon gab es eine Menge in Münster, und Touristen zählten bekanntlich zu den neugierigsten Spezies überhaupt. Hunderte von ihnen lungerten am grasbewachsenen Seeufer herum, blockierten die Joggingstrecken, sodass auch die Läufer nicht anders konnten, als zu stoppen und einen Blick auf das abgesperrte Areal zu riskieren. Von der Seeseite näherten sich ganze Flottenverbände von Ruder- und Tretbooten, die einige Polizeibeamte zur See nur mit Mühe davon abhielten, an Land zu gehen und den Tatort zu entern. So gut wie alle Schaulustigen hielten ihre Smartphones in die Höhe – ein seltsamer Anblick, als wäre der erhobene Arm eine Geste der Anteilnahme oder der stumme Gruß einer verschworenen Geheimsekte.

Natürlich gab es keinen Leichnam zu sehen. Die Handys starrten vielmehr auf das Meer aus Schnittblumen, die Fans und entsetzte Bürger jenseits der Absperrung niedergelegt hatten. Dazwischen steckten auch Fotos und Bücher von Charles Nöck, handgemalte Pappschilder, auf denen Du fehlst uns!, Wir sind Charlie! und Was soll jetzt werden? stand. Das letzte konnte de Jong nur lesen, indem er sich auf die Zehenspitzen stellte und über die Köpfe hinweg und zwischen den erhobenen Handy-Armen hindurchlinste. Und dann rempelte ihn jemand von hinten an und beschwerte sich, dass de Jong ihm »mitten im Bild« herumstehe.

Der Exkommissar wandte sich ab und trat den Rückweg an, geriet auf dem Weg zu seinem Fahrrad noch in eine gut besuchte Krimi-Stadtführung. Normalerweise klapperten diese Führungen in der City alle Sets ab, an denen Thiel und Börne schon mal gedreht hatten, heute war die grauenhafte Tat gut für einen aktuellen Abstecher an den Aasee, weil man endlich mal einen »authentischen« Mord-Schauplatz besichtigen konnte. De Jong hielt still und ließ das Menschenrudel an sich vorüberziehen, dann atmete er durch und schwang sich auf sein Rad.

Angesichts des Rummels hielt er es für besser, sich seine Informationen schriftlich zu verschaffen. In der Innenstadt angekommen, besorgte er sich eine Tageszeitung, bestellte in einem Café einen Kaffee und widmete sich dem Aufmacher auf der ersten Seite.

BRUTALES GEMETZEL UNTER DER TORMINBRÜCKE

Münsteraner Starautor ermordet.

Die Bürger unserer friedliebenden Stadt stehen zusammen angesichts einer brutalen Mordtat. Seit gestern Nacht scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Charles F. Nöck, ein Sohn dieser Stadt und großer Schriftsteller, ist nicht mehr. Er wurde das Opfer eines feigen Mordanschlages. Ingolf Bolte, der Agent des Autors und sein langjähriger Freund: »Charlie wollte sich einfach nur am Aasee die Beine vertreten. Das hat er oft gemacht, wenn er sich vor einem großen Auftritt sammeln wollte.« – Der große Auftritt, damit ist der Start seines neuen, mit großer Spannung erwarteten Werkes gemeint, der als ein Mega-Event der Extraklasse in die Annalen der Stadt eingehen sollte. Zahllose Fans aus aller Welt sind nur deswegen angereist, die Hotels der Stadt sind komplett ausgebucht. Leser, die sich auf Mord und Totschlag gefreut hatten und denen der Spaß daran jetzt fürs Erste vergangen ist.

Bis jetzt gibt es noch keine Spur, wer hinter dieser barbarischen Tat stecken könnte. Hauptkommissar Armin Selters, der Leiter der Mordkommission, kündigte indes an, dass man alles unternehmen werde, um den Mord so bald wie möglich aufzuklären.

»Dies ist die Stadt des Westfälischen Friedens, sie steht für Toleranz und Weltoffenheit«, erklärte der Oberbürgermeister, der inzwischen einen terroristischen Anschlag ausschloss. »Für Fahrräder und herzhaftes Essen. Barbarei hat bei uns keinen Platz.«

Wie kein anderer hat Nöck die Spannungsliteratur in diesem Land geprägt. Viele begeisterte er, einige mag er verstört haben mit seiner Art, Grenzen des Geschmacks beizeiten zu überschreiten und Dinge in schonungslos blutiger Härte darzustellen. Aber alle faszinierte er auf seine Weise. So trauert die literarische Welt nun um einen ihrer Großen. Die Lücke, die Charles Nöck hinterlassen hat, wird sich wohl so schnell nicht schließen.

De Jong dachte gerade über einen zweiten Kaffee nach, als das Telefon klingelte. Er faltete die Zeitung zusammen und kramte sein Handy aus der Tasche. »Ja?«, meldete er sich.

»Hier ist Till«, sagte eine männliche Stimme. »Ich bin jetzt angekommen.«

»Till?«, fragte de Jong, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Welcher Till?«

»Till Grönewald.« Die Stimme klang trotz aller Nachsicht leicht irritiert. »Ich hatte dir doch geschrieben, dass ich heute …«

»Stimmt, ja. Oh Gott!«, unterbrach ihn de Jong, dem urplötzlich einfiel, was er über die Sache mit Giulia komplett vergessen hatte.

»Was ist? Passt es dir etwa zeitlich nicht?«

»Doch, doch. Sicher, wie kommst du darauf? Kein Problem.«

Grönewald hatte er vor etwa einem Jahr auf einem Literatur-Workshop in Holzwickede kennengelernt. Nach dem offiziellen Teil hatten sie zusammengesessen, und de Jong hatte erzählt, dass er sich aus dem Kripo-Dienst zurückgezogen habe. Worauf Grönewald ihm gratuliert hatte, weil die Kripo seines Wissens sowieso von Agenten des Systems unterwandert sei. De Jongs Frage, welche Agenten welchen Systems er denn meine, parierte Grönewald mit der Gegenfrage, ob de Jong schon mal darüber nachgedacht habe, warum gerade prominente Morde niemals aufgeklärt worden seien: der an John F. Kennedy, an Olof Palme, an Uwe Barschel. Und das seien nur Beispiele.

»Oder du schreibst ein Buch und kein Verlag will es drucken. Dann stellst du dir doch die Frage: Wieso ist das so? Wem trete ich damit auf die Füße? Warum ziehen sie alle den Kopf ein?«

»Und? «, erkundigte sich de Jong neugierig. »Warum?«

Grönewald hatte mit den Schultern gezuckt wie einer, den mittlerweile nichts mehr schockieren konnte. »Und dann kommt eines Tages ein anderer mit dem Stoff groß raus. Und du fragst dich, woher er den wohl hat.«

»Woher denn?«

»Ach egal. War doch nur ein Beispiel.«

Für de Jong hatte das Ganze allzu sehr nach Verschwörungstheorie geklungen. – Das wäre, hatte sein neuer Bekannter darauf erwidert, wenn man glaube, dass Aliens auf der Erde gelandet seien. Stimmt, meinte de Jong, und Grönewald fragte, woher er denn wissen wolle, dass dies nicht der Fall sei. Angenommen nämlich, es sei der Fall, frage sich doch, wieso alle Menschen diese Tatsache als Verschwörungstheorie abtäten.

Die Nacht war damals ziemlich lang geworden und am Ende hatte de Jong in einem Zustand tumben Halbschlafs eine dieser vagen Einladungen ausgesprochen, dass Till sich doch auf jeden Fall mal melden solle, wenn ihn irgendetwas nach Münster verschlage.

Till Grönewald stammte aus Wernigerode und betrieb dort einen Shuttledienst, der die Touristen in einer benzinbetriebenen Bimmelbahn durch den historischen Ort zum Schloss hinauf und wieder zurück kutschierte. Letzte Woche hatte er die vage ausgesprochene Einladung angenommen.

»Warte kurz auf mich«, sagte de Jong. »Ich bin schon auf dem Weg. Gib mir fünf Minuten.«

Aristoteles – den echten Nachnamen hatte de Jong vergessen, es war irgendeiner dieser komplizierten griechischen Namen, die man sich nicht merken konnte – betrieb ein Restaurant am Bremer Platz, der von manchen als die erdabgewandte Seite des Hauptbahnhofes bezeichnet wurde. Als ehemaliger Chef der Kripo-Kantine hatte er sich eines Tages selbstständig gemacht und bot seinen ausgewählten Gästen seitdem die breite Palette der griechischen Küche. Aristoteles war über die Maßen gastfreundlich und besaß über dem Restaurant eine kleine Wohnung, die er hin und wieder an Gäste vermietete. Natürlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, dass der Mann aus Wernigerode hier logierte.

Als de Jong eintraf, hatte der Wirt Grönewald längst einquartiert und ihn anschließend in sein Lokal gebeten, um ihm zwei Ouzo zu spendieren. Der Exkommissar bekam auch einen, und der neue Gast damit seinen dritten.

»Also dann, willkommen in der Stadt«, sagte de Jong, und sie stießen an.

Till Grönewald war Mitte fünfzig und hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf. Stahlblaue, leicht wässrige Augen blickten alkoholselig aus einem Gesicht, das in einem besorgniserregenden Bluthochdruck-Rot leuchtete.

»Freut mich, dass das alles doch noch geklappt hat«, sagte de Jong, um zu überspielen, dass er den Besuch komplett vergessen hatte.

»Na ja, nicht alles«, widersprach sein Gast mit einem nachdenklichen Blick in sein kleines Ouzoglas.

Worauf der Exkommissar sich ertappt fühlte. »Also gut«, gestand er. »Ich hatte am Wochenende Beziehungsstress. Und dadurch ist mir wohl so einiges entgangen.«

Grönewald schüttelte den Kopf. »Ich meine das, was gestern Nacht passiert ist …«

Gestern Nacht. Der Mord an Nöck. De Jong ahnte, warum Grönewald ausgerechnet jetzt die Einladung angenommen hatte. »Du wolltest auch an diesem Event in der Halle Münsterland teilnehmen?«, sagte er. »War das der Anlass deines Besuchs?«

»Na, klar. Ich bin Nöck-Fan aus Leib und Seele. Und besonders auf den Frauenesser war ich gespannt. Der Mann war mein großes Vorbild.« Grönewald zuckte traurig mit den Schultern. »Aber jetzt ist alles anders.«

Eine Weile herrschte Schweigen, während die beiden der Andersartigkeit von allem nachzuspüren schienen. »Der Mord stammt aus einem seiner Bücher, nicht wahr?«, nahm de Jong die Konversation schließlich wieder auf.

Grönewald sah ihn verständnislos an.

»Nicht aus dem aktuellen. Es gibt wohl ein anderes, da werden Leute geköpft.«

»Ich weiß. Der Köpfesammler. Kann mir schon denken, wie die Polizei das sieht: Dieser Mann ist auf eine Weise abgetreten, die er sich selbst nicht besser hätte schreiben können.«

»Die Polizei fragt sich, ob das wohl ein Zufall sein kann.«

Grönewald machte Aristoteles ein Zeichen, woraufhin der mit einer Ouzoflasche zum Nachfüllen herbeieilte. »Wenn es nach dem Buch geht, dann bleibt es nicht dabei.«

»Wobei?«

»Na, bei dem einen Mord. Nöcks Krimi handelt von einem Serientäter.«

»So wie der Frauenesser

»Genau. Nur eben keiner, der Frauen isst, sondern einer, der Köpfe sammelt.«

»Verstehe«, sagte de Jong. »Das ist allerdings ein Unterschied.«

Irgendwann nach dem nächsten Ouzo begann Grönewalds Miene sich allmählich aufzuheitern. Vielleicht weil er genug Trübsal geblasen und der Bluttat von gestern gedacht hatte. Der Alkohol bewirkte überdies, dass die Wolke der Düsternis dünner wurde und hier und da Löcher bekam. »Und sonst?«, schaffte der Mann aus dem Harz schließlich den Themenwechsel mit der Frage, die man eben stellte, auch wenn einen die Befindlichkeit des anderen wenig interessierte.

»Kann nicht klagen. Na ja, schon. Klagen geht eigentlich immer.« De Jong grinste. »Wie kommst du denn in Sachen Verschwörungen voran?«

Der andere überhörte die Ironie. »Ach, weißt du, davon bin ich weg. Verschwörungstheorien sind was für Leute, die im Kreis denken. Sensationsgeile Dummköpfe.«

»Sehr vernünftig«, lobte de Jong, positiv überrascht, weil er das seinem Gast nicht zugetraut hatte.

»Ich persönlich halte gar nichts davon.«