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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: Annika Hanke

Covermotiv: Shutterstock.com und Pexels

 

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Playlist

Girls Just Want to Have Fun – Cyndi Lauper

Shape of You – Ed Sheeran

Heartbeat Song – Kelly Clarkson

Storybook Love – Mark Knopfler, Willy DeVille

Love Songs – Lola Coca

Almost Lover – A Fine Frenzy

I’ve Tried Everything – Olly Murs

Fighter – Christina Aguilera

In Case You Didn’t Know – Olly Murs

Adrenaline – Matt Nathanson

Kreise – Johannes Oerding

Poison – Alice Cooper

Somebody That I Used To Know – Gotya, Kimbra

Dear Darlin’ – Olly Murs

Dance with Me Tonight – Olly Murs

Lookin’ Out My Back Door – Creedence Clearwater Revival

1. Teil

1 Miri

»Verdammt, pass doch auf!« Fluchend versuche ich, den Becher von mir wegzuhalten. Irgend so ein Idiot hat mich angerempelt, und der halbe Inhalt meiner Cola sickert jetzt in den Rasen, tropft von meiner rechten Hand und verteilt sich in kleinen Sprenkeln auf meiner Jeans. Dumme Idee hierherzukommen. Diese blöden Studentenpartys sind doch alle gleich: zu laute Musik, zu viele Menschen, die nach wenigen Stunden alle nicht mehr geradestehen können.

Da unterscheidet sich der Mainzer Campus nicht von dem in Trier. Seufzend wische ich meine nasse Hand an der Jeans ab. Jetzt ist es auch egal. Die Hose ist dreckig.

Wo steckt nur meine Schwester? Sie ist schuld, dass ich zwischen all den angetrunkenen, grölenden Studenten stehe und mir eine wirklich miese Band anhöre.

Ginge es nach mir, säßen wir jetzt in unserer neuen Wohnung und würden irgendeine Serie auf Netflix schauen. Aber es geht ja nicht nach mir. Es geht immer nach dem Kopf meiner Zwillingsschwester Janina. Die wahrscheinlich irgendeinen Typen aufgerissen hat und wild mit ihm in den Büschen rumknutscht.

Das wäre ja eigentlich kein Problem, wenn ich dasselbe tun könnte. Kann ich aber nicht. Also theoretisch kann ich das natürlich schon. Aber ich habe mir vorgenommen, dass Schluss ist mit flüchtigen Bekanntschaften und One-Night-Stands. Und deshalb stehe ich jetzt ganz allein hier inmitten von feiernden Menschen, lasse mich anrempeln und mit Cola bespritzen, während ich mich selbst bemitleide.

Der Umzug nach Mainz soll mein Leben ändern. Ich bin jetzt dreiundzwanzig, habe meinen Bachelor in der Tasche und will meinen Master in Soziologie hier an der JGU Mainz machen. Wir haben zum Master die Uni gewechselt. Weg von zu Hause, flügge werden, das Nest verlassen – so was in der Art.

Zumindest will ich das. Janina will weiterhin ihr Leben und ihre Jugend genießen. Seufzend wende ich mich Richtung Ausgang. Ich gehe jetzt lieber, bevor ich aus lauter Langeweile noch etwas tue, was ich später bereue.

Nicht gerade vorsichtig bahne ich mir meinen Weg durch die Menge, und da sehe ich ihn: meinen Traummann. Zumindest was das Aussehen angeht. Ich verharre mitten in der Bewegung, und mein Herzschlag setzt kurz aus. Er lehnt an der Mauer eines alten Backsteingebäudes, ein Bier in der Hand, und beobachtet die Menge. Das fast schwarze Haar trägt er zu einem Dutt hinten am Kopf gebunden, dazu eine dunkle Hornbrille, Vollbart. Ein Hipster, wie er im Buche steht. Genau mein Beuteschema. Die Sorte Mann, die mich anzieht wie Nektar die Biene.

Ich merke, dass ich ihn anstarre, und sehe weg. Nein, du willst so etwas nicht mehr machen. Keinen bedeutungslosen Sex mit wildfremden Männern mehr.

Aber du hast es dir verdient, antwortet eine andere Stimme in meinem Kopf, die verdammt nach meiner Schwester klingt. Frag ihn nach seinem Studienfach, und wenn es sich nicht mit deinem überschneidet, siehst du ihn nie wieder. Was ist schon dabei? Wie groß stehen die Chancen, dass du hier noch einmal einen Mann triffst, der zu einhundert Prozent dein Typ ist?

Ich muss schmunzeln. Wenn man es genau nimmt, habe ich mir vorgenommen, im neuen Semester ein braves Mädchen zu werden. Aber das neue Semester hat noch gar nicht angefangen. Das beginnt erst in über drei Monaten. Wir haben uns das Sommersemester für den Uniumzug freigenommen, und es ist erst Juni. Das Wintersemester beginnt im Oktober.

Entscheidung gefallen. Ich werde den heißen Typen einige Minuten beobachten, und wenn keine Frau in seiner Nähe auftaucht, werden wir diese Nacht jede Menge Spaß haben.

Es dauert etwa fünf Minuten, bis er mich bemerkt. Ein Lächeln erhellt sein Gesicht, und ich lächle zurück.

Sein Blick wird intensiver, irgendwie … heiß. Bingo! Das Spiel kann beginnen.

2 Win

Ich kann es nicht glauben. Jetzt stehe ich hier auf dem AStA-Sommerfest, ein schales Bier im Plastikbecher in der Hand. Und das, obwohl heute eigentlich mein Hochzeitstag sein sollte. Eigentlich sollte ich mit zwei Familien und Freunden den schönsten Tag des Lebens feiern. Eigentlich …

Was für ein beschissenes Wort. Denn tatsächlich sieht die Sache so aus: Meine hochgeschätzte Fastehefrau heiratet heute nicht mich, sondern so einen reichen CEO in New York.

Doch das allein ist nicht das Schlimmste: Das Schlimmste ist, dass sie das seit über einem halben Jahr wusste. Ich weiß es erst seit zwei Wochen. Mit großen Schlucken leere ich das Bier. Schmeckt beschissen.

Was jetzt? Ich könnte mir ein neues Bier holen und dann noch eins und noch eins … Und morgen mit dickem Kopf aufwachen und mich verfluchen. Oder ich gehe nach Hause, haue mich aufs Ohr, stehe morgen früh auf, gehe eine Runde joggen und arbeite dann an meiner Dis. Schwere Entscheidung.

Ich werde gehen! Als ich mich gerade von der Wand abstoßen will, sehe ich sie in der Menge. Sie beobachtet mich. Unauffällig blicke ich nach links und rechts, doch da steht niemand, sie beobachtet ganz sicher mich.

Ich lächle. Kann ja nicht schaden. Sie lächelt zurück – und die Entscheidung ist gefallen. Ich werde mich weder betrinken noch früh nach Hause gehen. Ich werde diese Frau kennenlernen.

Also setze ich ein umwerfendes Lächeln auf und zwinkere ihr zu. Ihr Grinsen wird breiter, und sie kommt näher. Das gibt mir Gelegenheit, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Wenn ich sie beschreiben soll, würde ich sagen: Gar nicht schlecht. Nicht zu groß oder zu klein, weder zu dick noch zu dünn, die Haare straßenköterblond und zu einem wilden Pferdeschwanz am Hinterkopf gebunden. Einfache Kleidung, Jeans und T-Shirt, nicht geschminkt. Aber wenn sie lächelt, geht die Sonne auf. Dann erscheinen zwei Grübchen in ihren Wangen, ihr Mund kräuselt sich auf eine Art, die mein Herz schneller schlagen lässt, und ihre Augen geben Versprechungen …

Ungewollt entfährt mir ein »Wow!«. Schnell verdränge ich die Bilder, die sich in meinem Kopf formen. Wir beide an eine Mauer gelehnt, ihre Beine um mich geschlungen, dieses wunderschöne Gesicht in Ekstase verzerrt …

Ich schließe einen Moment die Augen, aber das macht es nicht besser. Vielleicht hätte ich eine Hose anziehen sollen, die nicht ganz so eng sitzt.

Als ich die Augen wieder öffne, steht sie vor mir.

»Hi.« Ihre Stimme passt zu ihrem Gesicht. Verführerisch, leicht rauchig und wahnsinnig sexy.

»Hi.« Meine Stimme klingt eher, als hätte ich einen Frosch im Hals. »Ich bin …«, setze ich an, doch sie unterbricht mich.

»Ich bin Saskia.«

Das Glitzern in ihren Augen sagt mir, dass das nicht ihr richtiger Name ist. Sie will also spielen. Gut, das kann ich auch. »Sven«, stellte ich mich vor und hauche ihr einen Kuss auf die Wange. »Studierst du hier?«

»Ich fange im Wintersemester an. Und du?«

»Ich bin Dozent. Und deshalb muss ich das fragen: Welcher Fachbereich?« Ich merke, wie ich den Atem anhalte.

»Soziologie«, sagt sie und leckt sich über die Lippen.

Perfekt. Nicht meine Baustelle. Die Soziologen sind sogar in einem anderen Gebäude. »Gut«, sage ich und schlucke hart.

»Und du?« Sie stellt sich so nah neben mich, dass unsere Arme sich berühren.

»Nicht Soziologie. Das ist alles, was zählt, oder?« Ich lasse meinen Blick von ihrem Gesicht zu ihren Brüsten gleiten, dann wieder zurück.

»Deine Einstellung gefällt mir.« Sie hebt die Hand und fährt über meinen Bart. »Wollen wir erst reden oder gleich gehen?«

Ist das tatsächlich ihr Ernst? Kann es sein, dass ich die eine Frau auf dieser Feier gefunden habe, die nichts anderes als Sex von mir will? Gibt es solche Frauen überhaupt? Wollen die nicht alle immer reden? Ist das nicht der Preis für Sex?

Also sage ich: »Ein wenig Reden kann nicht schaden.«

Sie stößt einen Laut aus, den ich nicht einordnen kann. Ist sie tatsächlich enttäuscht über meine Antwort?

»Da haben wir Glück mit dem Wetter heute, oder?«

Das Wetter? Sie ist wohl wirklich enttäuscht. »Ja, nicht zu heiß und nicht zu kalt.« Geistreiche Antwort, tadele ich mich im Stillen.

»Genau die richtige Temperatur, um …« Sie unterbricht sich und streicht mit der Hand über ihr Dekolleté. »… um sich ein wenig sportlich zu betätigen.« Dabei wirft sie mir einen Blick zu, der nur allzu deutlich zeigt, welchen Sport sie meint.

Verdammt, diese Frau weiß wirklich, was sie will. Und mir wird gleichzeitig heiß und kalt bei dem Gedanken, dass das momentan ich bin. Meine Jeans ist eindeutig zu eng. Scheiß auf Kommunikation. Die will nicht reden. Umso besser.

»Lass uns von hier verschwinden. Ich kenn da ein Plätzchen, das ist wie geschaffen für …« Diesmal unterbreche ich mich. Ich lege ihr die Hand unters Kinn und streiche mit dem Daumen über diese Wahnsinnslippen. »… sportliche Betätigungen«, vollende ich den Satz.

Mein Herz beginnt zu rasen. Hoffentlich habe ich ihre Signale nicht falsch gedeutet. Dann würde ich jetzt dastehen wie der letzte Idiot.

In diesem Moment zeigt sich ihre Zungenspitze und berührt meinen Daumen. Gott, ist diese Frau heiß. Wilder, hemmungsloser Sex ist genau das, was ich jetzt brauche. Es lenkt mich ab, ich vergesse vielleicht, welcher Tag heute ist und …

»Was stehen wir dann noch hier herum?«

Ihre Stimme holt mich in die Wirklichkeit zurück. Ja, was stehen wir dann noch hier herum? »Komm mit!« Ich nehme ihre Hand und ziehe sie entschlossen hinter mir her.

3 Miri

Beschwingt gehe ich die zwei Stockwerke in die Küche hinunter. Das war mit Abstand der beste Sex, den ich seit Langem hatte. Sven – oder wie auch immer er wirklich heißt – hat all meine Erwartungen übertroffen.

Wenn ich daran denke, wie er mich gegen diesen Baum gedrückt und dann hochgehoben hat, werde ich wieder feucht. Oder als er mir befohlen hat, mich hinzuknien …

Lächelnd wende ich mich der Küchentür zu. Sind das Stimmen? Ja, eindeutig zwei männliche Stimmen. Das müssen die beiden Typen sein, die auch hier wohnen. Der Vermieter hat so etwas erwähnt. Das Haus ist eine alte Villa und zu drei Wohneinheiten umgebaut. Im ersten Stock befinden sich zwei kleine Zweizimmerapartments mit Bad und im Dachgeschoss eine größere Zweizimmerwohnung mit Bad. Größer ist natürlich relativ, weil in unserer Wohnung die Schrägen bis zum Boden gehen.

Im Erdgeschoss gibt es einen geräumigen Flur und die riesengroße Wohnküche, die sich alle Wohnungen teilen.

Eigentlich will ich mir einen Kaffee holen. Die Küche ist supermodern eingerichtet, mit Spülmaschine, Herd, Grill, Backofen, so einem amerikanischen Kühl- und Gefrierschrank mit Eiswürfelspender sowie einem Kaffeevollautomaten.

Ich weiß, dass man nicht lauschen soll, aber ich kann einfach nicht anders, als innezuhalten und den beiden Männern zuzuhören.

»Wann fliegst du?«

»Morgen.« Schweigen. Ich höre eine Kaffeemaschine brummen.

»Harte Nacht?«, fragte der eine.

»Geile Nacht«, antwortet der andere.

Die Stimmen klingen dumpf durch die dicke alte Holztür.

»Freut mich für dich, Win. Ich dachte ja zuerst, dass es keine gute Idee ist, dich zu der Party gehen zu lassen, aber du scheinst ja Spaß gehabt zu haben.«

Ein Lachen, das wohl von Win kommt. »Ja, ich hatte vor allem den geilsten und hemmungslosesten Sex aller Zeiten.«

»Wow. Und wer war die Glückliche?«

»Das war das Beste daran: Ich habe keine Ahnung.«

Wieder ein Lachen, diesmal von dem anderen Typ. »Du hast echt eine gefunden, die nur Sex wollte?«

»Ja! Und ich musste nicht einmal etwas tun. Die war so scharf auf mich, dass wir gleich losgelegt haben. Und die konnte Sachen …«

»Ernsthaft? Solche Schlampen gibt es tatsächlich?«

Das ist der Moment, in dem ich doch lieber die Küche betrete. Ich kann es ja schließlich nicht zulassen, dass hier Geschlechtsgenossinnen beleidigt werden. Wieder einmal verdrehe ich innerlich die Augen über die Männer.

Diese Szene ist ein klassisches Beispiel dafür, dass es mit der Gleichberechtigung noch nicht so weit her ist, wie wir alle denken. Der Typ gratuliert seinem Freund, hält ihn für einen tollen Hecht, und die Frau ist die Schlampe. Ich kann die zwei jetzt schon nicht leiden.

Also trete ich ein, setze mein schönstes naives Unschuldslächeln auf und hauche: »Kann einer der beiden starken Männer mir erklären, wie die Kaffeemaschine …« Der Rest des Satzes bleibt mir im Hals stecken.

Die beiden Kerle tragen nur Boxershorts. Der eine sitzt auf der Theke, der andere lehnt lässig dagegen. Beide haben eine Tasse Kaffee in der Hand. Der größere, der an der Theke lehnt, hat asiatische Züge, einen Waschbrettbauch und breite Schultern. Der andere – ist Sven oder Win, wie er wohl tatsächlich heißt.

Er erkennt mich im selben Moment wie ich ihn. Er schaut weg, seine offenen Haare verdecken einen Teil seines Gesichts, aber er besitzt den Anstand zu erröten. Sein Kumpel scheint von unserem kurzen peinlichen Moment nichts mitzubekommen, denn er sagt: »Ah, du musst eine von den Neuen sein. Ich bin Sören.« Während er seinen Namen sagt, verzieht er das Gesicht. »Ich weiß, nicht unbedingt der Name, den man bei meinem Aussehen erwartet.« Jetzt grinst er. »Meine Eltern haben Sinn für Humor.«

Obwohl mein Herz bis zum Hals wummert, schüttele ich seine Hand. »Ich bin Miri«, flüstere ich und schaue zu Boden.

»Schön, dich kennenzulernen.« Er dreht sich zu seinem Freund. »Das ist Win. Wir sind die beiden Typen aus dem ersten Stock.«

Ja, so viel habe ich auch schon mitbekommen. Win hebt den Blick und murmelt: »Hi! Miri also?«

Meine anfängliche Panik verwandelt sich so langsam in Wut. Was fällt dem eigentlich ein, hier so über mich zu reden? Schließlich hat er auch seinen Spaß gehabt. Das hat er ja sogar eben zugegeben. Ich muss mich für gar nichts schämen.

Also hebe ich den Blick, schenke Win ein Lächeln und sage unschuldig: »Erklärst du mir die Kaffeemaschine?«

Er springt sofort von der Theke, verliert das Gleichgewicht und fängt sich im letzten Moment. Schade. Ich hätte ihn gern auf Knien vor mir gesehen.

Verdammt! Jetzt sehe ich Bilder vor meinem inneren Auge, die glücklicherweise von Sörens Lachen weggewischt werden. »Du musst ihm verzeihen. Er hat eine harte Nacht mit perfektem Sex hinter sich. Da kann ein Mann schon mal ins Straucheln geraten.«

Wieder wird Win knallrot. Steht ihm irgendwie.

»Ach lass doch, Sören. So doll war es nun auch wieder nicht.« Noch während er die Worte sagt, reißt er die Augen auf und beißt sich auf die Lippen. Sein Blick gleitet kurz zu mir und dann wieder zu Boden.

Aha, so toll war es nicht. Gut zu wissen. Kurz hatte ich gedacht, wir könnten das ja irgendwann wiederholen. Dann eben nicht.

»Da haben wir etwas gemeinsam, Win.« Absichtlich betone ich seinen Namen.

»Ach ja?« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Krächzen.

»Ja«, sage ich leichthin. »Wir hatten wohl beide letzte Nacht mittelmäßigen Sex. Du mit einer weiblichen und ich mit einer männlichen Schlampe.«

Das saß! Sein Gesicht, seine Ohren, sein Hals, alles puterrot.

»Erklärst du mir jetzt die Kaffeemaschine?«, frage ich mit einem Lächeln.

»Ja, klar doch, du musst hier …«

»Weißt du was? Vielleicht lasse ich mir das lieber von Sören erklären. Du scheinst dich letzte Nacht ja ziemlich verausgabt zu haben. Vielleicht solltest du dir ein wenig Ruhe gönnen? Du bist ja schließlich nicht mehr der Jüngste, oder?«

Allein sein Gesichtsausdruck ist die peinliche Szene wert.

»Ich bin nicht …«

»Lass gut sein, Win. Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus.« Lachend klopft Sören ihm auf den Rücken. »Geh du in dein Bett. Ich erkläre der jungen Dame die Kaffeemaschine.«

4 Win

Das war der absolute Tiefpunkt. Einmal in meinem Leben riskiere ich was, breche aus gewohnten Bahnen aus … und dann das.

Ich glaube, so sehr habe ich mich noch nie blamiert – und so dämlich benommen auch nicht. Denn egal, wie man es dreht oder wendet, die Wahrheit ist: Diese Frau hat mich umgehauen. Wenn es so was wie Liebe auf den ersten Blick gibt, würde ich sagen: Das ist mir gestern passiert.

Und auch, wenn wir ausgemacht haben, uns nie wieder zu sehen, stand das ja nicht in Stein gemeißelt. Es hätte ja sein können, dass ich dringend ein Buch brauche, das es nur in der Bibliothek der Soziologen gibt. Und wenn wir uns da zufällig über den Weg gelaufen wären …

Aber das kann ich jetzt wohl vergessen.

Langsam stapfe ich die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Warum habe ich nichts gesagt, als Sören das Wort ›Schlampe‹ benutzt hat? Das war total daneben. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich in dem Moment gar nichts gedacht. Ich war einfach immer noch geflasht von dem, was da zwischen uns passiert ist.

Wir haben kaum geredet, aber ich glaube nicht, dass ich mich jemals einem Menschen so nah gefühlt habe. Und dann stand sie da, noch genauso schön wie gestern. Verdammt, ich konnte sogar noch ihre geschwollenen Lippen sehen. Lippen, die von meinen Küssen …

»Hi! Ich bin Janina!«, unterbricht eine Stimme meine Gedanken. Verlegen lächelnd blicke ich in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und kann es nicht glauben: Da steht Saskia, äh … ich meine Miri auf dem Treppenabsatz. Verwirrt schaue ich zur Küche und dann wieder zu der Frau. Das kann doch gar nicht sein, oder?

»Du hast Miri getroffen, oder?« Sie lacht, und ich sehe keine Grübchen.

Natürlich ist das nicht Miri. Um nicht als völliger Idiot dazustehen, murmele ich: »Äh, ja.« Getroffen ist allerdings für Miri nicht der richtige Ausdruck. Sie hat mich eher überrollt, aus der Bahn geworfen und zum Idioten gemacht.

»Wir sind Zwillinge.«

Das habe ich mir fast gedacht. Die einzige Frau seit Jahren, die mich umhaut, gibt es gleich zweimal. Verdattert steige ich die letzten zwei Stufen hoch und ergreife ihre ausgestreckte Hand. »Ja, äh, das sieht man. Aber du hast keine Grübchen.« Heute ist definitiv nicht mein Tag. Jetzt habe ich mich auch vor ihr zum Affen gemacht.

»Ja, Miris Grübchen haben es den Männern angetan.« Sie wirft das Haar zurück und zwinkert mir zu. »Aber ich bin besser im Bett.«

»Noch besser? Unmöglich!«, entfährt es mir.

Das war’s. Mein Gesicht brennt, und ich flüchte. Diese beiden Frauen sind zu viel für mich und mein angeschlagenes Ego.

In meiner Wohnung angekommen, knalle ich die Tür hinter mir zu, ignoriere das Chaos im Wohnzimmer, werfe mich aufs Bett und vergrabe den Kopf im Kissen. Doch das führt nur dazu, dass die Bilder der letzten Nacht wieder aufsteigen. Ich habe sie zum kleinen Garten bei den Sportplätzen geführt. Wir mussten über die Mauer klettern, weil er nur tagsüber frei zugänglich ist. Ich verbringe dort gern meine Mittagspause. Das dürfte sich jetzt auch erledigt haben. Ist ja keinem geholfen, wenn ich jedes Mal hart werde, sobald ich diesen Garten betrete. Im Moment reicht allein der Gedanke an sie.

Sie hat meine Hand gehalten, bis wir die verschlossene Tür entdeckt haben. Als sie dann losließ, habe ich ihre Hand sofort vermisst. Ohne ein Wort zu sagen, hat sie sich an der Mauer hochgezogen und verschwand auf der anderen Seite. Ich bin ihr gefolgt, und sie ist über mich hergefallen, kaum dass meine Füße den Boden berührt hatten.

Ächzend drehe ich mich auf den Rücken und lege einen Arm über die Augen. Der Gedanke an ihre Küsse, ihre Hände in meinem Haar, ihre Hüften an meinen … Frustriert schlage ich mit der Faust auf die Matratze.

Ich könnte mir einen runterholen. Das würde zumindest für ein paar Minuten die Qual lindern. Dabei könnte ich daran denken, wie sie vor mir im Gras gekniet hat – weil ich es ihr befohlen habe. Und dann …

Fluchend springe ich aus dem Bett. Joggen. Ich gehe jetzt joggen.

Während ich in meinem Schrank nach den Klamotten suche, halte ich inne. Wenn ich joggen will, muss ich raus, und wenn ich raus will, muss ich an der Küche vorbei …

Entschlossen schüttle ich den Kopf. Ich lasse mich von diesen beiden Frauen nicht in meiner Wohnung einsperren. Es kann ja nicht sein, dass ich mich nicht mehr nach draußen traue, nur weil ich ihr begegnen könnte. Lächerlich.

Ich brauche keine fünf Minuten, um mich fertig anzuziehen. Kopfhörer in die Ohren, Musik laut und gleich auf der Treppe mit dem Laufen anfangen. Genau das ist es, was ich jetzt brauche!

5 Miri

»Na, die beiden Kerle sind ja mal heiß, oder?« Janina lässt sich im Schneidersitz auf mein Bett fallen.

»Ich weiß nicht«, murmele ich und wende mich einer Umzugskiste mit Kleinkram zu, die ich noch nicht ausgeräumt habe.

»Ah, du weißt nicht. Aber ich weiß, dass du schon was mit dem Hipster hattest, der unter uns wohnt.«

»Was? Woher …« Mist! Jetzt habe ich mich verraten.

»Du hast es mir gerade bestätigt. Ich bin ihm eben auf der Treppe nach unten begegnet, und er hielt mich für dich. Seine Reaktion, als ich ihm erklärt habe, dass ich besser im Bett bin als du, hat euch verraten.«

»Ich frag dich jetzt nicht, wie es bei einer ersten Begegnung auf der Treppe dazu kommen kann, dass ihr darüber sprecht, wie gut wer im Bett ist.« Ablenken hilft an dieser Stelle nicht. Wenn Janina sich erst mal an einem Thema festgebissen hat, lässt sie so schnell nicht wieder locker.

Sie winkt ab. »Das ist unwichtig. Wichtig ist, dass ich jedes kleine Detail hören will. Hast du ihn gestern beim AStA-Fest getroffen oder hier? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Also gut.« Seufzend ergebe ich mich meinem Schicksal. »Ich habe ihn gestern auf dem Fest getroffen. Wir hatten unverbindlichen Sex, und heute Morgen musste ich feststellen, dass er nicht nur dieselbe Küche benutzt wie ich, sondern auch noch ein totaler Arsch ist. Reicht das?« Ich merke selbst, dass ich gerade ein klein wenig überreagiere. Aber das Gespräch der beiden Jungs hat mich ziemlich getroffen.

»Wow, ganz ruhig, Brauner. Was hat er denn gemacht?«

»Er hat sich von diesem Sören dafür feiern lassen, dass er eine Schlampe flachgelegt hat.«

»Arschloch.« Janina steht auf und kommt zu mir herüber. »Das erinnert dich an den Mist mit Tom, oder?«

Wieder seufze ich. Denn so oberflächlich und dominierend meine Schwester auch manchmal sein kann, sie kennt mich besser als jeder andere Mensch. Ich lächele sie an und merke, wie meine Lippen verdächtig zittern. »Doof, oder? Aber auf einmal war alles wieder da. Jedes seiner Worte: Schlampe, Matratze …« Ich blinzele die Tränen weg. Mist! Und dabei habe ich mir doch geschworen, nicht mehr wegen dieses Idioten zu weinen.

Tom ist ein BWLer, den ich vor ein paar Monaten im Club kennengelernt habe. Wir unterhielten uns ganz gut, er lud mich auf ein paar Drinks ein, und ich gab ihm meine Nummer. Ich weiß auch nicht so genau, warum, denn er ist überhaupt nicht mein Typ. Aber an dem Abend hatte ich nichts Besseres zu tun, und pleite war ich auch.

Am nächsten Tag hat er mich angerufen und zum Essen und ins Kino eingeladen. Ich bin mitgegangen. Als er dann beim Essen anfing, aufdringlich zu werden (er hat seine Hand auf meine gelegt und ziemlich aggressiv geflirtet), habe ich Tacheles geredet. Meine Worte waren in etwa: Du kannst mich gern zum Essen und ins Kino einladen. Aber dir muss klar sein, dass du dafür nichts von mir bekommst.

Er hat es wie ein Mann genommen und alles bezahlt – obwohl ich mehrfach angeboten habe, meinen Anteil zu übernehmen. Das Flirten hörte auf, und jeder ging in sein eigenes Bett. Danach hat er sich nicht mehr gemeldet, und ich hätte ihn vergessen, wenn nicht jener verhängnisvolle Abend ein paar Wochen später gewesen wäre.

Tom hat mitbekommen, wie ich in eben jener Disco mit einem ziemlich heißen Typen rumgeknutscht habe. Er war allein und hatte ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Also hielt er es für eine gute Idee, meinem Partner auf die Schulter zu klopfen und zu erklären, was für eine Schlampe ich sei. Er sei schon der dritte Typ, den ich diese Woche abschleppe, und mit ihm hätte ich es auch getrieben.

Tja, die Stimmung war hin, mein Date weg und ich stinksauer. Vor allem, weil es nur halb stimmte. Erstens hatte ich mit ihm überhaupt nichts gehabt und zweitens hatte er alle Männer von Janina und mir zusammengezählt. Ich hatte in der Woche einen Kerl abgeschleppt, Janina zwei. Aber das war ihm egal. Und er hörte auch nicht auf, dergleichen über mich zu erzählen. Eigentlich dachte ich, wir hätten nicht den gleichen Freundeskreis. Leider musste ich zwei Tage nach dem Vorfall im Club feststellen, dass das nicht stimmte. Wir begegneten uns auf einer Party, und wie sagt man: Der Rest ist Geschichte.

Klar haben meine Freunde ihn ausgelacht, aber es ist trotzdem nicht schön, wenn so etwas über dich erzählt wird. Hatte ich schon erwähnt, wie unfair es ist, dass bei One-Night-Stands der Mann immer der tolle Hecht ist und die Frau …?

Mich hat diese Episode nachdenklich gemacht. Denn sind wir mal ehrlich: So ein Leben mit ständig wechselnden Beziehungen ist auf Dauer ohnehin nichts. Das Ziel ist doch eine Familie mit Kindern. Nicht sofort, aber irgendwann eben. Und es kann sicher nicht schaden, schon mal den Weg dahin einzuschlagen.

Eigentlich bin ich nicht der Typ für Beziehungen. Irgendwie halten die bei mir selten länger als vier Wochen. Meist liegt es daran, dass ich einen anderen habe. Vielleicht bin ich für dieses Monogamieding einfach nicht gemacht.

Ich bin so sehr in meine Gedanken vertieft, dass ich gerade noch mitbekomme, wie Janina mein Zimmer verlässt. »Wo gehst du hin?«, rufe ich ihr hinterher, obwohl ich das schon ahne.

»Was denkst du denn? Ich rede ein Wörtchen mit dem Typ. Schließlich wohnen wir hier zusammen. Da sollten ein paar Regeln des Anstands gewahrt werden. Und er ist genauso schuldig oder unschuldig an dem, was gestern passiert ist, wie du.«

»Nein, Janina. Bitte lass es gut sein. Die ganze Sache schien ihm ziemlich peinlich zu sein. Ich glaube nicht, dass so etwas wie mit Tom noch einmal passiert.«

»Das wird es nicht. Dafür sorge ich.«

Wie immer hört sie nicht auf mich. Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad marschiert sie zur Tür, reißt sie auf und steht Win gegenüber.

Während er ein verlegenes Lächeln aufsetzt, baut sie sich vor ihm auf. Das hätte lächerlich wirken können, weil sie anderthalb Köpfe kleiner ist als er, aber Janina hat so eine Art …

»Genau zu dir wollte ich!«, fährt sie ihn an.

»Äh, Miri?«

»Nein, das ist Janina.« Ich hoffe, dass mein Lächeln freundlicher ausfällt.

»Ah, jetzt sehe ich es.« Sein Blick heftet sich auf mich. »Können wir reden? Allein?«

Verdammt. Ich will nicht reden. Aber ich will auch nicht, dass Janina mit ihm redet. Also deute ich auf mein Zimmer und gehe voraus. Er folgt mir. Sobald ich die Tür geschlossen habe, sehe ich ihn unschlüssig mitten im Raum stehen.

Links von der Tür hat eine Zweisitzercouch ihren Platz gefunden, unter der Schräge mein Bett und rechts gibt es einen Schreibtisch samt Stuhl. Weil ich auf gar keinen Fall neben ihm auf dem Sofa sitzen will, deute ich auf den Bürostuhl und setze mich selbst aufs Bett. Jetzt bin ich mal gespannt, was er zu sagen hat.

6 Win

Die Joggingrunde hat meinen Kopf freigemacht und ich kann endlich wieder klar denken. Natürlich gibt es nur einen Ausweg aus dieser Situation: Ich muss mit Miri reden, ihr erklären, was da heute Morgen passiert ist, und mich entschuldigen.

Also gehe ich duschen und stehe knapp zwei Stunden nach der katastrophalen Episode in der Küche vor ihrer Wohnung. Gerade als ich anklopfen will, öffnet sich die Tür, und einer der Zwillinge steht vor mir. Ich glaube, es ist Janina, aber sicher bin ich nicht. Erst als der zweite Zwilling hinter ihr auftaucht und lächelt, weiß ich es sicher.

»Ah, jetzt sehe ich es«, sage ich überflüssigerweise. »Können wir reden? Allein?«

Miri zögert und zieht ihre Unterlippe mit den Zähnen nach innen. In meinem Bauch schlagen Schmetterlinge Purzelbäume. Sie bedeutet mit einer Handbewegung, dass ich ihr folgen soll. Sie und ich werden also gleich allein in ihrem Zimmer sein. Das beruhigt meine Nerven nicht gerade.

Sie scheint das alles kalt zu lassen. Seelenruhig schließt sie die Tür und deutet auf einen Bürostuhl an der rechten Wand. Schade, ich würde gerne mit ihr auf der Couch sitzen.

Ein flüchtiger Blick durch den Raum zeigt mir kahle weiße Wände und drei noch nicht ausgepackte Umzugskartons. Ansonsten ist das Zimmer ziemlich ordentlich. Aber sie lebt ja auch noch nicht lange hier.

Mein Blick wandert wieder zu ihr. Sie lässt sich gerade im Schneidersitz auf dem Bett nieder, verschränkt die Arme und schaut mich herausfordernd an.

»Äh«, beginne ich und fahre mir durchs Haar. Da habe ich mir alles so genau zurechtgelegt, und jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. »Also wegen eben in der Küche … Also, ich wollte nicht … Ich meine, ich halte dich nicht für eine Schlampe.« Wirklich feinfühlig, Win.

Ich wage einen Blick zu ihr und sehe, dass sie die Brauen hebt. Doch sie schweigt.

Also rede ich weiter: »Das, was du da gehört hast, war … Ich glaube, es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber es tut mir leid. Du hast völlig recht. Wir sind beide für das verantwortlich, was letzte Nacht passiert ist. Und was mich angeht, kann ich nur sagen, es war der Wahnsinn.« Da war meine Zunge schneller als mein Gehirn. Ich wende den Blick ab und fokussiere ein Staubkorn, das rechts neben ihrem Bett in der Sonne tanzt.

»Es war nicht schlecht.« Dabei lächelt sie. Ein gutes Zeichen. Vielleicht …

»Das heißt aber nicht, dass so etwas noch einmal passieren wird. Es war eine einmalige Sache«, zerstört sie sofort jeden Gedanken in diese Richtung.

Kein vielleicht. »Ja, klar. Schließlich wohnen wir jetzt zusammen hier. Da wäre es nicht …« Ich habe keine Ahnung, wie ich den Satz beenden soll. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir das wiederholen würden. Aber es ist wohl besser, wenn ich so tue, als wäre ich ihrer Meinung.

»Gut.« Sie springt auf und deutet auf die Tür. »Dann sind wir hier durch. Wir sagen ›Hallo‹, wenn wir uns in der Küche begegnen, und das war’s. Wir vergessen letzte Nacht und die Szene heute Morgen.«

Ich nicke, stehe aber nicht auf. Ich will noch nicht gehen. »Mir ist es ernst, Miri. Sören hätte das nicht sagen dürfen. Ich hätte nicht schweigen dürfen und …«

»Reden wir nicht mehr drüber, okay? Ich würde gerne noch ein wenig schlafen. Die letzte Nacht war kräfteraubend.«

»Ach ja? Ich war gerade zehn Kilometer joggen.« Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Auch sie grinst. »Dann bist du vorhin von der Theke gefallen, weil …«

»Die Situation mich überfordert hat. Man trifft nicht jeden Morgen seine Traumfrau in der Küche.« Sie errötet tatsächlich. Endlich scheine ich mal was richtiggemacht zu haben.

»Traumfrau, hä?«

Ich gehe nicht weiter darauf ein und frage stattdessen: »Studierst du wirklich Soziologie?«

Sie nickt zögerlich. »Und was unterrichtest du?«

»Rate!«

»Okay.« Sie legt einen Finger unters Kinn und mustert mich von oben bis unten. »Keine Naturwissenschaft, denke ich. BWL fällt auch weg.« Jetzt tippt sie sich mit dem Zeigefinger gegen die Wange. »Sport vielleicht, wenn du nach der Nacht noch zehn Kilometer joggen kannst.«

»Danke für die Blumen, aber nein, nicht Sport.«

»Dann Jura oder Geisteswissenschaften, denke ich.«

Ich muss lachen. »Bleibt ja sonst auch nicht mehr viel.«

»Jura streiche ich auch.«

»Ach, und warum?«

»Du siehst nicht aus wie ein Jurist.«

»Wie hat ein Jurist denn auszusehen?«

»Kurze Haare, Anzug und irgendwie spießig. Außerdem sind die alle geldgeil und arrogant.«

»Ah. Und alle Soziologen tragen Schlabberkleidung und tanzen ihren Namen.«

»Das sind die Sozialpädagogen«, kontert sie. »Wir Soziologen tragen Che Guevara auf dem T-Shirt und Secondhand-Kleidung. Außerdem studieren wir mindestens zwanzig Semester, um dann Taxifahrer zu werden.«

Ihre Schlagfertigkeit gefällt mir. »Oh, sorry, das habe ich verwechselt. Aber du hast recht, ich bin kein Jurist.«

»Und kein Mediziner. Aus den gleichen Gründen, aus denen du kein Jurist oder BWLer bist. Außerdem würdest du dann als Dozent nicht mehr hier wohnen. Wie sähe das denn aus.«

Das trifft es ziemlich gut. »Also, wenn es nach meinen Eltern ginge, hätte ich eines dieser Fächer studiert. Vorzugsweise Jura oder Medizin. Aber nein, ich schreibe meine Dissertation in Geschichte.«

»Historiker, so, so.«

Sie steht inzwischen direkt vor mir, und mein Herz schlägt fast schmerzhaft gegen meine Rippen.

Mit todernster Miene fragt sie: »Wo sind dein Rolli und deine Cordjacke? Das ist enttäuschend.«

»Die trage ich nur, wenn ich unterrichte. Niemand läuft in seiner Freizeit in Arbeitskleidung herum.« Na, geht doch. Auch ich kann schlagfertig sein.

»Ah, natürlich.« Ihr Blick gleitet an mir hinauf und fängt dann meinen ein. »Ich finde, das war genug Small Talk für heute. Ich möchte wirklich noch ein wenig schlafen.«

Fast hätte ich gefragt: Allein? Doch ich kann es mir im letzten Moment verkneifen und sage: »Dann wünsche ich angenehme Träume, Miri.« Bevor sie antworten kann, stehe ich auf und verlasse das Zimmer.

Ich denke, ich kann mit mir zufrieden sein. Die Situation ist entschärft, und Miri scheint nicht mehr sauer auf mich zu sein. Und ich finde sie immer noch unglaublich süß und sexy. Wer weiß, was passiert, wenn wir uns näher kennenlernen.

7 Miri

Win hat es tatsächlich geschafft, dass ich in Erwägung ziehe, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Die kurze Unterhaltung hat echt Spaß gemacht. Wir scheinen den gleichen Humor zu haben. Wenn er mich fragt, werde ich mich mit ihm treffen. Aber erst einmal brauche ich noch ein wenig Schlaf.

Und tatsächlich steht er nachmittags vor der Tür und fragt, ob ich mit ihm ein Eis essen will. Es ist heiß, ich habe nichts zu tun und mag seine Gesellschaft. Natürlich gehe ich mit. Wir beschließen, zu Fuß durch den Volkspark in die Stadt hinunterzugehen. Er sagt, das sei der schönste und kürzeste Weg, und ich muss ihm rechtgeben. Im Park ist es angenehm schattig und, wenn man sich von den Spielwiesen entfernt, auch ruhig.

Bisher haben wir über die letzten, sehr heißen Sommertage gequatscht. Das führt uns zu einem Gespräch über unser Ziel. »Ich zeig dir, wo es das beste Eis im Umkreis gibt.« Er lächelt mich an, und auch meine Mundwinkel heben sich.

»Okay. Jetzt liegt die Messlatte hoch.«

Aus seinem Lächeln wird ein Grinsen. »Nach gestern Nacht liegt die Messlatte für alles zwischen uns ziemlich hoch, oder?«

Ist das zu fassen? Ich erröte. Keine Ahnung, wann mir das zum letzten Mal passiert ist.

»Ha, ich habe es gewusst.« Immer noch grinsend deutet er auf mich. »Es war nicht nur mittelmäßig.«

Augenrollend sage ich: »Ernsthaft? Da musst du noch fragen?« Sein Lächeln macht merkwürdige Dinge mit meinem Herz. Es scheint zu pulsieren, zieht sich zusammen und plustert sich dann auf. Das Gefühl ist nicht unangenehm, aber ungewohnt. Ich schiele zu ihm hinüber.

Er ist ein wenig rot geworden. Gefällt mir.

»Wollte nur sichergehen«, sagt er und fasst sich mit der Hand in den Nacken. »Hat ein wenig an meinem Ego gekratzt.«

»Scheint vorbei zu sein.« Eigentlich ist er ja ziemlich arrogant. Aber dieses Grinsen sorgt dafür, dass sich mein Unterleib zusammenzieht und ich am liebsten da weitermachen würde, wo wir heute früh aufgehört haben. Dieses Gefühl kenne ich. Damit kann ich umgehen. Aber ich führe das Gespräch lieber zurück auf sicheres Terrain. »Kommst du aus Mainz?«

»Frankfurt. Mein Vater hat dort eine Kanzlei.«

Gut, er geht auf den Themenwechsel ein. »Deshalb wollte er, dass du Jura studierst?«

»Oder Medizin. Die einzigen beiden Dinge, mit denen sich seiner Meinung nach Geld verdienen lässt.«

»Na, du bist an der Uni. Wenn du mal Professor bist, verdienst du doch auch nicht schlecht.«

»Das sind aber Peanuts gegen das, was ein Anwalt bekommt. Bekommen kann. Kommt drauf an, was man macht. Aber das ist nichts für mich. Mich hat Geschichte schon immer fasziniert. Wo kommen wir her, warum sind unsere Städte, wie sie sind, wieso unsere Gesellschaft, wie sie ist? Was hat die Menschen früher bewegt? Und was können wir für heute daraus lernen? Solche Dinge eben.«

Damit kann ich was anfangen. »Ich verstehe dich gut. Das ist gar nicht so weit weg von der Soziologie. Mich interessieren die Strukturen in der Gesellschaft. Wie kommen sie zustande, wie wirken sie, welche Dynamik steckt dahinter?« Ich bremse mich, weil ich über dieses Thema stundenlange Monologe führen könnte.

Inzwischen haben wir den Park verlassen und überqueren mehrere Hauptstraßen, bevor wir in die Mainzer Altstadt abbiegen. Hier gefällt es mir. Kopfsteinpflaster, alte Fachwerkhäuser und kleine Läden mit schönen Dingen. »Verrätst du mir das Thema deiner Dis?«

»Mainz wird schwedisch: Anselm Kasimir Wamboldt von Umstadt und die Besetzung durch Schweden 1631–36.«

»Wow. Ich wusste gar nicht, dass Mainz mal schwedisch war.«

»Das wissen die wenigsten.« Er zwinkerte mir zu. »Ich habe meine Masterarbeit über das Thema geschrieben und baue das jetzt aus.« Seine braunen Augen richten sich auf mich. »Und du? Du hast gesagt, du fängst dein Studium hier an?«

»Wenn das eine verdeckte Frage nach meinem Alter ist: Ich bin dreiundzwanzig und fange mit dem Master an. Wie alt bist du?«

»Sechsundzwanzig.« Er zwinkert mir zu, und mein Herz beginnt wieder zu wummern. »Und ja, das war eine versteckte Frage nach deinem Alter. Erwischt.«

»Kein Problem. Irgendwie gehen wir das zwar alles in der falschen Reihenfolge an, aber warum nicht?«

Stirnrunzelnd fragt er: »Wie meinst du das?«

»Sex, Streit, kennenlernen. Ich glaube, das macht man normalerweise anders.«

»Unser Weg gefällt mir.«

Die Art, wie er meinen Mund ansieht, zeigt, woran er denkt. Scheiße, ich werde feucht. »Solange wir jetzt erst mal beim Kennenlernen bleiben.« Ich kann nicht verhindern, dass ich ein wenig atemlos klinge.

Sein Blick fängt meinen ein: »Vorerst bin ich bereit dazu.«

Wir verlassen die heimeligen Gassen, und Win deutet nach rechts. »Der Dom. Ist ja nicht zu übersehen. Aber den heben wir uns für ein andermal auf. Wir müssen hier lang.« Er deutet nach links, und es bietet sich mir ein ziemlich krasser Kontrast zu den kleinen Häusern der Altstadt. Viel Glas und aufgepeppte Nachkriegsbauten. Wir biegen in eine Fußgängerpassage ab, und ein moderner Glasbau tritt in mein Sichtfeld. »Das ist die Römerpassage«, erklärte Win. »Darunter befindet sich das Heiligtum der Isis und Mater Magna. Vielleicht hast du davon gehört? War vor ein paar Jahren der große Fund. Mainz gehört zu den Städten, in denen man nicht mal schnell eine Baugrube ausheben kann. Man findet bestimmt irgendetwas Römisches.« Er zwinkert mir zu und führt mich in das Gebäude. Drinnen ist es angenehm kühl.

»Und hier«, er deutet die Rolltreppe nach oben zu den Stühlen eines Cafés, »gibt es das beste Eis weit und breit. Wollen wir uns setzen, oder willst du eins zum Mitnehmen?«

»Können wir uns setzen? Es ist so schön kühl, und ein Kaffee könnte auch nicht schaden.«

»Wie Ihr wünscht.« Mit einer leichten Verbeugung lässt er mir den Vortritt und stellt sich hinter mich auf die Rolltreppe.

Hat er eben tatsächlich Westley aus Die Braut des Prinzen zitiert? Und wenn ja, warum flackert dann mein Herz? Denn wenn Westley Wie Ihr wünscht sagt, meint er eigentlich: Ich liebe dich. Das ist mir fast ein wenig viel.

Ich spüre Wins Wärme an meinem Rücken und bin froh, dass er nicht sehen kann, wie ich mir unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen fahre. Aber scheiße, ist der Kerl heiß. Witzig, intelligent, gut im Bett … Mal sehen, wie sich der Tag so entwickelt.

8 Win

Was passiert hier gerade? Gestern um die Zeit habe ich mich noch in Selbstmitleid gewälzt und heute … Heute bin ich eigentlich froh darüber, dass Clarissa Vergangenheit ist. Denn wenn ich ehrlich bin, wäre diese Ehe wahrscheinlich eine Katastrophe geworden. Im Grunde hatten wir wenig gemeinsam. Sie liebt die Upperclass, ich hasse sie und versuche sie zu meiden, so gut es geht. Sie liebt Geld, mir ist es egal.

Ich schüttle die Gedanken an meine Verflossene ab und wende meine ganze Aufmerksamkeit Miri zu. Miri, die vor mir auf der Rolltreppe steht und die ich am liebsten in die Arme ziehen würde. Aber das geht natürlich nicht. Wir brauchen Zeit zum Kennenlernen. Zeit zu sehen, ob da mehr ist als diese körperliche Anziehungskraft. Wenn ich so nah hinter ihr stehe, könnte ich schon wieder … Genervt schließe ich die Augen und atme mehrmals tief durch.

»Wo willst du sitzen?«

Ihr Grübchenlächeln beschleunigt meinen Puls. Am liebsten würde ich so was sagen, wie »Wenn du da bist, ist mir das völlig egal«, aber das ist natürlich Quatsch. Also sage ich: »Such dir was aus.«

Trotz des schon fortgeschrittenen Nachmittags und der angenehmen Kühle hier ist das Café nicht übermäßig besucht. Miri entscheidet sich für einen Platz ziemlich weit hinten, der uns einen Blick durch die Glasfront nach draußen erlaubt.

»Ist hier gut?«

»Klar.« Ich ziehe ihr den Stuhl zurück und warte, bis sie sitzt, bevor ich mich selbst setze. Ihr gegenüber, obwohl ich lieber neben ihr wäre. Oder in ihr.

Ich schließe die Augen. Hör auf, so was zu denken, Win! Vorsichtig schaue ich sie an, doch sie scheint nichts bemerkt zu haben. Ihr Blick ist auf die Eiskarte gerichtet, und ich frage: »Weißt du schon, was du willst?«

»Vernunft oder Sünde?«

Hat sie das jetzt tatsächlich gefragt? Mit diesem Grübchenlächeln im Gesicht? Darauf gibt es nur eine Antwort: »Sünde.« Ich sage es mit so viel Überzeugung, dass ihr Lächeln breiter wird.

»Du hast recht. Passt zum Wochenende.«

Sie bestellt einen Pralinen-Nuss-Becher. Viel Schokolade und noch mehr Nüsse. Ich nehme dasselbe. Nicht weil ich mich einschleimen will, sondern weil ich es einfach nicht schaffe, mich genug zu konzentrieren, um mir was auszusuchen. Meinen Kaffee nehme ich allerdings schwarz und nicht als Milchkaffee. So weit funktioniert mein Hirn dann doch noch.

Es reicht auch für eine Unterhaltung mit ihr. Zumindest hoffe ich das. Wie ein Schwamm sauge ich jede Information auf, die sie mir gibt. Sie erzählt von ihrem Umzug und davon, dass sie eigentlich gestern gar nicht zum Unifest gehen wollte. Unser Kaffee kommt, und ich bin froh, mich an etwas festhalten zu können. Ich erzähle ihr, dass ich auch nicht zum Fest wollte.

Sie hebt überrascht die Brauen. »Wie bist du dahingeraten?«

»Sören.« Meine Ohren werden heiß, denn eigentlich wollte ich ihn ihr gegenüber erst mal nicht mehr erwähnen.

Zu meiner Überraschung zwinkert sie mir tatsächlich zu. »Dann muss ich ihm ja fast danken. Obwohl«, in gespielter Nachdenklichkeit fährt sie sich mit dem Daumen über das Kinn. »Wäre es nicht gestern passiert, dann heute. Du bist einfach total mein Typ.«

Und wieder erwischt sie mich kalt. »Äh, danke«, stammle ich und trinke einen großen Schluck Kaffee, der zum Glück nicht mehr zu heiß ist.

»Ich bin also nicht deiner?« Höre ich da eine gewisse Unsicherheit in dem leicht dahingesagten Satz?