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© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
© Piper Verlag GmbH, München 2009
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Hubertus Hummel fühlte sich leicht und frei: die großen Ferien. Endlich. Als Lehrer freute er sich mittlerweile mindestens ebenso sehr wie damals vor drei, vier Jahrzehnten, als sie beim ersten Klingeln und in kindlichem Übermut johlend in den Pausenhof gestürmt waren. Allein schon wegen seines Gewichts war für Hubertus an Stürmen aber nicht mehr zu denken. Er trottete eher bedächtig in Richtung Eigenheim, entlang den Einfamilienhäusern in der Villinger Südstadt, auf die die Sonne ihre kräftigen Strahlen lenkte.
Mitten auf der Hummelschen Haustür prangte ein mit einer Rosengirlande verzierter Klebezettel.
»Blumen JEDEN Abend gießen, Rasen sprengen. BITTE«, stand in Elkes mädchenhafter Schönschrift auf dem Papier. Es war exakt mittig auf die weiße Holztür geklebt.
Hubertus zog den Zettel ab und fuhr sich durch die verschwitzten Haare, die seinen runden Kopf nur noch spärlich bedeckten. Typisch an dieser Bewegung war auch, dass sie mit einem leichten Kratzen der Fingernägel am Hinterkopf endete.
Was sollte so ein Hinweis auf der Haustür? Sollten auch die Nachbarn mitbekommen, dass er seine Pflichten vernachlässigte? Die nahmen ohnehin zu regen Anteil an seinem Leben.
Die Sonne schien plötzlich nicht mehr wohltuend, sondern schlichtweg heiß. Zu heiß. Jedenfalls für seine 104 Kilogramm.
Verbürgen hätte er sich für die genaue Kilo-Angabe übrigens nicht können. Die letzte Zwangswiegung beim Arzt war etwa fünf Jahre her – und damals hatte er schon das Gefühl gehabt, das Ding müsse defekt sein oder der Mediziner die Waage irgendwie manipuliert haben, um ihn behandlungsbedürftiger erscheinen zu lassen. Über hundert? Er?
93 Kilo, gut. 95 vielleicht, nach Weihnachten. Aber maximal.
Schnaufend schleppte er sich über die Schwelle des 50er-Jahre-Häuschens.
Die nächste Nachricht erwartete ihn nur wenige Schritte weiter im Flur – am Spiegel, der zwischen einem eisernen Gott Shiva und einem golden schimmernden Buddha hing.
Das Bodenständige innerhalb ihrer vier Wände ging auf Hubertus zurück: Bücher über die Schwäbisch-Alemannische Fasnacht, Bildbände über Zähringerstädte und Jubiläen heimischer Vereine, natürlich auch die geläufige Belletristik von Simmel bis Stephen King.
Die deutschen Klassiker, die er für den Schulunterricht benötigte, befanden sich im Arbeitszimmer. Er respektierte sie, richtig zu Herzen gingen ihm aber weniger Goethe und Schiller als Narro und Morbili – die Villinger Fasnachtsfiguren.
Für den bunten Religionsmischmasch im Hause Hummel zeichnete Elke verantwortlich. Synkretismus hieß eine solche Mischung, das wusste Hummel. Als Lehrer wurde von einem ohnehin erwartet, dass man über so gut wie alles Auskunft geben konnte. Er wusste in aller Bescheidenheit – nun, ja – ziemlich viel. Mit seinen Mitte 40 war Hummel Bildungsbürger, wie er bodenständiger Schwarzwälder war. Und wer das für einen Widerspruch hielt, dem konnte er durchaus einen einstündigen Vortrag darüber halten. Bodenständigkeit, so sagte er stets, sei nicht mit Oberflächlichkeit oder gar Dummheit zu verwechseln. Im Gegenteil.
»Villingen trifft Freiburg«, sagte sein Journalistenfreund Klaus Riesle über Hubertus – und das war nicht ganz falsch. Die Jahre an der Uni hatten durchaus die eine oder andere Spur bei Hummel hinterlassen, aber im Grunde seines Herzens war er immer ein echter Villinger geblieben. Ein traditionsbewusster, stolzer Kleinstädter.
Elke war anders: feingliedriger, zarter – in jeder Hinsicht. Sie hatte aus der Zeit ihres Freiburger Lehramt-Studiums die Begeisterung für alles Spirituelle mitgenommen – wenn es nur unkonventionell daherkam. Problemlos konnte sie binnen einer Woche von der Schamanen-Anhängerin über die Buddhistin und Hinduistin zur UFO-Gläubigen mutieren – oder all das miteinander mischen, denn Elke war ständig auf der Suche.
Er sei froh, dass sie sich keinen langen Bart wachsen lassen könne, hatte Hubertus erst neulich gespottet. Sonst wäre sie bestimmt schon beim radikalen Islam angekommen, und er hätte die CIA am Hals. Selbstmordattentate kamen in der bürgerlichen Südstadt schließlich doch eher selten vor.
Hinter solch Flapsigkeiten steckte die Erkenntnis, die auch einem flüchtigen Besucher des Hummelschen Hauses eigentlich nicht verborgen bleiben konnte: Weder die Einrichtungs-Stile noch die Weltanschauungen, noch die Hobbys der beiden Bewohner bildeten eine harmonische Einheit. Aber war das nicht in vielen Ehen so?
Hummel kam beim Blick in den Spiegel zu dem Schluss, dass er vielleicht doch nicht so deutlich unter hundert lag. Er konzentrierte sich schnell auf den Rosenzettel, der sehr akkurat auf Kinnhöhe seines Spiegelbildes prangte.
»Boden einmal wöchentlich saugen. BITTE«, stand da.
Wöchentlich?
Dass Elke zu einer Chakra-Harmonisierung in eine abgelegene Schwarzwaldhütte, zu einem »Delfin-Wochenende« oder einer Körpertherapie reiste, das kam schon einmal vor. Sie nahm mit, was in der losen esoterischen Szene Villingen-Schwenningens am Ostrand des Schwarzwaldes eben so geboten wurde. Länger als zwei, drei Tage dauerten derartige Veranstaltungen aber selten.
Theoretisch war es immerhin möglich, dass Elke trotzdem bald wieder aufkreuzte und es sich bei den Nachrichten nur um ganz allgemeine Erinnerungszettel handelte. Einen davon auf die Haustür zu kleben war jedoch aufdringlich bis ungewöhnlich.
Zugegeben, Hubertus war nicht gerade das, was sich eine Gleichstellungsbeauftragte gewünscht hätte. Er brachte zwar des Öfteren den Müll raus, kümmerte sich um seinen ebenfalls in Villingen wohnenden Enkel Maximilian und verwaltete mit Enthusiasmus den Hummelschen Weinkeller. Im Garten war er seiner Erinnerung nach für das Heckenschneiden und das Rasenmähen zuständig.
Kochen, Backen, Putzen, Organisieren, das ganze »Haus-Management«, wie er es nannte, überließ er aber komplett Elke. Darüber hatte es seiner etwas unzuverlässigen Erinnerung nach auch nie Diskussionen gegeben. Dass seine Frau ihn nun aber so plump zur Mehrarbeit antrieb, ärgerte Hubertus nicht nur. Es beunruhigte ihn auch etwas.
Elke und er waren ohnehin an einem schwierigen Punkt ihrer Beziehung angelangt. Das Grundproblem war recht banal: Das Ehepaar Hummel hatte sich auseinandergelebt. Jeder frönte seinen eigenen Interessen: Hubertus dem Eishockey und Fußball (passiv), der traditionellen Fasnacht, dem Essen und Trinken (aktiv). Elke hingegen wollte mehr denn je ihr Bewusstsein erweitern – und zwar weniger durch das Trinken von badischem Wein als mittels spiritueller Suche.
Vor einiger Zeit hatte Elke sich eine »Ehepause« genommen, weil sie zu dem Schluss gekommen war, Hubertus und sie seien doch nicht seelenverwandt. Diese Pause hatte sie mit einem stadtbekannten Rechtsanwalt überbrückt, der sich allerdings als richtiggehend seelenfremd entpuppte.
Also hatte sich das Ehepaar wieder zusammengerauft, »gute Gespräche« geführt, wie Elke es nannte. Hubertus nannte es anders – oder eigentlich gar nicht. Jedenfalls hatte er sich nach einiger Zeit des relativen häuslichen Friedens vor Kurzem in eine jüngere Kollegin verliebt: Carolin. Eigentlich war das in Hubertus’ bodenständiger Art gar nicht vorgesehen. Die Liaison war auch noch gar keine richtige, denn Hummel wusste weder ein noch aus.
Ratlos stapfte er auch jetzt in Richtung Treppe, kam aber nur bis zum Gäste-WC: dort prangte Klebezettel Nr. 3 auf der Tür.
»13 wöchentl. feucht wischen, Schüssel und Klobrille desinfizieren. BITTE«, las er.
Ehe er Zettel Nr. 4 finden konnte, klingelte es. Hubertus warf wütend seine braune Ledertasche auf den Korbstuhl im Flur und öffnete ruckartig die Haustür. Wenn das Elke war, dann konnte sie sich auf etwas gefasst machen. Den Beginn der Schulferien hatte sie ihm durch ihr schriftliches Mobbing einigermaßen verdorben. Und jetzt hatte sie sicher wieder einmal den Schlüssel verloren. Das Seelenheil mochte wichtig sein. Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs waren es aber auch.
Zwar konnte man bei Elke nicht ausschließen, dass sie sich aus weltanschaulichen Gründen kurzfristig eine Glatze rasierte, aber diese hier gehörte Edelbert Burgbacher. »Ich muss dich dringend sprechen, Hubertus Hummel«, dröhnte ihm der Bass seines Freundes entgegen. Er war Impresario des kleinen Zähringer-Theaters an der Stadtmauer und eine der schillerndsten Figuren der gesamten Schwarzwälder Kulturszene.
»Dringend!«, betonte er nach einer bedeutungsvollen Kunstpause. Edelbert stand in Gedanken 24 Stunden am Tag auf einer Bühne. Und er inszenierte sich gut, das musste auch Hummel ihm lassen. Burgbacher hatte Charisma und einen gewissen Stil – mehr zumindest als Manieren.
Dazu, ihn hereinzubitten, kam Hubertus nämlich gar nicht. Burgbacher hatte sich schon an ihm vorbeigeschoben und stand jetzt im Flur.
»Ein einfaches Guten Tag hätte es auch getan.« Normalerweise machte ihm Edelberts schroffe Art nichts aus. Aber im Moment war er doch etwas dünnhäutig.
»Äh…wie läuft’s denn so bei dir?«, gab Burgbacher nun pflichtschuldig zu Protokoll.
Hummel wies mit einer Hand auf die Tür des Gäste-WCs. »Elke spricht offenbar nur noch über ihre blumenverzierten Klebezettel mit mir und fordert mich zur Hausarbeit auf.«
»Tja, Frauen«, gab ihm Burgbacher kurz die benötigte Unterstützung und schüttelte den polierten Glatzkopf. »Wie ist denn der aktuelle Stand des Ehedramas?«
Hubertus zögerte. »Na ja: Offiziell sind wir nach wie vor ein Paar. Inoffiziell: Frag mich was Leichteres.«
»Und wie sieht es mit dieser Carolin und dir aus?«, bohrte Burgbacher weiter, der in groben Zügen Bescheid wusste. Er hatte sie schon ein-, zweimal gesehen Und sie schien recht sympathisch zu sein. Wie Elke. Eigentlich war das dem Impresario auch egal. Aber selbst wenn er für die bürgerliche Ordnung nicht allzu viel übrig hatte: Ein paar Konstanten musste es im Leben doch geben. Hubertus und Elke gehörten zu diesen und eher zusammen als die beiden Städte Villingen und Schwenningen, die man im Zuge der Kreisreform vor mehr als 30 Jahren zwangsverheiratet hatte. Es genügte ja wohl, wenn er dauernd Beziehungsprobleme hatte. Und eigentlich war er vor allem deshalb hier…
Hubertus hatte vor einigen Wochen versucht, mit seiner geänderten Gefühlslage Elke gegenüber offen umzugehen. Weltanschaulich konnte er ihr freilich schon lange nicht mehr folgen. Mitunter kam er sich vor wie sein eigener Vater. Der war mittlerweile fast 80 und hatte sein ganzes Leben in Villingen verbracht, das heißt, wenn er nicht gerade als Lokführer die Bahnhöfe der Schwarzwaldbahn bis Offenburg in der einen oder Konstanz in der anderen Richtung abgefahren hatte. Karma hielt er bestenfalls für eine Margarinensorte.
Nachvollziehbarer als Elkes Geschwurbel war für Hubertus die handfeste Art seiner Tochter gewesen: Martina hatte ihm wegen Carolin explizite und heftige Vorwürfe gemacht. »Nur, weil Mama sich vor ein paar Jahren mal in so einen anderen Typen verliebt hat, willst du jetzt auch zeigen, dass du begehrt bist? Sei froh, dass du Mama hast!«
»Hallo? Hubertus? Stichwort Carolin!«, wartete Burgbacher immer noch ungeduldig auf eine Antwort. »Du weißt schon. Diese brünette Lehrerin. Erinnerst du dich?«
»Ich weiß nicht. So geht das jedenfalls nicht weiter. Ich muss mich dringend entscheiden«, sagte Hummel.
»Bevor sich Elke entscheidet – und zwar gegen dich!«, bemerkte Burgbacher und zog einen weiteren Klebezettel von der Tür des Zimmers ab, das Elke ihre »Entspannungsoase« nannte. Hier machte sie Yogaübungen und zog sich zurück, wenn sie ihren Unterricht vorbereitete, in ihren Ratgebern schmökerte, wieder einmal eine neue Gottheit anbetete oder Hubertus ihr auf die Nerven fiel.
»Betreten verboten. BITTE«, lautete die Botschaft. Drei Ausrufezeichen schlossen sich an.
Hubertus schnaufte. Dieses dauernde »BITTE« machte das Ganze noch penetranter. Das hatte sie sicher auch aus einem ihrer Ratgeber.
Dieser Zettel an der Tür hatte Gesellschaft – und zwar von einer Art Spielkarte. Auf dieser waren eine Schlange, ein Frauenkopf und die Zahl 7 zu sehen.
»Das ist eine Lenormandkarte«, erklärte Burgbacher, der durch seinen Lebensabschnittsgefährten Einblick in die Welt der Esoterik bekommen hatte. »Eine Wahrsagekarte – und diese hier steht für eine Nebenbuhlerin und für Verwicklungen oder Verführungen, wenn ich mich recht entsinne. Alberto hat damit auch immer rumhantiert. Ich HASSE ihn.« Der Impresario klatschte den Zettel mit viel Wucht zurück an die Tür.
Burgbachers Gefühlsausbruch ging an Hummel vollkommen vorbei. Er starrte nur auf Botschaft Nummer vier.
»Ich würde mal sagen, dass Elke zumindest vorübergehend ausgezogen ist«, bemühte sich der Theater-Impresario mit tiefstem Bass um eine Einschätzung. »Da haben wir ja eine reizende Gemeinsamkeit. Alberto…«
»Ausgezogen?« Hubertus hatte diesen Gedanken irgendwo zwischen Zettel zwei und drei auch schon gehabt, ihn dann aber erfolgreich verdrängt.
Er ignorierte das Eintrittsverbot und warf einen Blick in Elkes Zimmer. Die Schaumstoffmatte, auf der sie ihre Übungen machte und die üblicherweise immer auf dem geölten Naturholzboden lag, war weg. Ihre Tasche mit dem samtenen Lebensbaum-Aufnäher: ebenfalls verschwunden.
Hubertus überlegte: Yoga war dienstags und donnerstags. Heute war Mittwoch.
Sprach das doch für den Extra-Workshop zum Ferienbeginn?
Er lief ins Obergeschoss, Burgbacher hinterher. Es würde wohl noch ein paar Minuten dauern, bis er seinen Einsatz bekam.
Geordnet hatte Hubertus den begehbaren Kleiderschrank im Schlafzimmer in letzter Zeit selten vorgefunden. Meist spiegelte dessen Zustand Elkes psychische Konstitution. War er aufgeräumt, war sie es auch.
Von Elkes Kleidung war, grob geschätzt, noch die Hälfte da. Und die lag ungeordnet verteilt in den Regalen. Zwei Koffer fehlten.
Auf dem Doppelbett, das Hubertus seit ein paar Wochen Elke überlassen hatte – er hatte im Keller geschlafen –, lag ein Brief.
»Lieber Hubertus«, begann Hummel laut vorzulesen, ohne so richtig wahrzunehmen, dass Burgbacher bei ihm war. Der hatte sich schweigend auf die unbezogene Bettseite gesetzt. »Ich muss in aller Ruhe über unsere Beziehung nachdenken. Wer bin ich? Wer bist du? Das kann ich jedoch nur mit zumindest etwas Abstand tun… Versuche auch du, WIRKLICH alleine zu sein und dir über deine Gefühle klar zu werden… Vielleicht helfen dir ja folgende Ratgeber.«
Hummel überflog die empfohlenen Titel: »Karmische Beziehungen 1+2«…»Chakra. Energie und Harmonie durch das Atmen«…»Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest«.
Bis dato hatte er den Brief mit einigen Auslassungen noch regungslos vorgelesen.
Die nächste Passage begann mit den Worten: »Ich bin weg und doch nahe bei dir. Ich ziehe zunächst einmal zu den…«
Er stockte und riss die Augen auf.
»Nein, Elke, nicht das. Das kannst du mir nicht antun!«
Seine Stimme wurde lauter, wandelte sich von einem Flüstern zu einem zornigen Aufschrei:
»Zieh doch zu deiner Mutter, von mir aus zu einer deiner Yoga-Freundinnen, ja sogar zu deinem Yoga-Lehrer oder zu Bin Laden persönlich. Aber bitte nicht zu diesen nervtötenden, hyperkorrekten, sich immerzu einmischenden Pergel-Bülows!«
»Ausziehen, um nur ein paar Meter weiter bei den Nachbarn einzuziehen? Also wirklich, Elke! Da könntest du aber die Hausarbeit doch ganz gut nebenher bewerkstelligen«, versuchte Burgbacher einen Scherz. »Wenn ich da an Alberto denke: Ständig musste ich seine Sachen wegräumen, für ihn sorgen, sogar das Essen für ihn kochen…und dann das.«
Hubertus zerknüllte das Papier mit drei, vier kraftvollen Bewegungen seiner großen Hände, schleuderte es auf den Boden und stampfte mit seinen ungefähr 104 Kilogramm fluchend darauf herum.
Edelbert verfolgte fasziniert den Veitstanz seines Freundes. Er mochte Männer mit Emotionen. Seine Schauspieler mussten genauso sein. Alles hinter sich lassen, sich in eine andere Sphäre versetzen können. Sehr gut! Wie Alberto.
Nach ein paar Sekunden war das Schauspiel jedoch bereits vorbei.
Hubertus saß jetzt zusammengesunken auf dem Holzboden und machte sich wortlos daran, den Brief wieder zu glätten.
Schnell an etwas anderes denken – der nächste Wutanfall bahnte sich schon an. Ganz gut, dass Elke das nicht sah.
»Was war noch mal der Grund für deinen Besuch?«, fragte Hummel beiläufig.
»Bist du konzentriert? Bist du wirklich aufnahmefähig?« Endlich war Burgbacher an der Reihe.
»Ja, ich bin in Ordnung. Ich habe mich wieder beruhigt.«
»Na gut«, sagte Burgbacher und baute sich vor Hummel auf, als wolle er einen Prolog halten.
»Ich…« Schon versagte ihm die Stimme. Neuer Anlauf. »Ich wurde auch gerade verlassen.« Das Wasser, das sich in Burgbachers Tränensäcken staute, war alles andere als Theater. »Alberto. Ich kann es immer noch nicht fassen. Und damit nicht genug. Er hat seine Hauptrolle in unserem Stück, das wir auf der Landesgartenschau aufführen wollten, an den Nagel gehängt. Er sagt, er könne das jetzt nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren.«
»Tut mir wirklich leid, Edelbert«, sagte Hummel, war mit seinen Gedanken aber immer noch bei Elke und den Nachbarn. Von dort aus gingen sie zur Landesgartenschau. Ein riesiges Prestigeprojekt, für das die halbe Stadt umgegraben worden war. Übermorgen hatte er mit Elke zu einem Konzert dorthin gehen wollen. Ob daraus noch was würde?
Burgbacher bemerkte die Unaufmerksamkeit seines Freundes. »Du kannst mich ja wenigstens fragen, warum er mich verlassen hat«, bemerkte er beleidigt.
»Ach«, entschuldigte sich Edelbert. »Warum ist Schluss?« Eigentlich wusste Hummel nichts über Alberto. Er hatte ihn ein paar Mal in seiner Stammkneipe »Bistro« gesehen, war mit ihm und Burgbacher sogar an einem Tisch gesessen. Des Impresarios Mund hatte sich neben dem Rotwein ausschließlich mit Alberto beschäftigt. Rotwein, Alberto, Rotwein, Alberto.
»Alberto sagt, er habe sich verliebt. Er liebe mich zwar noch immer, aber das andere Gefühl sei stärker. Weißt du, dieser Mann zerstört mich!«
»Gibt es denn keine Chance, dass er zu dir zurückkehrt?« Hummel merkte, dass ihm Burgbachers Liebeskummer eigentlich ganz guttat. Geteiltes Leid etc.
»Mit trockener Kehle kann ich dir das gar nicht erzählen. Es ist so furchtbar, das ertrage ich nur mit Trollinger.«
Hubertus fand die Vorliebe des Freundes für schwäbischen Rotwein auch nach all den Jahren immer noch seltsam. Sonst hatte Burgbacher mehr ein Faible für italienische Opern, italienisches Essen und – wie zuletzt – für italienische Männer. Und einen Trollinger führte Hummel nach wie vor und schon aus Prinzip nicht.
Nachdem der Theatermann weintechnisch über seinen Schatten und zu einem Kaiserstühler Spätburgunder gesprungen war, schwenkte er das Glas vor seinen Augen hin und her. »Gestern Nacht hat er mir gestanden…«, seufzte er.
Hoffentlich erspart er mir die Details, dachte Hummel.
»Er heißt Sven und ist 20. Alberto hat mich für einen 30 Jahre jüngeren Mann verlassen, Hubertus.« Er schüttete den restlichen Rotwein hinunter und hielt Hummel das leere Glas hin. Der schenkte die doppelte Ration nach.
»30 Jahre jünger…« Hubertus überlegte, wie viel jünger seine Carolin war. Er kam auf sieben Jahre. Das ging doch eigentlich. Gut, wäre er jetzt 20 und sie 13, könnte man darin ein Problem sehen. Oder gar einen Straftatbestand. Aber bei 46 zu 39?
»Und weißt du, was noch schrecklicher ist? Ich selbst habe die beiden zusammengebracht, habe sie in dem Stück als schwules Pärchen besetzt. Dieser Sven war eigentlich Hetero, hatte sogar eine Freundin. Aber in jedem Hetero steckt eben…«
»Was ist das denn für ein Stück?«, fragte Hummel schnell.
»Die Landesgartenschau-Betreiber wollten unbedingt eine Komödie. Halt was Todsicheres: Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ oder was Derartiges. Aber dass dieser Hofnarr Puck immer Mann und Frau verkuppeln sollte, das war mir dann einfach zu langweilig.«
»Und was spielt ihr nun stattdessen?«
»Den ›Regenbogentraum‹. Sozusagen das homosexuelle Pendant zum Sommernachtstraum. Hier werden nicht Heteros, sondern Männer mit Männern und Frauen mit Frauen verkuppelt. Einfach köstlich! Und so lernt die Provinz auch noch etwas. Als Regisseur habe ich schließlich auch die Pflicht zur gesellschaftlichen Aufklärung!«
Ob das die Verantwortlichen der Gartenschau ebenso sahen, wagte Hummel zu bezweifeln.
Allerdings galt es jetzt, Solidarität zu üben. Oder vielmehr, Burgbacher einfach stumm zuzuhören.
Dessen großer Auftritt folgte. Zusammengefasst: Weinkrampf mit körperlichem Zusammenbruch, Glassturz auf Hummels Terracotta-Boden. Erneuter Sturz mit Verletzung des Kinns an einer Scherbe. Hummel in einer Nebenrolle: Jod und ein großes Pflaster für den Freund. Wiederum Burgbacher: Griff nach der Flasche, Leeren in einem Zug.
»Ich bringe mich um. Ach was, ich bringe Alberto und mich um«, kündigte Burgbacher halb lallend an. So gern er dem Alkohol zusprach, so wenig vertrug er ihn.
»Bring doch nur ihn um«, schlug Hummel mit leichter Ironie vor.
Burgbacher überhörte es. »Gestern hat Alberto mir dann gesagt, dass er das Doppelspiel nicht mehr aushält. Er müsse sich jetzt entscheiden. Und wenn er nicht mehr mit mir zusammen sei, dann müsse er auch das Stück aufgeben.«
»Und was ist mit diesem Sven? Spielt der weiter mit?«, fragte Hummel etwas arglos.
Burgbacher schnappte sich die zweite Flasche und nahm einen kräftigen Seemannsschluck. Das Glas war ja zerbrochen. »Ach was, den habe ich natürlich gefeuert. Wie die ganze Schauspieltruppe. Diese Dilettanten! Ich will sie nie wieder sehen!«
»Und das Stück?«
»Mir wird schon was einfallen«, lallte Burgbacher. »Ist ja noch eine knappe Woche.«
Hummel nahm ebenfalls einen ordentlichen Schluck. Wenige Tage bis zur wahrscheinlich größten Blamage in Burgbachers Künstlerleben. Dazu ein privates Schlachtfeld, weil er wegen eines nicht einmal halb so alten Widersachers verlassen wurde. Nicht schlecht. Burgbacher konnte es wirklich beinahe mit seinen Problemen aufnehmen. Er war ein würdiger Partner für dieses Besäufnis.
In seinem Arbeitszimmer hatte Hubertus sich den perfekten Beobachtungsposten eingerichtet. Zum Glück gehörten die Pergels zu der Sorte Leute, die Einbrechern fast ihren kompletten Wohnbereich durch verglaste Fensterfronten auf dem Präsentierteller darboten.
Der zum Garten gerichtete Teil des Wohnzimmers bestand aus einer Art Wintergarten und ermöglichte Hummel einen hervorragenden Einblick. Bisher war ihm nicht bewusst gewesen, dass dies ein Vorzug sein konnte. Die nachbarschaftliche Neugier ging vorrangig von den Pergel-Bülows aus. Sie gehörten weder zu den Alteingesessenen noch zur Erben-Fraktion des Stadtviertels. Sie waren vor noch nicht allzu langer Zeit zugezogen und entzückt, dass die Nachbarn wie sie selbst Lehrer waren. Von da an hatten sie es mit ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem Verständnis für alles und ihrer praktischen Art geschafft, zumindest in Elkes Herz einen Platz zu finden. Hubertus hatte ihre Annäherungsversuche zunächst leidenschaftslos über sich ergehen lassen, doch schon bald hatte er mit einer sich bis ins Ungesunde steigernden Abneigung reagiert. Allein schon dieses gestelzte Hochdeutsch empfand er als zutiefst unnatürlich.
Sich am Gartenzaun »Hallo« sagen, sich im Herbst den Rechen oder im Winter den Schneebahner leihen – gerne. Doch die Nachbarn gewissermaßen als erweiterte Familie zu betrachten, das ging ihm entschieden zu weit. Und Hubertus war mitunter ganz schön bockig. Zumal, wenn andere Leute wie die Pergel-Bülows eine so nervtötende Vorzeige-Ehe führten. Eigentlich konnte das doch nicht mit rechten Dingen zugehen.
Hubertus wusste selbst nicht so recht, warum er die alte Videokamera vom Dachboden geholt und sich mit ihr hinter dem Schlitz der fast zugezogenen, dunklen Vorhänge postiert hatte. Warum er stattdessen nicht einfach rübergegangen war, um Elke notfalls mit gesetzten Worten im Stil dieser Ratgeber, die er hätte lesen sollen, zur Rückkehr zu überreden. Aber sollte er das wirklich? Und war die Gefahr, dabei eine ausführliche Pergel-Bülowsche Analyse ihrer Beziehung mitzubekommen, nicht doch zu groß?
Sein Kopf brummte. Mit Edelbert konnte man nicht einfach gemütlich einen Wein trinken. Früher oder später endete das Ganze immer in einem Exzess.
Als der Regisseur davongetorkelt war, hatten die Turmuhren des Münsters schon längst drei geschlagen. Jetzt musste es etwa 9 Uhr sein.
Klar war ihm in dieser Nacht lediglich eines geworden: der gegenüber Burgbacher geäußerte Wunsch, der Schleier seiner Unentschlossenheit möge sich lüften, er möge Carolin anrufen, seine Ehe beenden und fortan mit der neuen Partnerin glücklich sein, bis dass der Tod sie scheide. Dieser Wunsch war schon im Morgengrauen Makulatur gewesen.
Seit Elke am gestrigen Tag das Heft des Handelns in die Hand genommen hatte, war Hubertus’ Bindung zu seiner Frau eher wieder stärker geworden. Vielleicht lag es aber auch nur an der alkoholbedingten Emotionalisierung, in deren Zuge er Burgbacher einige Sätze vorgejammert hatte, für deren weinerlichen Ton er sich jetzt gehörig schämte. Hoffentlich hatte Edelbert diese bei Tagesanbruch wieder vergessen…
Hummel warf einen Blick durch das Objektiv und war gebannt: Schon nach wenigen Sekunden erwischte er Elke. Er zoomte sie heran, während sie mit den Händen immer wieder durch ihre Haare fahrend und wild gestikulierend durch das Wohnzimmer wanderte.
Immerhin: Den Tick, sich bei Nervosität die Haare zu streichen, hatte sie von ihm. Wenigstens etwas, das sie mitgenommen hatte.
Sie würde alles ausplaudern. Oje. Sein Gewicht. Seine Eigenarten. Und dass er schnarchte. Dass er gelegentlich unbeherrscht war. Dass sie ihn einmal erwischt hatte, wie er ein von Schülern konfisziertes Pornoheft angeschaut hatte. Natürlich würde sie sämtliche Geheimnisse, die es zwischen Eheleuten gab, weitererzählen – und die Pergel-Bülows würden sie mit ernsten Mienen ermutigen: Sehr gut, Elke. Lass es raus. Lös deine Blockaden.
Zu gerne hätte er den Ton zu ihren Lippenbewegungen und zu denen der Nachbarn gehört, die auf der Couch saßen und offenbar nur gelegentlich etwas erwiderten. Er konnte sich die Kommentare in etwa vorstellen: »Hubertus ist leider nicht mit sich im Reinen. Wie oft sage ich zu Klaus-Dieter: Klaus-Dieter, du musst dich um Hubertus kümmern. Aber das ist ja sehr schwer. Er hat ja diese Berührungsängste, dieses Misstrauen. Das ist sicher in der Beziehung zu seinen Eltern begründet. Wird Hubertus denn überhaupt jemals mit sich im Reinen sein? Ich meine, in diesem Leben – nicht in einem der nächsten.«
Er versuchte, Pergel-Bülows Äußerungen simultan zu den Lippenbewegungen mitzusprechen. Ja, die Sätze passten mehr oder weniger.
Er schaltete die Videokamera auf Aufnahme.
Halt! Überspielte er damit etwas? Hummel spulte ein wenig zurück und sah seinen Enkel Maximilian in die Kamera linsen. Der hatte einen großen Schnuller im Gesicht und schien recht zufrieden. Ach, Maxi!
Hummel startete die Kamera, schwenkte zunächst im geräumigen und hellen Wohnzimmer der Pergel-Bülows herum und beobachtete dann gebannt Elkes Gesichtsausdruck. Viel Sinn ergab das, wenn er ehrlich war, nicht. Vielleicht ließ sich aus ihrer Mimik eine Tendenz ablesen?
Ein wenig schlich sich bei ihm das schlechte Gewissen ein. Er machte sich zweifelsohne einer Art Bespitzelung schuldig. War es aber nicht auch sein gutes Recht zu erfahren, ob seine Frau ihn noch liebte? Wie sie die Chancen auf eine gemeinsame Zukunft einschätzte?
Nach einigen Minuten stand Pergel-Bülow auf und durchquerte die Wohnung Richtung Haustür. Dort hatte sich ein vollständig in Weiß gekleideter Mann aufgebaut, der offenbar gerade die Türklingel betätigt hatte. Weiße Hose, weißes Oberteil, das an eine römische Tunika erinnerte. Weiße Schuhe. Selbst der Geländewagen, den er an der Straße geparkt hatte, war weiß.
Ein Vertreter? Aber wofür? Ein Pfleger etwa? Oder ein Nervenarzt? War Elke derart am Ende ihrer Kräfte, dass sie sich in die Psychiatrie im benachbarten Rottweil einliefern ließ? Oder hatten Pergel-Bülows den Mann alarmiert? Nein: Wenn es nach denen gegangen wäre, hätte der Pfleger sicher an Hummels Tür geklingelt.
Hubertus schwenkte kurz zurück auf die Wohnzimmercouch, wo Elke sich ausgebreitet hatte. Sie wirkte angespannt, aber nicht völlig aufgelöst. Der Ankömmling wurde von Pergel-Bülow freudestrahlend in Empfang genommen.
Hummel stellte fest, dass die weiße Kleidung des Ankömmlings für einen Pfleger etwas zu elegant wirkte. Er trug einen gestutzten Bart, Halsketten und einen Siegelring. Eine Art Gigolo. Kurz: ein widerlicher Typ.
Nach einer halben Stunde der Hubertus endlos erscheinenden stummen Plaudereien, zu denen er Phantasie-Sprechblasen halluzinierte, nahm der Mann in Weiß Elkes Koffer. Dann verließen die beiden gemeinsam das Haus.
Hoppla?!
Hummels Puls ging schneller.
Die beiden stiegen in den Wagen.
Jetzt raste sein Puls.
Fassungslos beobachtete er, wie der Weiße gemeinsam mit seiner Frau im Geländewagen davonfuhr. Einfach so.
Die Pergel-Bülows winkten enthusiastisch. Hubertus war geschockt, wie schnell alles vonstatten ging.
Dann löste sich die Starre: er hätte am liebsten das Fenster geöffnet und die Nachbarn oder mindestens ihren Wintergarten mit diesen Steinen beworfen, die Elke zu Dekorationszwecken oder im Rahmen irgendwelcher ihm unbekannter Rituale auf der Fensterbank aufgereiht hatte.
Hubertus ließ das Band noch einmal zurücklaufen. Er beobachtete Elke und den ominösen weißen Mann, versuchte irgendwelche Bewegungen zu interpretieren. Hatten sie Händchen gehalten? Er lächelte sie strahlend und siegesgewiss an, als sie mit ihm aus dem Haus ging. Das reichte: Wütend drückte er auf die Stopp-Taste.
Die Pergel-Bülows hatten seine Frau verkuppelt!
Andererseits: Nein, so schnell ging das bei Elke nicht. Wenn er daran dachte, wie lange er sie hatte umgarnen müssen…
Hubertus musste für einen Augenblick beinahe schmunzeln. Er erinnerte sich noch, wie peinlich genau er damals bei ihr darauf geachtet hatte, politisch korrekt zu wirken. Öko-Themen und zumindest rudimentäre Kenntnisse über die Ausbeutung der »Dritten Welt« waren ein absolutes Muss gewesen. Dabei hatte er sich politisch zu dieser Zeit gar nicht groß verbiegen müssen. Eher damit, nicht in Verdacht zu geraten, ein »Macker« zu sein. Elke und ihre WG hatten damals eine extrem feministische Phase gehabt. Nach dem zweiten Treffen mit seiner Angebeteten hatte er sich gar einer einigermaßen peinlichen Befragung durch alle vier Frauen dieser WG unterziehen müssen. Irgendwie hatte er die Prüfung bestanden – wohl auch, weil Elke seine erste Freundin war und er in seiner Erstsemester-Naivität glaubhaft schien. Nur eine Teilnehmerin dieses inquisitorischen Hexen-Zirkels, Constanze, hatte ihn als »bourgeoisen Kleinbürger« bezeichnet. Allein schon sein Dialekt sei reaktionär, hatte sie gemeint.
Ein Jahr später war Martina zur Welt gekommen.
Hummel wurde klar, dass er nicht einfach so herumsitzen konnte. Er musste mehr über den Mann in Weiß herausfinden. Nicht zu fassen: Da machte er sich unglaubliche Sorgen wegen seiner Gefühle für Carolin. Seine Frau hingegen hatte offenbar parallel jemanden kennengelernt, redete aber nicht darüber. Das war ja wohl der Gipfel der Heuchelei!
Und wem verdankte er das Ganze?
»Hallo, Huby«, begrüßte ihn Klaus-Dieter an der Tür. Sein Gesichtsausdruck war gewohnt freundlich, verriet aber doch etwas Überraschung. Von Feindseligkeit keine Spur. Natürlich nicht, nicht bei Klaus-Dieter!
»Wo ist meine Frau?«
Er nahm sich ein Beispiel an Burgbacher und betrat das Nachbarhaus, ohne hereingebeten worden zu sein.
Hummel war stinksauer: Beim Versuch, das Kennzeichen auf dem Video abzulesen, war ihm klar geworden, dass er am Schluss die Kamera vor Entsetzen auf sich gerichtet hatte, während er mit offenem Mund aus dem Fenster gestarrt hatte.
»Raus mit der Sprache, wo ist sie?« Hummel kam sich vor wie in einem Gangsterfilm. Die harte Tour. Das war gut. Das brauchten diese unnatürlich freundlichen Typen.
»Das dürfen wir dir nicht sagen, Hubertus. Das haben wir der Elke fest versprochen. Es ist für euch beide besser.«
Klaus-Dieter benahm sich eigentlich wie immer. Das Feuer in Hubertus’ Augen irritierte ihn trotzdem.
»Es ist mir egal, was du ihr versprochen hast. Ich bin immer noch ihr Mann. Auch wenn ihr vielleicht denkt, dass wir so gut wie geschiedene Leute sind. Du sagst mir jetzt sofort, wo sie ist. Oder du musst die Konsequenzen tragen.«
Verdammt, es fühlte sich gut an, so zu reden. Hummel berauschte sich an der eigenen Stärke, die er wahrscheinlich auch deshalb so deutlich spürte, weil sein Gesprächspartner butterweich war.
»So leid es mir tut, Hubertus. Wir sind zum Schweigen verpflichtet. Und wir denken natürlich überhaupt nicht, dass ihr euch scheiden lassen solltet«, beeilte sich Pergel-Bülow zu betonen. »Ihr müsst tiefer ansetzen, glaub mir. Seelische Prozesse…«
Das reichte.
»Aber Huby«, protestierte Klaus-Dieter sanft. Hubertus hatte ihn am Hemdkragen gepackt und gegen die Wand sowie das von Regine gemalte Ölbild ihres Gartenidylls gedrückt. »Gewalt löst keine Probleme«, keuchte der Nachbar.
Warum eigentlich nicht? Hummel kannte sich selbst nicht wieder. »Ich werde noch etwas ganz anderes tun. Ich werde hier alles kurz und klein schlagen, wenn ich erst mal mit dir fertig bin. Und dann werde ich eure Bäume foltern, mit denen ihr immer ach so liebevoll sprecht. Es sei denn, ihr sagt mir jetzt endlich, wo Elke ist.«
»Aber Hubertus. Was ist denn in dich gefahren? Beruhige dich doch«, mischte sich jetzt die aus dem Wohnzimmer herbeigeeilte Regine ein. Auch sie sprach trotz der durchaus gefährlich anmutenden Situation gewohnt sanft.
»Du tust dir selbst nicht gut, Hubertus«, sagte sie. »Elke braucht einfach nur ein paar Tage Ruhe. Sie möchte nicht, dass du weißt, wo sie sich aufhält. Das solltest du respektieren. Wir sind doch reife Wesen. Und wir werden in dieser Angelegenheit natürlich absolut loyal und diskret sein.«
»Aha. Diskret müsst ihr jetzt auch noch sein. Das klingt ja höchst verdächtig. Deckt ihr etwa diesen schmierigen Typen in dem weißen Kostüm? Ist das ein Heiratsschwindler?«
»Ach, das war doch nur Brindur«, sagte Regine Pergel-Bülow, ohne weitere Erklärungen folgen zu lassen. Als hätte sie gesagt: Das war doch nur der Außenminister.
Zwei Wutanfälle später hatte Hubertus ein Einsehen. Er ließ von Pergel-Bülow ab, war sich jetzt aber völlig im Klaren darüber, dass er dazu in der Lage wäre, einen Menschen windelweich zu prügeln. Aber auch das war ihm klar: Er hätte nichts aus ihm oder Regine herausbekommen, sich lediglich eine Anzeige wegen Körperverletzung eingehandelt. Womöglich wäre Pergel-Bülow mit seiner radikalpazifistischen Haltung aber nicht mal dazu im Stande gewesen.
Darauf ankommen lassen wollte es Hummel aber nicht. Für einen Lehrer machte sich so etwas nicht wirklich gut. Andererseits: Wenn er an seine 9a dachte… Robin Schlenker etwa. Oder Torben Kaczmarek. Mit einer Vorstrafe hätte er bei denen endlich die nötige Autorität.
Er rieb sich die Hände an seiner Hose, als müsse er sie nach der Berührung mit Pergel-Bülows Hemd säubern. »Wenn ihr mit Elke sprecht, dann sagt ihr, dass sie sich bei mir melden soll«, sagte er noch und schlug die Haustür ohne Abschiedsgruß hinter sich zu.
Der »Monsun« ging ihm auf die Nerven – und zwar mit Windstärke 12. Er konnte ihn schon auswendig mitsingen, obwohl das Geplärre dieser gepiercten Halbstarken nun weiß Gott nicht seine Musik war. Aber Martinas, weshalb sie sich den Tokyo Hotel-Hit als Klingelton auf das Mobiltelefon geladen hatte. Man merkte mitunter, dass sie ziemlich jung Mutter geworden war.
Das Handy seiner Tochter lag irgendwo zwischen den Kissen auf der Wohnzimmer-Couch und klingelte in einem fort. Sie lebte seit zwei Tagen zusammen mit Maximilian mehr im Hummelschen Haus als in der Hausmeister-Wohnung ihres Mannes Didi. Nachdem ein Großfeuer das Münster-Gemeindezentrum zerstört und als Kollateralschaden auch ihre Wohnung angesengt hatte, war weder mit der Wohnung noch mit ihrem Mann viel anzufangen. Letzterer befand sich im Renovierungs-Dauereinsatz.
Wie gut, dass ihre Eltern immer ein Bett für sie und den Enkel hatten.
Dank der eben begonnenen Schulferien war die Gelegenheit für Martina eigentlich besonders günstig. Einen – wenn auch schlecht gelaunten – Babysitter für den zweijährigen Maximilian gab’s inklusive. Die Verpflegung ließ allerdings nach dem zwischenzeitlichen Auszug der Frau des Hauses etwas zu wünschen übrig.
Nicht nur Martina hatte Sehnsucht nach ihrer Mutter. Auch Maximilian durchlebte gerade eine ausgeprägte Mama-Phase. Jedes Mal, wenn Martinas Handy plärrte, schienen sich die Synapsen im Enkel-Gehirn derart zu verschalten, dass er an sie dachte und stakkatohaft mit dem »Monsun« um die Wette brüllte.
Martina saß in ihrem alten Kinderzimmer und guckte Verbotene Liebe. Das hätte sich Maximilian auch gern angeschaut, aber Hubertus lehnte bis auf das Sandmännchen jeglichen Fernsehkonsum für den Kleinen ab. Elkes TV-Abstinenz ging sogar noch weiter. Sie hatte schon angeregt, den Apparat gänzlich aus dem Haushalt zu verbannen. Das freilich hatte Hubertus verhindert – allein schon wegen der Nachrichten. Oder, ehrlicherweise: wegen der Sportberichterstattung.
Er nahm den schreienden Enkel auf den Arm, balancierte auf Zehenspitzen über den Wohnzimmerboden, damit er nicht über die dort verteilten Bauklötze fiel, und drückte auf den grünen Knopf des Handys.
»Mama«, schrie der Kleine immer noch.
Am Telefon war die Mama der Mama.
Elke! Endlich ein Lebenszeichen. Nach drei Tagen.
»Wir machen uns große Sorgen. Wo bist du denn? Hast du keine Sehnsucht nach deinem Enkel? Ja, Maxi, da ist die Oma am Telefon.«
Maximilian unterbrach seine Schreiorgie und stellte auf ein fragendes, sich permanent wiederholendes »Oooma?« um. Er streckte seine Fingerchen nach dem rosa verschalten Nokia aus, doch Hubertus gab es ihm nicht. Telekommunikation war nichts für Zweijährige.
Hier trafen sich seine konservativen Ansichten wieder mit denen seiner Frau – auch wenn er sich weniger Sorgen um die Handy-Strahlung machte als sie.
Seine Weigerung sorgte jedenfalls dafür, dass Maximilian wieder einen Schreianfall bekam.
Hubertus ließ sich davon nicht beirren. »Elke, das ist doch keine Art, einfach so vor den Problemen wegzulaufen!«
»Ich laufe nicht weg, sondern zu mir hin. Mir geht es wirklich gut.«
Was war denn das schon wieder für eine Metapher?
Hubertus probierte es mit einer Überrumpelungstaktik. »Wir fahren gleich los und holen dich ab. Und dann reden wir mal richtig über alles, ja?«
»Ich kann und will dir nicht sagen, wo ich gerade bin. Es ist wichtig, dass ich ein paar Tage, vielleicht auch Wochen allein verbringe.«
»Allein mit deinem Liebhaber?«, verlor Hubertus nun die Beherrschung.
»Ach, Hubertus. Ich merke schon: du hast die Ratgeber nicht gelesen. Sonst würdest du nicht wieder in die alten Muster verfallen.« Fast sanft klang ihre Stimme nun. Nervig sanft.
Natürlich hatte sie recht. Nach dem Besäufnis mit Edelbert hatte Hubertus mal an einem der Ratgeber geschnuppert, war aber sehr bald übermüdet eingeschlafen.
Und seither war es aufregend genug gewesen. Mit Elkes Abreise, mit Pergel-Bülows, mit Maximilian, mit Edelbert, mit Carolin, die dreimal angerufen hatte, ohne dass er gewagt hatte, ans Handy zu gehen.
Es war Zeit für einen weiteren Überraschungsangriff: »Wie geht’s denn Brindur?«, fragte Hubertus geradeheraus.
»Brindur?« Hubertus glaubte durchs Telefon spüren zu können, wie Elke bei der Nennung des Namens lächelte. »Ach ja – Regine und Klaus-Dieter sagten mir, dass sie dich aufgeklärt hätten…« Aha, mit denen hatte sie also bereits telefoniert.
»Aufgeklärt? Hör mal, Elke: Mich muss man nicht aufklären. Was heißt das überhaupt? Und was ist mit dem Landesgartenschau-Konzert? Du bist unzuverlässig!«
Bevor der Hubertus-Vulkan erneut zum Ausbruch kam, mischte sich Martina ein, die nun neben ihm und dem mittlerweile völlig verweinten Enkel stand. »Sag mal, Papa, habe ich dir eigentlich erlaubt, mit meinem Handy zu telefonieren?«
Sie rümpfte gefährlich ihre sommersprossige Nase.
»Ich bin nur drangegangen, weil ich dieses Geplärre von Klingelton nicht mehr ertrage. Dein Sohn übrigens auch nicht«, entgegnete Hubertus trotzig. »Mama ist dran.«
»Trotzdem geht das nicht«, antwortete Martina, die Hummels Dickköpfigkeit geerbt hatte. »Gib mir jetzt Mama!«
»Gib mir Martina. Bitte!«, kam es fast zeitgleich aus dem Hörer. »Du kannst dir übrigens die nächsten Tage die Mühe sparen, mich anzurufen. Mein Handy ist immer ausgeschaltet. Da, wo ich bin, habe ich keinen Empfang. Und ich brauche auch keinen.«
»Aha. Und wie telefonierst du jetzt gerade?«
»Vom…von einem Festnetz aus. Aber auch da bin ich dann nicht mehr erreichbar.« Pause. »Siehst du die Nummer auf dem Display?«, fragte sie.
Leider nicht. »Du machst es ja diesmal besonders spannend«, meinte Hummel statt einer Antwort. »Viel Glück also bei der Suche nach deinem inneren Ich.« Er reichte seiner Tochter den Hörer und widmete sich wieder dem Enkel.
Martina ging aus dem Wohnzimmer und die Treppe hinauf. Er hörte sie noch fragen: »Mama, wo bist du denn? …Und wo genau?« Dann schlug eine Tür zu.
Hubertus beruhigte Maximilian mit Hilfe des Schnullers. Dann schlich er mit dem Kleinen auf dem Arm ins Obergeschoss. Es bedurfte einigen Geschicks, damit die Holzstufen nicht knarzten.
Er näherte sich ganz vorsichtig der Tür des »Kinderzimmers«.
»Mama, dann lass uns dich wenigstens besuchen«, sprach Martina gerade ins Telefon. »Alleine mit Papa ist es ziemlich anstrengend. Und der Kleine vermisst dich auch.«
Hubertus wurde hellhörig. Er betrachtete kurz seinen Enkel, der zufrieden an seinem Schnuller saugte. Seine verweinten Augen schauten müde. Vielleicht würde er auf seinem Arm gleich einschlummern.
»Morgen passt es uns sehr gut«, sagte Martina dann freudig. »Nein, ich werde es ihm natürlich nicht verraten… Ja, ich schreibe mir die Adresse jetzt auf…«
Hubertus näherte sich weiter der Tür, um noch besser lauschen zu können. Maximilian ging davon aus, dass Opa in Martinas Zimmer wollte. Deshalb ließ er seinen Oberkörper plötzlich nach vorne fallen und streckte seine Fingerchen nach der Türklinke aus. Abgesehen davon, dass ihm der Enkel um ein Haar aus dem Arm gerutscht wäre, hatte Hubertus nun Mühe, dessen Händchen wieder von der Klinke loszubekommen – noch dazu geräuschlos.