Marcel Reich-Ranicki
Sieben
Wegbereiter
SCHRIFTSTELLER DES
ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS
Arthur Schnitzler · Thomas Mann
Alfred Döblin · Robert Musil · Franz Kafka
Kurt Tucholsky · Bertolt Brecht
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart München
Marcel Reich-Ranicki
Sieben
Wegbereiter
SCHRIFTSTELLER DES
ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS
Arthur Schnitzler · Thomas Mann
Alfred Döblin · Robert Musil · Franz Kafka
Kurt Tucholsky · Bertolt Brecht
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart München
Für
Rüdiger Volhard
sehr herzlich
und dies
mit gutem Grund
Inhalt
Vorbemerkung
ARTHUR SCHNITZLER
Auch das Grausame kann diskret sein
THOMAS MANN
Die Liebe ist nie unnatürlich
»Wir verlorenen Kinder Deutschlands«
Seine letzte Liebe
»O sink hernieder, Nacht der Liebe«
Bin ich am Ende?
Glück und Unglück der Alleinreisenden
ALFRED DÖBLIN
Ein Heldenvater
Der geniale Amokläufer
Unser Biberkopf und seine Mieze
ROBERT MUSIL
Der Zusammenbruch eines großen Erzählers
FRANZ KAFKA
Seine geschriebenen Küsse
KURT TUCHOLSKY
Ein Deutscher ohne Deutschland
Einer von uns
BERTOLT BRECHT
Ungeheuer oben
Nachweise und Anmerkungen
ARTHUR SCHNITZLER
THOMAS MANN
ALFRED DÖBLIN
ROBERT MUSIL
FRANZ KAFKA
KURT TUCHOLSKY
BERTOLT BRECHT
Personenregister
Vorbemerkung
Wegbereiter – das ist ein schönes, altes Wort, gebräuchlich schon im späten Mittelalter. Doch was hat es besagt? Wurden mit ihm jene bezeichnet, die uns einen Weg bereiteten, wohin auch immer? Ja und nein. Denn zunächst war es, wenn wir uns auf die Literatur verlassen können, nur für einen Einzigen bestimmt und reserviert: für Jesus Christus. So wurde es im sechzehnten Jahrhundert verwendet (vor allem von Hans Sachs), so auch im siebzehnten Jahrhundert, zumal von Simon Dach.
Aber im achtzehnten Jahrhundert ist die Bedeutung dieser Vokabel stark erweitert: Nicht nur Jesus war es, der nun den Weg bereitete, dies taten jetzt auch die großen Repräsentanten des Geistes. Herder sprach von einem »wegbereitenden Herold der Wissenschaften« und Hegel, etwas später, von der »Wegbereitung für den Einzug wahrer Philosophie«. Mittlerweile ist mit dem Wort nichts anderes gemeint als ein Mensch, der mit Erfolg für etwas Neues eintritt – in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Literatur und auch in der Politik.
Die sieben Schriftsteller, die in diesem Buch unter dem Stichwort »Wegbereiter« zusammengefaßt sind, haben mich schon in meiner Schulzeit, im Berlin der dreißiger Jahre, interessiert und irritiert und auch fasziniert. Die Novellen Arthur Schnitzlers, die Romane Thomas Manns und Alfred Döblins, die frühe Prosa Robert Musils, die Gleichnisse Franz Kafkas, die Feuilletons Kurt Tucholskys und schließlich die Lyrik des jungen Bertolt Brecht – das alles übte auf mich eine besondere, eine beinahe magische Anziehungskraft aus.
Zunächst hat das natürlich mit der außerordentlichen Qualität dieser Literatur zu tun. Hinzu kam noch ein aktueller Umstand, den ich nicht ignorieren konnte und wollte: Es handelte sich um Autoren, die im »Dritten Reich« verboten oder zumindest unwillkommen waren und die man auf jeden Fall in den Bibliotheken nicht erhalten und in den Antiquariaten nur mühselig finden konnte. Denn Thomas Mann und Alfred Döblin, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht gehörten zu den politischen Emigranten, der Österreicher Robert Musil schloß sich ihnen 1938 an, Franz Kafka und Arthur Schnitzler waren schon tot, doch als Juden verfemt.
Zur Attraktion, die man immer verbotenen Früchten nachsagen kann, gesellte sich bald ein anderer, keineswegs schwächerer Reiz – jener der Modernität. Wahrscheinlich habe ich es damals eher gespürt und geahnt als tatsächlich begriffen, daß mit den frühen Büchern Schnitzlers, Thomas Manns und Musils und der noch vor dem Ersten Weltkrieg folgenden Prosa Döblins und Kafkas eine neue Epoche der deutschen Literatur begonnen hatte.
Schnitzlers »Leutnant Gustl« und Thomas Manns »Buddenbrooks«, 1901 gleichzeitig erschienen, stehen, so unterschiedliche Werke es auch sind, am Anfang dieses Zeitalters. In Schnitzlers bahnbrechender Novelle sehen wir alles, anders als bis dahin in der erzählenden deutschen Prosa, mit den Augen der im Mittelpunkt befindlichen Figur. Wichtiger noch: Was sich hier abspielt, ereignet sich nahezu ausschließlich im Bewußtsein eben dieser Figur. So erhebt die Geschichte des Leutnants Gustl den inneren Monolog (zum ersten Mal in unserer Literatur und übrigens viele Jahre vor dem »Ulysses« von James Joyce) zum einzigen Ausdrucksmittel der erzählenden Prosa und erreicht mit ihm – auf wahrhaft überwältigende Weise – alle angestrebten Wirkungen.
Mit dem »Leutnant Gustl« und mit den »Buddenbrooks« beginnt in der deutschen Literatur die Epoche der Psychologie. Freuds gern zitierte Feststellung, was er »in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe«, das wisse er, Schnitzler, dank »Intuition und Selbstwahrnehmung«; im Grunde seines Wesens sei Schnitzler »ein psychologischer Tiefenforscher«. Dieses Wort gilt auch für Thomas Mann, für Döblin und Musil, für Kafka.
Die Erkenntnisse der Psychologie ermöglichten die Verfeinerung und Vertiefung auch und vor allem der erotischen Geschichten. Das Sexuelle, bisher verschwiegen und ausgespart oder nur knapp angedeutet, wurde nun in den Themenkreis der Literatur einbezogen. Thomas Mann vergegenwärtigte in seiner Erzählung »Der kleine Herr Friedemann« (1898) die Leiden seines unglücklichen, seines untergehenden Helden an der Geschlechtlichkeit, er zeigte mit einer in der deutschen Sprache noch nie gekannten Virtuosität die Sexualphantasien, die Masturbationsvisionen des pubertierenden Hanno Buddenbrook.
Wie Intellektualität in den Sadismus übergehen kann und der Ästhetizismus in den Terror, verdeutlichte Musil in den »Verwirrungen des Zöglings Törless« (1906). In seiner Erzählung »Das verzauberte Haus« (1908) und in dem Band »Vereinigungen« (1911) beobachtete Musil, ein ausgebildeter Mathematiker, mit nahezu mathematischer Genauigkeit die sexuellen Regungen und Qualen seiner Gestalten. Döblin, von Beruf Psychiater, drang in seiner Erzählung »Die Ermordung einer Butterblume« (1913) in die tiefsten Schichten des Unbewußten vor und zeigte die Voraussetzungen, die Symptome und auch die Folgen einer Geisteskrankheit.
Für die einsamen Menschen, die sich in dieser Literatur gegen das Dasein wehren, zerfällt die Welt in eine Fülle von Einzelheiten. Sie lassen sich zwar beobachten, doch haben sie keinen Sinn, sie ergeben keinen Zusammenhang. Die Welt erweist sich als absurd. Das ist das zentrale Motiv Kafkas. In seiner Prosa ist das Ungeheuerliche banal und das Gewöhnliche unheimlich. Er zweifelte die rational erfaßbare Wirklichkeit an und gab dem Irrationalen und Dämonischen wirkliche Züge. Er verwandelte die Realität in einen Tagtraum, der wiederum eine Realität ist.
Neue Wege ging auch Bertolt Brecht, der als Dramatiker gegen die Tradition rebellierte und das epische Theater verwirklichte und der als Lyriker, meist an traditionelle Formen anknüpfend, gleichwohl und vielleicht in noch höherem Maße ein Wegbereiter war. Und Kurt Tucholsky? Gehört er wirklich hierher? Ja, ich bin dessen sicher. Denn er hat das Feuilleton wie kein anderer Autor im zwanzigsten Jahrhundert modernisiert, er hat dank ungewöhnlicher Treffsicherheit und Anschaulichkeit seiner betont flotten und bisweilen auch kokett-ungezwungenen Diktion einen Einfluß ausgeübt, der, obwohl auf Schritt und Tritt erkennbar, immer noch unterschätzt wird.
Allerdings sollte man nicht meinen, ich hätte die Werke dieser Schriftsteller in meiner Jugend gelesen, weil sie eine außerordentliche Rolle in der deutschen Literaturgeschichte gespielt haben. Die Wahrheit ist viel simpler: Ich habe sie benötigt, weil ich auf der Suche nach Unterhaltung und Vergnügen war. Und sie haben mich in der Regel durchaus nicht enttäuscht.
Zu allen diesen Schriftstellern kehrte ich an den verschiedenen Abschnitten meines Lebens immer wieder zurück – staunend und bewundernd, bisweilen zweifelnd und letztlich stets aufs neue begeistert. Die Wegbereiter wurden meine Wegbegleiter.
Frankfurt am Main, im Juli 2002
M. R.-R.
ARTHUR SCHNITZLER
Auch das Grausame kann diskret sein
Als Arthur Schnitzler sechzig Jahre alt wurde, veröffentlichte die »Neue Rundschau« zusammen mit anderen Geburtstagsartikeln auch einen kurzen Gruß von Thomas Mann. Neben einigen eher konventionellen Wendungen – so über »die Vereinigung von Leidenschaft und Weisheit, Strenge und Güte« – fällt hier der Versuch auf, den Jubilar in die Nähe eines ebenfalls 1862 geborenen Dichters zu rücken, nämlich Gerhart Hauptmanns. Beide seien, meinte Thomas Mann, »in eine ähnlich repräsentative Stellung hineingewachsen«1. Hauptmann und Schnitzler als ebenbürtige Figuren der zeitgenössischen Literatur? Damit deutete Thomas Mann nur an, wie es seiner Ansicht nach sein sollte, nicht aber, wie es tatsächlich war. Denn die Rolle, die Schnitzler damals, 1922, in der Öffentlichkeit spielte, ließ sich mit dem hohen Ansehen, in dem Hauptmann stand, kaum vergleichen.
»Wie ein Baum zieht er seine Säfte aus der schlesischen Erde, aber seine Krone ragt in den Himmel …« – heißt es über Hauptmann in Klabunds populärer Literaturgeschichte.2 Bei dem Namen Schnitzler dachte man nicht gerade an die Säfte der Erde, sondern eher an das Pflaster der Großstadt; und nicht die Erinnerung an den Himmel rief er wach, sondern an die Dachkammer des süßen Mädels und an das Boudoir der Femme fatale.
Der eine galt als Poet aus dem sagenumwobenen Riesengebirge, der andere nur als Literat aus dem Wiener Kaffeehaus. Hauptmann feierte man als Seher, der tastend und raunend den Weg zu den Müttern suche und zugleich die deutsche Zwietracht mitten ins Herz zu treffen wisse. Schnitzler hingegen hatte den Ruf eines mehr oder weniger charmanten Leichtgewichtlers, ja, eines Erotikers, was in der Vorstellung vieler deutscher Leser gleichbedeutend war mit dem Zug zum Frivolen und der Neigung zum Schlüpfrigen.
Wurde der Autor der »Weber« und der »Ratten« mit der Kennmarke »Dichter des Mitleids« versehen, so hatte man den anderen als Dichter nicht etwa der Liebe abgestempelt, sondern bloß der Liebelei. Und während Hauptmann, der mit den Idealen seiner Sturm- und Drangzeit längst nichts mehr zu tun haben wollte und sich in den zwanziger Jahren politischer Enthaltsamkeit befleißigte, gern als Repräsentant der Weimarer Republik anerkannt wurde und allmählich zum Klassiker aufstieg, sah sich Schnitzler in jener Zeit in die Rolle eines liebenswürdig-harmlosen, auf jeden Fall aber antiquierten Außenseiters gedrängt.
Noch hatte er zahlreiche Leser – seiner 1924 erschienenen Novelle »Fräulein Else« war ein großer Publikumserfolg beschieden; noch wurden einige seiner Stücke, ältere zumal, von vielen Bühnen gespielt. Symptomatisch ist allerdings, aus heutiger Sicht, ein Vorfall, der sich im Herbst 1924 in einem Berliner Theater ereignet hatte: Zwei Männer störten die Vorstellung des Dramas »Der einsame Weg« mit, wie berichtet wird, »überaus lautstarken« Bekundungen ihres Mißfallens – es sei, riefen sie, unbegreiflich, daß man derartigen »Schund« aufführe. Die so stürmisch gegen Schnitzlers Stück protestierten, waren zwei jüngere Dramatiker: Bertolt Brecht und Arnolt Bronnen.3
Als im Frühjahr 1926 der preußische Kultusminister die Gründung einer »Sektion für Dichtkunst« an der Akademie der Künste zu Berlin angeordnet hatte, wandte sich die Redaktion der »Literarischen Welt« an rund 20.000 ihrer regelmäßigen Leser mit der Frage, wer nach deren Ansicht dieser Sektion angehören sollte.4 Auch wenn wir nicht wissen, wie viele Leser die Umfrage tatsächlich beantwortet haben, zeigen ihre Ergebnisse sehr deutlich, welche Schriftsteller damals populär waren und von dem an der Literatur interessierten Publikum geschätzt wurden.
Über hundert Stimmen erhielten siebenundzwanzig Autoren, darunter auch mehrere Österreicher. An der Spitze der Liste stand mit weitem Vorsprung Thomas Mann, für den 1421 Leser votierten. Es folgten Franz Werfel (682 Stimmen) und Gerhart Hauptmann (594), ferner Rudolf Borchardt, Stefan George, Alfred Döblin, Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse. Die nächsten auf der Liste, Albrecht Schaeffer und Fritz von Unruh, beide heute fast vergessen, hatten immerhin mehr Befürworter als Heinrich Mann, Ricarda Huch, Jakob Wassermann und Leonhard Frank. Und Georg Kaiser, der sich auf dem fünfzehnten Platz fand, schnitt besser ab als Stefan Zweig, Ernst Toller, Arno Holz, Hugo von Hofmannsthal (!) und Klabund. Auch Brecht war unter den siebenundzwanzig vorgeschlagenen Schriftstellern, freilich erst auf dem vierundzwanzigsten Platz. Den Namen Arthur Schnitzler sucht man auf dieser Liste vergeblich.
Für die neue Generation waren die Motive Schnitzlers belanglos geworden, und seine Gestalten muteten so fremd an wie seine Stoffe verstaubt. Die Welt, aus der er schuf, habe der Krieg zerstampft, so daß »seine ganze Kultur für lange oder für immer vernichtet scheint«, urteilte 1922 Stefan Zweig.5 Damit sagte er damals nichts Neues, denn schon während des Krieges hatten viele Rezensenten Schnitzler immer wieder als Dichter nicht mehr vorhandener Milieus und niemanden angehender Fragen bezeichnet, wenn nicht beschimpft.
Auch das Spätwerk Schnitzlers, zu dem einige beachtliche Erzählungen gehören, blieb ohne Einfluß auf die literarische Welt: Kurt Tucholsky scheint von ihm nur die Novelle »Leutnant Gustl« aus dem Jahre 1900 gelesen zu haben, für Walter Benjamin, Georg Lukács und Theodor W. Adorno hat er offenbar überhaupt nicht existiert, in Brechts Schriften, Briefen und Tagebüchern wird sein Name kein einziges Mal erwähnt. Schnitzler, noch kurz zuvor von Thomas Mann als eine oder gar die repräsentative Figur der Gegenwartsliteratur gepriesen, wurde nun hartnäckig ignoriert. Als er 1931 starb, würdigte man ihn in meist knappen und kühlen Nachrufen nur als Autor einer abgeschlossenen Epoche, einer »versunkenen Welt«, den man nicht zu Unrecht vergessen habe.
Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Zwar stellt niemand die literarhistorische Bedeutung Hauptmanns ernsthaft in Frage, doch dominiert im Verhältnis zu ihm, was schlimmer ist als Mißbilligung und Verwerfung – Gleichgültigkeit. Ob er es verdient hat oder nicht – man hat den einst so geschätzten und so beliebten Dramatiker vorerst ins Museale entlassen.
Schnitzler hingegen wurde unverkennbar rehabilitiert und aufgewertet: Er gehört heute zu den wenigen deutschsprachigen Schriftstellern der Zeit um 1900, für die sich die Wissenschaftler in wachsendem Maße interessieren und die zugleich einen festen Platz im Bewußtsein des Publikums haben. Das Theater und das Fernsehen haben hierzu ebenso beigetragen wie Veröffentlichungen, die seinem Werk neue Züge hinzufügen und uns lehren, seine Person anders und genauer als bisher wahrzunehmen.
Autoren, die den Lesern ihren Nachlaß schon zu Lebzeiten offerieren, hat Schnitzler verspottet. So ist es denn nicht verwunderlich, daß sich der seinige als besonders reichhaltig erwiesen hat. Nachdem zunächst zwei unbekannte, doch nahezu vollendete Dramen (»Das Wort«, 1966, und »Zug der Schatten«, 1970) sowie das autobiographische Buch »Jugend in Wien« (1968) gedruckt wurden, folgte 1977 ein stattlicher und überaus bemerkenswerter Band mit Skizzen und Notizen (»Entworfenes und Vorgeworfenes«).
Ferner fanden sich im Nachlaß erstaunlich viele Briefe: Nach Bänden, die der Korrespondenz mit einzelnen Personen gewidmet waren (unter anderem mit Hofmannsthal, Otto Brahm und Georg Brandes sowie mit den Freundinnen Olga Waissnix und Adele Sandrock), erschien 1981 der über tausend Seiten umfassende Band »Briefe 1875 – 1912«, eine Fundgrube auch und vor allem für den Kenner der Materie. Schließlich hat man damit begonnen, das gigantische Tagebuch Schnitzlers zugänglich zu machen: die beiden 1981 und 1983 publizierten Bände betreffen die Zeit von 1909 bis 1916.
Und die Forschungsliteratur? Eine weltweite Schnitzler-Industrie, vergleichbar mit jener, die sich im Zeichen anderer deutscher Jahrhundertschriftsteller, Franz Kafkas zumal, entwickelt hat, gibt es vorerst nicht – und das mag, vom Rang des Wiener Autors abgesehen, auch mit einem Umstand zusammenhängen, der sich auf seine Beliebtheit bei den Literaturwissenschaftlern eher ungünstig auswirkt: Den Werken Schnitzlers fehlt es an jener Dunkelheit, die die Interpreten schätzen und lieben, weil sie gerade ihr ihre Daseinsberechtigung, ja ihre Unentbehrlichkeit verdanken.
Dennoch ist zur Klage kein Anlaß. Mittlerweile haben wir eine Reihe von Monographien und ungezählte gelehrte Beiträge in Sammelbänden und Zeitschriften erhalten. Von diesen Untersuchungen scheint mir die bescheidenste auch die nützlichste: die sich aller Deutungen und Spekulationen enthaltende und den billigen Positivismus-Vorwurf nicht fürchtende Biographie von Renate Wagner, ein materialreiches und informatives Buch, das nicht nur gründlich, sondern auch vernünftig und zuverlässig ist.6
Schnitzlers Werk lebt also, und es trifft bisweilen auf eben jenen Widerspruch, der dem einst viel berühmteren Gerhart Hauptmann heute in der Regel verweigert wird. Indes sollten wir uns vor Übertreibungen hüten: Noch kann von einer Schnitzler-Renaissance nicht die Rede sein; und noch ist Hauptmann nicht ganz in Vergessenheit geraten. Nichts wäre unsinniger, als die einst von Lukács propagierte Alternative »Franz Kafka oder Thomas Mann?« auf Schnitzler und Hauptmann übertragen und den einen gegen den anderen ausspielen zu wollen. Sehr wahrscheinlich wird auch Hauptmanns Zeit wiederkommen, vielleicht irgendwann im 21. Jahrhundert. Aber die Frage ist nicht überflüssig, warum wir Schnitzler hier und heute als den ungleich moderneren Autor empfinden.
Beide wollten zeit ihres Lebens von Ideologien nichts wissen, beide hielten nichts von moralischen Rezepten und sozialen Patentlösungen, beide versuchten, der Politik zu entgehen, ihr Leben von ihr freizuhalten, sofern dies nur irgend möglich war. Kein Zweifel: Diese ganze Sphäre interessierte sie überhaupt nicht. Aber das trotzige Desinteresse hatte sehr unterschiedliche Wurzeln.
Was bei Schnitzler dem Mißtrauen des Wissenden und der Schwermut des Skeptikers entsprang, kam bei Hauptmann vornehmlich aus der Intuition, aus seiner Mentalität, für die eine gewisse Trägheit charakteristisch ist und auch geistige Schwerfälligkeit, jedenfalls aber die augenscheinliche Unlust an der Reflexion. Wer will, kann hier auch eine Tugend erblicken und von grandioser, ja gelegentlich überwältigender Naivität sprechen.
Sollte unser distanziertes Verhältnis zu Hauptmann mit dieser Naivität, mit seiner offenkundigen Intellektarmut und mit seiner bisweilen rührenden Provinzialität zu tun haben? Ist hier etwa der Grund, weshalb uns die Werke dieses stammelnden Dichters und dennoch bewundernswerten Dramatikers, obwohl wir ihnen Dutzende herrlicher Figuren verdanken, meist überlebt oder zumindest allzu vordergründig scheinen? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Fontane uns heute näher steht als Hauptmann und daß wir die uns bewegenden Fragen, auch wenn Büchner ein halbes Jahrhundert vor ihm geboren wurde, eher im »Woyzeck« als im »Fuhrmann Henschel« finden, eher in »Dantons Tod« als im »Florian Geyer«.
Und gilt nicht, was hier für Fontane und Büchner in Anspruch genommen wird, für Schnitzler ebenfalls? Anders als der schwerblütige, oft dumpfe Schlesier war der gewandte und urbane Wiener ein Poet und kritischer Intellektueller, Sprachkünstler und nüchterner Seelenforscher in einem. Seine Stücke, Novellen und Romane spielen zwar in verschiedenen Ländern und Epochen, aber sie lassen sich allesamt als Bruchstücke einer einzigen, einer großen Geschichte lesen – und diese kann uns wahrlich nicht gleichgültig sein. Denn es ist die Geschichte eines Verfalls: Die Bedrohung und der Untergang der bürgerlichen Welt und der europäischen Zivilisation, die Heimatlosigkeit und die Entfremdung des Intellektuellen – das sind Schnitzlers zentrale Themen.
Von Einsamkeit gequält, sehnen sich seine Helden nach der Frau. Aber ob sie nun – um eine Formulierung aus seinem »Anatol« aufzugreifen – in jeder Kokotte das Weib zu finden hoffen oder in jedem Weib die Kokotte, enttäuscht werden sie allemal: Nirgends spüren sie ihre Einsamkeit schmerzhafter als im Bett der Geliebten. So wenden sie sich rasch von ihr ab, um das Glück bei der nächsten zu suchen. Doch die Liebe bleibt ihnen versagt: Diese fortwährende Jagd ist nichts anderes als ein Zeichen ihrer Unfähigkeit, mit dem Leben fertigzuwerden.
Persönliches und Allgemeines bilden im Werk Schnitzlers eine selbstverständliche Einheit, eine Synthese. Und je privater die Motive, desto deutlicher das Bild der Gesellschaft, die er kritisierte. Folglich wird sie am strengsten gerade in jenem seiner Stücke verurteilt, in dem er den Menschen in der intimsten Situation zeigt – vor und nach dem Coitus, also im »Reigen«. Er war, wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller, ein erotischer Zeitkritiker und ein zeitkritischer Erotiker.
Aber was sich ursprünglich nur auf die bürgerliche Welt im Österreich der Jahrhundertwende bezog und wovon man nach 1914 in Deutschland ebenso wie in der Heimat Schnitzlers nichts mehr hören wollte, das gerade hat für uns eine neue Aktualität gewonnen. Doch was uns interessiert, wenn nicht gar fasziniert, ist nicht allein das Bild jenes Fin-de-siècle-Milieus, das seinen Untergang sanft erleidet und fast wollüstig genießt – es ist der Prozeß des Untergehens selbst.
So wurde Schnitzler zum Dichter der großen Vergeblichkeit, des Scheiterns und des Abschieds, des sinnlosen Lebens und des sinnlosen Sterbens. Niemals ausgesprochen, geistert durch sein Werk das Bibelwort »Es ist alles ganz eitel«. Und ähnlich wie bei Thomas Mann gehen auch bei ihm Verfall und Verfeinerung Hand in Hand: Sie bedingen sich gegenseitig. Ist es also verwunderlich, daß Schnitzler uns näher steht als fast alle seine Generationsgenossen und die meisten der Nachgeborenen?
Überdies: Wir leben in der Nach-Brecht-Epoche; unter seinem Einfluß und im Widerspruch zu seinen Konzeptionen hat sich unser Geschmack gebildet. Er war ein Genie, gewiß, aber ein Genie mit dem Nürnberger Trichter – und ein unentwegter und unermüdlicher Lehrmeister, der mit jedem seiner Stücke (von den frühesten abgesehen) ein Scherflein zu jenem Klassenkampf beitragen wollte, den er als Impuls und als Thema für sein Werk benötigte. Es hat mit dem Überdruß an ihrer allzu aufdringlichen Didaktik zu tun, daß die meisten Bühnenwerke Brechts kaum noch gespielt werden, was nicht in jedem Fall bedauerlich ist: Wir glauben heute weniger denn je, es seien gerade die Dichter befugt und imstande, uns zu belehren und zu erziehen.
Auch deshalb wächst unsere Sympathie für Autoren, denen – wie eben Schnitzler – das Pädagogische in der Literatur fremd und verpönt ist. 1913 schrieb er in einem Brief: »Ich empfinde es als meinen Beruf, Menschen zu gestalten, und habe nichts zu beweisen als die Vielfältigkeit der Welt.«7 Die moralischen Folgerungen, die sich aus seinen Arbeiten ziehen lassen, werden den Lesern überlassen und höchstens zwischen den Zeilen angedeutet. Und wenn in seinen Dramen und Novellen das Schicksal zuschlägt, dann geschieht dies stets gleichsam con sordino – es naht gedämpft auf leisen Sohlen. In der Welt Schnitzlers ist sogar das Grausame diskret und dezent.
Er hat auch alle, die sich von ihm Auskünfte über den Sinn seiner Dichtungen erhofften, konsequent zurückgewiesen. Als er 1905 um eine Erläuterung seiner Novelle »Andreas Thamayers letzter Brief« gebeten wurde, antwortete er, daß es ihm »recht prätentiös vorkäme, zu einer so einfachen Geschichte eine Art von Kommentar zu verfassen. Wenn die Novelette nicht verständlich ist, so bitte ich freundlichst, sie als mißlungen zu betrachten«8.
Erst die 1981 und 1984 publizierten Briefe zeigen, wie wenig Schnitzler – im Unterschied zu Thomas Mann, zu Brecht und zu den meisten anderen großen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts – bereit war, als sein eigener Werbechef zu fungieren. Literaturhistorikern und Kritikern, die ihn nach seiner Biographie befragten, empfahl er, sich an seine Bücher zu halten: Ohnehin pflege der Künstler mit seinen Werken »unbewußt und wenigstens gegen seinen Willen mehr von seinem Leben mitzutheilen«, als notwendig sei. Oder er verwies auf die »spärlichen, aber meinem Öffentlichkeitsbedürfnis vollkommen genügenden Angaben in Kürschners Literaturkalender«.9
Als Julius Kapp 1911 eine Monographie über ihn geschrieben hatte, lehnte es Schnitzler ab, diese Arbeit vor ihrer Veröffentlichung zu lesen: »Wenn Sie gelegentlich nicht ganz richtig interpretiert haben sollten, so sehe ich darin ein geringeres Malheur, als wenn Ihre Darstellung durch mich selbst beeinflußt werden sollte.«10 Kapp schickte ihm dennoch einen Teil des Manuskripts, Schnitzler war nicht mit allem einverstanden, blieb aber dabei, daß er sich hierzu nicht äußern könne. Er beanstandete nur eine einzige Formulierung: eine abschätzige Bemerkung über einen Kollegen, wenn nicht Konkurrenten – über Hofmannsthal.
Nach der Lektüre einer anderen, etwa gleichzeitig erschienenen Schnitzler-Monographie schreibt er ihrem Autor, Victor Klemperer, er selber sehe viele seiner Arbeiten anders: »So glaube ich z. B., daß Sie den Paracelsus beträchtlich überschätzen. Ich hab ihn gestern auf Ihr Büchlein hin wieder gelesen (was mir mit meinen Sachen selten passiert) und finde ihn künstlerisch ziemlich schwach…« Die Novelle »Sterben«, wohl die bedeutendste Prosaarbeit seiner frühen Jahre, wolle er nicht noch einmal lesen, »aber wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, würden Sie mich auch hier nicht ganz auf Ihrer enthusiastischen Seite finden«.11
Wer etwa argwöhnen sollte, Schnitzler habe dem Korrespondenzpartner seine Objektivität oder seine Fähigkeit zur Selbstkritik demonstrieren wollen, kann feststellen, daß er in seinem Tagebuch keineswegs anders urteilt. Denn als er ein Jahr nach dem zitierten Brief sich überwinden und, da eine Gesamtausgabe seiner Werke vorbereitet wurde, die Novelle »Sterben« doch wieder lesen mußte, lautete die knappe Eintragung: »Ein begabtes aber peinliches Buch (in tieferm Sinn).«12
Was immer man von diesem Tagebuch Schnitzlers halten mag – es ist ein höchst seltsames Dokument. Am seltsamsten aber erscheint das Verhältnis des Autors zu dem eigenen Journal. Zunächst einmal: Es umfaßt nahezu sein ganzes Leben, denn es beginnt im März 1879 (damals war er noch nicht siebzehn Jahre alt) und reicht bis zum 19. Oktober 1931 (er starb zwei Tage später). Insgesamt sind es rund 6.000 Manuskriptseiten.
Schnitzler hat dem Tagebuch stets höchste Bedeutung beigemessen und offenbar auch dafür gesorgt, daß es von Menschen seiner Umgebung für ein Werk von außergewöhnlichem Wert gehalten wurde. »Fast beneide ich diejenigen« – schrieb ihm 1903 Hofmannsthal – »die nach uns einmal in Ihren Tagebüchern lesen und wochenlang ganz darin leben werden…«13 Schon 1904 sprach Schnitzler von seiner »sonderbaren Angst«14, das Manuskript des Tagebuchs könne verlorengehen. Als er sich 1905 mit seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1893 beschäftigte, notierte er: »Mir ist, als wären die einzelnen Partien dieses Tgb. das einzige von meinen Sachen, worin Kraft.«15
Im August 1918 heißt es, es sei sein »brennender Wunsch«16, daß die Tagebücher, die er zu dieser Zeit schon nicht mehr in seinem Haus aufbewahrte, sondern in einem Banksafe, erhalten blieben. Einige Tage vorher hatte er in seinen »Bestimmungen über meinen schriftlichen Nachlaß« verfügt, daß die Tagebücher »in keiner Weise verfälscht, also nicht gemildert, gekürzt oder sonstwie verändert werden dürfen«. Doch so wichtig für ihn deren postume Veröffentlichung auch war, so wenig lag ihm an ihrer Verbreitung. Im Gegenteil: Der Verleger möge, eben um der Popularisierung entgegenzuwirken, »für entsprechend theure Preise Sorge tragen«17.
Allem Anschein nach hat er bis zu seinem Lebensende das Tagebuch für bedeutsamer gehalten als seine dramatischen und erzählenden Schriften. So zitiert Alma Mahler-Werfel in ihrem Buch »Mein Leben« eine Äußerung Schnitzlers aus dem Jahre 1928: »Nein, ich weiß, daß ich kein ganz Großer bin. Es gibt viel, viel größere Dichter als ich, aber ich glaube, daß diese Tagebücher, wenn sie einmal herauskommen sollten, sich an Bedeutung mit den Werken der Größten messen können.«18
Als aber 1981 der erste Band des Tagebuchs erschien, wurden die Leser schon im einleitenden Aufsatz des Herausgebers Werner Welzig auf eine große Enttäuschung vorbereitet. Schnitzlers »brennender Wunsch«, daß das Tagebuch erhalten bleibe, sei – schreibt Welzig – »weder aus der stilistischen noch aus der gedanklichen Qualität der Aufzeichnungen erklärbar«19, denn diese böten eine »über weite Strecken hinweg den Leser ermüdende und vielleicht sogar abstoßende, durch die zahllosen Wiederholungen jedenfalls eintönige Registratur von Wegen, Begegnungen und Tätigkeiten«20. Sehr richtig: Die Lektüre dieses Tagebuchs stellt in der Tat hohe und höchste Ansprüche, und zwar an die Geduld des Lesers und an seine Ausdauer. Das freilich hat mit einer Eigentümlichkeit zu tun, die diese Aufzeichnungen allen Einwänden zum Trotz doch wertvoll machen.
Natürlich gilt Schnitzlers berühmtestes Wort – »Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug« – für ihn selber ebenfalls: Auch er wollte seine Person für die Öffentlichkeit stilisieren, auch er spielte, zumal in seinen jungen Jahren, manch eine Rolle – den Dandy oder den Bonvivant, den Bohémien oder gar den Zyniker. Auf den Tagebuchschreiber indes trifft das nicht zu: Dieser denkt nicht daran, sich selber zu stilisieren, er will niemanden beeindrucken – weder mit seinen Gedanken und Einfällen noch mit seiner Schreibfähigkeit oder seiner Ehrlichkeit. Er ist sich auch bewußt, daß, wer von sich selber schreibt, immer des Eigenlobs verdächtigt werden kann: »Spricht man von seinen Fehlern, so lobt man seine Bescheidenheit, seine Selbsterkenntnis…«21
Ja, er führte dieses Tagebuch nur für sich selber. Und auch nachdem er dessen postume ungekürzte Veröffentlichung verfügt hatte, veränderten sich Stil und Inhalt der Aufzeichnungen nicht im geringsten: Weiterhin notierte er mit nicht nachlassender Konsequenz alltägliche Vorfälle und Verrichtungen, nach wie vor sind es so knappe wie flüchtige Eintragungen vornehmlich über Belangloses, und immer wieder dient ihm das Journal, wie es schon der Achtzehnjährige formulierte, als »holder Spucknapf« seiner »Stimmungen und Verstimmungen«22.
Kurz und gut: ein ungewöhnlich langweiliges Tagebuch. Aber vielleicht auch eines der aufrichtigsten, das je verfaßt wurde: Wie kaum ein vergleichbares Dokument gewährt dieses Journal, das auch als Ergänzung der Korrespondenz gelesen werden muß, Einblick in die lebenslangen Leiden eines großen Dichters.
In einem Brief aus dem Jahre 1897 stellt Schnitzler fest: »Mit mir selbst steh ich wieder auf schlechtem Fuß.«23 Das ist das Leitmotiv des Tagebuchs: Unzufriedenheit mit sich selbst, die in Selbstanklage übergeht und sich dem Selbsthaß zumindest nähert. Er sei unfähig, »was zu Ende zu leben«, »und daher« – so 1897 an Georg Brandes – »meist in einem Zustand beträchtlicher innerer Schlamperei«24. Er möchte arbeiten, um sich – heißt es in einem anderen Brief – »von meinem Widerwillen gegen mich zu befreien«. Er empfindet »eine tiefe Sehnsucht nach Selbstbewußtsein«, komme sich aber »oft lächerlich vor wie einer, der nur die Gebärden des Künstlers hat«: Ich »sehe mich selbst als Wurstl dessen, was ich sein möchte…«25.
Unentwegt quält ihn das Gefühl, daß er zwar Talent habe, doch diesem nicht gewachsen sei: »Mit dem, was in mir ist«, schreibt Schnitzler 1897, »könnte einer, der mehr Kraft der Gestaltung und Frechheit des Lebens hätte, Sachen ersten Ranges produciren; mir werden sie nie gelingen.«26 Schon der Achtunddreißigjährige zweifelt, ob er sich überhaupt noch entwickeln werde: »Die Wirklichen haben immer und immer gearbeitet; ihr Leben war Arbeit – ihre Arbeit war Leben – ich bin doch eigentlich nur ein Quartaldichter (so wie es Quartalsäufer gibt).«27 Im Tagebuch von 1903 charakterisiert er sich mit masochistisch anmutenden Formeln: »Revolutionär ohne Mut, abenteuerlustig ohne die Fähigkeit, Unbequemlichkeiten zu ertragen – Egoist ohne Rücksichtslosigkeit – und endlich ein Künstler ohne Fleiß – ein Selbstkenner ohne Tendenz zur Besserung – ein Verächter des allgemeinen Urteils mit der kleinlichsten Empfindlichkeit.«28
Verglichen mit Hauptmann empfindet er sich – so nach einer Aufführung des »Florian Geyer« – als Dilettant. Und als er 1909 »ein paar Walzerchen« komponiert hat, stellt er lapidar fest: »Mein Wesen (überall): Dilettantismus.«29 Seine früheren Werke sind ihm meist zuwider, er beurteilt sie unbarmherzig.
Den »Reigen« hält Schnitzler für literarisch wertlos, sein Stück »Professor Bernhardi«, das mittlerweile zu den Höhepunkten der deutschen Dramatik des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt wird, macht auf ihn selber (nach abermaliger Lektüre im Jahre 1911) keinen Eindruck, es sei »flau«. Von »Anatol« und dem »Weiten Land«, Bühnenwerken, die bis heute mit Erfolg gespielt werden, verspricht er sich schon 1912 keine Einkünfte mehr – mit beiden Stücken sei es »so gut wie vorbei«30. Als er viele seiner Dramen für die Ausgabe der »Gesammelten Werke« überprüfen muß, kommt er meist zu niederschmetternden Ergebnissen: »ohne Niveau«, »ein recht unleidliches Stück«, »als Ganzes verfehlt«. Bestenfalls heißt es: »zwiespältiger Eindruck«.
Die vermeintliche Fragwürdigkeit seiner literarischen Bemühungen habe, glaubt er zu wissen, mit dem »tiefen Grundfehler« seiner Natur zu tun, und zwar mit »Ungeduld und geringer Sammlungsfähigkeit«. Er erinnert sich an ein Wort seines Vaters: »Du hast keine Geduld, was langes zu schreiben.« Hierzu Schnitzler: »Welche Minderwerthigkeiten in meinen größern Werken neben Stellen hohen Rangs. Auch daß mir die Schlüsse (…) oft so besonders gelingen, irgendwie mit meiner Stall-Ungeduld in Zusammenhang.«31 Nach der Lektüre des »Stechlin«, den er 1916 »mit größtem Vergnügen« gelesen hat, rühmt er Fontanes Geduld: »Um die verehr – und beneid ich ihn.«32
Ganz falsch ist das nicht: Kein Zweifel, daß seine Novellen und kürzeren Erzählungen ungleich origineller sind als seine wenigen Romane. Für die Bühnenwerke gilt dies freilich nur bedingt: Schnitzlers dramatisches Talent entfaltete sich sowohl in Stücken wie »Liebelei«, »Professor Bernhardi« und »Das weite Land« als auch, und bestimmt nicht weniger einprägsam, in Zyklen, die aus einzelnen in sich geschlossenen Szenen bestehen (»Anatol«, »Reigen«) sowie in mehreren Einaktern, zumal im »Grünen Kakadu«.
Niemals war er auf der Suche nach Stoffen oder Figuren, nie fehlte es ihm an Motiven oder Einfällen. Im Gegenteil: Er wurde von ihnen auf bisweilen schon beängstigende Weise bedrängt. Seine Arbeitsmethode – falls hier überhaupt von Methode die Rede sein kann – hat damit zu tun. Das Tagebuch beweist, daß es ihm unmöglich war, sich auf ein Projekt zu konzentrieren: Kaum hatte Schnitzler ein Drama oder eine Novelle entworfen und begonnen, da wandte er sich schon dem nächsten Plan zu. Erst nach Wochen oder Monaten (wenn nicht nach Jahren) holte er das Manuskript wieder hervor und ließ es nach einigen Tagen abermals liegen.
So befaßte er sich in der Regel mit mehreren (meist sehr unterschiedlichen) Vorhaben gleichzeitig. Und es fiel ihm schwer, ein scheinbar beendetes Manuskript aus der Hand zu geben: »Denn jedesmal« – heißt es in einem Brief aus dem Jahre 1897 – »find ich neue Fehler, Neues, was ich besser machen könnte und kann.«33 Unentwegt feilte Schnitzler an einzelnen Sätzen, ließ das korrigierte Manuskript abschreiben, korrigierte es abermals und ließ es wieder abschreiben. Im September 1913 klagte er, er habe seit einem Jahr »kaum einen definitiven Satz niedergeschrieben«34. Vom ersten Einfall bis zur endgültigen Fertigstellung vergingen oft Jahre, gelegentlich sogar Jahrzehnte. Vieles kam über das Vorstadium nicht hinaus: Der Nachlaßband »Entworfenes und Verworfenes« vereint denn auch nicht weniger als achtzig Skizzen und Fragmente.
Fotos von Schnitzler erwecken meist den Eindruck, dieser behäbige Herr sei ein gleichmütiger und gelassener Mensch gewesen. Der Eindruck täuscht: Wie fast alle Juden in der Geschichte der deutschen Literatur kannte auch Schnitzler keine Ruhe, war auch er ein Getriebener. Die Hektik, die er sehr wohl zu tarnen wußte, hatte ihre tiefste Ursache in seinem geringen Selbstvertrauen. Sein »zerstreutes Arbeiten« – notierte er 1905 – sei »zumeist eine innere Sicherung gegen die Verzweiflung, die mich erfassen müßte, wenn ich gezwungen wäre, aus einer Idee das tiefste herauszuholen. Ich vermag ja bis auf den Grund zu schauen, nicht aber hinabzusteigen«35. Verblüffend seine Eintragung aus dem Jahre 1924: »Eine überfüllte, und doch nicht ausgefüllte Existenz.«36
Allerdings hatte auf Schnitzlers depressive Gemütsverfassung auch ein Leiden Einfluß, von dessen Intensität wir bisher keine Vorstellung hatten: seine Schwerhörigkeit. »Das Ohrenleiden (…) bringt mich physisch, seelisch und auf diesem Umweg auch geistig herab«37 – so 1909, als er 47 Jahre alt war. Es bereitet ihm immer größere Schwierigkeiten, einem Gespräch oder gar einer Theateraufführung zu folgen. Noch »schlimmer als das Singen und Pfeifen« in seinem Ohr sei »das ununterbrochene Vogelgezwitscher, wie aus einem Riesenkäfig in der Ferne«38. Von dem Bewußtsein seines Ohrenleidens sei er »monomanisch besessen« und »wie zerstört«: »Es gibt keine Viertelstunde ruhigen, guten Nachdenkens; der ewige Lärm in meinen Ohren macht mich hin.«39
Doch berichtet das Tagebuch noch von ganz anderen Qualen, die er ein Leben lang ertragen mußte – von seinen Leiden an der Kritik. Sudermann habe, berichtet er in den Aufzeichnungen, vor der Premiere eines seiner Stücke wie ein Kind geweint – weil er sich schon vorstellen konnte, was Kerr schreiben werde. Schnitzlers Reaktion auf die Kritik war offenbar ähnlich: Man könne »die Empfindlichkeit gegenüber dem Dümmsten, wenn es nun einmal gedruckt ist, nicht ganz verlieren«, denn die Philosophie helfe zwar gegen die Todesangst, nicht aber gegen Flohstiche.40 Zeitweise hat er Kaffeehäuser gemieden, um nicht zufällig in einer Zeitung etwas Ungünstiges über seine Stücke zu lesen. Er sei beschämt, daß er sich von solchen Nichtigkeiten Stunden und Tage habe vergällen lassen, aber »die Tage sind nun einmal weg; wieder ein Stück Seelen- und Geistesintensität verbraucht – und diese Beschämung frißt selbst auch noch weiter«41.
Schon 1901 beklagt sich Schnitzler in einem Brief an Rilke, man habe ihn in das »Kastl« mit der Aufschrift »Liebelei« hineingetan, und die Kritiker hätten es nicht gern, »wenn die Taferln gewechselt werden«42. Immer wieder wehrt er sich gegen die Abstempelung durch Rezensenten, für die einer, der ein- oder zweimal eine grüne Krawatte getragen hat, stets »der Herr mit der grünen Krawatte« bleibt: »Es ist alles vergeblich – du bist etikettiert auf Lebenszeit.«43 Gegen die Kritik wetternd, sucht Schnitzler – und das ist erstaunlich, wenn nicht einzigartig – die Schuld auch bei sich selber: 1915 hält er sich für den meistbeschimpften deutschen Dichter, räumt aber ein, daß da vieles mitwirke – und am Ende sogar »wirkliche Mängel meines Wesens«44.
Ungewöhnlich ist auch sein Verhältnis zum Judentum. Einen Kritiker, der in dem Roman »Der Weg ins Freie« Schnitzlers Leiden an seiner jüdischen Abstammung wahrzunehmen glaubte, belehrte er: »Ich leide nicht im geringsten unter meiner jüdischen Abstammung, ja ich bin so fern von diesem Gefühl, als es einer nur sein kann, der es am Ende auch dumm fände, auf sein Judentum…stolz zu sein.«45
Nein, nicht am Judentum hat er gelitten, sondern am österreichischen Antisemitismus, dessen Aktivitäten er, stets aufs neue verwundert, aufmerksam registrierte. Schließlich war er sein ganzes Leben hindurch antisemitischen Schmähungen ausgesetzt: Im Kampf gegen den »Reigen«, gegen den »Leutnant Gustl«, den »Professor Bernhardi« und in anderen Kampagnen wurde man nicht müde, darauf hinzuweisen, daß Schnitzler ein Jude sei. Nach der Lektüre einiger Gedichte von Liliencron stellte er kühl fest: »Wie schön ist es ein Arier zu sein – man hat sein Talent so ungestört.«46 Auch diese Äußerung richtete sich nicht gegen das Judentum, von dem er sich niemals abwandte, sondern gegen die Judenfeinde, die ihn nie in Ruhe lassen wollten.
An einer anderen Stelle des Tagebuchs vermerkt Arthur Schnitzler den Widerstand, der gegen sein Werk von einer »Artistengruppe« geleistet wurde, »die wohl mit Recht fühlt, daß meine Künstlerschaft nicht ersten Ranges«. Von falscher Bescheidenheit kann hier keine Rede sein, denn der nächste Satz lautet: »Doch weiß ich daß von meinen Sachen mehr bleiben wird als von manchen die als Künstler größer sind.«47
1 Thomas Mann X/428f.
2 Klabund: Literaturgeschichte. Die deutsche und die fremde Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Herausgegeben von Ludwig Goldscheider. Phaidon Verlag, Wien 1929, S. 329
3 Zitiert nach Renate Wagner: Arthur Schnitzler. Eine Biographie. Verlag Fritz Molden, Wien-München-Zürich-New York 1981, S. 360
4 Vgl. Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Herausgegeben von Anton Kaes. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1983, S. 96
5 Stefan Zweig: Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. Essays. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1984, S. 189
6 Renate Wagner: Arthur Schnitzler. A.a.O.
7 Arthur Schnitzler: Briefe 1913–1931. Herausgegeben von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1984, S. 2
8 Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. Herausgegeben von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1981, S. 513
9 Ebenda S. 665
10 Ebenda S. 664
11 Ebenda S. 654
12 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. Vorgelegt von Werner M. Welzig. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1981. S. 312
13 Hugo von Hofmannsthal/Arthur Schnitzler: Briefwechsel. Herausgegeben von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1964, S. 170
14 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. A.a.O. 1991, S. 66
15 Ebenda S. 137.
16 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1917–1919. A.a.O. 1985, S. 173
17 Zitiert nach: Gerhard Neumann/Jutta Müller: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Wilhelm Fink Verlag, München 1969, S. 35
18 Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1960. S. 190
19 Werner Welzig: Zur Herausgabe von Schnitzlers Tagebuch. In: Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. A.a.O. S. 14
20 Ebenda S. 30
21 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. A.a.O. 1991, S. 222
22 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879–1892. A.a.O. S. 66
23 Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. A.a.O. S. 327
24 Ebenda S. 312
25 Ebenda S. 316
26 Ebenda S. 314
27 Ebenda S. 431
28 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. A.a.O. S. 16
29 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. A.a.O. S. 41
30 Ebenda S. 318
31 Ebenda S. 310
32 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. A.a.O. S. 255
33 Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. A.a.O. S. 328
34 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. A.a.O. S. 62
35 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. A.a.O. S. 110f.
36 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923–1926. A.a.O. S. 124
37 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1909–1912. A.a.O. S. 105
38 Ebenda S. 52
39 Ebenda S. 166
40 Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. A.a.O. S. 383
41 Ebenda S. 461
42 Ebenda S. 439
43 Ebenda S. 470
44 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. A.a.O. S. 246
45 Arthur Schnitzler: Briefe 1875–1912. A.a.O. S. 589
46 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1980. A.a.O. S. 98
47 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. A.a.O. S. 35
THOMAS MANN