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Erzähler der Nacht

Rafik Schami, geboren 1946 in Damaskus, siedelte 1971 in die Bundesrepublik Deutschland über. Er promovierte in Chemie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller und lebt in Marnheim/Pfalz. Für sein literarisches Werk erhielt er viele wichtige Auszeichnungen, u. a. den Adalbert-von-Chamisso-Preis, den Hermann-Hesse-Preis, den Großen Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur sowie den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher und den Jugendbuchpreis der Stiftung Weltethos. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane Eine Hand voller Sterne, Erzähler der Nacht, Der ehrliche Lügner und Sami und der Wunsch nach Freiheit, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Auszeichnungen
Der Roman »Erzähler der Nacht« wurde
von der Stiftung Buchkunst als eines der
»Schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland 1989« ausgewählt und wurde außerdem mehrfach ausgezeichnet: Rattenfänger-Literatur-Preis der Stadt Hameln
Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar
Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis

»Erzähler der Nacht« erschien bisher in Dänemark,
Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Japan,
in den Niederlanden, in Norwegen, Polen, Schweden,
Slowenien, Spanien (spanisch und katalanisch),
in Taiwan, in der Türkei und in den USA.

Für Alexander Flores und Elias Al-Kebbeh
aus tausendundeinem Grund

1: Wie der Kutscher Salim sitzend zu seinen Geschichten kam und sie unendlich lang frisch halten konnte.

Es ist schon eine seltsame Geschichte: Der Kutscher Salim wurde stumm. Wäre sie nicht vor meinen Augen geschehen, ich hätte sie für übertrieben gehalten. Sie begann im August 1959 im alten Viertel von Damaskus. Wollte ich eine ähnlich unglaubliche Geschichte erfinden, so wäre Damaskus der beste Ort dafür. Nirgendwo anders als in Damaskus könnte sie spielen.

Unter den Einwohnern von Damaskus gab es zu jener Zeit seltsame Menschen. Wen wundert das bei einer alten Stadt? Man sagt, wenn eine Stadt über tausend Jahre ununterbrochen bewohnt bleibt, versieht sie ihre Einwohner mit Merkwürdigkeiten, die sich in den vergangenen Epochen angesammelt haben. Damaskus blickt sogar auf ein paar Tausend Jahre zurück. Da kann man sich vorstellen, was für sonderbare Menschen in den verwinkelten Gassen dieser Stadt herumlaufen. Der alte Kutscher Salim war der merkwürdigste unter ihnen. Er war klein und schmächtig, doch seine warme und tiefe Stimme ließ ihn leicht als einen großen Mann mit breiten Schultern erscheinen, und schon zu Lebzeiten wurde er zur Legende, was nicht viel heißen will in einer Stadt, wo Legenden und Pistazienrollen nur zwei von tausendundeiner Spezialität sind.

Durch die vielen Putsche der Fünfzigerjahre verwechselten die Bewohner des alten Viertels die Namen von Ministern und Politikern nicht selten mit denen von Schauspielern und anderen Berühmtheiten. Aber für alle gab es im alten Stadtviertel nur diesen einen Kutscher Salim, der solche Geschichten erzählen konnte, dass die Zuhörer lachen und weinen mussten.

Unter den merkwürdigen Menschen hatten einige für jedes Geschehen ein passendes Sprichwort parat. Doch es gab nur einen Mann in Damaskus, der zu allem eine Geschichte wusste, ob man sich nun in den Finger geschnitten, sich eine Erkältung geholt oder unglücklich verliebt hatte. Wie aber wurde der Kutscher Salim zum bekanntesten Erzähler in unserem Viertel? Die Antwort auf diese Frage ist, wie nicht anders zu erwarten, eine Geschichte.

Salim war in den Dreißigerjahren Kutscher und fuhr die Strecke zwischen Damaskus und Beirut. Damals brauchten die Kutscher zwei anstrengende Tage für die Fahrt. Zwei gefährliche Tage waren es, weil die Strecke durch die zerklüftete »Hornschlucht« führte, wo es von Räubern nur so wimmelte, die ihr Brot damit verdienten, Vorbeifahrende auszurauben.

Die Kutschen waren kaum voneinander zu unterscheiden. Sie waren aus Eisen, Holz und Leder gebaut und boten Platz für vier Fahrgäste. Der Kampf um die Fahrgäste war unbarmherzig; nicht selten entschied die härtere Faust, und die Gäste mussten, noch bleich vor Schreck, in die Kutsche des Siegers umsteigen. Auch Salim kämpfte, doch selten mit der Faust. Er setzte seine List und seine unbesiegbare Zunge ein.

Zur Zeit der Wirtschaftskrise, als die Anzahl der Fahrgäste immer weniger wurde, musste sich der gute Salim etwas einfallen lassen, um seine Familie durchzubringen. Er hatte eine Frau, eine Tochter und einen Sohn zu ernähren. Die Raubüberfälle mehrten sich, weil viele verarmte Bauern und Handwerker in die Berge flüchteten und ihr Brot als Wegelagerer verdienten. Salim versprach den Fahrgästen leise: »Mit mir kommt ihr ohne jede Schramme und mit demselben Geldbeutel an, den ihr bei der Abfahrt hattet.« Das konnte er versprechen, weil er zu vielen Räubern gute Beziehungen unterhielt. Unbehelligt fuhr er immer wieder von Damaskus nach Beirut und zurück. Erreichte er das Gebiet eines Banditen, so ließ er – von den Fahrgästen unbemerkt – mal etwas Wein, mal etwas Tabak am Straßenrand zurück, und der Räuber winkte ihm freundlich zu. Er wurde nie überfallen. Aber nach einer Weile sickerte das Geheimnis seines Erfolges durch und alle Kutscher machten es ihm nach. Auch sie hinterließen Gaben am Straßenrand und durften friedlich weiterfahren. Salim erzählte, das sei so weit gegangen, dass aus den Räubern fette, träge Sammler wurden, die niemandem mehr Angst einjagen konnten.

Die Aussicht auf sicheren Schutz vor Räubern lockte also bald keinen Fahrgast mehr in seine Kutsche. Salim überlegte verzweifelt, was er tun könnte. Eines Tages brachte ihn eine alte Dame aus Beirut auf die rettende Idee. Während der Fahrt erzählte er ihr ausführlich die Abenteuer eines Räubers, der sich ausgerechnet in die Tochter des Sultans verliebt hatte. Salim kannte den Räuber persönlich. Als die Kutsche am Ende der Reise in Damaskus hielt, soll die Frau gerufen haben: »Gott segne deine Zunge, junger Mann. Die Zeit mit dir war viel zu kurz.« Salim nannte diese Frau seine »Glücksfee«, und von nun an versprach er den Fahrgästen, vom Beginn der Reise bis zur Ankunft Geschichten zu erzählen, sodass sie die Mühen der Reise gar nicht spüren würden. Das war seine Rettung; denn kein anderer Kutscher konnte so gut erzählen wie er.

Wie schaffte es aber der alte Fuchs, der nicht lesen und schreiben konnte, immer wieder neue und frische Geschichten zu erzählen? Ganz einfach! Wenn die Fahrgäste ein paar Geschichten gehört hatten, fragte er beiläufig: »Kann jemand von euch auch eine Geschichte zum Besten geben?« Da gab es unter den Leuten immer wieder jemanden, einen Mann oder eine Frau, der antwortete: »Ich kenne eine unglaubliche Geschichte. Sie ist aber bei Gott wahr!« Oder: »Na, ja, ich kann nicht gut erzählen, doch ein Schäfer hat mir einst eine Geschichte erzählt, und wenn die Herrschaften mich nicht auslachen, würde ich sie gern erzählen.« Und natürlich ermunterte Kutscher Salim jeden, seine Geschichte zu erzählen. Er würzte sie später nach und erzählte sie den nächsten Fahrgästen. So war sein Vorrat immer frisch und unerschöpflich.

Stundenlang konnte der alte Kutscher die Zuhörer mit seinen Geschichten verzaubern. Er erzählte von Königen, Feen und Räubern und er hatte in seinem langen Leben viel erlebt. Ob er heitere, traurige oder spannende Geschichten erzählte, seine Stimme verzauberte jeden. Sie brachte nicht nur Trauer, Zorn und Freude hervor, es wurden sogar Wind, Sonne und Regen für uns spürbar. Wenn Salim zu erzählen anfing, segelte er in seinen Geschichten wie eine Schwalbe. Er flog über Berge und Täler und kannte alle Wege von unserer Gasse bis nach Peking und zurück. Wenn es ihm gefiel, landete er auf dem Berg Ararat – und sonst nirgends – und rauchte seine Wasserpfeife.

Hatte der Kutscher keine Lust zu fliegen, so durchstreifte er in seinen Erzählungen die Meere der Erde wie ein junger Delphin. Wegen seiner Kurzsichtigkeit begleitete ihn auf seinen Reisen ein Bussard und lieh ihm seine Augen.

So schmächtig und klein er auch war, in seinen Erzählungen bezwang Salim nicht nur Riesen mit funkelnden Augen und furchterregenden Schnurrbärten, er schlug auch Haifische in die Flucht und fast auf jeder Reise kämpfte er mit einem Ungeheuer.

Seine Flüge waren uns vertraut wie das anmutige Segeln der Schwalben am blauen Himmel von Damaskus. Wie oft stand ich als Kind am Fenster und schwebte in Gedanken wie ein Mauersegler über unseren Hof. Diese Flüge haben mir damals kaum Angst bereitet. Aber ich zitterte mit den anderen Zuhörern vor den Kämpfen, die Salim mit den Haifischen und anderen Meeresungeheuern zu bestehen hatte.

Mindestens einmal im Monat verlangten die Nachbarn von dem alten Kutscher, er solle die Geschichte vom mexikanischen Fischer erzählen. Salim erzählte diese Geschichte besonders gern. Darin schwamm er gerade friedlich und munter wie ein Delphin im Golf von Mexiko, als ein bösartiger Krake ein winziges Fischerboot angriff. Das Boot kenterte. Der Krake fing an, den Fischer mit seinen Armen zu umschlingen. Beinahe hätte er ihn erwürgt, wenn ihm Salim nicht zu Hilfe geeilt wäre. Der Fischer weinte vor Freude und schwor bei der heiligen Maria, wenn seine schwangere Frau einen Jungen zur Welt brächte, würde er ihn Salim nennen. – Hier hielt der alte Kutscher in seiner Erzählung immer inne, um zu prüfen, ob wir wachsam zugehört hatten.

»Ja, und was wäre gewesen, wenn sie ein Mädchen geboren hätte?«, musste die Frage lauten. Der alte Kutscher lächelte zufrieden, zog an seiner Wasserpfeife und strich über seinen grauen Schnurrbart. »Er hätte das Mädchen dann natürlich Salime genannt«, lautete seine Antwort immer.

Der Kampf mit dem gewaltigen Kraken dauerte lang.

Im Winter saßen wir Kinder in seinem Zimmer eng beieinander und zitterten voller Sorge um den Kutscher, der gegen die gewaltigen Arme mit ihren unzähligen Saugnäpfen kämpfte, und wenn es draußen donnerte, rückten wir noch enger zusammen.

Tamim, ein Kind aus der Nachbarschaft, hatte die unverschämte Angewohnheit, mich während der Erzählung plötzlich mit seinen fleischigen Fingern am Hals zu packen. Ich erschrak jedes Mal und schrie. Kutscher Salim tadelte den Miesmacher kurz, fragte mich, wo er in seiner Erzählung stehen geblieben war, und kehrte zu seinem Kampf mit dem Kraken zurück.

Gingen wir dann nach Hause, bekamen wir bei jedem Rascheln der Herbstblätter eine Gänsehaut, als lauerte der Krake dort auf uns. Der feige Tamim, der im Zimmer so tat, als beeindrucke ihn die Erzählung nicht, hatte am meisten Angst. Er musste durch unseren Hof und noch durch eine dunkle Gasse gehen. Er wohnte nämlich ein paar Häuser weiter, während ich und drei andere Kinder sogar beim Einschlafen Salims beruhigende Nähe spüren konnten. Eines Nachts war der Kampf mit dem Kraken besonders heftig. Ich war überglücklich, als ich mein Bett heil erreicht hatte. Plötzlich hörte ich Tamims Stimme. Er jammerte leise an der Tür des alten Mannes: »Onkel Salim, bist du noch wach?«

»Wer ist da? Tamim, mein Junge, was ist los?«

»Onkel, ich hab Angst, da knurrt etwas im Dunkeln.«

»Warte, mein Junge, warte! Ich komme schon. Ich muss nur schnell meinen jemenitischen Dolch holen«, beruhigte Salim ihn durch die geschlossene Tür.

Tamim stand beschämt da, weil wir alle, die nahe bei Salim wohnten, laut lachten.

»Du gehst immer einen Schritt hinter mir her, und wenn auch ein Tiger auf uns springt, hab keine Angst. Ich halte ihn zurück und du rennst nach Hause«, flüsterte der alte Mann und brachte Tamim in Sicherheit, obwohl er halb blind war und in der Nacht kaum sehen konnte. So gut wie Salim konnte keiner lügen.

Ja, Salim liebte die Lüge, aber übertreiben wollte er nie. Eines Tages saß einer der Nachbarn bei uns und hörte vergnügt die Geschichte mit dem Kraken und dem mexikanischen Fischer. Doch mitten im Kampf wollte er plötzlich wissen, wie lang die Krakenarme seien.

Salim erschreckte die Frage. »Sehr lang … mit vielen … Saugnäpfen«, sagte er etwas verwirrt.

»Wie lang waren sie? Einen Meter? Zehn Meter?«, höhnte der Nachbar. »Das weiß ich doch nicht. Ich bin nicht hingegangen, um seine Arme zu messen. Ich musste die Dinger loswerden und nicht dem Kraken einen Maßanzug schneidern«, giftete der alte Kutscher zurück, und wir lachten. Der Mann murmelte aber immer wieder etwas zwischen den Zähnen, während der Kutscher so lange auf den Kraken einschlug, bis er seine ganze Tinte ausspuckte und die Flucht ergriff, und als Salim gerade den Kampf beendet hatte und an der kubanischen Küste seine verdiente Wasserpfeife rauchen wollte, meldete sich der Mann wieder: »Dann bist du es also, der die Meere blau färbte!«

»Nein, nein, die Meere waren schon vor meiner Geburt blau. Viele tapfere Kerle kämpften mit den Kraken. Der Erste von ihnen lebte im Jahre dreihundertsiebenundzwanzig vor Adam und Eva«, sagte der Kutscher unbeirrt und zog ein paarmal an seiner Wasserpfeife. Danach setzte er seine Pause an der Küste Kubas fort.

Als ich Salim eines Tages fragte, warum seine Worte die Menschen verzaubern können, antwortete er: »Weil das ein Geschenk der Wüste ist«, und da ich nicht verstand, was er damit meinte, erklärte er es mir: »Die Wüste, mein Freund, ist für einen fremden Besucher schön. Leute, die nur für ein paar Tage, Wochen oder Monate in der Wüste leben, finden sie zauberhaft, aber auf Dauer ist das Leben in der Wüste hart. Du kannst ihr in der sengenden Hitze des Tages und der klirrenden Kälte der Nacht nichts Schönes mehr abgewinnen. Deshalb wollte niemand in der Wüste leben und sie war sehr einsam. Sie schrie um Hilfe, doch die Karawanen durchquerten sie und waren froh, wenn sie der Einöde heil entkamen. Eines Tages zog mein Urururgroßvater, er hieß auch Salim, mit seiner Sippe durch die Sahara. Als er die Hilferufe der Wüste hörte, beschloss er, dazubleiben, um die Wüste nicht allein zu lassen. Viele lachten ihn aus, da er die grünen Gärten der Städte zurückließe, um sein Leben im Sand zu suchen. Doch mein Urururgroßvater hielt treu zur Wüste. Er glaubte sein Leben lang, dass eine überwundene Einsamkeit das Paradies sei. Von nun an vertrieben seine Kinder und Kindeskinder die Einsamkeit der Wüste durch ihr Lachen, ihre Spiele und ihre Träume. Die Pferde meines Urururgroßvaters klopften mit ihren Hufen die Glieder der Wüste wach und der weiche Gang seiner Kamele brachte der Wüste Ruhe. Aus Dankbarkeit schenkte sie ihm und all seinen Kindern und Kindeskindern die schönste aller Farben: die geheime Farbe der Worte, damit sie sich am Lagerfeuer und auf ihren langen Reisen etwas erzählen konnten. So verwandelten meine Vorfahren den Sand in Berge und in Wasserfälle, in Urwälder und in Schnee. Am Lagerfeuer erzählten sie, fast verhungert und verdurstet, mitten in der Wüste vom Paradies, wo Milch und Honig fließen. Ja, sie nahmen ihr Paradies mit auf ihre Reisen. Durch das verzauberte Wort wurden alle Berge und Täler, alle Planeten und Welten leichter als eine Feder.«

In mehr als vierzig Jahren kam Salim mit seiner Kutsche nicht weiter als bis Beirut, aber mit den Flügeln seiner Worte bereiste er wie kaum ein anderer die Länder der Erde. Dass ausgerechnet er plötzlich stumm wurde, verwirrte die Bewohner seiner Gasse.

Nicht einmal seine besten Freunde konnten es glauben.

2: Warum der ruhige Gang der sieben Herren von nun an mit einer seltsamen Unruhe verfolgt wurde.

Hätte Salim auf seinen Vater gehört, wäre er ein glücklicher Händler oder Handwerker geworden wie alle seine fünf Brüder, doch er wollte unbedingt Kutscher werden. Dieser Beruf hatte damals einen sehr schlechten Ruf. Kutscher galten als rauflustige Trunkenbolde. Salim war merkwürdigerweise stolz auf sein Kutscherdasein.

Wäre Salim nur ein zauberhafter Erzähler gewesen, so hätte er den guten, aber harmlosen Ruf eines Erzählers genossen. Aber der alte Kutscher verfügte über eine zweite Fähigkeit: Er konnte Schwalben wieder zum Fliegen bringen und dies war alles andere als selbstverständlich. Über sein Verhältnis zu den Schwalben rätselten die Nachbarn und stritten miteinander. Manche führten seine Fähigkeit einfach darauf zurück, dass er gesegnete Hände hätte; andere erzählten hinter vorgehaltener Hand, er beherrsche einen Zauber, deshalb könne er sich mit den Schwalben verständigen. Durch diesen Zauber, so vermuteten sie leise und nicht ohne Furcht, war es nur ihm vergönnt, jede Schwalbe zum Fliegen zu bringen. Die meisten Erwachsenen hielten das aber alles für einen Schwindel.

Diese herrlichen Segler, die den Himmel über Damaskus mit ihren Rufen und graziösen Flügen schmückten, nisteten unter unseren Dächern. Immer wieder fanden wir eine Schwalbe, die aus irgendeinem Grund aus dem Nest gefallen war und hilflos auf dem Boden flatterte. Schwalben verweigern jede Nahrung, solange sie nicht fliegen können. Hätte es den Kutscher Salim nicht gegeben, wären sie verhungert. Wir Kinder brachten die Schwalben zu ihm, und wirklich nur zu ihm, und Kutscher Salim ließ alles liegen, nahm den zitternden Vogel in seine große Hand und ging auf die Terrasse. Was er der Schwalbe dort zuflüsterte und warum er sie küsste, war sein Geheimnis. Keiner konnte es ihm nachmachen. Er gab dem Himmel seinen besten Akrobaten zurück. Die Schwalbe jagte davon und manchmal dankte sie dem alten Mann mit einer eleganten Schleife über seinem Kopf.

Viel wussten die Leute nicht über Salim. Er erzählte selten von sich. Wenn, dann war das so märchenhaft, dass keiner genau wusste, ob er nun von sich oder einem seiner Helden sprach. Man sprach von Salim, dem Kutscher, und viele wussten nicht einmal, dass er Bussard mit Nachnamen hieß.

Die Bussard-Familie gehörte zu den Nomaden der arabischen Wüste. Nach einem gescheiterten Aufstand gegen den osmanischen Sultan im 18. Jahrhundert wurde die Sippe zerschlagen und umgesiedelt. Der Großvater des Kutschers wurde bis zu seinem Tod in Damaskus gefangen gehalten. Nach seinem Tod blieb die Familie in Damaskus; sie durfte Damaskus nicht verlassen. Salims Vater lernte das Handwerk der Gerberei und brachte es zu Wohlstand. Seine kleine Gerberei übernahm der älteste Sohn. Zwei Söhne handelten mit Lederwaren. Ein Sohn wurde Schneider. Ein anderer wurde Goldschmied, starb aber sehr früh an Pocken. Salim, der jüngste, bekam den Namen seines Urururgroßvaters. Von Kind auf war er die Unrast in Person und machte seinen Eltern mehr Kummer als alle fünf Brüder zusammen. Manchmal verschwand er für Wochen und Monate, kam zerlumpt zurück und lachte sich schief über die Strafen der Eltern. Statt ein Handwerk zu lernen, hing er als Laufbursche bei den Kutschern herum. Von einer Karawanserei zur anderen führte ihn sein Weg durch ganz Arabien, die Türkei und Persien. Man munkelte gar in der Gasse, dass er einem Meister der Schwarzen Kunst in Marokko ein Jahr lang als Lehrling zur Hand ging. Fragte man Salim danach, so lachte er verschmitzt, aber er wusste genauer als jeder Geografielehrer Bescheid über die Wohnorte und das Leben der Berber in Marokko.

Dreißig Jahre lang verdiente Salim das Brot seiner Familie mit der Kutsche. Als später sein Sohn nach Amerika auswanderte und seine schöne Tochter mit ihrem reichen Mann in den Norden des Landes zog, lebte Salim mit seiner Frau in einem kleinen Zimmer. Kutscher bekamen keine Rente. Im Gegensatz zum geliebten Sohn, der nur Briefe, aber keinen einzigen Dollar schickte, ließ die Tochter ihren Eltern eine kleine Rente zukommen.

Salims Frau Zaide war eine stille Person. Sie lebte leise.

Erst als sie gestorben war, erfuhren die Nachbarn von Salim, was für eine feurige und mutige Frau sie gewesen war. Der Kutscher erzählte sogar, dass sie ihn einmal, verkleidet als schwarzer Reiter, aus den Händen von sieben bewaffneten Soldaten gerettet hätte, die ihn wegen Fahnenflucht gefangen genommen hatten. Sicher war nur, dass der Kutscher keinen Militärdienst geleistet hatte, dass aber die kleine Zaide sieben Soldaten verscheucht hätte, vermochte keiner in der Gasse zu glauben.

Jeden Abend besuchten sieben Freunde den alten Witwer. Es waren gleichaltrige Männer, so um die siebzig. Der Koloss der Runde, der fast allein das Sofa füllte, war ein Schlosser namens Ali. Der Geografielehrer Mehdi war als Letzter zu den alten Herren gestoßen, und obwohl das acht Jahre her war, nannten ihn die übrigen immer noch »unser Neuling«. Musa, ein etwas dicklicher, kleiner Friseur, war der Einzige in der Runde, der sich immer bemühte, seine siebzig Jahre durch das Färben seiner Haare zu verleugnen. Der Vornehmste der Runde war der ehemalige Minister Faris. Er hatte kurze Zeit nach der Unabhängigkeit des Landes das Wirtschaftsministerium inne und wurde wegen seiner radikalen Reformen im Volksmund seither »der rote Pascha« genannt. Tuma, der Fünfte in der Runde, wurde »Emigrant« genannt, obwohl er vor über zehn Jahren aus Amerika zurückgekehrt war. Junis, der Kaffeehausbesitzer, war der Einzige in dieser Herrenrunde, dem alle anderen dankbar waren. In seinem Kaffeehaus hatten sie sich im Laufe der Jahre kennengelernt; nur Salim und der Schlosser Ali wohnten in derselben Gasse. Jahrelang war das Kaffeehaus ihr Treffpunkt gewesen. Es war weit und breit das einzige Kaffeehaus, wo man einen echten jemenitischen Mokka und eine anständige Wasserpfeife serviert bekam. Seit aber Junis’ Sohn das alte orientalische Café zu einer blitzenden, modernen Gaststätte gemacht hatte, ging keiner von ihnen mehr hin.

Der Siebte in der Runde war ein kleiner Mann namens Isam, der vierundzwanzig Jahre lang für einen furchtbaren Mord gesessen hatte, den er nicht begangen hatte. Ein Jahr vor seiner Entlassung wurde der wahre Mörder durch Zufall gefasst. Er war trotz seiner siebzig Jahre die Unrast in Person, als wollte er in den übrig gebliebenen Jahren seines Lebens alles nachholen, was ihm im Gefängnis entgangen war. Von montags bis donnerstagnachmittags zog er einen kleinen Karren mit Gemüse durch die entlegenen Viertel der Stadt. Auf dem Freitagsmarkt handelte er mit Singvögeln. Samstags und sonntags verkaufte er vor den Kinos warme Kichererbsen.

Salim mochte Ali am liebsten. Der Schlosser erzählte sehr wenig, hörte aber gern zu. Vielleicht war er die Ergänzung zum redseligen Kutscher. Das war aber nicht der einzige Grund. Salim lobte den Schlosser als den tapfersten Kerl der Straße. Er war sehr schweigsam, doch lachte er aus dem geringsten Anlass. Anfang der Vierzigerjahre soll er einen französischen General mitten auf der Straße geohrfeigt haben. Damals hielten die Franzosen das Land besetzt. Man erzählte, dass er das tat, weil der General betrunken war und sich über den Propheten Mohammed, der den Alkohol verboten hat, lustig gemacht hatte. Ali sprach nicht gern darüber. Doch Kutscher Salim erzählte, dass der General sich an Ali fürchterlich gerächt habe. Er ließ ihn verhaften und in eine Kaserne bei Damaskus bringen. Dort ließ er ihm mit Trichter und Schlauch drei Liter Rotwein in den Magen füllen und ließ ihn dann in der sengenden Sonne an einen Pfahl binden. Als Ali in Ohnmacht fiel, schleiften ihn die Soldaten aus der Kaserne und warfen ihn in einen entlegenen Straßengraben. Ali wurde von einer vorbeiziehenden Bauernfamilie aufgelesen. Natürlich wussten die nicht, was mit ihm los war; denn sie hatten nie von einer Alkoholvergiftung gehört. Die alte Bäuerin aber brachte ihn mit Olivenöl, Joghurt und Essig zum Erbrechen und rettete ihm damit das Leben. Er musste aber tagelang bei ihnen liegen, um zu Kräften zu kommen. Seine Familie erfuhr von seiner Verhaftung und fragte in der Kaserne nach ihm. Sie bekam nur die zynische Antwort: »Hier ist er nicht, vielleicht ist er beim Propheten.« Als Ali wieder bei Kräften war, schämte er sich, nach Hause zu gehen. Er lauerte lange vor einem Nachtlokal auf den General und schlug ihn zusammen. Nur wie durch ein Wunder überlebte der General seine Verletzungen. Ali musste in die Berge flüchten. Dort blieb er auch, bis die Franzosen vier Jahre danach das Land verließen. Nur Kutscher Salim kannte sein Versteck und brachte ihm unbemerkt Woche für Woche Essen, Kleider und die neuesten Nachrichten.

Die sieben Freunde kamen Abend für Abend. Ob es regnete oder die Armee putschte, sie waren kurz vor acht da und gingen erst nach Mitternacht nach Hause. Erkrankte einmal einer und erschien nicht, so brachten seine Frau oder eines seiner Enkelkinder oder ein Nachbarskind eine ausführliche Erklärung. Erkältungen und ähnliche Lappalien galten nicht.

Ich war das einzige Kind der Nachbarschaft, dem der Kutscher erlaubte, dazubleiben, wenn die alten Herren kamen. Dafür musste ich oft für sie den Laufburschen spielen. Das war bei den alten, vergesslichen Männern nicht immer schön. Der Emigrant vergaß oft seine Tabletten und manchmal seine Brille, der Kaffeehausbesitzer seinen Schnupftabak und der Minister nicht selten seine vornehmen Taschentücher; keine anderen wollte er haben. Manchmal musste ich im Regen zu ihren ziemlich weit auseinanderliegenden Häusern rennen, um diese lästigen Botengänge zu erledigen. Nur Kutscher Salim schickte mich nirgendwohin. Aber ihm musste ich einmal zuvor hoch und heilig schwören, kein Wort von dem preiszugeben, was ich in seinem Zimmer jemals hören würde. Ich schwor bei der Seele meiner Großmutter Nadschla, die ich mehr liebte als alle Heiligen zusammen, dass ich jedes Wort für mich behalten würde. Doch außer der neugierigen Nachbarin Afifa interessierte sich kaum einer für das, was die alten Herren beredeten, und Afifa, dieser Radiostation auf zwei Beinen, hätte ich auch ohne Schwur nichts erzählt, selbst wenn sie mich mit Schokolade aufgewogen hätte.

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die alten Herren mich hinausschickten, um für eine kurze Zeit etwas freier aus der Seele reden zu können. Ich tat so, als verstünde ich nicht, weshalb der eine sich zum dritten Mal an einem Tag Tabak holen ließ oder der andere nach einer Stunde eine zweite Tablette brauchte. Am schlimmsten war der Minister. Er konnte, wann immer er auch wollte, auf Befehl niesen und sein Taschentuch vollrotzen. Draußen blieb ich dann unter dem Fenster stehen und lauschte den geheimen Erzählungen, die gewöhnlich mit dem Satz anfingen: »Jetzt, wo der Junge weg ist …«

Die sieben Freunde kamen täglich. Ihr Besuch wurde mit den Jahren zu einer der tausend Gewohnheiten unserer Gasse. Niemand, aber auch wirklich niemand beachtete ihren Gang zum alten Kutscher Salim. Er gehörte zum Alltag wie die Rufe der Kinder und der Schwalben, die täglich den Himmel der Gasse erfüllten. Das änderte sich plötzlich, als Kutscher Salim seine Stimme verlor. Er, dessen kleines Zimmer sich durch den Zauber seiner Worte in ein Meer, eine Wüste oder einen Urwald verwandelte, wurde von heute auf morgen stumm.

Der stumme Kutscher wurde zum einzig wichtigen Gespräch der Straße. Der Gang der alten Herren wurde mit neugierigem Interesse, ein Fremder würde sogar sagen, mit Ehrfurcht verfolgt. Doch da ich meine Gasse kenne, zweifle ich daran, dass ihre Bewohner jemals Ehrfurcht vor jemandem empfunden haben. Aber neugierig waren sie allemal. Kurz, über Salims seltsames Verstummen rätselte die ganze Straße. Mich erfüllte es mit Sorge. Von nun an ging ich täglich zu ihm und ließ mich von niemandem mehr hinausschicken.

3: Wie der alte Kutscher seine Stimme verlor und seine Freunde ins Gerede brachte.

Der August hat im Volksmund den Beinamen »der flammende«, Damaskus liegt den ganzen Tag unter einer Feuerglocke. Die Temperatur klettert im Schatten über vierzig Grad. Was sollen die armseligen Ventilatoren da noch bewirken? Sie wirbeln hoffnungslos die warme Luft umher. In den anderen Monaten schafft es die Nacht, die gewünschte Kühlung zu bringen, aber nicht im August. Die Erde bleibt auch dann noch warm, und die Farbsäule im Thermometer bleibt wie festgesogen bei dreißig Grad stehen, sodass die Menschen kaum schlafen können. Schon eine Stunde nach Sonnenaufgang schnellt die Temperatur wieder in die Höhe.

Eines Nachts, im August 1959, wachte Salim plötzlich auf. Er war schweißgebadet. Als er sich im Bett aufgerichtet hatte, spürte er, dass irgendjemand im Zimmer stand. »Wer ist da?«, fragte er.

»Endlich bist du wach geworden«, antwortete eine Frauenstimme erleichtert. Es war stockdunkel, aber der Kutscher spürte die kleine Hand der Frau, die sein Gesicht berührte. Sie duftete nach Orangenblüten. »Ich komme, mein liebster Freund, um mich von dir zu verabschieden.«

»Verabschieden! Wer bist du?«, fragte Salim, da er die Stimme nie zuvor gehört hatte.

»Ich bin deine Fee, die aus deinen staubigen, hölzernen Wörtern einen märchenhaften Baum der Worte machte. Denkst du wirklich, du könntest so lange Geschichten erzählen, wenn ich dir nicht seit über sechzig Jahren treu zur Seite gestanden hätte? Wie oft habe ich dir eine Brücke geschlagen, wenn du den Faden verloren hattest! Du bist wirklich der beste Erzähler in Damaskus. Manchmal aber hast du es übertrieben, du hast deine Geschichten so verschachtelt, dass du selber nicht mehr wusstest, in welcher Geschichte du dich befandest. Vor allem beim mexikanischen Fischer. Obwohl du die Geschichte dreihundert Mal erzählt hast, hast du immer wieder im Rausch deines Sieges über den Kraken vergessen, dass du eigentlich auf dem Weg nach Kuba warst, um die schwarze Perle zu holen, mit der du das Leben einer Prinzessin retten wolltest. Du hast deine Wasserpfeife geraucht, und ich zitterte, bis du den Faden wiedergefunden und deinen Zuhörern erzählt hattest, wie du zur schwarzen Perle kamst und wie du die Prinzessin gerettet hast, um dann mit ihr nach Damaskus zurückzukehren, wo die Geschichte angefangen hatte. Oft war ich danach erschöpft, doch es beglückte mich, deinem Herzen ein Lächeln der Erleichterung entlockt zu haben. Es waren harte Jahre der Arbeit mit dir, mein Freund!« Die Frau hielt eine kurze Weile inne. »Nun bin ich, genau wie du, alt und grau geworden und setze mich zur Ruhe. Wenn ich aber meinen Ruhestand beginne, wirst du verstummen. Ich habe dich immer geliebt, Salim. Deine Stimme und deine Hände kitzelten immer mein Herz wie eine kleine Feder. Ich habe deshalb den Feenkönig um Gnade gebeten und unser König war gnädig. Er lachte. ›Ja, ja‹, sagte er, ›ich weiß, du bist schon immer in diesen komischen Kutscher verliebt gewesen, gehe zu ihm und teile ihm unsere Bedingung mit.‹«

»Was für eine Bedingung?«, fragte der alte Kutscher mit trockener Kehle.

»Du hast nach deiner Frage nur noch einundzwanzig Wörter. Danach wirst du stumm sein. Wenn du aber sieben einmalige Geschenke in drei Monaten bekommst, dann wird eine junge Fee mich ablösen und dir zur Seite stehen. Sie wird deine Zunge von der Stummheit befreien, und du wirst erzählen, bis zum letzten Tag deines Lebens. Du kannst deine Geschichten verschachteln, so viel du willst – sie ist sehr jung und kann dir mühelos folgen.

Vergeude deine Wörter nicht, Salim, mein Geliebter.

Wörter sind Verantwortung. Frage mich nicht weiter, die Geschenke musst du herausfinden, denn der Feenkönig hat sie nicht einmal mir verraten. Überlege dir genau, was du sagst, du hast nur noch einundzwanzig Wörter!«

Der Kutscher Salim, den die uralte Stadt Damaskus geprägt hat, hielt zeit seines Lebens keinen Preis für endgültig und kein Angebot für göttliches Gebot. »Nur einundzwanzig Wörter?«, flüsterte er in einem Ton, der das Herz des schlimmsten Basarhändlers hätte erweichen können.

»Es sind nur noch achtzehn!«, antwortete die Fee streng, öffnete die Tür und entschwand in der Dunkelheit. Salim sprang aus dem Bett und eilte hinter ihr her. Ein Nachbar kam gerade aus seinem Zimmer und wollte auf die Toilette gehen. »Gott! Was für eine Hitze! Du kannst auch nicht schlafen, Onkel?«, fragte er den verwirrten Kutscher.

»Nein«, antwortete Salim und verfluchte sich, dass er wieder ein Wort unnütz verloren hatte. Die ganze Nacht ging er in seinem kleinen Zimmer auf und ab, immer wieder schaute er zum Fenster hinaus, bis der Morgen dämmerte. Er kochte sich einen Tee, kaute bedächtig ein Stück Brot, und als die Turmuhr der nahen Kirche achtmal schlug, ging er mit müden Schritten aus seinem Zimmer. Die Nachbarn wunderten sich über die schlechte Laune des alten Kutschers, der nicht einmal ihren Gruß »Glücklich und gesegnet soll dein Tag sein!« erwiderte.

An der Haustür hielt der alte Kutscher inne. Zwei Straßenkehrer gingen an ihm vorbei. Der eine verspritzte Wasser aus einem großen Lederbeutel, den er auf dem Rücken trug, um möglichst wenig Staub beim Kehren aufzuwirbeln, doch die Wassertropfen rollten, von Staub umhüllt, wie winzige Murmeln in die vielen Mulden der Gasse. Der andere kehrte mit einem großen Reisigbesen hinter dem Wasserspritzer her. Mit kleinen Schritten arbeitete er sich durch den Staub vorwärts. Salim wartete, bis sich der Staubwirbel hinter den Straßenkehrern beruhigt hatte, und schritt langsam zu seinem Freund Ali. Der Schlosser wohnte ein paar Häuser weiter.

Salim klopfte an die Haustür und wartete. Nach einer kurzen Weile schaute ein kleines Mädchen den alten Kutscher verstohlen durch den Türspalt an. »Onkel Salim!«, rief sie in das Hausinnere, ließ die Tür offen und rannte hinein. Fatmeh, die dickliche Frau des Schlossers, eilte zur Tür, entschuldigte sich für das Benehmen der scheuen Enkelin und lud den Freund ein. Aber er blieb zu ihrer Verwunderung stehen, fuchtelte mit der Hand und wehrte sich gegen die aufdringliche Einladung. »Aber, Salim, was ist mit dir? Ali liegt noch im Bett, unser kleiner Nabil hat Fieber und er möchte jeden Morgen zu seinem Opa ins Bett kriechen.«

Salim deutete an, dass er vor der Tür warten würde, bis sein Freund käme. Es fiel ihm schwer, der Frau zu erklären, dass er nicht reden und leichtsinnig Worte verlieren wolle. Der Frau fiel es noch schwerer, den fuchtelnden, seltsam anmutenden alten Kauz zu verstehen. Endlich hörten beide das Klappern der hölzernen Hausschuhe des Schlossers, der schon auf dem Korridor brüllte: »Ja, was ist das? Mein Salim ist heute scheu wie eine junge Braut?« Er lachte, als seine Frau beim Hineingehen flüsterte, dass irgendwas mit Salim nicht stimme. »Geh hinein und stell die Kaffeekanne aufs Feuer. Er will nur von mir eingeladen werden. So gehört es sich auch!« Ali schaute mit einem breiten Lächeln seinen Freund an und wunderte sich noch mehr als seine Frau, dass dieser auf seine Einladung überhaupt nicht einging. Salim versuchte verzweifelt, dem alten Schlosser wortlos zu erklären, dass er heute Abend unbedingt zu ihm kommen müsse.

Nach einer Weile verstand Ali die Handbewegungen seines Freundes. Trotz aller Anstrengung konnte er nicht dahinterkommen. warum Salim diese Selbstverständlichkeit zu betonen versuchte und warum er überhaupt nicht sprach.

Noch schwerer fiel es dem alten Kutscher, seinen anderen Freunden zu erklären, dass sie auf jeden Fall zu ihm kommen sollten. Erst gegen Mittag war er mit seiner schwierigen Mission fertig. Er nahm ein Stück Brot und ein paar Oliven zu sich und legte sich eine Stunde hin, um sich von der Anstrengung der Haustürbesuche im alten Stadtviertel zu erholen.

Schon am frühen Nachmittag kamen die sieben Freunde. Sie waren voller Sorge um den Verstand ihres Freundes, saßen beieinander und starrten Salim an, der ruhig wie immer erst den Tee einschenkte und danach den Schlauch der frisch vorbereiteten Wasserpfeife dem Ältesten der Runde, dem Emigranten, übergab, wie die Sitte es vorschrieb.

»Nun, was ist mit dir, Bruder Salim?«, brach der ehemalige Minister das Schweigen.

Salim sprach sehr langsam. In siebzehn Wörtern gab er die Mitteilung der Fee wieder. Er wollte noch hinzufügen, dass er selbst daran nicht glaube, konnte aber keine Silbe mehr über die Lippen bringen. Auch als der Friseur ihn zwickte und kitzelte und Salim schreien und lachen wollte, konnte er keinen Ton herausbringen. Sein Gesicht wurde blass und er fasste sich an die Kehle.