Thorsten Nesch

Der
Drohnenpilot

»Der Drohnenpilot« wurde gefördert durch das Arbeitsstipendium für Autoren und Autorinnen des Landes Nordrhein-Westfalen 2014

© mixtvision Verlag, München 2015
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Innentypographie und -gestaltung: Veronika Preisler, München
Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge, Zürich, unter Verwendung von © Shutterstock/Aaron Amat
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
E-Book Herstellung: mixtvision Digital
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Das Zitat auf S. 116 stammt aus »Tropfen« von Etgar Keret in
der Übersetzung von Barbara Linner aus »Gaza Blues«, erschienen im Luchterhand Literaturverlag, München 2002.

ISBN 978-3-95854-957-9 (epub)
ISBN 978-3-95854-956-2 (mobi)

Mein Dank an:

Pia Mortensen, Max Wuerden,
Christine Weihermüller vom Zentral Antiquariat,
Peter Bogmer, Jochen Rother, Stan Lafleur,
Stefan von Hatten, den Netschmied Henry Matzerath für meine Homepage, Mario Todisco
und meine Familie

.01

Vor meiner XT-17 tauchte am Horizont das Gebirge von Amai auf. Dort in einem Tal lag mein Ziel, das Hauptquartier der Terroristen. Blitze zuckten stumm in den Wolken, die sich über der Bergkette auftürmten, als wollten sie nach den Sternen greifen.

Ein Gewitter, wie bestellt. Konnten die das Wetter zu ihren Gunsten beeinflussen? Wenn die XT-17 eine Schwäche hatte, war es die Anfälligkeit des Bordcomputers gegen die statische Aufladung einer Gewitterfront. Die elektrischen Entladungen störten die Technik, da spielten die Instrumente oft verrückt. Auf den Höhenmesser konnte ich mich bald nicht mehr verlassen. Im schlimmsten Fall hieß das: Sichtflug.

Zeit für einen Rundumcheck. Blind fanden die Finger meiner linken Hand das Keyboard, die andere steuerte mit dem Joystick die schwer bewaffnete XT. Daumen und Zeigefinger pressten die Tastenkombination zur ­Anwahl der verschiedenen Bordkameras. Zuerst schaute ich auf das Gebiet, das ich soeben überflogen hatte. Dunkle Rauchsäulen schraubten sich schräg in den Kriegshimmel über dem Dorf mit dem unaussprech­lichen Namen. Unter mir kroch die karge braune Landschaft dahin, Felder, Krater, ausgebrannte Lastwagen und Spähpanzer, und über mir verdunkelten die Aus­läufer des Unwetters meine Sicht. Ich konzentrierte mich wieder darauf, was vor mir geschah. Hauptsache kein Feindkontakt. Zwei Minuten bis Amai.

Blitze und Donner zeigten bereits ihre Wirkung. Lediglich abgehackt und verzerrt erreichten mich die gegen den Kampflärm gerufenen Anweisungen der Aufklärungseinheit am Boden, die das Hauptquartier entdeckt hatte und mich bei meiner Mission unterstützen sollte. Es krächzte und zischte in meinen Ohren und ich lüftete die linke Kopfhörermuschel, um besser hören zu können. Das Plastikleder klebte an meiner feuchten Haut. Die Anspannung trieb mir den Schweiß aus den Poren.

Plötzlich hämmerte ein Flugabwehrgeschütz los, dem Geräusch nach zu urteilen musste ich mich direkt über ihm befinden. Ich checkte die Bodenkamera, nichts, Hecksicht, nichts, ein feindliches Flugzeug?

Mir wurde der Kopfhörer heruntergerissen. Ich zuckte zusammen.

Von wegen Flak. Mein Vater!

Mit einer Hand hielt er das Headset, mit der anderen Faust trommelte er gegen meine offenstehende Zimmertür. »Essen, Darius, Essen!«

»Mann!«, schrie ich auf, ließ den Joystick los und trümmerte den Shortcut für den Autopiloten ins Keyboard, als könnte das etwas dafür.

»Ich hab dich zig Mal gerufen.«

In meinem Kopf tickte ein Countdown runter, eine Minute fünfundvierzig Sekunden bis Amai. »Gleich!«

»Gleich ist das Essen kalt.«

»Gleich bin ich im Ar…«

»Ah! Darius, deine Sprache!«

»Mein Headset!«

Das Kabel spannte sich straff und verdreht vom ­Computer an mir vorbei bis zu meinem Vater. Ich hörte die Schreie der Jungs am Boden durch den Kopfhörer, Schüsse, Explosionen, sie hatten Feindkontakt.

»Deine Suppe.«

»Suppe?«

Eine Minute dreißig. Jemand brüllte nach einem Sanitäter.

»Mit Mettwürstchen heute, die waren im Angebot.«

Ich lachte kirre auf. »Na und? Ich … lass mich …«

»Nein. Hast du überhaupt gefrühstückt?«, fragte er.

Ich zeigte auf die angebrochene Packung Marzipanschokolade neben meiner leeren Tasse Cappuccino und der Schachtel mit dem Würfelzucker.

»Mittagessen, jetzt.«

Eine Minute zehn. Ein rascher Blick: In fünfzig Se­kunden müsste ich den Autopiloten abschalten, oder die Möhre würde automatisch nach oben ziehen und ins ­Gewitter fliegen. Bei den Turbulenzen bedeutete das Selbstzerstörung.

»Eine Viertelstunde?«

»Nein! Ich koche doch nicht, damit es kalt wird, nur weil mein Sohn am Computer spielen will.«

»Ich bin gleich durch!«

»Ich auch, Darius. Und morgen schmeiße ich die ­Sachen einfach zusammen und rühr um, ohne sie zu ­kochen, fertig. Sparen wir uns wenigstens die Strom­kosten.«

»Gut. Gib mir … Kann ich mein Headset zurück … Bitte.«

Das magische Wort.

»Nein.«

Entzaubert.

Statisches Krächzen zwischen uns, hysterische Befehlsfetzen, schwerer Beschuss.

Mein Vater machte keine Anstalten, mir den Kopf­hörer zurückzugeben, er wartete einfach nur.

Ich stand auf, blieb mit meiner Jeans am Kabel hängen, und bevor ich es verhindern konnte, riss das Kopfhörerkabel aus der Buchse und fiel zu Boden.

»Da! Jetzt zufrieden?«, fragte ich und griff nach dem toten Headset.

Er zog es zurück.

»Hey!« Ich hob das Kabelende auf.

»Ich wünschte, du würdest dieselbe Energie bei der Jobsuche an den Tag legen.«

»Ich könnte das Gleiche zu dir sagen.«

»Nicht frech werden.«

Ich kam mir blöd vor, wie ich so da stand mit dem ­Miniklinkenstecker in meiner Hand und er mit dem Kopfhörer. Das Kabel hing zwischen uns durch, als würden ein paar Grundschulkinder auf jemanden warten, der mit ihnen Seilspringen spielt.

Mein Kopf wirbelte herum.

»Darius.«

Die rote Warnlampe blinkte, noch dreißig Sekunden bis zur empfohlenen Abschaltung des Autopiloten.

»Darius.«

Ich schaute auf meinen alten Schreibtischstuhl, dessen Armlehnen ich mit Hockeytape fixiert und mit zwei Winterpullovern gepolstert hatte. Ein Ärmel zeigte schlaff auf den blauen Teppich meiner Kindheit mit den auf­gedruckten Segelbooten, der passenderweise seit Jahren Wellen schlug, genau genommen regelrechte ­Tsunamis. Darüber trieben gebrauchte Socken, T-Shirts, Papierschnipsel und Flusen, wie das Treibgut eines längst gesunkenen Schiffes. Ich könnte darin ertrinken, das habe ich mir als Kind schon immer vorgestellt.

»Zieh doch wenigstens mal die Vorhänge auf.«

»Ja.«

»Lüften.«

»Ja.«

»Hier müffelt es richtig.«

Ich schaute ihn an. Seine Schultern hingen herunter, ein Hemdknopf offen in der Mitte, seine grauen Haare und die Ränder unter den Augen, die Falten an seinem Hals, abgenommen hatte er.

Was für ein Gedanke. Dass ich ihm das überhaupt ansah. Ich war siebzehn, in dem Alter sollte man so was gar nicht bemerken, meine Antennen waren verbogen.

Er warf mir den Kopfhörer zu. »Komm jetzt, ja?!«

Ich fing ihn umständlich, und hätte sich das Kabel nicht in meinem Kupferarmband am linken Handgelenk verfangen, wäre er in das Teppichmeer gefallen. Grobmotorisch befreite ich das Headset.

»Ich bin in der Küche«, hörte ich ihn leise sagen.

Auf dem Bildschirm geriet die XT ins Trudeln.

Was war oben, was unten?

Nebelschwaden huschten vorbei, Blitze zuckten, Leucht­spurketten, Abwehrfeuer. Als ich wieder am Keyboard saß, zerschellte die XT oder wurde getroffen, das konnte ich nicht genau erkennen. Game over.

*

Nicht mal zehn Minuten, und ich hätte Raid durch­gespielt. Hinter mir lagen fünf Stunden ausgeführte Operationen und Missionen, als mein Vater hereingeplatzt war.

Raid wurde von seinen Entwicklern so programmiert, dass man als Spieler nicht dauernd seinen Zwischenstand speichern konnte, sondern nur an zehn verschiedenen Orten, und jede Map dauerte etwa, bei Aus­führung aller Vorgaben, vier bis fünf Stunden. Das war das siebte Mal, dass ich Amai in Angriff genommen hatte. Die letzte Map. Dank meines Vaters hatte ich eine weitere Chance vertan, Raid abzuschließen. Stattdessen Gemüsesuppe. Mit Mettwürstchen.

Mein Vater pustete auf seinen Löffel, obwohl die ­Suppe sicherlich nicht heißer war als meine, als würde es generell zur Etikette gehören.

Ich erwischte mich selbst dabei. Vielleicht nur aus ­Verlegenheit, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, weil wir überhaupt wenig beim Essen redeten; und ­eigentlich sprachen wir auch wenig miteinander, wenn wir nicht aßen. Deswegen war ich noch ganz platt von der Szene vorhin in meinem Zimmer. Soviel hatten wir an einem Stück seit Wochen nicht miteinander gesprochen, er hatte mir das Headset vom Kopf gerissen. Für seine Verhältnisse verdammt viel Action.

Jetzt fühlte sich alles wieder an wie immer, schüchtern kratzten die Löffel über das Porzellan, wenn sie den ­Tellerboden berührten.

Mein Vater saß rechts von mir auf seinem Stuhl, ich auf der Eckbank mit dem Rücken zur Wand, der Platz meiner Mutter vor dem Fenster blieb leer. Man sollte sich beim Essen gegenübersitzen und nicht wie in einem Theaterstück über Eck, aber ich konnte nicht auf ihrem Platz sitzen. Noch nicht.

Dem alten Kühlschrank lief ein Schauer über den Rücken, der seinen Inhalt aneinanderscheppern ließ, bevor er sich zu unserem Schweigen gesellte.

Ich umkrampfte meinen Löffel fester. Ich könnte auch einfach meinen Kopf in die Suppe tunken und schreien.

Dabei konnte mein Vater gar nichts dafür, er gab sich richtig Mühe, in unserem finanziellen Rahmen. Das Grundeinkommen, welches seit drei Jahren jedem ausgezahlt wurde, reichte für uns – nur Extras leisteten wir uns nicht. So nannte er das, wenn ich ihn nach Kohle für neue Klamotten fragte. Irgendwann hatte ich aufgehört zu ­fragen.

Seine Arbeit verlor er, als ich noch zur Grundschule ging, ebenso meine Mutter. Wir kamen mit dem Geld hin, bis sie krank wurde. Ihren Anteil benötigten wir im ­letzten Jahr, um die Rechnungen für die Taxifahrten zu Ärzten, für nicht verschreibungspflichtige Medikamente und Spezialwindeln zu begleichen.

Vor zwei Monaten hatte ich meinen Abschluss an der Edward-Snowden-Gesamtschule gemacht, nur um danach keinen Ausbildungsplatz zu bekommen. Mit einer Ausbildung oder einem Job könnte ich zum Grundi ­dazuverdienen. Das würde ich auch gerne, aber einer wie ich hatte keine Wahl. Entweder man kannte je­manden, der einem eine Stelle besorgte – und wir kannten niemanden, weil mein Vater seit zehn Jahren nicht gear­beitet hatte, zwei Jahre Mutter gepflegt hatte und seit ihrem Tod keinem Hobby außer Flatscreening nachging. Oder man arbeitete in der Pflege, nur da gab es Jobs. Aber das konnte ich nicht. Beim besten Willen nicht.

Ich schluckte den letzten Löffel Suppe.

Mein Vater sog Luft ein und sagte: »Gibt gutes Wetter morgen«, begleitet von einem Lächeln, mit dem man ­einen Zahn vereisen konnte, bevor man ihn zieht.

Er kratzte sich am Kopf. Seine graue Matte bräuchte mal wieder einen Haarschnitt. Mich hätte es nicht gewundert, wären in den letzten zwei Jahren auch seine Augen grau geworden.

»Was hast du heute noch vor?», fragte er mich.

»Ich weiß nicht.«

Aber das war eigentlich gelogen. Was wiederum un­nötig war, so unnötig wie seine Frage.

*

Ich wischte mein Device aktiv, Uhrzeit, Wetter und Apps erschienen. Evelyn war schon fünfzehn Minuten zu spät. Um die Straße so weit wie möglich hinunterschauen zu können, lehnte ich mit der Schläfe an der Raufasertapete neben meinem Fenster. Öffnen wollte ich es nicht, dann hätte Evelyn mich aus der Ferne entdeckt, wenn sie den Bürgersteig auf der anderen Seite nahm, und das musste nicht sein. Wenn ich ihr entgegengehen würde, sollte das zufällig aussehen.

Wir waren seit Silvester zusammen. Als das Feuerwerk losging, stieß ich mit meinen Eltern an, mit Sekt. Wir haben einander umarmt und danach bin ich raus. Meine Mutter konnte nicht mehr hoch und mein Vater wollte sie nicht allein lassen.

Mein Vater meinte, ich solle ruhig auf die Straße gehen, mir das Feuerwerk angucken. Meine Mutter schloss zustimmend die Augenlider und ich wartete keine Se­kunde länger, hielt vor ihnen meine Tränen zurück, ­trocknete sie im Treppenhaus und flog förmlich aus der Haustür.

»Frohes Neues Jahr, Darius«-Wünsche prasselten von links und rechts auf mich ein, als würden sie zum ­Feuerwerk gehören. Frau Stresemann stand da mit der Oma von nebenan, die Kerimoglus, Familie Juarez, die Nwankwos und etliche, von denen ich nur die Gesichter kannte. Und alle setzten meinen Namen hinter ihren Neujahrswunsch wie eine verbale Bekreuzigung. Sie hielten das wohl für eine Zauberformel, die das Elend der Welt von ihren Lieben abhalten könnte. Zu gönnen wäre es ihnen.

Ich lief fünfzig Meter die Straße runter vorbei an zahllosen Flaschen, aus denen Raketen gen Himmel stiegen, und im dichten Schwefelqualm um mich herum ex­plodierten Böller und Knallfrösche, denen ich auswich, indem ich Haken schlug oder hochsprang.

Als neben mir auf dem Bürgersteig eine ganze Salve Raketen aus einem leeren Bierkasten abgefeuert wurde, blieb ich stehen und schaute ihnen nach, wie sie in den orange lodernden Nachthimmel stiegen und in allen Farben explodierten. Am liebsten hätte ich mich an einer von ihnen angebunden.

Jemand tippte mir auf die Schulter.

»Happy New Year!«, sagte Evelyn, ohne meinen Namen, aber mit einem Lächeln und anschließender Um­armung.

»Happy New Year«, sagte ich und versuchte, ihr dabei trotz des Lärms nicht ins Ohr zu schreien, obwohl mir danach war. Und ich wollte sie bloß nicht zu fest oder zu lange umarmen, obwohl mir danach war.

Mit ihr hatte ich damals nicht gerechnet, ich hatte gar nicht mehr an sie gedacht. Wir kannten uns seit dem Kindergarten, und wir spielten in der Grundschule miteinander, aber seit der fünften oder sechsten Klasse wechselten wir eigentlich nur ein paar peinliche Worte, wenn wir uns zufällig auf der Straße sahen.

Tina, ihre Mutter, winkte mir zu, ein Mann füllte ihr Sektglas nach, sie hielt zwei weitere Becher.

»Soll.. .ir anst.ßen?«, fragte Evelyn zu leise gegen den Lärm der Raketen.

Ich musste die verlorenen Buchstaben in meinem Kopf ergänzen. »Ja.«

Evelyns Mutter wartete schon mit zwei Bechern Sekt auf uns.

Um uns herum filmten Leute mit ihren Devices das Feuerwerk, sich gegenseitig und sich selbst. Ich hatte meins gar nicht mitgenommen. Dass ich es zu Hause ließ, kam selten vor, aber ich befand mich in guter Ge­sellschaft, weder Evelyn noch Tina oder ihr Bekannter trugen ihre bei sich.

»Hey, Träumer.« Evelyns Mutter hob ihr Glas. »Auf ein frohes neues Jahr!«

Wir wiederholten »Auf ein frohes neues Jahr!«, stießen an und tranken. Über uns ein Stakkato explodierender Böllerblumen und kunterbunter Funkenregen.

Ein Kanonenschlag landete neben unseren Füßen und sog mir die Luft aus den Lungen. Evelyn zerrte mich am Arm weg über die kleine Wiese, vorbei an den Müll­containern in die Einfahrt zwischen den Häusern. Hier war es etwas stiller.

Wir redeten die ganze Nacht lang, ich glaube, wir ­hatten uns seit der vierten Klasse nicht mehr so lange unterhalten. Sie hatte das Schuljahr damals gerade so geschafft. Im Frühjahr hatte sie unter akutem Asthma ge­litten – zum Glück ein einmaliger Anfall – und war wochenlang nicht in die Schule gekommen. Ich hatte ihr jeden Nachmittag die Hausaufgaben gebracht, weil ich nebenan wohnte. Die Leute müssen gedacht haben, ich wäre ein Familienmitglied, Geschwister sehen sich oft weniger als wir uns gesehen haben. Und vielleicht war es genau diese extreme Nähe, die uns auseinanderdriften ließ.

Und wäre unsere Unterhaltung alles in dieser Nacht gewesen, es hätte wirklich gereicht, dieses Silvester in mein schönstes Silvester zu verwandeln, doch zum Abschied ­gegen drei Uhr setzte sie noch eins drauf und küsste mich überraschend auf die Wange. Ich küsste sie zurück und dann küssten wir uns auf den Mund und mein Kopf explodierte wie der Urknall aller Silvester.

So ist das Leben. Man weiß nie, wann man ganz unten angekommen ist, und man weiß nie, wann man von dort wieder wegkommt. Und was noch schlimmer ist, man kann es sich nicht auch nur vorstellen.

Hinter dem Schleier meiner tagträumenden Augen ­bewegte sich etwas. Mit einem Schlag befand ich mich wieder in der Gegenwart, in meinem Zimmer am Fenster. Unten auf der Straße, dort, wo ich sie treffen wollte, wenn ich ihr entgegengegangen wäre, sah ich Evelyn, mit ihrem stets leicht federnden Schritt.

Ich spürte, wie schwer und lange mein Kopf an der Wand gelehnt hatte. Beinahe befiel mich Schwindel, die Wände des Hauses hatten sich über die letzten zwei Wochen aufgeheizt, es war stickig.

Ich schnappte mir mein Device-Bag, hakte es an mei­nen Gürtel und rannte aus der Wohnungstür die Treppe runter.

An der Haustür bremste ich ab und zog sie gelangweilt langsam auf, wobei ich beim Rausgehen meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung wandte, dann – ach, wie zufällig – bemerkte ich Evelyn, als ich den ­Bürgersteig ­erreichte.

Sie lächelte mich ins absolute Glück. Hoffentlich hatte sie Zeit.

*

Wir folgten dem schmalen Trampelpfad, der einen ­Häuserblock zerschnitt, zu dem brachliegenden Grundstück mit dem überwucherten Mauerwerk, das vor fünf Jahren einer Abrissbombe getrotzt hatte. Viele der Ytong-Steine waren hüfthoch stehengeblieben, und an einer Stelle stand das wildwachsende japanische Schilf so hoch, dass man dort weder vom Weg noch von der Straße aus gesehen werden konnte. Das war unser Treffpunkt in der Nachbarschaft. Unser absoluter Lieblingsplatz lag zwanzig Minuten zu Fuß von hier, eine alte Parkbank am Schwanenteich.

Kaum außer Sichtweite schlangen wir die Arme umeinander und küssten uns. Ihre weichen Lippen pressten sich gegen meine, sie schmeckte leicht salzig. Ihr Rucksack fiel zu Boden. Meine Finger tasteten über ihren ­Rücken, heißer Atem traf meine Wange.

Erst als wir versehentlich schmatzten, ließen wir ­lachend voneinander ab und schwangen uns nebenei­nander auf die Steine, Evelyn wie immer rechts von mir. Ihren Rucksack, den sie stets mit zur Arbeit nahm, stellte sie auf die andere Seite.

Auf dem Weg hierher hatte sie mir vom Senioren­zentrum erzählt, von den Menschen, die sie dort getroffen hatte, von deren Geschichten und wie sie ihnen ge­holfen hatte. Auch mit ihren Kollegen und Kolleginnen kam sie bestens klar. Evelyn kam in ihrem Leben bestens klar.

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und zog die Beine an, sodass sie ihre Knöchel mit den Hän­den umfasste. Sie trug ihre roten Sportsandalen, dazu ­einen knielangen gebatikten Rock, den sie zwischen ­ihren Beinen einklemmte. Darüber schlabberten zwei bunte Tanktops um ihren Oberkörper und vertuschten die Rundungen ihrer Brüste. Seit Beginn dieses warmen Junis steckte sie ihre braunen Haare hoch, kein Zopf, nur ­einfach verknotet, gegen die Hitze, das wusste ich. Ihr Nacken lag frei und die Sonne zauberte ihre weichen Härchen sichtbar.

»Was hast du heute so gemacht?«, fragte sie nach ­einer kurzen Pause und schaute mich für einen Moment mit ihren braunen Augen an, bevor sie ihren Blick über das Grundstück und die Häuserreihen schweifen ließ. Daumen und Zeigefinger massierten ihre schmalen Achillessehnen.

»Och, so das Übliche … auf dich gewartet.«

Das entlockte ihr ein flüchtiges Lachen und Kopf­schütteln, die abstehenden Haarspitzen wippten dazu. Liebevoll wuschelte sie durch mein wirres Haar.

Ihre Augen verengten sich und sie inspizierte mein Ohr, dann sagte sie: »Hast du bis eben geschlafen?«

»Geschlafen? Nein. Wie kommst du darauf?«

»Sieht aus, als hättest du Schnarchnarben an deiner Wange und an der Schläfe, Falten vom Kissen.«

Erst wusste ich nicht, was sie meinte, dann fiel es mir ein: das Muster der Raufasertapete auf meiner Wange. Unfassbar. Und unerklärlich. »Öh, nö.«

»Öh, doch! Sehe ich doch.«

Ihr Zeigefinger wanderte über mein Gesicht wie ein zärtlicher Stromschlag. Ein süßer Schauer rieselte meinen Rücken runter. Erfolgreich widerstand ich dem Drang, mich zu schütteln.

Ich liebte es, wenn wir nebeneinanderlagen und wir uns gegenseitig mit den Fingern unsichtbare Linien auf unsere Gesichter malten. Nicht ganz nackt. Dazu war es noch nicht gekommen. Evelyn schwörte, das hätte nichts mit mir zu tun, sie wäre nur einfach noch nicht soweit, und ich glaubte ihr.

Ihre Fingerspitzen trippelten über meine Schläfe. Das hätte ewig so weitergehen können, aber irgendetwas musste ich tun, also schnappte ich mit dem Mund nach ihrem Finger.

*

Nach unserem Kussmarathon musste ich mich erstmal wieder zusammenpuzzeln: Zungenmuskelkater, taube Un­terlippe, Gedanken sortieren, Realitätsbezug wiederherstellen, Verstand finden, Augen an die Helligkeit gewöhnen, das Loch im Magen schließen und mein Herz herunterschlucken, es schien in den Hals gewandert zu sein.

Evelyn zupfte nur ihren Rock zurecht und setzte sich in den Schneidersitz. Sie drehte mir ihren Kopf zu, wobei sie ihn mit dem angewinkelten Arm und dem Ellbogen auf dem Mauerwerk abstützte. Die Sonne leckte über ihren Hals. Der kleine Bernstein an dem Lederhalsband baumelte knapp unter der Vertiefung zwischen den Schlüsselbeinen, ihrer Drosselgrube. Fasziniert von ihrem Anblick hatte ich mein Device hervorgeholt und den Begriff damals sofort gegoogelt.

»Und? Was hast du jobmäßig heute rausgefunden?«, fragte sie in meine Erinnerung.

Sie hätte mir genauso gut einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht kippen können, der Satz hatte die gleiche Wirkung wie Wissenschaft auf Zauberei.

»Na ja, es ist nicht einfach.«

»Du hast doch auch mal vor, eigenes Geld dazuzuverdienen.«

»Schon …«

»Mach doch mal etwas selbst.«

»Was denn?«

»Irgendwas, egal.«

»Was denn? Ich kann nichts, ich meine, weder basteln noch reparieren.«

»Computer?«

»Nicht reparieren, auch nicht auseinanderbauen oder so. Und programmieren auch nicht. Nur …«

»Zocken. Komm, du bist doch schlau, du kannst doch was.«

»Na ja, vielleicht kann ich irgendwann mal in die ­Pflege.«

Sie schaute auf ihre Zehen, die sich bewegten, als würden sie dem Takt ihres Atems folgen.

»Darius?«

Nicht Darry? Das wirkte wie ein Samuraischwert auf ­meine Eingeweide, sie nannte mich immer Darry. »Ja?«

»Ich glaube, du zockst nur die ganze Zeit, wenn wir uns nicht treffen. Sonst machst du nichts. Nichts Eigenes. Das macht mir … wenn ich … ja … an die Zukunft denke … macht mich das … ich weiß nicht. Was denkst du?«

Was ich dachte? Ja, was dachte ich?

»Hallo?«, hakte sie nach.

»Ich denke, wir … verbringen eine Menge Zeit mit­einander und das ist doch wunderschön.«

»Das ist so, das tun wir. Ich kann mit dir alle Zeit der Welt verbringen und langweile mich dabei nie, wir quatschen, ich höre dir gerne zu … sogar deinem Schweigen.«

Aber?

»Aber ich warte darauf, dass du dich … aufraffst, mehr machst, dich … nenne es, wie du willst. Du kannst doch nicht ewig dieses Raid zocken. Drei, vier Stunden jeden Tag.«

Das war die durchschnittliche Zahl, die ich ihr genannt hatte, samt der Verniedlichung Stündchen, drei bis vier Stündchen. Wollte ich mich nicht selbst belügen, konnte ich den Schnitt leicht verdoppeln.

»Nein«, sagte ich nur. Mehr fiel mir nicht ein.

Über uns summte eine Drohne vorbei, eine einmo­torige Public-Service-Patrouille, seit deren Einführung es kaum mehr Einbrüche in der Stadt gab. Wir sahen ihr nach, als würde sie gleich die Antwort in die Wolken schreiben. Durch den Stoff ihres Rucksacks klang die gedämpfte Reggae-Melodie, die sie ihrer Mutter zugewiesen hatte.

Evelyn seufzte und holte ihr Device heraus. Auch ich öffnete meine Tasche und aktivierte meins, indem ich den Code auf den 7-Zoll-Screen wischte.

»Ja, annehmen«, sagte Evelyn, als sie sich den Ohr­stecker einsetzte, und hielt das Gerät schräg vor sich. »Ja, ich treffe mich gerade mit Darry … klar, dann bin ich zurück, ja, tschüss. Auflegen.« Sie nahm den Stecker wieder aus dem Ohr.

Ich wünschte, mir würde etwas Intelligentes einfallen, was ich sagen könnte, aber alles, was mir im Kopf herumspukte, hatte mit ihrer Angst vor unserer Zukunft zu tun. Ja, Angst, das war das Wort gewesen, das sie gesucht und gefunden, aber nicht auszusprechen gewagt hatte. War sie sich unserer nicht mehr sicher? Wenn ich mich nicht konzentrierte, würde ich geradewegs vorne über von den Ytong-Steinen fallen.

»Was? Was? Was?« Sie schaute auf ihr Device und ­regte sich richtig auf.

Erst befürchtete ich, ich wäre gemeint, dann zeigte sie auf den Screen, als könnte ich aus diesem Winkel ­etwas erkennen. »Die wollen den Schwanenteich zuschütten!«

»W… Wieso?«, stotterte ich los, um irgendwie mit ­ihrer Empörung Schritt zu halten. Ich hatte gerade weitaus größere Sorgen als den Schwanenteich, obwohl der mir schon einiges bedeutete. Aber was wäre der ohne Evelyn, ohne uns?

Sie verließ den Schneidersitz, schlug die Beine statt­dessen übereinander und legte ihr Device auf den halbbloßen Oberschenkel. Der Rock war ihr jetzt egal. Mir nicht, ich betrachtete ihre glatte Haut. Sonnte sie sich manchmal?

»Hier steht: Hat die Stadt einstimmig beschlossen, den sogenannten Schwanenteich einzuebnen, um die Hauptstraße zu verbreitern und sie so wieder sicherer für den Individualverkehr zu gestalten. Immer öfter kam es in der Vergangenheit aufgrund der konstant gestiegenen Fahrzeugbreite bei den Pkw-Baureihen zu Kontakten auf den zu eng gewordenen Fahrstreifen. Diese sollen auf komfortable fünf Meter verbreitert werden, wobei …« Sie guckte hoch. »Wegen der Autos? Wegen der Karren wollen die den Schwanenteich zuschütten?«

Sie hatte sich jetzt richtig in Rage geredet. Das konnte sie, wenn es um gesellschaftliche Dinge ging.

»Das gibt es ja nicht«, sagte ich.

»Da muss … warte mal.« Sie tippte auf den Screen. »Da, aha, da planen ein paar Leute für morgen eine Demo, ich bin dabei. Das können die doch nicht so einfach machen.«

»Ich bin auch dabei.«

Natürlich war ich dabei. Ich war gern überall bei ihr dabei.