Die Herausgeber/-innen

Prof. Dr. habil. Kirsten Aner ist Professorin für Lebenslagen und Altern des Fachbereichs Humanwissenschaften der Universität Kassel.

Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter ist Professor für Soziale Arbeit und Alter und Leiter des Schwerpunktes »Menschen im Kontext von Alter« an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW (Olten, Schweiz).

Kirsten Aner/Klaus R. Schroeter (Hrsg.)

Kritische Gerontologie

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031923-3

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-031924-0

epub:        ISBN 978-3-17-031925-7

Autor/-innen

 

 

 

Amrhein, Ludwig, Dr. phil., Jg. 1966, Vertretungsprofessor an der Fachhochschule Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Alters- und Lebenslaufsoziologie, Kulturgerontologie, Soziologie der Altenpflege, Kommunale Seniorenpolitik. Kontakt: ludwig.amrhein@fh-dortmund.de

Aner, Kirsten, Prof. Dr. rer.pol., Jg. 1963, Professorin für Lebenslagen und Altern an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Gerontologie, Sozialarbeit/Sozialpädagogik der Lebensalter, Soziale (Alten-)Arbeit, Theorien, Felder und Organisationen der Sozialen Arbeit, Professionalität und Interdisziplinarität. Kontakt: aner@uni-kassel.de

Brauer, Kai, Prof. Dr. phil., Jg. 1965, Soziologe, Fachgebiet Sozialraumentwicklung (HS Neubrandenburg), Alternsforschungszentrum IARA (FH Kärnten). Arbeitsschwerpunkte: Communities, Lebenslauf und Altern, Ageism, Zivilgesellschaft, Sozialkapital, Transdisziplinarität. Kontakt: brauer@hs-nb.de

Dosch, Erna, Dr. phil., Jg. 1966, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Gerontologie, Alter(n) und Gender, Methoden der Sozialen Arbeit (z. B. biografisches Arbeiten, Personzentrierte Beratung, Arbeit mit Gruppen, Community Work), Theorien Sozialer Arbeit. Kontakt: dosch@uni-kassel.de

Falk, Katrin, Politikwissenschaft und Soziologie M. A., Jg. 1976, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologische Forschung e. V. (IgF). Arbeitsschwerpunkte: qualitative Methoden in der Pflege- und Versorgungsforschung, Lebenslagen alter Menschen, Soziale Gerontologie. Kontakt: falk@igfberlin.de

Grates, Miriam, Gerontologin M.Sc. und Sozialarbeiterin B.A., Jg. 1987, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften an der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Alter(n), Gesundheit und soziale Ungleichheit im Kontext der Digitalisierung, partizipative Technikentwicklung, Kritische Gerontologie. Kontakt: miriam.grates@tu-dortmund.de

Heming, Ann-Christin, Alternde Gesellschaften M.A., Soziale Arbeit B.A., Jg. 1989, Sozialpädagogin im Klinikum Westmünsterland. Arbeitsschwerpunkte: soziale und gesundheitliche Ungleichheiten im Alter, Soziale Arbeit im Krankenhaus, Partizipation in alternden Gesellschaften. Kontakt: hemingac@gmail.com

Kollewe, Carolin, Prof. Dr. phil., Jg. 1973, Professorin für Sozialwissenschaftliche Technikforschung an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Arbeitsschwerpunkte: Alter/Technik/Pflege, Alter/Migration/Care, Kritische Gerontologie, Cultural Gerontology, Science and Technology Studies. Kontakt: carolin.kollewe@h2.de

Rüßler, Harald, Prof. Dr. rer. pol., Jg. 1951, (Senior-)Professor für Sozial- und Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Quartiersentwicklung, Partizipation, Soziale Altenarbeit, Kritische Gerontologie, Arbeitssoziologie, sozialer Wandel. Kontakt: harald.ruessler@fh-dortmund.de

Schroeter, Klaus R., Prof. Dr. phil. habil, Jg. 1959, Soziologe, Professor für Soziale Arbeit und Alter und Leiter des Schwerpunkts Menschen im Kontext von Alter an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW in Olten (CH). Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorien, Alterssoziologie, Körpersoziologie, Kritische Gerontologie. Kontakt: klaus.schroeter@fhnw.ch

Vukoman, Marina, M.A. Soziale Arbeit, Jg. 1984, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Altenarbeit, informelle Pflege, Sozialraum, Altersbilder, Arbeitslosigkeit, Qualitative Methoden, Deutungsmuster(-analyse). Kontakt: marina.vukoman@uni-due.de

Inhalt

 

 

 

  1. Autor/-innen
  2. 1   Zur Einführung
  3. Kirsten Aner & Klaus R. Schroeter
  4. 2   Zur historischen Entwicklung der Kritischen Gerontologie
  5. Klaus R. Schroeter
  6. 2.1   Vorbemerkungen
  7. 2.2   Von der Radikalen Gerontologie …
  8. 2.3   … zur Politischen Ökonomie des Alterns
  9. 2.4   … und ihrer weiteren Entwicklung
  10. 2.5   Was ist Kritische Gerontologie?
  11. 2.6   Fazit
  12. 3   Zu den Prämissen Kritischer Gerontologie
  13. Kirsten Aner
  14. 3.1   Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im Kontext der Gerontologie
  15. 3.2   Kritische Gerontologie und Gesellschaft
  16. 4   Zu ausgewählten Ansätzen der Kritischen Gerontologie
  17. 4.1   Political Economy of Aging
  18. Marina Vukoman & Ann-Christin Heming
  19. 4.2   Alter als Stigma
  20. Kai Brauer
  21. 4.3   Ageism
  22. Katrin Falk
  23. 4.4   Humanistic Gerontology
  24. Miriam Grates
  25. 4.5   Narrative Gerontology
  26. Ludwig Amrhein
  27. 4.6   Feministische und intersektionale Ansätze
  28. Erna Dosch
  29. 4.7   Foucauldian Gerontology
  30. Klaus R. Schroeter & Harald Rüßler
  31. 4.8   Kulturwissenschaftliche Perspektiven
  32. Carolin Kollewe
  33. 4.9   Kritisch gerontologische Ansätze im Vergleich
  34. Kirsten Aner
  35. 5   Zur Kritischen Gerontologie im Kontext Sozialer (Alten-)Arbeit
  36. Kirsten Aner
  37. 5.1   Soziale Arbeit und Alter
  38. 5.2   Soziale (Alten-)Arbeit und (Kritische) Gerontologie
  39. 5.3   Fazit

1          Zur Einführung

Kirsten Aner & Klaus R. Schroeter

»[W]ie müßte eine Gesellschaft beschaffen sein, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben kann? Die Antwort ist einfach: er muß schon immer als Mensch behandelt worden sein.« (de Beauvoir, 1978, S. 466)

Könnte man nicht meinen, damit sei alles Nötige zur Kritischen Gerontologie gesagt?!

Die hier vorliegende Einführung in die Kritische Gerontologie soll dieses Postulat um wissenschaftliche Überlegungen erweitern. Ein Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Kritik bzw. kritischer Wissenschaft ist für viele der am wissenschaftlichen Diskurs Beteiligten ein Zeitschriftenbeitrag von Horkheimer (1988 [1937]), in dem er die »kritische« Theorie einer »traditionellen« gegenüberstellt. Dieser Beitrag beruht auf seiner Einschätzung der Entwicklung der Geistesgeschichte seit Hegel. Er beschreibt ein folgenschweres Auseinanderdriften von philosophischem Denken und empirischer Forschung, ein arbeitsteiliges Nebeneinander von »zeitgenössischer Methaphysik« und »Szientismus«. Losgelöst von philosophischer Selbstvergewisserung verkomme die Erkenntnis der Wirklichkeit zu einer bloßen Tatsachenforschung. Eine derart »positivistische« Wissenschaft, die sich selbst als jenseits aller Interessen begreift, bezeichnet er als »traditionelle« Theorie. Sie sei nicht in der Lage, die Gesellschaft an einer übergreifenden Idee der Vernunft zu messen. Ihr stellt Horkheimer die »kritische« Theorie gegenüber, die sich des eigenen sozialen Entstehungszusammenhangs wie auch ihres praktischen Verwendungszusammenhangs permanent vergewissert.

Um zu zeigen, wie sich diese von Horkheimer grundlegend formulierte und später von der sog. Frankfurter Schule weiterentwickelte erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung in der Altersforschung niederschlug, skizziert Klaus R. Schroeter im zweiten Kapitel die historische Entwicklung der Kritischen Gerontologie in groben Umrissen. Dabei wird das andauernde Ringen um eine Antwort auf die Frage deutlich, was unter Kritischer Gerontologie zu verstehen sei – ein Prozess, der gerade in seiner Unabgeschlossenheit der Forderung Horkheimers entspricht, dass sich (kritische) Wissenschaftler/-innen der eigenen Position in der Gesellschaft ständig bewusst bleiben müssen.

Das dritte Kapitel führt vor dem Hintergrund der Permanenz und Vielgestaltigkeit des Diskurses über Definitionen einer Kritischen Theorie zunächst in die Prämissen ein, die wir der Auswahl der nachfolgenden Beiträge zur Kritischen Gerontologie zugrunde legen. Dabei folgt Kirsten Aner Überlegungen von Baars (1991), der die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Gemeinsamkeit der diversen Ansätze in ihrer Sensibilität für die soziale Konstitution der Wissenschaft sieht. Dieses um die Frage nach dem Subjekt- und Gesellschaftsbezug erweiterte Kriterium leitete uns bei der Auswahl der in diesem Band vorgestellten Ansätze in der Kritischen Gerontologie. Sie werden hier anhand von Schlüsseldokumenten vorgestellt, die jeweils stellvertretend für einen Ansatz stehen.1

Im sich anschließenden vierten Kapitel referieren und diskutieren verschiedene Beitragsautorinnen und -autoren die ausgewählten Dokumente entlang folgender Gliederung: Kurzdefinition des Ansatzes, Kurzportrait der Verfasser/-innen des Schlüsseldokuments, Kernaussagen des Textes (Ausgangspunkt und Argumentation), Ergänzungen (aus weiteren Texten des Autors/der Autorin sowie anderer, ähnlich oder ggf. auch kontrovers argumentierender, Autor/-innen), Grenzen und offene Fragen des jeweiligen Ansatzes. Ann-Christin Heming und Marina Vukoman befassen sich mit der ›Political Economy of Aging‹. Kai Brauer widmet sich dem Ansatz, der Alter als ›Stigma‹ fasst. Katrin Falk zeichnet für die Skizze des Ansatzes ›Ageism‹ und Mariam Grates für die der ›Humanistic Gerontology‹ verantwortlich. Ansätze der ›narrativen Gerontologie‹ stellt Ludwig Amrhein vor, ›feministische‹ und ›intersektionale‹ Ansätze Erna Dosch. Klaus R. Schroeter und Harald Rüßler befassen sich mit ›Foucauldian Gerontology‹. In die ›kulturwissenschaftlichen‹ Perspektiven führt Carolin Kollewe ein. In einem weiteren Unterkapitel fasst Kirsten Aner die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ansätze hinsichtlich ihrer jeweiligen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Positionen sowie ihres Subjekt- und Gesellschaftsbezugs zusammen.

Das fünfte Kapitel widmet sich einem ausgewählten praktischen Verwendungszusammenhang. Kirsten Aner skizziert exemplarisch im Kontext Sozialer Arbeit mit älteren Menschen, wie Kritische Gerontologie für eine Praxis bedeutsam werden kann.

Anliegen des Bandes ist, Studierenden der Sozial- und Verhaltenswissenschaften und der Sozialen Arbeit, Wissenschaftler/-innen dieser Disziplinen und Fachleuten in der Praxis einen ersten Überblick über die Kritische Gerontologie zu bieten. Der Überblick anhand ausgewählter Schlüsseldokumente kann nur ein erstes Hilfsmittel sein, um den Einstieg in die Auseinandersetzungen mit der Kritischen Gerontologie zu erleichtern. Die Lektüre der Originaltexte kann und soll er nicht ersetzen.

Wir verzichten im Rahmen dieser Einführung auf den Anspruch einer vollständigen Erfassung kritisch gerontologischer Zugriffe auf das Alter. Unser Blick bleibt weitgehend auf die Kritische Gerontologie in der Tradition angloamerikanischer Sozialforschung beschränkt. Außen vor bleiben Autor/-innen, die sich selbst nicht dem einschlägigen Diskurs zuordneten, deren Überlegungen darin wenig rezipiert wurden, die gleichwohl durchaus als kritisch gerontologisch gelesen werden könnten. Die hier ausgewählten einzelnen Ansätze oder Strömungen innerhalb der Kritischen Gerontologie werden nicht en detail vorgestellt, sondern lediglich anhand eines jeweiligen Schlüsseldokuments diskutiert. Dabei bleiben notwendigerweise viele Facetten und Kontroversen unberücksichtigt. Die hier vorgestellten Autorinnen und Autoren werden nicht im Kontext ihres gesamten Œuvres, sondern nur über einen ihrer zumeist mehreren oder vielen Beiträge zur Kritischen Gerontologie wahrgenommen und gewürdigt. Andere Vertreterinnen und Vertreter, die für den einen oder anderen hier genannten Pfad der Kritischen Gerontologie stehen, werden von den Beitragsautoren/-innen unter dem Stichwort »Ergänzungen« erwähnt, manche bleiben ungenannt.

Danksagung

Wir teilen die Auffassung des Bourdieu-Schülers Loïc Wacquant (1996), wissenschaftliche Reflexivität sei ein »kollektives Unternehmen und nichts, was dem Wissenschaftler individuell aufzubürden wäre« (ebd., S. 63).2 Der hier vorliegende Band stellt einen kollektiven Versuch dar, zu einer kritischen Reflexivität in Gerontologie und Sozialer Altenarbeit beizutragen. Es ist uns deshalb ein wichtiges Anliegen, allen zu danken, die daran beteiligt waren.

Die Idee zu diesem Buch ist auf dem 14. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) im September 2016 in Stuttgart entstanden, konkret nach einer kontroversen Diskussion bei einem Symposium zum Thema »Gerontologische Konzepte und Kritische Gerontologie«, das vom Arbeitskreis Kritische Gerontologie der DGGG3 vorbereitet worden war. In der Diskussion wurden neben den üblichen Fragen und übereinstimmenden Positionen auch Missverständnisse offensichtlich, die es miteinander und im Interesse der Gerontologie zu klären galt (und weiter gilt). Wir danken deshalb allen Organisator/-innen und Teilnehmer/-innen des Symposiums, die mit ihren Fragen und Anmerkungen den Anstoß zu diesem Band gaben. Dank gilt auch den ›fragenden‹ Studierenden an unseren beiden Hochschulen. Vor allem aber sind wir den Beitragsautor/-innen zu Dank verpflichtet, die sich intensiv mit jeweils einem der von uns ausgewählten Ansätze befassten und sich darauf einließen, die Fülle der dabei gewonnenen Erkenntnisse in komprimierter Form darzustellen. Ohne die gemeinsame Arbeit hätte die Idee nicht umgesetzt werden können.

Zu danken haben wir auch Sabine Stange für ihre Korrekturen im Manuskript sowie Kathrin Kastl als Lektorin des Kohlhammer Verlags.

Literatur

de Beauvoir, S. (1978). Das Alter. Reinbek: Rowohlt.

Hammerschmidt, P., Aner, K. & Weber, S. (2017). Zeitgenössische Theorien Sozialer Arbeit. Weinheim & München: Beltz Juventa.

Horkheimer, M. (1988 [1937]). Traditionelle und kritische Theorie. In A. Schmidt & G. Schmidt Noerr (Hrsg.), Max Horkheimer. Gesammelte Schriften (S. 162–225). Frankfurt: Fischer.

Schultheis, F. (2019). Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. Bielefeld: transcript.

Wacquant, L. (1996). Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus. In P. Bourdieu & L. Wacquant. Reflexive Anthropologie (S. 17–93). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

1     Diese Konzeption geht auf eine Idee von Peter Hammerschmidt zurück, die er für den Band »Zeitgenössische Theorien Sozialer Arbeit« (Hammerschmidt et al., 2017) entwickelt hat und die wir dankenswerterweise übernehmen durften.

2     Zu Idee und Praxis des »kollektiven Intellektuellen« im Schaffen Bourdieus vgl. Schultheis 2019.

3     Heute: Fachausschuss Kritische Gerontologie der DGGG.

2          Zur historischen Entwicklung der Kritischen Gerontologie

Klaus R. Schroeter

2.1       Vorbemerkungen

›Kritische Gerontologie‹ ist ein Label, das mitunter eingesetzt wird, um einen Unterschied zur ›herkömmlichen‹, ›traditionellen‹ oder ›instrumentellen‹ oder auch ›angewandten‹ Gerontologie zu markieren. Sie wendet sich gegen die Vorstellung, dass die ›Wahrheit‹ über das Altern objektiv zu messen sei, und gegen das Vorhaben, den Prozess des Alterns durch den Erwerb solch eines Wissens zu kontrollieren (vgl. Jamieson & Victor, 1997, S. 177). Sie versteht sich als Antonym zur konventionellen Altersforschung, die einen Beitrag zur Reifikation des Status quo leiste, indem sie nicht nur die Werkzeuge liefere, um menschliches Verhalten vorherzusagen und zu kontrollieren, sondern auch professionelle Interventionen legitimiere und damit Herrschaftsformen in Theorie und Praxis verstärke (vgl. Moody, 1988b, S. 33). Eine solche Sicht hat jedoch ihre Tücken, weil damit eine Grenze zwischen ›kritischer‹ und nicht kritischer oder ›unkritischer‹ Gerontologie gezogen wird. Und so mahnen auch Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Gerontologie davor, unnötige Gräben zu ziehen:

Stephen Katz hat es als einen der Augenöffner in seinem Leben als »selbstcharakterisierter kritischer Gerontologe« (Katz, 2015, S. 30)4 bezeichnet, als er in der Diskussion zu seinem Beitrag über Gerontologie und kritische Theorie auf einem Symposion von einem Kollegen eindringlich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Gerontologen schon immer kritische Denker gewesen seien und seit Jahrzehnten soziologische Ideen über soziale Ungleichheit und politische Ökonomie in die Gerontologie eingeführt hätten, ohne sich selbst als kritische Gerontologen zu bezeichnen (vgl. ebd., S. 30). Victor Marshall hatte zuvor beklagt, dass Kritische Gerontologen viel Zeit darauf verwenden, andere zu kritisieren und er sich selber nicht als kritischen Gerontologen betrachte, »weil ich die von vielen, die sich selbst so bezeichnen, eingenommene Haltung ablehne, die so viel gute Arbeit kritisiert. Ich schätze Arbeiten, und arbeite an einigen, die von vielen kritischen Theoretikern verurteilt würden, weil sie in den positivistischen Forschungsmodus fallen, Forschungen, die meiner Meinung nach einen Unterschied gemacht haben« (Marshall, 2009, S. 652). Insofern sei die Kritische Gerontologie in den Worten von Holstein und Minkler gut beraten, sich mit der traditionellen Sozialgerontologie in einer »ernsthaften, aber respektvollen Kritik« auseinanderzusetzen, da »da wir [i.e. Holstein und Minkler, K.R.S.] ähnliche Ziele, aber unterschiedliche Ansätze, Wissensquellen und erkenntnistheoretische Positionen verfolgen« (Holstein & Minkler, 2007, S. 13). In ähnlicher Weise hatte Moody davon gesprochen, dass die Kritische Gerontologie »keine Feindseligkeit oder Polemik fördern (muss), aber sie sollte oppositionell sein und bewusst unbequeme Fragen über die Hegemonie von Theorie und Methoden in der Mainstream-Gerontologie stellen« (Moody, 1993, S. XXI).5

Den Ursprung der Kritischen Gerontologie zu finden, ist kein leichtes Unterfangen. Mit etwas Phantasie könnte man ihn auch gleich in der Gründungsphase der Gerontologie suchen, als der kanadisch-amerikanische Biologe Edmund Vincent Cowdry (1888–1975)6 im Anschluss an die 1937 in Woods Hole, Massachusetts, durchgeführte erste wissenschaftliche Konferenz zum Altern das berühmt gewordene »Problems of Ageing« (Cowdry, 1939) herausgab. Cowdry hatte früh erkannt, dass es neben der damals gerade beginnenden Erforschung der »rein physikalischen, chemischen und biologischen Mechanismen des Alterns … riesige Felder gibt, die noch völlig unerforscht sind« und dass »unsere Unkenntnis über die psychiatrischen, emotionalen und soziologischen Aspekte des Alterns (fast ebenso groß ist)« (Cowdry, 1940, S. 53). In diesem Sinne hatte auch der damals 80-jährige John Dewey in seiner Einleitung zu »Problems of Ageing« in durchaus kritischer Sicht darauf hingewiesen, dass die biologischen Prozesse zwar die Wurzeln der Probleme und der Methoden zu ihrer Lösung seien, diese aber in wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten stattfinden und untrennbar mit diesen Kontexten verwoben sind, so dass einer auf den anderen in allerlei komplizierter Weise reagiert (Dewey, 1939, S. xxvi, zit. nach Achenbaum, 1995, S. 72; vgl. Dewey, [1939] 1988).7

Heute käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Kritische Gerontologie mit den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Alternsforschung in Zusammenhang zu bringen, als Anfang der 1940er Jahre das US-amerikanische Committee on Social Adjustment des Social Science Research Council einen Unterausschuss zum Alter (Subcommittee on Social Adjustment in Old Age) bildete (vgl. Young, 1941; Pollak, 1948) und unter der Leitung von Ernest W. Burgess und Robert J. Havighurst – freilich im Duktus des damals vorherrschenden Funktionalismus – die ersten Studien dazu entstanden (vgl. Cavan et al., 1949). Das würde heute vermutlich niemand unter dem Begriff der Kritischen Gerontologie fassen, es war aber zu dieser Zeit ein durchaus kritischer Beitrag, in dem die Interaktionsformen und Anpassungsprobleme an das späte Leben analysiert wurden. Cavan et al. hatten immerhin herausgearbeitet, dass soziale Phänomene den Status der Älteren beeinflussen – unabhängig von ihrem biologisch-physischen Zustand. Und in damals kritischer Weise plädierten sie dafür, dass die Sozialwissenschaften ihre eigenen Instrumente zur Erforschung des Alters zu entwickeln und sie nicht bei den biomedizinischen Wissenschaften zu entlehnen hätten. Das klingt heute weniger kritisch, zumal wenn man weiß, wie sich aus diesen Forschungen im Weiteren ein Eck-Konzept der idealisierten Aktivität in der Altersforschung entwickelte (vgl. Katz, 2000, S. 137–139). Aber diese frühen sozialwissenschaftlichen Antworten auf die biologischen und medizinischen Erkenntnisse waren die ersten Meilensteile einer sozialen Gerontologie, die sich dann jedoch einer zunehmenden Kritik aus den eigenen Reihen zu stellen hatte und den Vorwurf gefallen lassen musste, dass ihre herkömmlichen theoretischen Perspektiven eine normative Voreingenommenheit zur Anpassung alternder Menschen an die Gesellschaft widerspiegelt, die durch die methodischen Vorbehalte der meisten Gerontologen verstärkt würde (Marshall und Tindale, 1979, S. 163).

2.2       Von der Radikalen Gerontologie …

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weltweiten wirtschaftlichen Rezession nach dem sog. Ölpreis-Schock 1974 und der damit einhergehenden politischen und sozialen Verwerfungen entwickelte sich seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein Strang innerhalb der Gerontologie, der alsbald unter dem Namen der ›Kritischen Gerontologie‹ bekannt wurde.8 Ein früher Beitrag dazu sind die Überlegungen von Marshall und Tindale (1978) zur ›Radikalen Gerontologie‹. Sie kritisieren die Erhebungsmethodik der Gerontologie und deren Betonung der psychologischen Dispositionen in der Umfrageforschung, die die Aufmerksamkeit von den strukturellen Bedingungen ablenkt, die das Leben im Alter beeinflussen. Sie sehen die herkömmliche Gerontologie als ein sich auf den Einzelnen konzentrierendes »Bastelhandwerk« (tinkering trade), das darauf ausgerichtet sei, die Einzelnen an das bestehende System anzupassen (Marshall & Tindale, 1978, S. 165). Demgegenüber würde eine Radikale Gerontologie »die individualistischen und Anpassungsvorurteile vermeiden und anerkennen, dass das Leben in der Gesellschaft von Konflikten, Verhandlungen und Kompromissen über politisch-ökonomische und andere Interessen gekennzeichnet ist« (ebd., S. 163). Marshall und Tindale (ebd., S. 168) setzen die Radikale Gerontologie in Kontrast zur bisherigen angewandten Gerontologie und beziehen sich dabei auf die von Gouldner (1968) gezogene Differenzierung zwischen radikaler und liberaler Soziologie.9 Dementsprechend würde eine Radikale Gerontologie im Gegensatz zur angewandten Gerontologie positivistische Formulierungen ablehnen und eine »radikale Methodik« anwenden, wie sie u. a. im symbolischen Interaktionismus und in der phänomenologischen Gerontologie und Ethnomethodologie, aber auch in der marxistischen Soziologie diskutiert wird (Marshall & Tindale, 1978, S. 168). Dazu haben sie insgesamt neun Prämissen formuliert, von denen sich die ersten sechs auf eine kritische bzw. radikale Soziologie und die letzten drei auf die radikale Gerontologie beziehen (ebd., S. 167f.):

1.  Ein Verständnis des Alterungsprozesses müsse ein Bewusstsein für den historischen Kontext einschließen, in dem der Einzelne alt geworden ist.

2.  Dieser historische Kontext schließe soziale, politische und wirtschaftliche Realitäten ein, die individuelles und kollektives Handeln formen.

3.  Soziale Prozesse seien nicht durch eine innere Tendenz zur Ausgeglichenheit gekennzeichnet.

4.  Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen und Klassen beruhen auf Interessenunterschieden, was zu Verhandlungen, Konflikten und Kompromissen führe und die Stabilität der Beziehungen zwischen Individuen und makroökonomischen Einheiten prekär mache.

5.  Es könne nicht von einer unvermeidlichen Harmonie von Individuum und Gesellschaft und einem allgemeinen Wertekonsens ausgegangen werden.

6.  Dementsprechend würde jede Sozialisation oder ›Anpassung‹ zu einer verzerrten Vorstellung von Wirklichkeit führen.

7.  Alter und Altern sollen nicht durch theoretisch vorgegebene Kategorien betrachtet, sondern durch das Verständnis des Alterungsprozesses aus den Perspektiven und der Realität der Alten selbst abgeleitet werden.

8.  Wenn die Interessen der Älteren in Konflikt mit den Interessen und Realitäten des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontextes geraten, dann sollte die radikale Gerontologie sich der Frage zuwenden, wie dieser gesellschaftliche Kontext an das alternde Individuum anzupassen wäre und nicht, wie das alternde Individuum an den gesellschaftlichen Kontext angepasst werden kann.

9.  Gerontologen sollten sich explizit mit den Forschungsdilemmata auseinandersetzen, die sich aus der Diskrepanz zwischen der professionellen und unterstützenden Gruppe und der Gruppe der Forschungs-›Subjekte‹ – den alten Menschen – ergeben.

Marshall und Tindale (1978, S. 169) kritisieren, dass es in der herkömmlichen angewandten positivistischen Gerontologie vor allem Studien gibt, die (angeblich) für und nicht mit den älteren Menschen durchgeführt würden. Sie plädieren stattdessen für »mehr Forschung über die zwischenmenschliche Interaktion in face-to-face-Situationen« und für »die Verortung des Individuums in Bezug auf eine historisch verstandene Umwelt«. Zudem seien »mehr Studien über die politische Ökonomie des Alterns erforderlich, die unserem Verständnis des Lebens der heutigen Alten wieder einen Sinn für den Kontext geben und uns insbesondere über die sozioökonomischen Kräfte informieren, die die psychologischen Prozesse des Alterns beeinflussen« (ebd., S. 169f.).

2.3       … zur Politischen Ökonomie des Alterns

Auf der makrosoziologischen Ebene wurde das Alter unter der von Marshall und Tindal eingeforderten Perspektive der Political Economy of Ageing in den USA und Kanada vor allem von Caroll L. Estes, Meredith Minkler, John Myles, Laura Katz Olson und Jill Quadagno und in Europa insbesondere von Peter Townsend, Alan Walker und Chris Phillipson in England sowie in Frankreich von Anne-Marie Guillemard verstärkt in den Blick genommen.10 Sie alle haben mit ihren Studien wertvolle Pionierarbeit der Kritischen Gerontologie geleistet. Dabei ging es weniger um die Ausarbeitung einer eigenständigen Alternstheorie als vielmehr um die Nutzung des allgemeinen theoretischen Rahmens der Politischen Ökonomie, innerhalb dessen das Alter in einen unmittelbaren gesellschaftlichen Bezug und vor allem in den Kontext der Analyse sozialer Ungleichheiten und sozialer Klassenstrukturen gesetzt wurde.

In der Politischen Ökonomie des Alters wird das Alter vor allem unter dem Aspekt der ›sozialen Konstruktion von Armut und Abhängigkeit‹ (Walker, 1980, 1981) oder im Kontext der Theorie der ›strukturierten Abhängigkeit‹ (Townsend, 1979, 1981) als Produkt sozialer Strukturkräfte bzw. als Produkt des Marktes und der Ruhestand als »Euphemismus für Arbeitslosigkeit« (Townsend, 1981, S. 10) gesehen. Sowohl Townsend als auch Walker führen die Abhängigkeit älterer Menschen auf den erzwungenen Ausschluss älterer Menschen aus der Erwerbstätigkeit und auf die damit verbundenen Armutserfahrungen zurück.11 Die strukturelle Grundlage dafür sei die Abhängigkeit aller Arbeit vom Kapital, wobei die älteren Menschen besonders benachteiligt werden, weil ihnen – u. a. durch die Veränderungen in den Berufen und in der Arbeitsorganisation, in den industriellen Prozessen und technischen Entwicklungen und durch die Umstrukturierungen des Kapitals – der Zugang zu vielen Arbeitsplätzen verwehrt wird und sie auf eine Beschäftigung mit niedrigem Status beschränkt (Walker, 1981, S. 89).

Ein anderes prominentes Beispiel der Politischen Ökonomie des Alters ist die von Carroll L. Estes (1979, 1993) in den USA vorgelegte Forschung zum aging enterprise. Damit lenkt Estes die Aufmerksamkeit auf all die Organisationen und Institutionen, die im Gefolge des 1965 verabschiedeten ›Older American Act‹ entstanden und ein »Konglomerat von Programmen, Organisationen, Bürokratien, Interessengruppen, Wirtschaftsverbänden, Anbietern, Industrien und Fachleuten« umspannen, das auf der einen Seite zwar den »alten Menschen in der einen oder anderen Funktion dien[t]«, auf der anderen Seite aber auch als Beleg dafür steht, »wie die Alten in unserer Gesellschaft oft als Ware behandelt werden« (Estes, 1979, S. 2). Im Rekurs auf einen Beitrag über die Soziologie der Armut von Coser (1965) beschreibt Estes das Paradoxon des aging enterprise als wachsende Dienstleistungsindustrie, die sich der Erhaltung und dem Schutz der Unabhängigkeit und Normalität alter Menschen widmet, zugleich aber deren Abhängigkeit und Marginalität zum Überleben benötigt (Estes, 1979, S. 25).

In diesem Rahmen wurden in der Politischen Ökonomie des Alterns die Wechselbeziehungen zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen – a) finanzielles und postindustrielles Kapital und seine Globalisierung, b) Staat, c) Sex-/Gender-System,12 d) Öffentlichkeit und Bürger, e) medizinisch-industrieller Komplex, f) aging enterprise – untersucht (Estes 1999, 2001a). Dabei stehen vor allem das aging enterprise und der ›medizinisch-industrielle Komplex‹ (Estes et al., 2001a, 2001c; Estes & Binney 1989) als neu entstandene institutionelle Akteure, die zur Kommodifizierung von Gesundheit beigetragen und die Gesundheitsversorgung und Bedürfnisse älterer Menschen zu Wirtschaftsprodukten und gewinnbringenden Gütern transformiert haben, im Fokus der Betrachtung (vgl. Estes, 2001a, 2001c).

2.4       … und ihrer weiteren Entwicklung

In Ergänzung zu diesen politisch-ökonomischen Ansätzen entwickelte sich aus einer ›humanistischen Perspektive‹ (u. a. Cole et al., 1992, 1993; Cole & Gadow, 1986; Moody, 1988a, 1988b) ein zweiter Strang der Kritischen Gerontologie, der in den Worten von Minkler (1996, S. 470) »dem Altern und Älterwerden ein menschliches Gesicht – und einen menschlichen Körper und Geist – gibt« und die Fragen nach der Bedeutung oder Sinnlosigkeit im Leben älterer Menschen bzw. nach dem ›guten Leben‹ im Alter in den Fokus gerückt hat (ebd.). Sie sieht im Empowerment das verbindende Konzept, das die verschiedenen Stränge innerhalb der Kritischen Gerontologie zusammenführt (ebd., S. 471; vgl. ähnlich King & Calasanti, 2006). Phillipson (1998, S. 23ff.) schlug vor, dem humanistischen Pfad der Kritischen Gerontologie auch noch die ›biographisch-narrative Perspektive‹ (vgl. u. a. Gubrium, 1993, 1995; Ruth & Kenyon, 1996; Kenyon et al., 2001) hinzuzufügen und Katz (2003, S. 19; 2005, S. 90; 2014) ergänzt dann auch noch all die Ansätze der Age Studies und Cultural Gerontology.13

Nach Estes et al. (2001b, S. 24) speist sich die ›kritische Perspektive‹ der Gerontologie aus vier theoretischen Perspektiven: Konflikttheorien, Kritische Theorien, feministische Theorien und Theorien der Kulturwissenschaften. Lynott und Lynott (2002) sehen vor allem die Theoriestränge der Kritischen Theorie, der Politischen Ökonomie und der Sozialen Phänomenologie als relevant für die Kritische Gerontologie, für Baars (1991, S. 230ff.) sind es diejenigen, die sich aus der klassischen Kritischen Theorie (Adorno, Horkheimer), der interpretativen Tradition (Husserl, Schütz), der politischen Ökonomie (Marx, Neo-Marxismus) und dem poststrukturalistischen Ansatz (Foucault) herleiten (vgl. zum Ansatz von Baars Kap. 3).

Jüngst unterschieden Doheny und Jones (2020, S. 4f.) bei den theoretischen Herleitungen der Kritischen Gerontologie zwischen politisch-ökonomischen, lebenslauftheoretischen, humanistischen und kulturalistischen Ansätzen, die sie wie folgt verorten: a) die Eckpfeiler der ›politisch-ökonomischen Perspektive‹ im Anschluss an Marx’ Analysen der Wirkung der Ökonomie auf soziale Klassenstrukturen und Max Webers Ausführungen zu sozialem Status und politischer Macht, b) die ›Lebenslaufperspektive‹, die den individuellen Lebenslauf in einen sozialen und historischen Kontext setzt und die Zusammenhänge zwischen Kohorte, Kultur und Altern fokussiert, c) die ›humanistischen Ansätze‹, die auch konstruktionistische, hermeneutische und feministische Ansätze umspannen und Sinnfragen im Leben älterer Menschen behandeln sowie d) die ›kulturalistischen Ansätze‹, die sich mit den Themen der Identität und Gouvernementalität und dem kulturellen Raum befassen.

Ähnliche Rubrizierungen finden sich auch in der deutschsprachigen Rezeption der Kritischen Gerontologie, so z. B. bei van Dyk (2015, S. 61ff.), mit dem Unterschied, dass sie neben den Pfaden der Cultural, Humanistic, Narrative und Foucauldian Gerontology, speziell für Deutschland auch die von Saake (2002) und Schroeter (2000a, 2000b, 2007) im Anschluss an Luhmann, Bourdieu und Elias vorgelegten Entwürfe der Kritischen Gerontologie zuordnet (van Dyk, 2015, S. 83–87).

2.5       Was ist Kritische Gerontologie?

All diese Ansätze stützen sich auf unterschiedliche Kritikdiskurse und »sind von heterogenen kritischen Traditionen inspiriert« (Baars, 1991, S. 220). Damit wird der Kanon dessen, was unter Kritischer Gerontologie zu fassen ist, zunehmend unübersichtlich und diffus. Es bleibt der Eindruck, dass sich unter dem Label der Kritischen Gerontologie all die verschiedenen Ansätze vereinen, die in einer halbwegs gemeinsamen Opposition gegen die sog. ›Mainstream-Gerontologie‹ mit ihrem »positivistischem Paradigma als dem dominierenden Ansatz in der Forschung über das Altern, das spätere Leben und ältere Menschen« (Moody und Sasser, 2018, S. 36) stehen und »eine gemeinsame Front gegen ein theoretisches Selbstverständnis der Gerontologie (bilden), das von einem idealisierten Konzept der Naturwissenschaft als Vertreterin des ›objektiven‹ Wissens dominiert wird« (Baars, 1991, S. 220).

Insofern mag man die Kritische Gerontologie als einen Ober- oder Sammelbegriff sehen, »der die philosophischen Grundlagen, epistemologischen Annahmen und sozialen Einflüsse zum Gegenstand hat, auf denen die Sozialgerontologie aufgebaut ist« (Holstein & Minkler, 2007, S. 13) oder als »Denkraum«, in dem sich Gedanken sammeln, konvergieren, und Disziplinen und Traditionen überschreiten (Katz, 2005, S. 86; 2003, S. 16) und weniger als ein klar abgegrenztes Feld oder eine eindeutig definierte Ausrichtung innerhalb der sozialen Gerontologie (Doheny & Jones, 2020).

Auch der Hinweis von Ray auf die notwendige Rolle der Kritischen Gerontologie, auf der Grundlage kritischer Theorien »einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und das Feld der Gerontologie selbst zu werfen« und »die Strukturen, Annahmen und Praktiken der Mainstream-Gerontologie sowie die soziopolitischen Umfelder, in denen wir altern, mit einem Blick sowohl nach innen als auch nach außen zu kritisieren (Ray, 2008, S. 97), gibt noch keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, was denn Kritische Gerontologie nun wirklich ist.

Wenn Kritische Gerontologie mehr sein soll als ein umbrella term, unter dem sich eine oder mehrere Strömungen der Gerontologie ex negativo vom Mainstream konventioneller Gerontologie abgrenzt bzw. abgrenzen, dann muss sie ihren Gegenstandsbereich – ihr proprium – deutlich machen und möglicherweise auch noch stärker konturieren und in Beziehung zur gerontological imagination (Ferraro, 2018) setzen.14 Das allerdings bleibt ein schwieriges Unterfangen, solange innerhalb der Gerontologie noch immer heftig über Profil und Status des Faches (oder der Disziplin?) gestritten wird (vgl. Schroeter, 2021). Ein Vorschlag zur näheren Bestimmung der Kritischen Gerontologie findet sich bei Amann und Kolland:

»Was heißt nun Kritische Gerontologie? Kritische Gerontologie heißt zunächst, dass das ›Problem des Alterns‹ weniger als ein individuell erzeugtes und zu beeinflussendes gesehen wird, sondern als ein ›Problem‹, welches sozialstrukturell bestimmt ist. Kritisch heißt weiters, dass die Frage gestellt wird, welche Annahmen sich hinter den empirischen Aussagen […] befinden. Eine kritische Perspektive zeigt weniger individuelle Unterschiede auf als solche, inwiefern ältere Menschen in einem bestimmten Kontext (Gruppen, Organisationen) sich in einer benachteiligten Lebenssituation befinden, keine ausreichende soziale Partizipation aufweisen bzw. an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Es geht um eine Visibilisierung von sozialer Ungleichheit und Exklusion.« (Amann & Kolland, 2014, S. 18f.)

Aber der Kritischen Gerontologie geht es um mehr als um die Sichtbarmachung von Ungleichheit und Exklusion im Alter. Das wissen auch Amann und Kolland, wenn sie darauf verweisen, dass sich eine Kritische Gerontologie »primär an den Einschränkungen und Möglichkeiten der Emanzipation alter Menschen« (ebd., S. 19, eigene Hervorhg.) orientiert, wie zuvor bereits von Moody (1988b) formuliert. Ihr geht es nicht nur um Visibilisierung, sondern auch um Kritik und Veränderung. So sahen bereits Phillipson und Walker eine zentrale Aufgabe der Kritischen Gerontologie darin, »Annahmen zu provozieren und in Frage zu stellen und radikale Kritik aus anderen Zweigen der Sozialwissenschaft, z. B. der feministischen Analyse, einzubeziehen« und schlugen, »einen wertorientierteren Ansatz für die soziale Gerontologie vor – eine Verpflichtung, die soziale Konstruktion des Alterns nicht nur zu verstehen, sondern sie zu verändern« (Phillipson & Walker, 1987, S. 12, eigene Hervorhg.). Das klingt wie eine auf das Alter zugespitzte Reformulierung der berühmten elften Feuerbachthese von Marx (»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern«, Marx, [1845] 1978, S. 7; Hervorhg. im Original). Ähnlich lautet es bei Estes, die rückblickend erklärt, dass sie sich als »kritische Gelehrte und […] Intellektuelle sowohl wissenschaftlich als auch normativ verpflichtet« fühlt, »Unterdrückung in allen Formen und Facetten zu erkennen und daran zu arbeiten, sie zu beseitigen« (Estes, 2018, S. 25).

In diesem Kontext sieht Moody die Kritische Gerontologie als ein emancipatory enterprise (Moody 1988b, S. 36) und plädierte bereits frühzeitig für einen stärkeren Einbezug der Geisteswissenschaften in die Gerontologie, um sowohl die Widersprüche als auch die emanzipatorischen Möglichkeiten des späten Lebens einzufangen (ebd., S. 19). Für ihn ist die Kritische Gerontologie ein vor allem durch die Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule inspirierter Ansatz der Altersforschung, der sich insbesondere mit der Emanzipation älterer Menschen von allen Herrschaftsformen befasst (Moody, 1993, S. VI; Kap. 4.4).

Anders als das auf das Wohl der älteren Menschen ausgerichtete Zusammenspiel von Forschung, Praxis und Politik der Mainstream-Gerontologie bietet die Kritische Gerontologie nach Moody auch eine Kritik an der Ideologie und an den verborgenen Interessen dieser Mainstream-Gerontologie und versucht, die hinter dieser oberflächlichen Harmonie der Ideen stehenden Konflikte und Widersprüche aufzudecken. Insofern bietet die Kritische Gerontologie nach Moody zwar eine nachhaltige Kritik an der instrumentellen Vernunft, wenn sie darauf abzielt, den Zusammenhang zwischen Wissen und Herrschaft aufzudecken und aufzuzeigen, wie das soziale Phänomen Alter mit einer verdeckten Strategie der sozialen Kontrolle verbunden ist. Aber es fehle ihr eine ›positive Vision‹ davon, »wie die Dinge anders sein könnten« bzw. eine »rational vertretbare Vision eines ›guten Alters‹« (Moody, 1993, S. XVII).