Vorwort
In der Winterzeit steht aus der Welt, wie wir sie kennen, eine andere auf. Eine Welt, die Geheimnisse an die Geduldigen verschenkt.
Ein Teil des Jahres kommt an sein spürbares Ende. Das Taghelle, Geschäftige, überfließend Lebendige macht einer Zeit der Dunkelheit, Stille und Innerlichkeit Platz. Die Vita activa weicht der Vita contemplativa. Wer sich zurückziehen und auf das Wesentliche besinnen mag, wer sich selbst und den im Jahresverlauf gesammelten Erfahrungen auf den Grund gehen will, hat nun Gelegenheit dazu.
Der Winter ist wie eine fortwährende Zeit der Nacht. Als sei sie an die Stelle des Tages getreten, fühlen sich nun auch die Stunden zwischen Morgen und Abend bisweilen entrückt an, wie durchlässig und weit geöffnet für die vielen Zwischenwelten, die sonst nur der Nacht gehören. Die Natur breitet vor uns die Vielfalt ihrer Lebenskunst aus: im Loslassen und Leerwerden, im Stillerwerden und Wartenkönnen, im Reifen von Empfänglichkeit. Ob wir auf nackte Zweige, verschneite Hügel oder überfrorene Seen blicken, immerzu erinnern diese sprechenden Bilder uns daran, dass auch wir Natur sind, dass wir Zeiten des Stillstands und der Ruhe brauchen, um ausgeglichen und in unserer Kraft zu sein. Um in die Tiefe jeder Erfahrung vorzudringen, aus der Lebensweisheit hervorgehen kann.
Der Winter erschien mir immer schon wie eine Jahreszeit der Heilung. Weil er uns etwas zurückgibt, das wir manchmal verlieren: den Mut, das Abgründige zu bereisen. Die feineren Sinne, mit denen wir das Unsichtbare wahrnehmen. Die widerständige Kraft, die erlebte Stille bis ins Auge des Sturms trägt.
Die Texte dieses Buches folgen den Spuren der Winterzeit, jedoch ohne chronologisch vom Winterbeginn bis an die Schwellen des Frühlings zu reisen. Vielmehr tauchen sie – frei, wie innere Bilder sind – in die nährenden Quellen ein, die uns die dunkle Jahreszeit schenkt. Wir dürfen alle ein wenig winterlicher werden: annehmen, was ist, uns Zeit nehmen und der Vorfreude auf das Neue Raum geben, das uns begegnet, wenn wir uns verwandeln lassen.
Alleinsein
Erlaube dir,
allein zu sein.
Allein mit deinem Herzschlag,
wie die Schleie am Grund des Sees
und der Siebenschläfer in seiner Höhle,
umschlossen von einer Welt,
die sich um das Wesentliche kümmert.
Allein mit deinen Gedanken,
die unausgesprochen in dir überwintern,
um eine Weile zu ruhen
und neue Kräfte zu sammeln,
bevor sie kommende Weiten bereisen.
Erlaube dir,
allein zu sein.
Allein mit allem Unfertigen
und Ungetrösteten,
das wie Gräser unter Raureif
empfindsam und zerbrechlich ist
und deiner Behutsamkeit bedarf.
Allein mit tiefer Stille,
die dich bewohnt,
dich durch die Jahreszeiten trägt
und dir die Schönheit aller Dinge
wie ein Geschenk in dein Alleinsein legt.
Sehnsucht
Ich habe Sehnsucht
nach den winterlichen Dingen.
Nach Schnee,
der lautlos auf dunkle Tannen fällt,
nach dem Duft brennender Feuer
und dem weißen Atem der Schwäne,
deren Flügel das Abendlicht schützend umschließen.
Nach dem Knistern der Eisblume am Fenster,
dem lebendigen Rot der Schneeballbeere
und dem lautlosen Wandern der Dunkelheit an meiner Seite.
Ich habe Sehnsucht
nach der fühlbaren Erhabenheit der Natur,
nach dem Zittern meines Körpers,
der sich daran erinnert, dass er zerbrechlich ist
und sterben kann.
Nach dem Lassen und Lösen,
der Schwere und Müdigkeit,
die mich mit Ruhe segnet und sagt: Es ist genug.
Nach den hungrigen Träumen, die erst geboren werden,
wenn die Zeit der Fülle endet
und die Welt sich nackt und bedürftig zeigt.
Ich habe Sehnsucht nach der reinen Andacht,
die sich aus leer gewordenen Zweigen
und sternenklaren Nächten
in die offenen Hände meines Werdens schenkt
wie Brot des Lebens.
November
November,
du heilsame Zeit der Nachsicht.
Du Zeit, in der die Farben sterben dürfen
nach dem letzten rauschenden Fest
aus Röte und Gold.
Du hast schon gewartet
hinter randvollen Körben,
zwischen Quitten, Birnen und Pilzen
und dem beglückenden Duft
fruchttragender Arbeit.
Du hast schon leise gerufen
nach den müden Händen,
die ausruhen wollen,
nach den schwer gewordenen Lidern
und den mit Erfahrung gesättigten Herzen.
Du hast deine Arme
um das alternde Jahr gelegt
und um alle Dinge,
für die es nun zu spät geworden ist.
In dir verläuft die Schwelle
zwischen Herbst und Winter,
auf die du uns setzt
wie Vögel auf Zweige,
die bereit sind, ein Lied zu vergessen
und sich ein neues schenken zu lassen.
Stillstand
Die Erde verschließt ihre Kräfte
wie einen goldenen Schatz in ihrem Inneren.
Sie verwischt alle Spuren der Fülle,
durchtrennt alle Fäden des Werdens
und zieht um sich einen schützenden Kreis der Stille.
Nun birg auch du das Leben
im behütenden Dunkel deiner Mitte.
Ruf deine Kräfte aus der rastlosen Welt zurück,
nimm deine Stimme aus allen Wortgefechten
und deine Blicke aus der verzehrenden Suche
nach dem flüchtigen Glück.
Ruf dein Lauschen aus allen Gesprächen
zurück in dein Schweigen.
Trag alle Mühen, die dich erschöpften,
in die wartenden Räume des Lassens
und zieh deine Sehnsucht aus allen verzweigten
Adern des Lebens in die Mitte der Ruhe.
Erlaube dir die heilsame Zeit des Nichttuns,
des Ausatmens und Soseins.
Die Zeit, in der deine inneren Schätze
vor jedem Wollen sicher sind. Auch deinem.
Die Zeit, in der die Kammern deines Herzens
Räume einer Stille sind, die größer ist als du.
Dankbarkeit
Das Jahr klingt aus.
Ich ziehe mich zurück
auf eine Insel des Danks,
umrauscht von Erinnerungen.
Die Begegnung,
die einen verschlossenen Winkel
meines Herzens öffnete.
Der unerwartete Moment,
in dem ich mich zum ersten Mal
im Leben angekommen fühlte.
Das flüchtige Trostwort,
an dem ich mich immer noch wärme.
Der tiefe Riss,
der durch eine alte Freundschaft ging.
Der alte Kummer,
den kein Verstehen lindern konnte.
Die Müdigkeit,
die an den Rändern
eines nie gewagten Aufbruchs hängt.
Manche Dinge geben erst im Blick zurück
ihre Bedeutung preis,
als müsse man sie erst verkennen,
um sich unbekümmert auf sie einzulassen.
Manche Dinge schmerzen nur noch leise
aus der Ferne.
Und manche bleiben immer rätselhaft
wie eine Frage, deren Antwort
wir noch werden müssen.
Ich ziehe mich zurück
auf eine Insel des Danks,
und mein Dank gilt allem, was war.
In die Hände des Winters
Leg deine Müdigkeit in die Hände des Winters.
In die geduldige Erde,
die ihre Kräfte zurück in ihre Mitte ruft
und sich zum Ruhen in ein tiefes Schweigen legt,
geschützt von einer dünnen Haut aus Schnee.
Leg sie unter die fahl gewordenen Himmel
und die nackten Äste,
die sich darin verzweigen wie schwarze Blutgefäße,
in denen das Leben für eine Weile behutsamer fließt.
Tritt ein in die köstliche Langsamkeit,
in das Innehalten, das sich selbst genügt.
Nimm dir den Schlaf,
an dem dein Lebensmut gesundet.
Und hör dem Atem aller Dinge zu,
der auch dein Atem ist.
Du bist nicht allein.
Die Vögel werden ihre Winterlieder
mit Freude über deine müden Hände singen
und über jeden Traum, der enden will,
um einem anderen seinen Raum zu überlassen.
Gewebe
Leg einen Kuss
auf den Wundrand
des endenden Jahres,
einen Dank,
der nicht unterscheidet
zwischen Freude und Schmerz.
Für einen Moment nur
fühle das Gewebe des Lebens,
das dich schuf und atmete
und dich durch alle Verwandlungen trug
bis über die heilige Schwelle
dieses Augenblicks.
Winterlich musst du werden
Lange hast du der Fülle vertraut,
und nur der Fülle,
dem Duft, der aus Blüten und Früchten
in deine Einsamkeit herüberwehte,
der freundlichen Wärme, die deine Sehnsüchte
aus dem Eis der Vorbehalte hob,
der grundlosen Freude singender Vögel
und all den Farben, die dich ins Leben riefen.
Es frühjahrte und sommerte in der Welt und in dir,
und alles war berauscht von Ausgelassenheit.
Nun musst du dein Vertrauen in ein Geheimnis legen,
in ein stilles, wachsendes Wunder,
das sich nur den Geduldigen preisgibt
und dich nicht überwältigt,
in ein Schweigen, das beharrlich
auf deine feineren Sinne wartet.
Winterlich musst du werden,
willst du das sich weitende Dunkel fassen
und die besternte Andacht der Schöpfung in dir finden.
Ähnlich musst du ihr werden,
die über sich hinausstirbt, ohne Furcht zu enden.
Heute
Langsamer will ich werden.
Hinsehen ohne Eile,
empfinden ohne Hast.
Stiller will ich werden.
Schweigen ohne Unruhe,
lauschen ohne Ungeduld.
Weiter will ich werden.
Empfangen ohne Zweifel,
geben ohne Zurückhaltung.
Zuflucht
Zieh dich zurück
wie die Kraft der Erde
und das Licht der Sonne sich zurückziehen.
Sprich einen Dank
über die vergangene Fülle
und schenk dein Ja an die Grenze,
hinter der die dunkle Jahreszeit auf dich wartet.
Nimm Zuflucht in deiner Seele,
die dem Himmel gleicht
und der Erde, dem Wald und dem Zugvogel
und die wie alles Lebende
ihren Jahreszeiten folgen muss.
Finde die Weite in dir,
in der du aufatmen kannst,
und die geduldige Ruhe,
aus der dein Werden neue Kraft schöpft.
Finde die Wurzeln deiner Freude
und die vielen kostbaren Leben,
mit denen du verbunden bist
und die dich nähren.
Reise in der grenzenlosen Welt
unter deinen Lidern an die Orte
der Blüte und der strömenden Wasser
und sättige dein Herz an den Liedern,
die nur die Stille singt.
Du darfst ruhen
Du darfst müde sein.
Auch deine Hände,
die geben und nehmen,
halten und loslassen,
die arbeiten, pflanzen und pflücken
und unzählige Male
nach der warmen Hand des anderen tasten.
Du darfst müde sein.
Auch deine Augen,
die suchen und finden,
staunen und verbinden,
die betrachten, erkennen und berühren
und unzählige Male dem anderen eine Tür
zu deinem tiefsten Geheimnis öffnen.
Du darfst müde sein.
Mit allen deinen Sinnen.
Mit deinem ganzen Körper,
der den Raum für das Wunder
deines Leben hält.
Mit jedem Wort,
das ruhen muss, um neuen Mut
und frische Kraft zu finden.
Mit jeder Wunde, die noch deinen Blick
und Segen braucht, um auszuheilen.
Du darfst müde sein.
Du darfst ruhen,
bis das unversehrte Licht
in deinem Inneren
dich in die Zartheit
eines neuen Anfangs ruft.
Wesentlich werden
Wie unbeschriebenes Papier
breitet sich der frische Schnee
vor meinen Blicken aus.
Am Horizont steht eine kahle Buche,
stolz wie die letzte ihrer Art.
Der Himmel ist so weiß,
dass er fast nahtlos
in die zugeschneite Erde übergeht.
Alles ist unberührt.
Alles ist wesentlich,
nichts als Notwendigkeit.
Ich aber bin beladen
wie ein Herbst ohne Ernte.
Ein Mensch,
der jedes Lassen lernen muss.
Ich darf
Ich darf loslassen.
Wie der Baum, der seine Röte ablegt
und seine kühlen, feuchten Wurzeln
in die Verschwiegenheit der Erde taucht.
Ich darf ruhen.
Wie der Mond am Saum der Nacht,
der sich silbern auf stille Gräser bettet
zum Atemholen unter der fliehenden Hand der Zeit.
Ich darf sein.
Wie der Nebel auf den Wassern.
Wie der Raureif am Fenstergeviert.
Wandernd unter geduldigen Träumen.
Befreiung
Sie ist streng,
die kalte, harte Wintererde,
die unter meinen Schritten
widerständig bleibt.
Als ob sie mich willkommen hieße,
doch nicht das viel zu schwer gewordene
Gewicht in meinen Gliedern:
Das, was ich sammelte
aus Angst, nicht zu genügen,
zu scheitern oder zu verlieren.
Die Furcht vor dem Morgen,
vor Veränderung, vor dem Alleinsein
und all den Unvorhersehbarkeiten,
die sich wie Risse durch den Wunsch
nach Frieden ziehen.
All die Versprechen,
die ich nicht zu halten wusste,
das blasse Ja, an dessen Grund Verneinung lag,
die Worte, die ich trug wie eine Rüstung,
um nicht zu spüren, wie ein fremder Kummer sticht.
Die vielen Zweifel,
denen ich heilige Räume überließ.
Die immergleichen Geschichten,
derer ich müde bin und die ich mir erzähle,
um zu wissen, wer ich bin,
auch wenn die Zukunft darin kaum noch atmen kann.
All die Vertagung von Glück und Schmerz,
die Trauer, aufgespart und angesammelt
für ein Später, das nie kommt.