Foto: © Stefan Haehnel
Angie Volk, geboren 1989, studierte Kulturwissenschaften und Interkulturelle Kommunikation in Frankfurt (Oder) und Ljubljana. Sie ist Mitgründerin der anonymen Lesebühne Konzept: Feuerpudel. 2015 stand sie auf der Shortlist des Write-and-Read-Wettbewerbs der Jungen Verlagsmenschen, 2018 erhielt sie den Förderpreis der Gruppe 48. Ein Jahr später war sie Finalistin beim 27. open mike. Krokodile ist ihr erster Roman.
Für Xenia
Si tu es celui qui pense
au milieu de ses tracas
aux bateaux qui se balancent
viens danser avec Zorba
Si tu es celui qui vide
le bonheur jusqu’à la lie
en se moquant bien des rides
viens danser le sirtaki
Si tu es celui qui ose
être fier d’un cœur qui bat
en regardant une rose
viens danser avec Zorba
viens danser avec Zorba
viens danser avec Zorba!
Ich notiere:
Vom Meer aus zu sehen: bunte Schirme, überall achtlos verteilt wie Bonbonpapier.
Dazwischen: dunkelbraune, fettfleckige, verbrannte kleine Körper.
Vom Strand aus zu sehen: ein grünblauer Streifen Meer, kaum Wellen.
Jachten, die so nah geankert haben, dass sie unentschlossen wirken, unentschlossen, ob sie zum Strand oder zum Meer gehören.
Dazwischen: Badetiere. Flamingos, Einhörner, ein Tukan. Kinder, die zu schwimmen imitieren, ihre kleinen Glieder sind in aufgeblasenes Plastik gesteckt.
Schweiß, Salzgeruch, ein beständiger Wind.
Bea schläft mit einem Strohsonnenhut auf dem Gesicht seit einer halben Stunde im Sand.
Wir sind seit zwei Tagen hier, zwei Tage, wenn man den Anreisetag mitzählt. Eigentlich möchte ich ihn nicht mitzählen.
In schmalen Billigmaschinen sind Bea und ich auf die Insel zugeflogen, sie von Hessen, ich von Berlin aus.
Bea hat mir ab dem Sicherheitscheck Updates geschickt:
9:45 Uhr: Habe den ersten Bierhelm gesehen.
9:58 Uhr: Habe den zweiten Bierhelm gesehen, diesmal die rosafarbene Wildwest-Version.
10:13 Uhr: Der Opa in der Kaffeeschlange vor mir trägt ein T-Shirt, auf dem steht: »Ich brauche kein Viagra, ich brauche das Gegenmittel.« Daneben seine Frau, sehr aufgekratzt.
10:40 Uhr: Eine Gruppe Teenies hat es irgendwie geschafft, Schnäpse durch den Security-Check zu schmuggeln. Es riecht nach süßer Feige und Spiritus, es riecht ein bisschen wie bei uns am Trubelweiher früher.
11:03 Uhr: Habe ich dir schon gesagt, dass ich mich freue?
Bei der letzten Nachricht lächelte ich erschöpft, tippte zur Antwort einen Smiley mit einer Acht als Augenpaar und stellte mein Handy in den Flugmodus.
Ich schaute durch die Scheibe am Gate, blickte durch die Rillen hindurch, die der Regen in den Schmutz gegraben hatte. Betrachtete die Flugzeuge, denen lange Tunnel aus den Bäuchen hingen, die Stewardessen, die in schimmernden Strumpfhosen und steifen Blazern herumstanden und warteten.
Lange sah ich einer Frau dabei zu, wie sie ein Modemagazin durchblätterte und mit einem riesigen Smartphone zwischen Ohr und Hijab geklemmt gelangweilt telefonierte.
Dann begann das Check-in.
Im Flieger habe ich erst mit mir gerungen, irgendwann doch einen Sekt getrunken, zwanzig Minuten später den zweiten gekippt. Meinem Sitznachbarn lächelte ich dabei fröhlich zu, machte ein Gesicht, als gäbe es bei mir so richtig was zu feiern, als würde ich den Sekt nicht etwa trinken, um das Rasen in meinem Brustkorb zu beruhigen. Das Rasen, das mir ansonsten aus der Nase quillen würde, das Rasen, das nichts mit dem Fliegen zu tun hatte, sondern mit der Befürchtung, zu viel von mir sei noch nicht abgehoben.
Im Blick meines Nachbarn lagen zu gleichen Teilen Mitleid und Gleichgültigkeit.
Mit hastigen Bissen aß ich einen matschigen Muffin, sah nicht mehr nach rechts und links, dämmerte weg in einer Wolke aus Unterdruck und Maschinengeräuschen. Ich verpasste die Rubbellose und die Ansage, dass wir landeten, wachte erst auf, als eine Frauengruppe ein paar Reihen vor mir zu singen begann.
Es ging um ein rotes Pferd, und es fiel mir schwer zu folgen.
Im Ankunftsbereich mussten Bea und ich einander eine ganze Weile suchen.
Zwischen den Abholdiensten, den Kleinfamilien und Reisegruppen, zwischen den Autovermietungsservices und den Reisebanken, zwischen den summenden Snack-Automaten und dem älteren Herrn, der mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf einem Reinigungsfahrzeug saß, reaktivierte sich das Gefühl in meiner Brust. Wie eine elektrische Entladung breitete es sich Stück für Stück in meinem restlichen Körper aus, wurde allmählich zu einem zirpenden Geräusch. Es klang wie ein Kahn, der sich durch eine zugefrorene Wasseroberfläche schiebt.
Widerwillig dachte ich an meine Therapeutin. An ihr Mondgesicht und ihre dunkelblaue Brille, daran, dass sie immer behauptet, es würde mir helfen, wenn ich verstünde, was mit mir geschieht in diesen Momenten. Und daran, dass ich das für Quatsch hielt. Ich murmelte »Fight or Flight,
Flight or Fight
or
Flight
or Fight
or
Flight
or Fight.«
Hielt die Augen geschlossen und beobachtete dunkle Flecken hinter meinen orangen Augenlidern, die wie Geißeltierchen in einer Petrischale umherschwammen, atmete dabei in viel zu kurzen Zügen.
»Ich hatte Sorge, dass du ein Schild mit meinem Namen vorbereitet haben könntest«, sagte schließlich Beas Stimme sehr nah neben meinem linken Ohr.
Sie musste mich schon länger angeschaut haben.
Wie immer übernahm Bea das Reden. Sie hakte sich bei mir unter wie früher, hatte mein bleiches Gesicht einfach wegignoriert, weggeplaudert und erzählte mir ausführlich von den weiteren Ereignissen ihres Fluges. Davon, dass sie in der gleichen Reihe wie der Viagra-Opa und seine Frau geflogen war, die beiden nett gewesen seien – er ein ehemaliger Geschichtsprofessor, sie pensionierte Laborassistentin. Dass beide nur auf der Insel so richtig abspannen könnten, schon seit Jahrzehnten rüberflögen, uns einen wunderbaren, einen erholsamen Urlaub wünschten.
Ich betrachtete Bea unauffällig von der Seite. Ihre Wangen, die immer leicht gerötet sind, ihre hellblauen Augen, die immer wach aussehen, wach und aufgerissen.
Ein Blick, als würde sie etwas erstaunen oder empören.
Ein Gesicht, das immer vertraut ist, egal wie lange wir uns nicht sehen.
Es ging mir dann schnell besser.
Ein roter Twingo wartete am Ausgang, überzogen von einer hellbraunen Sandschicht, die die Hauptfarbe der Insel ankündigte. Vor ihm lehnte ein Typ um die sechzig, er trug eine blau verspiegelte Sonnenbrille, weiße Leinenhosen und ein enges T-Shirt mit einem Mandala drauf. Er hatte sich eine Bundfalte in die Hose gebügelt, in eine Hose, die mit einem groben Knoten geschlossen wurde.
Der Typ breitete seine Arme aus, stellte sich als Rolf, unser Ferienhausvermieter, vor.
»Willkommen auf der Insel. Ihr müsst die neuen Sonnenanbeterinnen sein.«
Er sagte, dass wir wirklich noch ganz schön blass seien, sein Blick wanderte dabei unsere Körper rauf und runter.
Ich wickelte meine Jeansjacke enger um die Hüfte.
Im Auto war Rolf netter als erwartet, stellte viele Fragen zu Deutschland, zum Flug, wollte wissen, was wir beruflich machen. Er schien ernsthaft interessiert.
Bea stieg eifrig ins Gespräch ein, hatte sich von der Rückbank weit nach vorne gebeugt. Ihre Hände gruben sich in den spröden Plastikbezug der Vordersitze, sie deutete mal hierhin und mal dorthin, einmal griff sie fast in die Schaltung.
Sie und Rolf lachten schnell miteinander.
Ich betrachtete die karge Landschaft vor dem Fenster, die Tankstellen, Shoppingcenter und Kreisverkehre. Versuchte, einen Blick aufs Meer zu erhaschen, ohne zu wissen, in welcher Richtung es lag. Auf den ersten Blick sah die Insel aus wie ein sommerheißes Industriegebiet irgendwo bei Frankfurt (Oder).
Ich musste an die Hinfahrt von Beas und meiner ersten Reise denken, keine Ahnung, wohin wir damals gefahren sind.
Bea und ich hatten die Salamibrote und die nach Salamibrot schmeckenden Apfelschnitze aufgegessen, uns aus Lakritzschlangen Armbänder und Ringe geknüpft. Wir hatten eine Kassette gehört, uns um den Gameboy gestritten, einen Käfer aus dem Fußraum gerettet und zum großen Unmut von Beas Vater alle Handklatschspiele, die wir kannten, mehrfach durchgespielt, als Bea auf eine Idee kam.
Beim nächsten Lkw, der vorbeifuhr, zog sie ihr T-Shirt hoch, schielte und zeigte dem verdutzten Fahrer ihre Kinderbrüste. Ihr Oberkörper war schneeweiß, geflankt von kräftigen Rippenbögen, ihren Bauch hatte sie so weit rausgestreckt, dass es aussah, als würde ihr Nabel jeden Moment abspringen wie ein lockerer Knopf. Sie machte einen Schmollmund und drückte ihr imaginäres Dekolleté zusammen.
Bea und ich hatten die Pose vom Privatfernsehen gelernt, aus den Filmchen, die wir schauten, wenn wir beieinander schliefen, uns heimlich nachts aus den Betten stahlen und kichernd vor der Glotze saßen.
In der nächsten Sekunde war der Mann aus unserem Sichtfeld verschwunden, sein Lkw vor uns fuhr leichte Schlangenlinien.
Wir lachten, bis uns die Capri-Sonne aus der Nase lief, bis Beas Vater, der vorne nichts von alldem mitbekommen hatte, sich umdrehte und brüllte, dass er uns an der nächsten Raststätte rausschmeißen würde, wenn wir jetzt nicht die Klappe hielten.
Rolf fragte, was ich denn zu erzählen hätte, warum ich gar nichts sagen würde? Er schaute mich durch den Rückspiegel an, sein Blick war schwer zu lesen.
Ich lächelte entschuldigend, behauptete, dass mir schnell schlecht werde im Auto, es besser sei, den Mund geschlossen zu halten.
Bea verdrehte stumm die Augen.
Nach etwas mehr als einer halben Stunde waren wir schließlich am Ziel.
Unser Teil der Insel liegt bewegungslos in der Sonne, ist ein paar Kilometer weit entfernt von den weißen, riesigen Hotelanlagen, die über die Strände gekippt wurden, und den Einkaufsstraßen, die sich gierig in die Altstadt graben. Das Gebirge ist nicht zu sehen, die Landschaft um uns herum verdorrt und flach.
Am Strand gibt es ohne Ende Teeniegruppen. Junge Frauen mit langen Haaren, die wie dunkle Seidenbahnen von ihren Köpfen hängen, Jungs, die mit forschen Blicken den Sand, die Körper, die Konkurrenz vermessen.
Zwischen den Gruppen liegen zwei Frauen um die fünfzig. Sie tragen Schlapphüte, haben sich in Embryohaltung zusammengerollt, liegen Rücken an Rücken. Während sie dem Treiben zuschauen, dabei aussehen wie auf die Seite gekippte Wächterinnen, tun alle anderen so, als würden sie einander nicht bemerken. Die Jungs kicken einen pinken Ball am Wasser entlang, die Mädchen kämmen konzentriert ihre Haare, sitzen dabei sehr aufrecht.
Schräg rechts von alldem hocken Bea und ich.
Bea ist inzwischen wach, hat eine Runde Eis und Bier spendiert.
»Ich hätte hier die ganze Zeit Angst, dass Noah einen Hitzschlag bekommt«, sagt sie, macht eine lange Bewegung mit der Zunge an ihrer Waffel entlang und betrachtet ein paar Kinder vor uns im Sand. Sie sehen fit aus, zufrieden. Seit Stunden sind sie mit einem unermüdlichen Eifer mit Sandförmchen und kleinen bunten Schaufeln beschäftigt. Ich denke, Noah würde es vermutlich überstehen. Sage nichts, nehme stattdessen einen Schluck Bier.
Ich habe am ersten Tag immerzu an Oscar gedacht, jetzt weniger, ganz bewusst schiebe ich die Gedanken davon, versuche das Thema zu wechseln. »Wirklich irre, was für ein Glück wir mit dem Wetter haben.« Ich springe auf, wische mir schwitzigen Sand von den Oberschenkeln.
»Ich gehe noch mal ins Wasser.«
Bea lässt sich halb schulterzuckend, halb kopfnickend nach hinten fallen.
»Griechenland, Italien, Kroatien, Spanien, völlig egal«, hatte Bea am Telefon bei der Reisebuchung gesagt, also hatte ich ein zweites Fenster geöffnet und die Koordinaten für Spanien eingegeben.
»Hauptsache, es ist warm, Hauptsache, es gibt Wasser.«
Bea hatte es sich zur Aufgabe gemacht, der Reise den Anschein zu geben, als wäre sie es, die dringend Urlaub brauchte. Als ginge es nicht darum, dass mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, ich Gefahr lief, in den Rinnen des Alltags zu verschwinden.
Ein paar Wochen hatte sich Bea meine Abgespanntheit, meine Erschöpfung am Telefon angehört, dann war sie dazu übergegangen, Reisesehnsucht zu verkünden. Sie erzählte von einer Kollegin, die frisch von den Malediven zurückgekommen und deren Sommerbräune blanker Hohn sei. Ich wusste, sie hatte die Kollegin erfunden.
Bea behauptete, dass sie durch Zufall den perfekten Badeanzug gefunden habe, sie Baywatch in der Wiederholung schauen würde. Dass sie einen Wahnsinnsappetit auf gegrillten Tintenfisch habe, auf süßen Rotwein und Anislikör.
Irgendwann gab ich auf und schlug einen Sommerurlaub vor.
Wir wussten beide, dass es wichtig war, dass die Idee von mir kam, sprachen nicht darüber.
Ich scrollte durch die Inserate, während Bea Flugpreise murmelte, blieb am Bild einer Finca hängen. Das Foto war stark nachbearbeitet, die Farben leuchteten unnatürlich und komplementär, die Szenerie wirkte dadurch fast tropisch. Ich klickte durch die anderen Bilder, blieb hängen beim Bild eines Sprungbretts, das jemand zwischen großen Felsbrocken am Uferrand des Meeres angebracht hatte.
Es sah aus, als würde der Absprung nicht ins Wasser, sondern in den Himmel führen.
»Ich glaube, ich habe einen schönen Ort gefunden.«
Ich stehe bis zu den Schenkeln im Meer, wehre die Wellen ab, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit, gelegentlich huscht ein dünnes Fischchen davon. Ich schaue ungläubig hinterher. Das Wasser sieht aus, als hätte es jemand frisch eingelassen, als läge es nicht seit Millionen von Jahren in einem sandigen Becken, jeder Fisch sieht aus wie ein Statist.
Eine Welle schwappt mir gegen Bauch, Brustbein, Kinn, ich tauche ab, puste silberne Blasen durch die Nase. Mein Haar steigt als dunkelrote Wolke um meinen Kopf herum auf, ich höre das Blut in meinem Schädel pochen. Es fühlt sich an, als ob sich die Poren meines Gesichts mit Luft füllen. Ich sinke auf den hellen Meeresboden, greife nach meinen Kniegelenken, mache eine krause Stirn, lege sie ab.
Ich frage mich, wie es wäre, hier zu bleiben, ob es den Versuch wert wäre – einfach immer mehr Luft ausatmen, die Lungen verschließen, sich mit allen Gliedern verpacken zu einem Bündel und hier hocken bleiben, in dieser lauwarmen salzigen Nährlösung, die Geräusche des Strandes noch schwach erahnen können, aber nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Unter meinen Händen verändert sich der feuchte Sand, fühlt sich an wie die Oberfläche eines Tieres.
Mein Körper lässt mich im Stich, verlangt schon nach kurzer Zeit panisch nach Sauerstoff, ich treibe enttäuscht nach oben.
An der Wasseroberfläche brennt mir die Sonne eine heiße Schneise auf die Kopfhaut, das Pochen des Meeresbodens dröhnt in mir nach.
Ich höre sein Lachen, bevor ich ihn sehe, öffne widerwillig die Augen.
Der Typ ist um die sechzehn, schlaksig, insgesamt schief, ziemlich groß. Sein Lachen ist ehrlich, nicht schön, es klingt wie ein junges, übermütiges Bellen. Die Nase ist zu lang, passt zu seinen ungelenken Gliedmaßen, seine Zähne sind sehr weiß, man kann die Zahnspange noch erahnen. So braun gebrannt, wie er ist, muss er schon länger hier sein, vermutlich mit seinen Eltern. Die nassen dunklen Locken schüttelt er seinem Freund entgegen, Tropfen landen auch auf meinen Schultern, er sagt etwas auf Französisch. Ich bin überrascht, dass ich ihn problemlos verstehe.
Er bemerkt meinen Blick in dem Moment, als ich selbst bemerke, dass ich ihn anstarre, sieht mir direkt ins Gesicht, grinst breit. Wahrscheinlich mehr aus Spiel als aus echtem Interesse. Ich kann es ihm nicht verübeln, ich sehe viel jünger aus, als ich eigentlich bin. Außerdem gaffe ich, mitten auf einer Sandbank im Mittelmeer gaffe ich ihn an wie das siebte Weltwunder.
Der Typ zieht die Augenbrauen nach oben, sagt diesmal auf Englisch: »Wie geht’s, alles klar?«
Irgendetwas an der Situation erschrickt mich zu Tode, der Schreck schießt mir in jeden meiner Knochen. Ich drehe mich um, schiebe meine Knie, so schnell es geht, durchs Wasser, halte mich mit Mühe davon ab loszulaufen.
Ich höre sein Lachen hinter mir, er lacht noch, als ich schon fast wieder auf dem Trockenen bin.
Bei jedem Schritt schippe ich eine Ladung Sand auf eine fremde Strandmatte, höre träge gemurmeltes Geschimpfe hinter mir, drehe mich nicht um.
Bea hat sich wie ein Seestern ausgebreitet, liegt inzwischen mit dem Gesicht nach unten. Ich bin nicht sicher, ob sie schläft, bohre einen Finger in ihren Oberschenkel. Ein weißer Fleck bleibt zurück. Sie knurrt auf.
»Du bist schon ziemlich rot, du solltest aufpassen«, sage ich und lasse mich neben sie fallen. Ich scanne das Meer von weitem ab, stelle erleichtert fest, dass ich die beiden Jungsköpfe nicht mehr erkennen kann.
Bea dreht sich zu mir um: »Und du bist eine einzige Sommersprosse.«
Kurz vor der Siesta kaufen wir uns jede noch ein kaltes Bier und eine Tüte Chips, um später wieder auf die Beine zu kommen.
Der Supermarkt ist klein und schmal, bis zur Decke vollgestapelt mit Dosen, Tüten und Flaschen. Es riecht nach fauligen Bananen, nach Glasreiniger und Eisen. An der Kasse sitzt eine ältere Dame in einem weißen Kittelkleid, sie tippt auf einem orangefarbenen Nokia herum, hat ein Bein vor sich auf einen kleinen Hocker gelegt. Sie schaut mich durch getönte Brillengläser an, ihr Lächeln ist zahnlos und schön.
Einen kurzen Moment stehe ich da und sehe sie an, sie erscheint mir wie eine Figur aus einem altertümlichen Gemälde, wie etwas in sich Ruhendes, unendlich Stabiles. Dann unterbricht Bea meinen Gedanken.
»Sonnencreme ist absurd teuer«, sagt sie und hält mir eine weiß-gelbe Tube entgegen. »Es ist ein Skandal.« Ich zucke die Schultern, schaue in den zerkratzten Spiegel am Drehständer mit den Sonnenbrillen. Mein rechtes Auge erscheint darin, es sieht müde aus, rot vom Salz.
Neben einem Metallregal voller Schwimmtiere, Flossen und billigen Schnorcheln finde ich das silbrig bunte Snackangebot, knistere unentschlossen mit einer Tüte Salzstangen. Lese: Sour Creme, Huevo Frito, Chakalaka.
Jemand hinter mir sagt plötzlich, dass sein Name Julien sei, fragt, wie ich denn heißen würde. Ich halte mich an den Salzstangen fest wie an einer Boje, weiß sofort, dass es der Typ aus dem Wasser ist.
Er steht einen Fußbreit von mir entfernt, greift nach der Jumbopackung Erdnussflips, dreht sich zu mir rüber. Mein Körper wird mir seltsam bewusst, ich schiebe die Schultern nach hinten, weiß nichts mit meinem Hintern anzufangen. Ich bemühe mich, gerade zu stehen. Er sagt Hallo auf Französisch, sachlich und freundlich. Ich sage erst nichts, dann auch Hallo und direkt im Anschluss: »Ich bin dreißig.« Ich sage es erst falsch, korrigiere mich dann: »Ich habe dreißig.«
Er nickt, sagt »Okay«. Runzelt die Stirn und wartet.
Ich kann nicht anders und schaue unschlüssig zurück.
Meine Pobacken entspannen sich.
Bea sagt nichts, als ich meine Telefonnummer in sein Handy tippe. Ich bemerke sie erst, als ich mich verabschiede, mich in die andere Richtung des Ganges drehe.
Was zum Teufel, denkt Bea.
Ich habe das manchmal, dass ich Beas Gedanken hören kann.
Was soll denn der Unsinn?
Es ist eigentlich nur am Strand auszuhalten. Vom Meer aus schiebt ein beständiger Wind das Wasser gegen die trockene Insel, zerteilt die unbewegliche Hitze, macht sie erträglich. Der Rest des Örtchens ist sonderbar leer. Wir begegnen einer schmalen schwarzen Katze vor einem Haus, hören eine alte Spanierin irgendwo laut telefonieren. Ihre Stimme ist quäkend, so als hätte sie zwanzig Jahre Marlboro geraucht und dann einen Frosch verschluckt.
Ansonsten ist es still.
Vom Meer zum Supermarkt ist es nicht weit, vom Strand bis zu unserer Unterkunft eine halbe Stunde Weg. Es riecht nach verbranntem Fleisch, nach Sommerflieder und Benzin, irgendwo wässert jemand seinen Rasen.
Bea und ich laufen schweigend nebeneinander, jede von uns trägt zwei dünne Plastiktüten voller Einkäufe. Meine Flipflops schmatzen bei jedem Schritt.
Ob ich wisse, wie albern das mit dem Typen sei, fragt Bea irgendwann.
Ich sage nichts.
»Richtig hart albern«, sagt Bea.
Ich deute ein Schulterzucken an.
Sie ist dann wieder relativ versöhnlich.
Wir haben uns in einer sehr bunten Unterkunft eingemietet, teilen uns ein Zimmer.
Der Rolf und Eva, die Vermieterin, wohnen mit im Haus, sie sind vor ein paar Jahren ausgewandert aus Süddeutschland.
Wegen des Wetters, wegen des Meeres, alles viel entspannter hier.
Wir haben die zwei Wochen beim Einchecken bar auf die Hand bezahlt, Eva hat die Scheine in ihre Desigual-Tasche gesteckt, uns verschmitzt zugezwinkert.
Jetzt gerade sitzt sie auf der Veranda, hat ein riesiges Glas Cola vor sich stehen, verharrt unbeweglich in der Sonne wie ein wärmespeicherndes Reptil.
Ihre Haut glänzt, duftet nach Vanille und Kokos.
Eva schiebt sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht, als wir näher kommen, winkt uns entgegen.
»Hallo, Mädels, wie ist es euch ergangen?«
Sie ist eine dieser Personen, die ohne erkennbaren Grund lachen am Ende ihrer Sätze.
Erst als wir vor ihr stehen, bemerke ich den kleinen Fernseher auf dem Tisch vor ihr. Es läuft deutsches Programm ohne Ton. Eine blonde Frau hält eine Halskette in die Kamera, lehnt sich übertrieben begeistert nach vorne. Eine zweite Frau fasst sich dazu ergriffen ans Herz.
»Alles wunderbar«, sagt Bea, und ich wippe dazu mit dem Kopf.
Dass es kein Wunder sei, dass sie hergezogen sei, sagt Bea. Dass sie sich selbst immer fragt, warum sie eigentlich in Deutschland lebe, wo doch überall sonst auf der Welt so tolles Wetter sei. Bea macht ein schwärmerisches Gesicht, deutet auf den Himmel, die Liegestühle, den ausgeblichenen Zierbrunnen in der Ecke, in dem kalkige Keramikfrösche sitzen.
»Du kannst uns immer gerne besuchen«, sagt Eva. Sie macht eine Kunstpause, fügt dann hinzu: »Für fünfundvierzig Euro die Nacht.«
Bea und sie lachen einen kleinen Moment zusammen in Richtung Sonne.
Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals, nuschle eine Entschuldigung und schiebe mich durch das Fliegengitter an Eva und Bea vorbei ins abgedunkelte Haus.
Rolf sitzt im Unterhemd an seinem E-Piano, er hat sich im Wohnzimmer ein kleines Musikstudio eingerichtet. Ein Computerbildschirm leuchtet ihm blau ins Gesicht. Er trägt große Kopfhörer, bemerkt nicht, dass ich reinkomme. Seine Finger klackern über die Plastiktasten, er hält die Augen geschlossen, zuckt rhythmisch mit den Mundwinkeln, den Augenbrauenspitzen.
Ich gehe vorsichtig an ihm vorbei die Marmortreppe hoch.
Die Wände von Beas und meinem Zimmer sind mit Wischtechnik bemalt. Ich reibe beim Reinkommen mit einer Hand über das Grün, das Orange, das Rot, klopfe mit den Fingerknöcheln auf die Wand. Sie klingt seltsam hohl.
Ich lasse mich auf meine Bettseite sinken, das Kiefernholz knarzt und ächzt. Ich bemerke die Einkäufe, die ich noch im Arm halte, öffne eine warme Dose Bier, trinke sie dann