Peter Gerdes

Hetzwerk

Ostfriesland-Krimi

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Falsche Spuren Regionalpolitiker Carsten Fecht hat es bis zum Landtagsmandat gebracht. Für seine Karriere ist ihm jedes Mittel recht. In diversen Chat-Foren hetzt er gnadenlos gegen jeden, der ihm in die Quere kommen könnte. Bis er vor seinem eigenen Haus erschossen wird. Hat sich eines seiner Opfer gerächt? Oder fürchtete ein Mittäter peinliche Enthüllungen? Hauptkommissar Stahnke und sein Team, verstärkt durch die neue Kollegin Annika Brühl, hat die Ermittlungen kaum aufgenommen, als eine Reihe von Anschlägen Ostfriesland erschüttert. Häuser werden in Brand gesetzt und bei einem Bombenanschlag stirbt ein Gewerkschaftsfunktionär. Hängen diese Fälle zusammen? Steckt womöglich ein ganzes Netzwerk dahinter? Und was sind die Motive? Je näher Stahnke und seine Kollegen der Wahrheit kommen, desto brisanter wird die Lage. Nicht zuletzt für sie selbst. Aber als sie das erkennen, ist es bereits zu spät. Oder können sie die Katastrophe doch noch verhindern?

Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hespasoft / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6752-3

 

 

1.

»Oh Gott, da ist er wieder.« Lars Noack trat zwei Schritte zurück und schob sich hinter ein Grüppchen miteinander schwatzender Ratsmitglieder, das genügend Deckung bot.

»Wer ist da?« Friedo Adams reckte den Hals. »Meinst du den Kellner?« Er hob sein Bierglas, musterte es. Noch halbvoll. Der hochgewachsene Insulaner schien unschlüssig, ob er den Rest umgehend vernichten und gleich nachbestellen sollte, solange die Chance bestand. Der Platz hinter der Waage am Hafen von Leer war voller Menschen, die wie jedes Jahr am 30. April zur Maibaumfeier erschienen waren, da war Getränkenachschub immer Glückssache.

Ratsherr Noack legte ihm die Hand auf die Armbeuge. »Nee, nicht jetzt! Sonst guckt er noch her.«

»Na, das soll er doch!« Adams kapierte nichts.

»Nicht der Kellner, Mensch. Der Fecht!« Noack, der auf Pressefotos sowieso immer an eine Schildkröte erinnerte, zog seinen Kopf noch ein Stückchen weiter ein.

»Ach so, der Fecht!« Adams guckte erstaunt. »Wieso, Carsten ist doch in Ordnung! Wie der neulich erst wieder diesem Schmierfinken von der Lokalzeitung die Meinung gegeigt hat …« Sein breites Lachen legte makellose Zahnreihen bloß.

»Ja, ja, der Fecht, der geigt den Leuten gerne die Meinung.« Mit zusammengekniffenen Augen linste Noack zwischen seinen Ratskollegen hindurch zu dem großen, breitschultrigen Mann mit dem rötlich schimmernden Pferdeschwanz hinüber, der gerade jede Hand schüttelte, die in seine Reichweite kam. »Gerne auch hinter deren Rücken, wie man inzwischen weiß. Großer Mist, wenn das dann doch rauskommt. Und groß in der Schmierfinken-Zeitung steht!«

»Ach, das meinst du.« Friedo Adams senkte jetzt auch sein Haupt, was aber nicht viel bewirkte, befand es sich doch eine ganze Etage höher als das von Noack. »Diese blöde Hackergeschichte! War doch nicht Carsten Fechts Schuld, diese Attacke. Er hat doch nur seine Meinung gesagt. Und das wird man ja wohl noch dürfen.«

Noack konnte einen hämischen Gluckser nicht unterdrücken. »Tja, Meinungen sind wie Arschlöcher, was? Jeder hat eins.« Er zog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch. »Bloß, dass der Fecht zu allem und jedem eine Meinung hat. Intern oder nicht. Und selten eine schmeichelhafte! Außerdem hat er noch seine U-Boote, die für ihn die Torpedos abschießen. Es gibt eine Menge Leute, denen das stinkt. Auch unter den Genossen.«

»Arschlöcher! Denen das stinkt! Hähä, gut gesagt.« Adams war deutlich anzusehen, woran er gerade dachte. Auf anale Metaphern fuhr er voll ab. Sein anzügliches Grinsen verging jedoch schnell. »Mir hat Carsten aber geholfen damals«, sagte er. »Wenn er sich nicht für mich stark gemacht hätte, dann hätte ich die Stelle bei der Langeoog-Touristik vielleicht nicht bekommen.«

»Damals wusste er ja auch noch nicht, was du sonst noch so treibst«, sagte Lars Noack so leise, dass seine Worte von dem Wind, der in leichten Böen das kakaobraune Wasser des Leeraner Hafens kräuselte, gerade eben nicht verweht wurden. »Außerdem – dafür, dass er dir die Hand vor den Hintern gehalten hat, hat er seine Hand nachher ganz schön aufgehalten, oder nicht?«

»Ach, das war doch nur Spaß, was du meinst! Von wegen, was ich treibe. Zwei- oder dreimal höchstens! Alles überhaupt nicht ernst gemeint. Vergiss es!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, ohne an sein Bierglas zu denken. Noack konnte der schwappenden Flüssigkeit gerade noch ausweichen, zwei andere Ratsherren aber bekamen das Gebräu über die Hosenbeine und beschwerten sich lautstark.

Im nächsten Moment stand Carsten Fecht vor ihnen. »Na, Kollegen, Genossen, alles klar? Hat der Friedo euch nassgemacht? Sagt mir Bescheid, wenn er euch ärgert, dann helfe ich euch, das wisst ihr ja wohl!« Kräftige Hände an langen Armen schnappten zu, schüttelten andere Hände und klopften Schultern.

»Na, Lars, auch hier?« Ein abfälliger Blick aus tiefen Augenhöhlen, zwei herabgezogene Mundwinkel unter breiter Boxernase. Schon hatte sich Fecht wieder anderen Umstehenden zugewandt.

Lars Noack sah den rötlichen Zopf auf edlem Anzugstoff pendeln. Seine eigenen Hände hatte er rechtzeitig in den Hosentaschen verstauen können. Dort ballte er sie jetzt zu Fäusten.

»Also ich mag ihn, den Carsten«, ließ Friedo Adams sich vernehmen. »Der ist so richtig volksnah! Spricht das aus, was alle denken, ohne Rücksicht auf Greta oder diese verlogene Political Correctness. So einen brauchen wir doch heutzutage in der Partei, wo alles zu den Rechten rennt. Wenn Carsten Fecht bei uns das Sagen hat, dann müssen die Wähler das nicht.«

Noack starrte den Insulaner an. Ob ihm bewusst war, was das bedeutete, was er da gerade gesagt hatte? Vermutlich nicht. Schlimm genug war, dass er recht hatte.

»Meine lieben Freunde, Mitbürger, liebe Leeraner!« Jetzt schallte Carsten Fechts kräftige Stimme über den ganzen Waageplatz. Anscheinend war eine seiner gefürchteten spontanen Ansprachen fällig. »Und natürlich liebe Leeranerinnen«, schob er feixend nach. »Das hat mir meine Frau eingeschärft, weil sich das so gehört heutzutage, sagt sie. Was soll ich machen, sie führt eben bei mir zu Hause das Regiment!«

Satt blubberndes Gelächter ringsum, klar dominiert von Männerstimmen. Lars Noack lachte nicht mit. Er hatte die gleiche SPD-Sozialisation hinter sich wie Fecht, 13 Jahre länger sogar, denn eingetreten waren sie beide mit 17. In Ostfriesland war die SPD schon immer weit rechts aufgestellt gewesen, na klar, das war eben der Lauf der Dinge. Wenn eine Partei über Jahrzehnte an der Macht war, dann wurde sie automatisch zum Sammelbecken für Opportunisten, und die waren selten links. Oder wenn, dann nicht lange – jeder wollte doch irgendwann an die Fleischtöpfe. Aber was Fecht dort abzog, das war selbst Noack zu vorgestrig. Und unterirdisch. Wer fand denn so was heute noch witzig?

»Aber meine lieben Freundinnen, das sage ich nicht«, fuhr Fecht fort. »Sonst wird meine Frau wieder eifersüchtig.«

Das Gelächter schwoll an, jetzt auch durchmischt mit schrillen Frauenstimmen. Noack stellte fest, dass er falsch gelegen hatte. Mal wieder. Anscheinend konnte kein Niveau zu niedrig sein.

»Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend hier auf unserem schönen Waageplatz in unserem wunderschönen Leer so viele von euch treffe, und ich freue mich natürlich ebenso über die vielen aufmunternden und unterstützenden Worte, die ich heute von euch zu hören bekommen habe.« Carsten Fecht breitete die Arme aus. »Das tut gut, das tut unheimlich gut in diesen Zeiten, in denen es so viele Anfeindungen gibt, in denen viele wohl vergessen haben, was meine Parteigenossen und ich schon alles für unser Land, für unsere Menschen getan haben. Umso schöner, dass ich hier viele von euch sehe, die ein besseres Gedächtnis haben.« Jetzt hob Fecht die Arme, als wollte er die Menge segnen. Dankbarer Applaus brandete auf.

Auch Friedo Adams hieb seine Handflächen aufeinander. Lars Noacks Hände blieben in den Taschen. Er selber hatte keinerlei aufmunternde und unterstützende Worte an Carstens Fechts Adresse vernommen. Nicht ein einziges. Aber eine starke Behauptung übertrumpfte eben jederzeit einen schwachen Beweis.

»Jetzt kann ich nur hoffen, dass ihr euch auch den nächsten Wahlsonntag dick im Kalender angekreuzt habt!«, rief Fecht. »In Rot natürlich! Wählen gehen! Denkt alle daran, nur wer wählen geht, kann auch bewahren und verändern!«

Noack spürte Friedo Adams’ Ellbogen in seinen Rippen. Reflexartig begann auch er zu klatschen.

»Na, so begeistert?« Zwischen Noack und Adams tauchte plötzlich Mareike Feeken auf, die junge Lokalredakteurin der Ostfriesen-Post. »Hatten Sie sich nicht neulich von Carsten Fecht distanziert? Nachdem Ihr gemeinsamer Chat aufgeflogen war?«

Lars Noack verdrehte die Augen. Die Frau hatte ihm gerade noch gefehlt! »Von meinen eigenen Worte habe ich mich distanziert, wenn ich Sie mal korrigieren dürfte«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was ich über Jelto Harms geschrieben habe, hätte ich so nicht schreiben dürfen, ganz klar. Das gehört sich nicht, auch nicht intern, und das stimmt auch einfach nicht. Davon habe ich mich distanziert, nicht vom Genossen Fecht.« Er atmete tief durch; die Worte hatten ihn Kraft gekostet.

»Stilistischer Tonfall und Inhalte dieses Wortwechsels wurden aber eindeutig von Herrn Fecht diktiert«, bohrte die Journalistin nach. »Ich hab’s ja selber gelesen. Er hat auch die Behauptung aufgestellt, Harms sei ein Pädophiler und hätte sich an kleinen Jungs vergriffen. Man kann sich vorstellen, was das für den Rektor einer Grundschule bedeutet.«

Noack brach der Schweiß aus. »Ich sagte schon, das war falsch, ich habe mich doch inzwischen davon distanziert. Ebenso wie von den Angriffen auf Christel Röben.« Er kramte in seiner Windjacke nach einem Taschentuch. Dann stutzte er. »Sie haben es gelesen?«, fragte er nach. »Im Original? Aber das steht doch schon längst nicht mehr online.«

»Wir verfügen über Downloads«, sagte Mareike Feeken. »Und wie es aussieht, bekommen wir bald noch sehr viel mehr davon.«

Noack tupfte sich die Stirn ab. Der Schweiß fühlte sich kalt an. »Mehr davon?«, fragte er. Seine Stimme brach, er musste sich räuspern. »Noch mehr Chatverläufe? Wieder von dem Hacker?«

Die junge Redakteurin schüttelte den Kopf. »Nein, von Carsten Fecht selbst! Er war heute zum Interview bei uns. In der Online-Ausgabe steht es schon. Er ist es leid, als Buhmann der SPD hingestellt zu werden, und will uns demnächst Material vorlegen, aus dem hervorgeht, dass er längst nicht als Einziger in der Partei so denkt und redet.« Mareike Feeken klang belustigt, als sie hinzusetzte: »Buhmann hat er gar nicht gesagt, sondern Rotes Muli. Er will nicht das Rote Muli sein, das für die ganze Partei die Last tragen muss und dafür auch noch Prügel bezieht.«

Sie beugte sich zu Lars Noack hinüber; ihre Miene wirkte besorgt, als sie fragte: »Alles in Ordnung? Geht es Ihnen auch gut?«

»Aber ja.« Noack winkte ab, was wegen des Taschentuchs etwas theatralisch wirkte. »Leichtes Kratzen im Hals, das ist alles.«

»Dagegen hilft Trinken«, riet die junge Frau. »Notfalls auch Bier! Schauen Sie, Ihr Genosse Fecht macht es Ihnen vor. Der pichelt schon den ganzen Abend ein Ostfriesenbräu nach dem anderen.«

Das war nicht zu übersehen. Immer wieder griff sich Carsten Fecht ein Glas von einem Kellnertablett, ohne zu fragen, wer das bestellt hatte oder wer das bezahlte. Hat sich schon früher gerne aushalten lassen, dachte Lars Noack. Seit Fecht jedoch im Landtag saß, war das noch weit schlimmer geworden. Hatte er eigentlich aus der Lebenshilfe-Affäre nichts gelernt? Damals hatten einige seiner Genossen diese wohltätige Leeraner Einrichtung völlig schamlos als Selbstbedienungsladen benutzt, bis sie aufgeflogen waren. Oder aus der Affäre Wulff? Wenn sogar ein Bundespräsident wegen der Annahme kleiner und mittlerer Gefälligkeiten hatte gehen müssen, wie konnte Fecht glauben, dass sich ein Landtagsabgeordneter alles erlauben konnte?

Na ja, bis jetzt durfte er sich in dieser Ansicht bestärkt fühlen, dachte Noack bitter. Wegen Handaufhaltens hatte ihn noch keiner öffentlich kritisiert. Nur wegen Maulaufreißens. Und anstatt einzulenken, wollte er jetzt in die Offensive gehen? Noch mehr Chats öffentlich machen, um seine Kritiker bloßzustellen? Als Mittäter?

Das durfte auf keinen Fall passieren.

Noack schaute sich nach Friedo Adams um, der ihm während des Gesprächs mit der Redakteurin abhandengekommen war. Er entdeckte ihn bei einem der Kellner, in der einen Hand ein frisches Bier, mit der anderen nach Kleingeld kramend. Na klar, als lumpiges Gemeinderatsmitglied von Langeoog bekam man in Leer natürlich nichts geschenkt.

Er winkte Adams heran und setzte ihn über das gerade Gehörte in Kenntnis. Der hochgewachsene Insulaner, der eben zum Trinken angesetzt hatte, erstarrte in der Bewegung. Das Bier lief ihm in dünnen Strömen übers Kinn und versickerte in seinem dunkelblauen Troyer. »Was will er?«, fragte er nach, obwohl die plötzliche Blässe seines Gesichts verriet, dass er sehr wohl verstanden hatte.

»Carsten Fecht will uns an den Pranger stellen«, fasste Lars Noack zusammen. »Uns und auch andere. Um sich selber aus der Schusslinie zu nehmen. Die Vorwürfe gegen ihn kann er ja schlecht entkräften, weil die einfach stimmen und bewiesen sind. Also will er zeigen, dass andere genauso schlimm sind. Oder noch schlimmer.« Er zeigte auf Adams: »Weißt du noch, die Fotos, wo du mit erhobenem Arm beim Osterfeuer stehst? ›Sieg Heil‹ und so? Damals haben wir mit viel Mühe verhindern können, dass die veröffentlicht wurden. Ich bin mir sicher, dass Carsten Fecht die noch irgendwo gespeichert hat.«

»Aber was denn … wieso denn?« Mit Verspätung wischte sich Adams das Kinn ab. »Ich hab’ euch doch erzählt, dass ich damals völlig besoffen war! Da ist mir das eben unterlaufen. Daraus kann man mir doch jetzt keinen Strick mehr drehen!«

»Das ist dir aber nicht nur diese eine Mal passiert, sondern mindestens dreimal«, verbesserte Noack. »Und das sind nur die dokumentierten Fälle! Und dass man dir einen Strick daraus dreht, sobald das in der Zeitung gestanden hat, das kann ich dir versprechen. Einen sehr haltbaren Strick, da kannst du lange dran baumeln.«

»Ja aber, ich war doch … betrunken –.« Friedo Adams’ Stimme erstarb.

Jetzt merkt er es wohl selber, dachte Noack. Alkohol tut nichts rein in die Köpfe, sondern lässt nur das raus, was vorher schon drin war. Das ist nicht jedem klar, aber vielen. Wenn das, was er getan hat, veröffentlicht wird, ist es mit seiner politischen Karriere vorbei, noch ehe sie richtig angefangen hat. Und nicht nur mit seiner.

Lautes Hallo in der Nähe ließ ihn aufblicken. Aha, Carsten Fecht begann sich zu verabschieden. Das pflegte eine Weile zu dauern, denn er bevorzugte die englische Methode; möglichst jeder Anwesende sollte noch seinen Händedruck und ein Bonmot dazu bekommen.

»Der ist doch auch nicht mehr nüchtern«, knurrte Friedo Adams. Von seiner Begeisterung für Fecht war nichts mehr zu bemerken. »Wenn der von den Bullen angehalten wird, ist er seinen Lappen los. Und sein Landtagsmandat kann er sich in die geölten Haare schmieren.«

Lars Noack bezweifelte das stark; in Hannover war schon manche politische Karriere trotz alkoholbedingter Delikte weitergegangen. Sofern der volltrunken am Steuer Erwischte männlich war.

»Wie hat er sich selber genannt?«, fuhr Adams fort. »Habe ich vorhin online gelesen, war ganz frisch. Roter Esel? Passt! Da gibt es doch so ein Sprichwort, von wegen den Esel schlagen, obwohl man den Sack meint.« Er knallte seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Wenn dieser Sack das wirklich macht, was er angekündigt hat, dann wird sich das Sprichwort wohl bewahrheiten.«

Lars Noack verdrehte die Augen. »Wenn er das wirklich macht, dann ist es hinterher zu spät«, sagte er. »Wenn all das öffentlich wird, worüber Carsten Fecht Bescheid weiß, dann rettest du nichts mehr. Für dich nicht, für mich nicht und für viele andere auch nicht. Genossen oder nicht.«

Adams knallte sein leeres Glas auf den nächstbesten Tisch, ohne auf die missbilligenden Mienen der Maifeiernden, die dort saßen, zu achten. »Ich muss dringend mein Bier wegbringen«, schnaufte er und stapfte davon.

Auch Carsten Fecht brach jetzt endlich auf, nicht ohne sich noch ein paarmal umzudrehen und den Umstehenden zuzuwinken. »Treibt’s nicht zu dolle!«, rief er laut. »Denkt daran, morgen früh heißt es: heraus zum 1. Mai!«

Dass ihm dabei nicht die Zunge verdorrt, dachte Lars Noack. Auch er begann, sich durch das Gedränge hindurch in Richtung Rathausbrücke zu schieben. Sein Auto hatte er zwischen den hochpreisigen Neubauten auf der gentrifizierten Halbinsel Nesse abgestellt. Fecht anscheinend auch. Der große Mann mit dem Pferdeschwanz war ihm schon 20, 30 Meter voraus. Noack hatte sich überlegt, ob er Fecht ansprechen sollte, abseits der Feiernden und bei fortschreitender Dunkelheit. Er hatte sich dazu aber nicht durchringen können. Jetzt war es sowieso zu spät dafür; Fecht schritt flott aus, sein Vorsprung wuchs stetig.

Noacks Wagen war ein dunkelgrauer Mazda, schon acht Jahre alt. Dass der SPD-Stadtrat mit seiner politischen Tätigkeit Reichtümer angehäuft hätte, hatte ihm bisher noch niemand nachgesagt. Er stellte ja auch nicht zur Schau, was er besaß. Tatsächlich hatte er seit einiger Zeit einen Aufsichtsratsposten beim Energieversorger Nordwestkraft inne, der ihm einen sehr netten Nebenverdienst bescherte, ohne dass er sonderlich viel dafür tun musste. Dafür fehlte ihm auch jede Qualifikation. Verdient hatte er sich diesen Job einzig durch Verlässlichkeit beim Abstimmungsverhalten. Auch Carsten Fecht hatte das seinerzeit abgenickt.

Wenn der wirklich mit allem an die Öffentlichkeit ging, was er so wusste und belegen konnte, dann war es mit der Extrakohle bald vorbei, da war Noack sich sicher. Dann würde er das große Haus in Leer-Loga auch nicht mehr lange halten können. Den Kaufvertrag dafür hatte er unmittelbar nach seinem informellen Treffen mit Fecht unterschrieben. Dabei hatten der Aufsichtsratsposten und die Bezüge dafür noch volle elf Monate auf sich warten lassen. An den Schulden, die sich in diesen elf Monaten angehäuft hatten, knabberte Noack immer noch.

Carsten Fecht lief mit langen Schritten an Noacks Auto vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen. Sein eigener Wagen stand 50 Meter weiter. Ein Porsche Cayenne, ein SUV, der sich mit 20 Litern Super auf 100 Kilometer sicher nicht zufriedengab. Dafür war er rot lackiert. Oh ja, äußerlich war Fecht immer ganz auf Parteilinie.

Rotes Muli, dachte Noack. Von wegen! Wenn es in der Partei Leute gab, die ständig ackerten und buckelten und die ganze Last für die anderen trugen, dann waren das Genossen wie er selbst! 80 Wochenstunden im Dienst der Allgemeinheit für kaum mehr als eine Ehrenamtspauschale. »Wir schuften hier wie die Grubenponys«, hatte mal ein Neumitglied aus dem Ruhrgebiet abends beim Bier getönt. Das hatte kaum jemand verstanden. Kohlegruben hatte es in Ostfriesland nie gegeben, und um zu wissen, dass die mit Kohle vollgeschaufelten Loren früher von Ponys durch abschüssige Stollen ans Tageslicht gezogen worden waren, musste man in Geschichte aufgepasst haben.

Wenn man sich so die Politik der SPD in Ostfriesland ansah, fand Noack, dann hatten die allermeisten Genossen in der Schule gepennt. Tief und fest. Nicht nur in Geschichte.

Er stieg ein. Der Cayenne setzte bereits aus der Parklücke zurück. Noack startete seinen Motor, parkte aus, fuhr los. Die roten Rücklichter des roten Porsche leuchteten vor ihm. Falls Carsten Fecht gerade nach Hause fuhr, dann hatte er denselben Weg wie Lars Noack. Natürlich wohnte er ebenfalls in Loga.

Natürlich. Loga war der Stadtteil der Besserverdienenden. Wo sonst sollte solch ein Rotes Muli wohnen? Etwa in der Altstadt, dem ehemaligen Rotlichtquartier? Hier war die Gentrifizierung zwar ebenfalls im Gange, aber noch längst nicht vollendet, außerdem waren viele Häuser zwar nett anzuschauen, aber eng, und die Grundstücke waren klein. Oder auf der Nesse? Die ehemalige Industriebrache mitten in der Stadt war erst vor ein paar Jahren mit teuren Stadtvillen bebaut worden; hier zu wohnen, war etwas zu offensichtlich. Heisfelde war etwas für die kleineren Leute, die Moormerlandsiedlung gut genug für Lehrer. Der Rest der Wohnquartiere steckte voller prekärer Einsprengsel. Dort wollte ein SPD-Landtagsabgeordneter zwar gewählt werden, aber doch bestimmt nicht wohnen!

Noack verschaltete sich; sein Getriebe krachte. Ein Spaziergängerpärchen drehte sich nach ihm um. Er rief sich zur Ordnung. Warum so bitter, fragte er sich, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war doch immer noch seine Partei, hatte immer noch das große S an erster Stelle!

Aber nur auf dem Papier. Noack erinnerte sich noch allzu gut, wie nach den Landtagswahlen 2013 Rot-Grün mit hauchdünner Mehrheit die Landesregierung stellen konnte. Wie er das gefeiert, was für Hoffnungen er seinen Wählern gemacht hatte! Die Schulen würden neu aufgestellt, die Landwirtschaft auf natürlich gedreht, und die geschundene, halbtote Ems würde endlich gerettet werden! Ha, Pustekuchen. Nichts davon geschah. Heute, nachdem Rot-Grün nach nur viereinhalb Jahren abgewählt worden war und eine rot-schwarze Koalition in Hannover die Geschäfte betrieb, waren die Gymnasien die einzig verbliebenen und entsprechend überfüllten Rettungsboote, alle anderen Schulformen kurz vor dem Absaufen. Gülle und Nitrat waren schon im Grundwasser nachweisbar. Und die Ems lag nicht mehr im Sterben, sie war tot. Mausetot!

Noacks Hände krampften sich um sein Lenkrad. Weit vor ihm bremste der Cayenne an einer roten Ampel, und er hatte nicht übel Lust, aufs Gas zu treten und ihm hinten reinzufahren. Aber was würde das nützen? Sein Mazda würde an dem schweren SUV zerschellen, ohne allzu viel Wirkung zu erzielen, nicht einmal in den Querverkehr würde er ihn schieben können, zumal gerade gar keiner da war. Der Airbag würde ihm die Brille verbiegen und vielleicht seinen neuen Stiftzahn lockern. Dann hätte er zum Spott auch noch den Schaden.

Die Ampel sprang auf Grün, gerade als Noack heran war. In moderatem Abstand kurvten Fecht und er an der Polizeiinspektion vorbei, an billigen Klamotten- und Kramläden, an der Hauptpost. Dann 90 Grad nach rechts, vor dem Bahnhof um den Kreisel herum, an dem frisch renovierten Hotel Frisia vorbei, dann rechts in die Logaer Hauptstraße. Tagsüber hatte man hier Staugarantie, abends aber konnte man diese Route durchaus fahren, falls nicht gerade gebaut wurde. Nur die Schranken waren immer für einen längeren Aufenthalt gut. Diesmal hatten sie Glück, die Sabotagebalken waren oben.

Noack fuhr exakt 50, obwohl er nur zwei Bier getrunken hatte und keine Kontrolle zu fürchten brauchte. Fechts Cayenne gewann schnell wieder an Vorsprung. War dem denn alles egal? Oder fühlte er sich schon unantastbar?

Hindenburgstraße, Gustav-Elster-Straße, An der Friedenskirche – hier in Loga gab es wirklich alles. Sogar einen Roten Weg. Das hätte gepasst, aber dort wohnten weder Lars Noack noch Carsten Fecht. Wenn auch ganz in der Nähe. Viel hatte nicht gefehlt, und sie wären Nachbarn gewesen. Gott sei Dank, dass ein paar Grundstücke dazwischen lagen, dachte Noack. Ihre Häuser sahen sich sogar ein bisschen ähnlich, auch von der Größe her. Nur, dass Noack sich für seines noch viele Jahre lang würde krummlegen müssen, während Fecht das seinige geheiratet hatte. Geerbt hatte er außerdem, Bargeld und Aktienpakete von seinem früh verstorbenen Vater, einem SPD-Regionalfürsten, wie er im Buche stand. Ein geschwollenes Radieschen, außen rot und innen weiß!

Fecht bog ab, Noack folgte ihm. Sein Haus kam zuerst in Sicht, Fecht wohnte weiter die Straße hinunter. Da war Noacks Einfahrt, an dieser Stelle nahm er gewöhnlich den Fuß vom Gas. Hier galt sowieso Tempo 30.

Spätestens jetzt hätte er stoppen müssen. Aber er tat es nicht, ließ den Mazda weiterrollen, dem Cayenne hinterher. Aus welchem Grund? Zu welchem Zweck? Sollte er Fecht vor dessen Haustür abpassen, mit ihm reden, ihn zu überzeugen versuchen?

Aber wovon? Gnade vor Recht? Gnade war kein Wort aus Fechts Vokabular. Weichei schon eher.

Da links war Fechts Haus, dort seine Einfahrt. Der Cayenne blinkte, rauschte auf seinen üblichen Platz. Die Reifen radierten leicht. Fecht stieß die Fahrertür auf. Beim Aussteigen schwankte er merklich, musste sogar einen Ausfallschritt machen. Man hörte deutlich, dass er das witzig fand.

Lars Noack hielt am rechten Straßenrand. Hier konnte man überall parken, musste nur auf die Einfahrten achten. Er riss die Autotür auf, wollte sich beeilen, bei Fecht sein, ehe der im Haus verschwand. Trotzdem hielt er noch einmal inne, tauchte zurück ins Auto, nahm einen großen braunen Umschlag an sich. Dann warf er die Fahrertür zu.

Carsten Fecht hatte seine Haustür schon fast erreicht. Beim Geräusch der Autotür drehte er sich um. Lichtschrankengesteuerte Lampen flammten auf und erhellten den kunstvoll gepflasterten Vorplatz.

»Was willst du denn noch?«, blaffte Fecht. »Mit dir bin ich fertig!« Das Schlüsselbund in seiner Hand rasselte ungeduldig.

»Carsten, ich bitte dich!« Noack gestikulierte mit der linken Hand, behielt seine rechte hinter dem Rücken. »Überleg es dir gut, ehe du alles an die Presse gibst. Lass dir das noch mal durch den Kopf gehen! Da hat doch keiner etwas davon, wenn du jetzt die ganze Partei mit in den Abgrund reißt. Lass uns doch …«

»Ach so, nicht die Partei, was?«, höhnte Fecht. Er trat zwei Schritte auf Noack zu, stand fast Brust an Brust vor ihm, sodass der den Kopf in den Nacken legen musste. »Nicht die Partei, das heißt ja wohl vor allem: nicht dich, was? Du willst weiter schön deine Diäten kassieren. Was aus mir wird nach der nächsten Wahl, kann dir ja egal sein, was? Aus dem unappetitlichen Herrn Fecht!« Er hob die Hand mit dem Schlüsselbund, als wollte er Lars Noack ohrfeigen.

Noack riss seine rechte Hand hinter dem Rücken hervor. Darin hielt er einen braunen wattierten Umschlag, äußerlich unscheinbar, aber Fecht schnappte trotzdem nach Luft, starrte dem Stadtrat überrascht ins Gesicht. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zu seiner Haustür, den Schlüssel vorgestreckt.

Der Schlüssel stieß ins Leere, denn die Tür schwang ohne sein Zutun auf. Drinnen war es stockdunkel. Jedenfalls einen Moment lang. Dann erhellte ein Blitz die Szenerie, begleitet von einem enorm lauten Knall.

Fecht wurde rücklings zu Boden geschleudert wie von einem Rammbock. Gleichzeitig ertönte ein Schmerzensschrei. Unmittelbar danach ein Repetiergeräusch.

Lars Noack rannte, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Erst vor seiner eigenen Haustür fiel ihm ein, dass er an seinem Auto vorbeigerannt war. Er schloss die Haustür von innen ab und hakte die Sicherheitskette ein, ehe er mit fliegenden Fingern die 110 wählte.

2.

»Ein roter Porsche? Seit wann gibt es Porsches in Rot?« Hauptkommissar Stahnke schüttelte den Kopf. »Rot ist doch die Ferrari-Farbe. Und englische Racer sind smaragdgrün, wie es sich gehört. Das weiß man doch.«

»Seit wann genau es rote Porsches gibt, kann ich dir nicht sagen. Aber es gibt sie. Serienmäßig.« Natürlich hatte Oberkommissar Oliver Kramer auch das recherchiert. Über die Relevanz der Frage seines Vorgesetzten verlor er kein Wort.

»Zeiten sind das!«, murrte Stahnke weiter. »Rote Porsches, die von Roten gefahren werden. Also zu meiner Zeit …«

»Wann soll das denn gewesen sein?« Oberkommissar Nidal Ekinci sah putzig aus in seinem weißen Overall, dessen eng geschnürte Kapuze seinen karamellfarbenen Teint noch unterstrich. »Wenn du mir die ungefähre Jahreszahl gibst, google ich gerne Postkutschenfarben für dich. Jahrhundert reicht.« Er grinste Stahnke vorwitzig an, während er an ihm vorbei das Haus betrat.

Der Hauptkommissar wandte sich ab und schob sich verstohlen ein weiteres Hustenbonbon in den Mund. Auch er hatte bereits kräftig in den Mai gefeiert, allerdings allein vor dem Fernseher, als ihn der Anruf der Polizeiwache am Hafenkopf erreichte. So, wie der Tote stank, der rücklings in einer ausgedehnten Blutlache lag, hätte man den Alkoholgeruch gut auf ihn schieben können. Aber Stahnke wollte auf Nummer sicher gehen.

»Offenbar hat der Täter in dessen Haus auf sein Opfer gewartet«, begann Kramer den vorläufigen Erkenntnisstand zu referieren. »Dort im Flur, in völliger Dunkelheit. Oder sagen wir lieber: in der Halle. Ist ja insgesamt etwas weitläufig, dieses Haus.«

Stahnke machte eine ungeduldige Handbewegung. »Fakten! Wie ist er ins Haus hineingekommen, auf welchem Weg hat er es wieder verlassen? Und was hat er hier sonst noch gemacht?«

»Ich fange mal hinten an«, begann Kramer. »Frage drei: Es gibt ein paar geöffnete Schubladen, aber so richtig durchwühlt wurde das Haus nicht. Ob etwas fehlt, wird noch geklärt, das dauert. Frage zwei: Verlassen hat der Täter das Haus allem Anschein nach durch die Terrassentür, also hinten. Da haben wir auch einen schönen Fußabdruck in einem Blumenbeet gefunden. Frage eins: Wie er hereingekommen ist, wissen wir noch nicht.«

»Auf demselben Weg rein wie raus vielleicht?«, schlug Stahnke vor.

»Keinerlei Spuren oder Hinweise, die auf eine gewaltsame Öffnung von außen hindeuten.« Kramer schüttelte den Kopf. »Wenn, dann müsste die Terrassentür offengestanden haben. Kann natürlich sein. Leider gibt es niemanden, den wir danach fragen können.«

»Was ist mit der Ehefrau?«

»Nicht da. Scheint unterwegs zu sein oder verreist. Nidal will sie anrufen, sowie er ihre Handynummer gefunden hat.«

»Da würde ich mal im Smartphone des Toten nachschauen«, knurrte Stahnke.

Hatte Kramer kurz die Augen gerollt? Der Hauptkommissar war sich nicht sicher. Die Stimme seines Kollegen klang ganz ruhig, als er erwiderte: »Das macht er auch, sobald die Spurensicherung ihn da ranlässt.«

»Kinder?«

»Gibt es keine.«

»Sonstige Personen, die dauerhaft in diesem Haus wohnen?« Stahnke schaute an der Fassade hoch. »Ist ja ein Riesending. Gibt es keine Haushälterin? Oder eine vermietete Einliegerwohnung?«

»Einliegerwohnung ja, aber nicht vermietet. Ist wohl für Gäste.« Kramer blätterte in seinen Notizen. »Keine Haushälterin. Eine Putzfrau kommt zweimal die Woche, sagt die Nachbarin von gegenüber. Soll sehr gründlich sein. Die lässt also eher keine Türen offenstehen.«

Eine Gestalt im weißen Overall kam aus der Haustür, einen Plastikbeutel in der Hand. Von den aufgestellten Strahlern geblendet, konnte Stahnke das Gesicht kaum erkennen, aber der Mann war deutlich größer als Ekinci. In dem Beutel war eine Patronenhülse.

Kramer pfiff durch die Zähne. »Ziemlich großer Brocken«, stellte er fest. »Stammt mit Sicherheit aus einer Langwaffe. Ins Labor, bitte.«

Der Overallträger nickte und ging.

»Eine Langwaffe«, wiederholte Stahnke. »Ein Gewehr also. So etwas hat ein Einbrecher nicht mal eben so dabei. Die Waffe wurde mit voller Absicht zum Tatort mitgebracht.«

»Falls der Täter sie nicht hier vorgefunden hat«, wandte Kramer ein. »Das werden wir prüfen. Also, ob das Opfer Jäger oder Sportschütze war. In dem Fall müsste es hier außerdem einen vorschriftsmäßigen Waffenschrank geben.«

»Weder Jäger noch Sportschützen besitzen Automatikwaffen«, sagte Stahnke. »Und nur Automatikwaffen werfen die Hülse nach dem Schuss sofort aus, quasi … na, automatisch eben. In jeder anderen Waffe bleibt die Hülse drin, bis neu repetiert wird.« Unwillkürlich ahmte der Hauptkommissar mit der linken Hand eine Repetierbewegung nach. »Falls es keine Automatik war: Wollte der Täter noch einmal schießen?«

»Nötig war das nicht«, sagte Kramer lakonisch und deutete auf die Blutpfütze. »Das Geschoss hat den Schädel durchschlagen, vorne rein, hinten raus. Müsste anschließend irgendwo steckengeblieben sein. Die Spurensicherung wird danach suchen, aber erst bei Tageslicht.«

Eine kleinere weiß gekleidete Gestalt tauschte auf; diesmal war es Ekinci. »Frau Fecht ist bei ihrer Mutter.« Der Oberkommissar hob das Smartphone hoch, das er in seiner latexgeschützten Hand hielt. »In Westerstede. Hatte sich auf mehrere Tage eingerichtet, aber jetzt kommt sie natürlich her.« Ekinci übergab das Handy dem nächststehenden Spurensicherer und ergänzte: »Gleich morgen früh.«

»Morgen früh?« Stahnke schüttelte ungläubig den Kopf. »Hör mal, ihr Mann ist erschossen worden! Und Westerstede ist keine 40 Kilometer entfernt. Über die Autobahn, wohlgemerkt.«

Ekinci zuckte mit den Schultern. »Sie machte einen sehr gefassten Eindruck«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht geht es ihrer Mutter nicht gut.«

»Das hören wir dann ja morgen.« Stahnke blickte sich um. »Was ist übrigens mit diesem Sohlenabdruck? Kann man damit etwas anfangen?«

Wie aufs Stichwort erschien der hochgewachsene Kriminaltechniker erneut. Er präsentierte einen Abguss, ebenfalls sorgfältig verpackt. »Gummistiefel«, verkündete er. »Handelsüblich. Dem Profil nach zu urteilen ziemlich neu. Muss aber nichts heißen. Bei Gartenarbeit auf weichem Boden nutzen sich Gummisohlen nicht so schnell ab.«

»Größe?«, fragte Stahnke.

»44«, antwortete der Spurensicherer. »Weitere Details später im Bericht.«

Er und seine Kolleginnen und Kollegen begannen zusammenzupacken. Die gleißend hellen Scheinwerfer erloschen einer nach dem anderen. Zwei Bestatter, die sich bis dahin im Hintergrund aufgehalten hatten, traten heran, legten den Leichnam in einen Transportsarg, hoben ihn an und trugen ihn zum Leichenwagen. Außer der Blutlache blieben nur ein aufgesprühter Umriss und eine Reihe von Spurentäfelchen zurück.

Ehe sich der Leichenwagen in Bewegung setzen konnte, mussten erst die Schaulustigen zurückgedrängt werden. Trotz der späten Stunde hatte sich eine erstaunlich große Gruppe angesammelt, überwiegend Nachbarn, aber nicht nur. Mehr als ein Dutzend Fotohandys war im Einsatz. Stahnke sah Rieken und van Dieken, die beiden Graubärte vom Streifendienst, die Menge im Zaum halten. Ihre Münder standen dabei keinen Augenblick still. Unverbesserliche Klatschbasen, die beiden, fand der Hauptkommissar. Rieken und van Dieken jedoch würden ihr Verhalten bestimmt als Deeskalation bezeichnen. Mit dem üblichen abfälligen Grinsen; in der Tiefe ihrer schwarzen Seelen waren die zwei nämlich eher für ein handfestes Vorgehen zu haben.

Stahnke drehte sich weg. »Ich will mir mal diese Terrassentür ansehen«, sagte er. »Können wir außen herum?«

Das Grundstück war großzügig geschnitten; Wege zum hinten gelegenen Garten gab es an beiden Seiten, links durch den Doppelcarport, rechts durch eine hohe Zauntür, die nicht verschlossen war. »Auf dieser Seite wurde auch der Fußabdruck gefunden«, berichtete Ekinci.

»Dann wäre dies der Fluchtweg?« Stahnke schaute sich um. »Zur Straße hin? Dann hätte der Täter ja gleich durch die Haustür laufen können. Direkt nach der Tat.«

»Dort befand sich allerdings noch der Zeuge, der uns wenig später verständigt hat«, sagte Kramer. »Der ist zwar nach eigener Aussage sofort weggerannt, aber als Täter wäre ich doch lieber nicht in dieselbe Richtung geflüchtet.«

Sie hatten die hintere Hausecke erreicht. Dort, in einem aufgelockerten und frisch geharkten Blumenbeet, war die Fundstelle des Abdrucks markiert.

»Als ob der Täter erst in diese Richtung gerannt wäre, es sich dann aber anders überlegt hätte«, interpretierte Ekinci. »Er rennt also durch Halle und Wohnzimmer nach hinten, durch die offene Terrassentür raus, biegt nach rechts ab, tritt ins Beet, bemerkt dann, dass er in dieser Richtung wieder auf die Straße kommt, und wendet sich erneut nach hinten.« Der Oberkommissar unterstützte seinen Vortrag gestenreich; am Ende wies seine Hand zum gegenüberliegenden Garten, der nur durch eine kniehohe Hecke abgegrenzt war. Die offene Rückseite des dortigen Carports war deutlich zu erkennen. Dazwischen lag nichts als Rasen – vielmehr eine buckelige, stark strapazierte Wiese, übersät mit Spielzeug. Wenig Aussicht auf weitere verwertbare Spuren.

Stahnke blickte zu Kramer; der nickte stumm. Ihm fiel also auch nichts Besseres ein.

Die Terrassentür war ein schweres Ding. Sie wurde auf Rollen bewegt, die in Schienen liefen. Vorher jedoch musste sie erst einmal aus ihrer Verriegelung gehoben werden. Dazu musste man einen langen Hebel um 180 Grad drehen – drinnen natürlich. Das Ganze bestand aus Edelholz und Dreifachglas und war bestimmt nicht nur teuer gewesen, sondern auch clever konstruiert, fand der Hauptkommissar. Hier konnte man mit Holzkeil oder Schraubenzieher nichts erreichen. Und das hatte auch niemand versucht, sonst würde man Spuren davon sehen.

»Reingekommen ist der Täter hier nicht«, stellte er fest. »Sonst irgendwo Einbruchsspuren?«

Kramer schüttelte den Kopf: »Nirgends. Auch nicht im Obergeschoss.«

Das, dachte Stahnke, war wieder einmal typisch Kramer. Der rechnete auch mit Fassadenkletterern! Aber so wussten sie es wenigstens ganz genau.

»Schlussfolgerung?«, fragte er.

»Da niemand im Haus war, der den Täter reingelassen haben könnte, muss er einen Schlüssel gehabt haben«, sagte Kramer.

»Und woher?«, fragte Stahnke.

»Von Carsten Fecht, seiner Frau, der Putzfrau, einem vertrauten Nachbarn womöglich oder einem mobilen Hausmeisterdienst«, zählte Ekinci auf. »Da gibt es so einige Möglichkeiten.«

»Sehr schön.« Stahnke nickte ihm zu. »Du übernimmst das, und wir reden jetzt mal mit dem Tatzeugen. Das dort ist er doch, oder?«

Lars Noack hockte auf der vordersten Kante der zerklüfteten Ledersofalandschaft, die sich auf dem goldgelben Parkett erhob wie ein Korallenriff vor einem Südseestrand. Seine Windjacke hatte er eng um sich geschlungen, seine Füße exakt nebeneinandergestellt, die Knie zusammengedrückt. Dieser Mann, dachte Stahnke, wünschte sich eindeutig weit, weit weg von hier. Verständlich, hatte er vor diesem Haus doch einen Mord mit ansehen müssen. Trotzdem, wie sich dieser kleine dicke Mann da auf der Sofakante für alle sichtbar unwohl fühlte, war schon extrem.

»Herr Noack?« Stahnke reichte ihm die Hand; die von Noack war heiß und schweißnass. Fast hätte er ihm kondoliert.

»Bitte schildern Sie mir, was Sie erlebt haben«, bat der Hauptkommissar. Kramer kümmerte sich um die Tonaufnahme.

Noacks Augen weiteten sich, als laufe ein schrecklicher Film vor ihm ab. »Wir kamen von der Maibaumfeier an der Waage«, begann er. »Beide. Aber nicht zusammen. Wir sind nur in etwa gleichzeitig aufgebrochen und hatten beide auf der Nesse geparkt. Deswegen fuhr ich hinter ihm her.«

»Sie sind doch so gut wie Nachbarn«, sagte Stahnke. »Und Parteigenossen! Da hätten Sie auch gemeinsam zur Feier fahren können, oder? Dann hätte wenigstens einer von Ihnen Alkohol trinken können. Ich meine dürfen.« So unauffällig wie möglich schnupperte er in Noacks Richtung. Eindeutig Eukalyptusbonbons, aha.

Noack schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich hatte vorher noch Fraktionssitzung, also vom Stadtrat aus. Carsten Fecht kam direkt aus Hannover, hatte dann ein Pressegespräch mit der Ostfriesen-Post und hat sich anschließend im Hotel Ostfriesenhof mit einer Gruppe von Reedern getroffen. Wir hatten völlig unterschiedliche Terminpläne. Außerdem …« Er stockte, seine Augenlider flatterten. »So gut verstanden wir uns auch nicht.«

Das sagt der Tatzeuge, dachte Stahnke, interessant. Dabei hatte er durchaus anderes gehört. »Gehörten Sie nicht mit zu Fechts berühmt-berüchtigtem Chatkreis? Wo diese anzüglichen Bemerkungen über alle möglichen Leute abgegeben wurden?«

Noacks blasses Gesicht bekam rote Flecken. »Das ist richtig«, gab er zu. »Aber doch eher am Rande, das heißt, ich war längst nicht in jeder seiner Chatgruppen drin. Außerdem habe ich mich kürzlich von all den Entgleisungen distanziert.«

»Wie dem auch sei«, sagte der Hauptkommissar, »weiter im Text. Sie fuhren also in Ihren jeweiligen Pkws Richtung Loga, also nach Hause. Und dann?«

»Dann fuhr Carsten Fecht auf sein Grundstück und stellte seinen Wagen ab«, sagte Noack leise. »Und ich …« Wieder zögerte er.

»Sie nicht«, ergänzte Stahnke. »Ihr Wagen steht hier schräg gegenüber, mein Kollege hat ihn identifiziert. Sie sind an Ihrem eigenen Haus vorbeigefahren. Warum?«

»Ich wollte noch einmal mit ihm reden.« Noack schluckte. »Mit Fecht. Ob wir nicht doch … auf einen Nenner kommen könnten.«

»Genauer?« Stahnkes Blick hatte Noacks endlich eingefangen. Seine wasserblauen Augen entwickelten ihren gefürchteten Sog.

»Er fühlte sich von mir verraten!« Noacks Stimme klang jetzt kräftiger. »Meinte, ich wäre ihm in den Rücken gefallen. Dabei habe ich mich nur geschämt, ganz einfach, für das, was ich in unseren Chats alles von mir gegeben habe! Über dämliche Frauen, unfähige Dicke und tuntige Schwule. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wo das herkam! Ich denke doch eigentlich gar nicht so. Aber wenn dann ein Wort zum anderen führt, dann stellt man plötzlich fest, dass das irgendwie … befriedigend ist, so über andere herzuziehen.«

Wie erstaunt er guckt, dachte Stahnke. Fast so, als würde er seine Gedanken außerhalb seines Kopfes entwickeln und sich dann wundern, was dabei herauskam.

Dabei war das beschriebene Phänomen doch durchaus bekannt. »Das Stammtisch-Syndrom«, sagte der Hauptkommissar. »Man lässt sich mitreißen, meistens nach tief unten, und wird belohnt durch das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Frage wäre: zu was dazu? Hatte Fecht denn so viel zu sagen in Ihrer Partei, dass sich alles nach ihm richten musste?«

Noack wiegte den Kopf. »Jein«, antwortete er. »Sicher musste sich nicht alles nach ihm richten. Aber ein Machtzentrum war er allemal. Ein wachsendes. Das hatte schon eine gewisse Anziehungskraft.«

»Für Opportunisten«, sagte Stahnke.

»Sicher«, sagte Noack.

»Schildern Sie uns jetzt bitte den eigentlichen Tatverlauf«, forderte der Hauptkommissar ihn auf.

Noack tat es. Das kurze Gespräch zwischen Fecht und ihm, die harsche Zurückweisung, die Haustür, die von innen geöffnet wurde, dann der tödliche Schuss, so laut wie eine Explosion, der Schmerzensschrei, das Repetiergeräusch. Und seine Todesangst beim Weglaufen. Den braunen Umschlag erwähnte er nicht.

Kramer schaltete sich ein. »Herr Noack, gibt es jemanden, der den Zeitpunkt Ihrer Abfahrt vom Parkplatz auf der Nesse bestätigen könnte? Oder Ihres Aufbruchs von der Maifeier? Nur der Vollständigkeit halber.«

»Ja natürlich.« Der Stadtrat schien an der Frage nichts Befremdliches zu finden. »Friedo Adams kann das. Parteigenosse von Langeoog. Mit ihm habe ich den größten Teil des Abends zusammengestanden.« Noack runzelte die Stirn: »Ach nein, kurz vor meinem eigentlichen Aufbruch ist er selber gegangen, zur Toilette. Aber er kann zumindest bestätigen, dass ich nicht ausreichend lange vor Carsten Fecht von der Feier weggegangen sein kann, um hier in sein Haus einzudringen und ihn zu erwarten. Mit einer Waffe in der Hand.«

»Warum hätten Sie das tun sollen?«, fragte Stahnke. Er gab sich ebenso unbeeindruckt wie Kramer, der seine bekannt stoische Miene aufgesetzt hatte.

»Sie erfahren es ja sowieso«, sagte Lars Noack. »Kurz vor meinem Aufbruch habe ich von Mareike Feeken, einer Lokaljournalistin, erfahren, dass Fecht vorhatte, weiteres Material zu veröffentlichen, das seine diversen Chatpartner in ein deutlich schlechteres Licht rücken würde als ihn. Und einige andere Leute dazu. Das zu verhindern, hätte ein starkes Motiv sein können. Ich gebe auch zu, dass mir so etwas mal kurz durch den Kopf geschossen ist. Aber ich verfüge ja gar nicht über eine Schusswaffe, und ich bin auch nicht so gestrickt.«

»Ist vielleicht Friedo Adams so gestrickt?«, fragte Stahnke.

»Friedo? Wieso?«, fragte Noack zurück, die hellgrauen Augen erstaunt aufgerissen. »Keine Ahnung. Da sollten Sie ihn besser selber fragen.«

Der Hauptkommissar nickte. »Das machen wir ganz bestimmt«, sagte er. In Gedanken legte er eine Namensliste an. Noack stand mit darauf. Du bist cleverer, als du uns glauben machen willst, dachte er. Wir sind noch nicht miteinander fertig.

»Erst einmal vielen Dank«, sagte er und erhob sich. »Sie können jetzt nach Hause gehen, wir melden uns dann bei Ihnen. Ach ja – vergessen Sie Ihr Auto nicht.«

Als Noack draußen war, sagte Stahnke zu seinen Kollegen Kramer und Ekinci: »Morgen ist der 1. Mai. Das heißt Tag der Arbeit für uns. Morgen früh schwärmen wir aus.«