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ISBN 978-3-7117-2106-8
eISBN 978-3-7117-5442-4
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Ivan Ivanji, 1929 im Banat geboren, war unter anderem Journalist, Diplomat und Dolmetscher Titos. Romane, Essays, Erzählungen und Hörspiele. Er lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien und Belgrad. Im Picus Verlag erschienen zahlreiche Romane, darunter »Barbarossas Jude«, »Das Kinderfräulein«, »Der Aschenmensch von Buchenwald«, »Die Tänzerin und der Krieg«, »Geister aus einer kleinen Stadt«, »Buchstaben von Feuer«, die Neuauflage seines Erfolgs »Schattenspringen«, »Mein schönes Leben in der Hölle«, seine Familiensaga »Schlussstrich«, »Tod in Monte Carlo« (2019), »Hineni« (2020) und »Corona in Buchenwald« (2021).
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
Für Volkhard
Ihr Freunde, Platz! Weicht einen kleinen
Schritt!
Seht, wer da kommt und festlich näher tritt! […]
Es gönnten ihr die Musen jede Gunst
und die Natur erschuf in ihr die Kunst.
So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,
Und selbst dein Namen ziert, Corona, dich.
Sie tritt herbei. Seht sie gefällig stehn!
Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,
Auf Miedlings Tod
ANKUNFT
MEIN OPA WAR KERNGESUND
DIE BIBEL UND DIE PEST
DIE URENKELIN EINES GEHENKTEN KRIEGSVERBRECHERS
DER ERSTE ABEND – EINE SCHÖNE FRAU
DER ZWEITE ABEND – IM RUSSISCHEN GEHEIMDIENST
DER DRITTE ABEND – DIE BEIDEN HANS GÜNTHER
DER VIERTE ABEND – DAS KUPFERBERGWERK IN BOR
DER FÜNFTE ABEND – EIN STANDHAFTER POLIZIST
DER SECHSTE ABEND – DIE VERBANNUNG DES OVID
DER SIEBENTE ABEND – BOXEN IM KZ
DER ACHTE ABEND – EIN ZICKLEIN, EIN ZICKLEIN
DER NEUNTE ABEND – DIE BERGPREDIGT
MÜTZEN AB
DER ZEHNTE ABEND – ZWETSCHKENKNÖDEL IN BERGEN-BELSEN
DIE SCHRÖTER AUF DER ETTERSBURG
DER ELFTE ABEND – DER GOLEM
BORDELLE IN KONZENTRATIONSLAGERN
DER ZWÖLFTE ABEND – COSA NOSTRA UND INDIANERRESERVAT
SUCHE NACH EINEM SCHLUSSWORT
ABSCHIED
Sind zwölf sehr alte ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald im April des Jahres 2020 nach Weimar gekommen, um dort zu Ehren aller ihrer ermordeten Kameraden und zur Feier des fünfundsiebzigsten Jahrestags ihrer Befreiung gemeinsam vom Corona genannten Virus angesteckt zu sterben? Haben sie sich heimlich verabredet, dieses Zeichen zu setzen? Tatsächlich verabredet oder unbewusst mit dieser Idee gespielt? Die Welt würde aufhorchen.
Was sich tatsächlich im Frühjahr 2020 in Weimar und auf seinem Ettersberg, in Europa, nein, auf der ganzen Welt, abgespielt hat, grenzt selbst ohne fantasievolle Zutaten schreibender Zeitgenossen an Horror, ist viel zu absurd, um wahr zu sein. Gemeint ist der Sprung eines altbekannten Virus vom Tier auf den Menschen. Erfundenes lebt manchmal ziemlich lange, Erlebtes verändert sich als Erinnerung oder gerät für alle Ewigkeit in Vergessenheit. Aber an doppelter Lungenentzündung zu ersticken ist raue, sehr raue Wirklichkeit.
Hoffentlich kann man sich mit einiger Willenskraft ausmalen, was im Hotel Elephant, in dem im Laufe der vergangenen Jahrhunderte vielerlei Ewigkeit Verdienendes, Wunderbares, Verrücktes, Unvorstellbares, allerdings auch Böses geschehen und vom Balkon aus dem Volke zugebrüllt worden ist, Neues passiert zu Corona-Zeiten. Wobei nicht die Schauspielerin Corona Schröter gemeint ist, die hier mit Goethe häufig Wein getrunken hat, leider handelt es sich keineswegs um die Schöne. Warum also sollten dann nicht auch alte Buchenwaldianer mit ihrer jungen Begleitung dem im Moment so furchtbaren, hoffentlich schnell vergänglichen Virus auf eine neue, absurde, ihre eigene, absonderliche Weise trotzen? Hat doch bereits der soeben genannte Geheimrat einst festgestellt: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzugängliche, hier wird’s Ereignis.«
Ja, das ist es, was versucht werden soll: das Vergängliche beiseitezuschieben, Unzugängliches als Gleichnis darzustellen, das Unvermögen der Tagträume zu überwinden. Und welch besseres Bühnenbild wäre dafür denkbar als das Hotel Elephant?
Machen wir uns also auf den Weg, so gut man seine Reise planen kann. Wissen kann man nie, was einen am Ziel erwartet.
Wären wir tapferer, viel tapferer gewesen, hätte Nachfolgendes geschehen können. Vielleicht. Wieso nicht?
Obwohl die neunundvierzig ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald und ihre Begleitpersonen längst ihre Einladungen und sogar die Flugtickets und Reservierungsbestätigungen für ihre Zimmer im Hotel Elephant in Weimar erhalten hatten, teilte man ihnen plötzlich mit, dass wegen des Gesundheitsrisikos infolge der Ausbreitung des von der Weltgesundheitsorganisation SARS-CoV-2 genannte Virus, das zu einer Virenfamilie gehört, die die Wissenschaftler, die sie entdeckt hatten, freundlich Corona getauft haben, wie auch die Schröter hieß, die die Iphigenie der Uraufführung auf der Ettersburg auf dem Ettersberg gegeben hatte, der fünfundsiebzigste Jahrestag der Befreiung nicht mehr wie geplant stattfinden könne. Alles müsse leider abgesagt werden. Daraufhin schrieb einer der betroffenen alten Herren, er habe mit mehreren Kameraden Kontakt aufgenommen, sie würden gerne auf eigene Rechnung kommen, ob es möglich sei, die Flugtickets und Zimmerbuchungen nicht zu stornieren, die Kosten werde man gern aus eigener Tasche rückerstatten. Sie kämen aus Ländern, aus denen die Einreise nach Deutschland zumindest derzeit noch nicht verboten sei, allenfalls müssten sie an der Grenze zurückgewiesen werden. Sie wollten ihren toten Kameraden noch einmal die Ehre erweisen und ihnen Rechnung darüber ablegen, wie der Eid, den sie unmittelbar nach der Befreiung aus dem KZ Buchenwald auf dem Ettersberg geleistet hatten, befolgt worden sei. Oder eben nicht. Nicht vollständig. Sie seien alle über neunzig und sich des Risikos für sich selbst durchaus bewusst, es würde sich jedoch zu ihren Lebzeiten kaum mehr eine weitere solche Gelegenheit bieten. Gedenktage seien zwar nur Meilensteine auf einem Wege, aber man halte an ihnen an, um ein wenig über das Ziel der Reise zu reflektieren.
Die zuständigen Herren, der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora konferierten mit dem Direktor des Klinikums und weiteren Ärzten. Es gab Bedenken. Allerdings war man besorgt, die hartnäckigen alten Leute könnten eine Absage oder ein Anreiseverbot medial verwerten, als Verbot, sich vor den Toten zu verneigen deuten, ja als Leugnen der Nazigräuel. Nach einigem Zögern gaben die Veranstalter also nach. Wenn die Herrschaften schon kämen, wären sie natürlich Gäste, der Hintergedanke war wohl auch, so würde man mehr Argumente haben, sie zu kontrollieren. Die betagten Herren sollten allerdings eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass sie im Bewusstsein des Risikos die volle Verantwortung für sich und ihre Begleitung übernähmen.
Es waren am Ende zwölf Überlebende, die vier Tage vor dem vorgesehenen Tag der Gedenkfeier anreisten. Der sollte ohnehin sechs Tage vor dem wirklichen Jahrestag stattfinden, am 5. April, das Lager war an einem 11. April befreit worden. So war der Kalender ohnehin schon in Unordnung geraten, denn der 11. April des Jahres 2020 fiel auf den Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag, auf den Tag, als Gott tot war und seiner Auferstehung am nächsten Tag entgegensah. Wenn sich Jesus Christus mit Gott, dem Vater, und dem Heiligen Geist in heiliger Einigkeit befand, waren mit seinem Tod auch Gott der Vater und der Heilige Geist tot. Das war im frühen Christentum ein großer Disput gewesen, auch für Nietzsche … Vor solchen theologischen Überlegungen und ganz besonders vor den großen Philosophen schreckten die Veranstalter allerdings zurück und wichen diesen Fragestellungen oder gar Argumenten einfach aus. Hochbetagte Menschen schwafeln nun einmal mitunter vor sich hin.
Zwölf Überlebende, teils von ihren Gattinnen, teils von Kindern oder Enkelkindern und deren Lebensgefährten oder von jungen Freunden begleitet, würden also im Hotel Elephant ihre schönen Zimmer beziehen. Die Hoteldirektion hatte nach der Absage der Feier und der Stornierung aller Zimmer keine neuen Reservierungen mehr angenommen, die Zimmer waren ja glücklicherweise schon bezahlt gewesen, das Personal in Urlaub geschickt. Nun musste zumindest ein Teil der Leute wieder in den Dienst zurückgerufen werden. Wunderbar. Der sterngeschmückte Chefkoch freute sich ganz besonders, dass es weniger Gäste geben würde, so konnte er seine Kunst mit besonderer Aufmerksamkeit beweisen.
Einer nach dem anderen kommen sie an, die Trotzigen, die sich der Naturgewalt nicht haben unterwerfen wollen. Vor dem Hotel werden sie von einem Mitarbeiter der Gedenkstätte empfangen, dem der Fahrer im Voraus angekündigt hat, wer wann ankommen würde. Polizeibeamte in Zivil begrüßen sie. Weitere uniformierte Polizisten gehen schweigend vor dem Hotel auf und ab.
Als Erster ist der Serbe Alexander Mihályi-Mihajlović, genannt Sascha, am Flughafen abgeholt worden, den sein Sohn und dessen Lebensgefährtin begleiten. Der Fahrer bittet sie, noch einige Minuten zu warten, gleich komme ein weiterer Flieger an, mit dem ein Herr aus Amerika erwartet werde – auch wenn der eigentlich Italiener sei. Als er eintrifft, machen die Herren sich bekannt, umarmen einander fast, obwohl sie sich nicht von früheren Veranstaltungen hier aneinander erinnern können, sie sehen dann aber davon ab. Das blöde Virus. Die Begleiterin des amerikanischen Italieners Franco Miculetti ist seine sehr gut aussehende, kreolisch anmutende Enkeltochter Galilahi.
»Was für ein schöner Name! Den habe ich noch nie gehört. Hat er eine Bedeutung?«, fragt Saschas Sohn Marko, er duzt jedermann, wie das in seiner Generation üblich ist.
Sie antwortet verschnupft: »Es ist ein indianischer Name, drei meiner Großeltern sind Navajo. Der Name bedeutet ungefähr ›Sie ist ein hübsches Mädchen‹. Man könnte ihn auch mit ›die Attraktive‹ übersetzen. Passt das zu mir? Was meinst du?«
»Ich finde, er passt. Ich heiße übrigens Mila, das bedeutet, ich sei lieb«, mischt sich Markos Freundin ein. »Wer hat dir diesen Namen gegeben, wie konnte er wissen, wie du einmal aussehen wirst?«
»Mein Urgroßvater mütterlicherseits. Er war ein großer Medizinmann.«
Der Fahrer mahnt die Herrschaften höflich zur Eile und alle nehmen im Kombi Platz, Sascha und die Seinen auf der hinteren, der Italoamerikaner nebst Enkelin auf der mittleren Bank. Während der langen Fahrt spricht keiner. Am späten Nachmittag kommt die kleine Gesellschaft im Hotel Elephant an. Franco und Sascha sind schon öfter hier gewesen und wundern sich ein wenig, weil die Renovierung die Lobby stark verändert hat. Sie sollte wohl gediegen wirken, es ist jedoch reinster Kitsch geworden.
»Entschuldigt«, sagt der Italiener mit etwas rauer Stimme. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Franco Miculetti. Und wie heißt du, Kamerad? Ich kann doch Kamerad sagen und dich duzen, unter alten Buchenwaldianern? Der Fahrer hat dich als Herr Mihályi angesprochen, der Beamte hier vor der Hoteltür als Herr Michailovitsch, deine Schwiegertochter hat Sascha zu dir gesagt, wie heißt du nun wirklich?«
Sascha und sein Sohn lachen, der Serbe erklärt: »Zugegeben, es ist kompliziert, aber gleich kommt es noch schlimmer. Es ist ein Durcheinander, fast ein wenig peinlich, aber es war lebensrettend. Also: Mein Großvater hieß Mandelbaum. Er wohnte im Banat, das gehörte damals zum ungarischen Teil von Österreich-Ungarn, und es war unter Juden Mode, ihre Nachnamen zu magyarisieren. So nahm er den Namen Mihályi an. Mein Vater und ich wurden als Mihályis geboren und ich sollte eigentlich Sándor Mihályi heißen. Aber mein Vater wollte ein guter Bürger des neuen jugoslawischen Staates sein und ließ seinen Namen amtlich auf Mihajlović ändern. Sándor ist Alexander, auf Serbisch Aleksandar, also war mein Name nun Aleksandar Mihajlović. Beschnitten nach jüdischem Ritual wurde ich nicht, meine Eltern waren Atheisten. Als Hitlers Bewegung immer mächtiger und Österreich heim ins Reich beordert wurde, ließ mein Vater mich bei einem befreundeten reformierten Pfarrer taufen. Der stellte mir einen Taufschein mit rückdatiertem Taufdatum aus, auch den Schülerausweis fälschten wir: Jetzt war ich Sándor Mihályi. So kam ich während des Krieges in den von den Ungarn besetzten Teil Jugoslawiens, in die Batschka, und konnte mich ohne Weiteres als Ungar ins Gymnasium einschreiben …«
Galilahi muss lachen, sie begreift das alles nicht ganz, es ist wie aus einem schlechten Film. Franco stützt sich auf die Lehne eines großen Sessels, er sieht tatsächlich abgespannt aus, sie unterhalten sich stehend und er hat ja selbst den Redeschwall angezettelt, nun muss er durchhalten. Der serbische Jude mit den vielen Namen bemerkt seine Unruhe gar nicht, sondern setzt fort.
»Aber 1944, als die Pfeilkreuzler in Ungarn an die Macht kamen …«
»Was sind Pfeilkreuzler?«, will Galilahi wissen. Marko springt ein:
»Bitte, darüber ein anderes Mal. Weiter, Papa, aber komm bitte zum Schluss!«
»Gewiss doch. Also, ich flog 1944 auf und zu meinem Glück wurde ich als Jude nach Auschwitz gebracht, aber als arbeitsfähig nicht sofort vergast, sondern weiter nach Buchenwald geschickt, nicht wegen Urkundenfälschung als Kommunist angeklagt und erschossen. Und als ich zurückkam und in Titos Kommunistische Partei eintrat, passte mir dieses Mihályi nicht mehr und ich wechselte den Nachnamen zurück auf Mihajlović. Moment, noch bin ich nicht fertig. Inzwischen habe ich auch die österreichische Staatsbürgerschaft und einen legalen Pass, in dem Alexander Mihályi als Pseudonym des Schriftstellers Mihajlović angegeben wird. Ich muss nur immer aufpassen, wenn ich wo unterschreibe, besonders auf Verträgen, Geldüberweisungen und so, in Serbien unterzeichne ich außerdem in kyrillischer Schrift, sonst natürlich in lateinischer. Dein Sascha zu Diensten, Franco. Natürlich sind wir Kameraden.«
Nach und nach treffen weitere Gäste ein. Die alten Buchenwaldianer erhalten Kennkarten, die sie sich anheften. Verwirrt nicken sie einander zu, kennt man einander von früher, von Feiern zu anderen Gedenktagen? Betagte Menschen sind nun einmal vergesslich. Zeit für Umarmungen und erste Gespräche findet sich jedenfalls nicht. Bevor man ihnen die Zimmerschlüssel überreicht, werden sie einzeln in einen kleinen Salon gebeten, in dem sie die Ärztin, Frau Doktor Gerda Meier, erwartet. Sie entschuldigt sich, dass diese Formalität notwendig sei, man sei ihn liebevoller Sorge um das Wohl der verehrten Gäste. Vorerst füllt sie jedoch nur einen Fragebogen aus, der die Krankengeschichte der Gäste, insbesondere ihre Beschwerden im Laufe des letzten Jahres erfasst. Am liebsten würde sie sie gerne alle gleich untersuchen, erklärt sie, zumindest das Fieber messen, aber sie seien sicher müde von der Reise. Sie wolle sie aber so bald wie möglich, bei aller Rücksicht auf ihre Bequemlichkeit, reihum in ihren Zimmern besuchen, um das nachzuholen. Sie stehe zudem täglich von neun bis siebzehn Uhr bereit und sei zu jeder Tages- oder Nachtzeit telefonisch erreichbar. Abschließend verteilt sie ihre Visitenkarten und eine Liste mit wichtigen Telefonnummern verschiedener Behörden, der Unfallstation und der Polizei.
Sascha und Marko wollen gleich eine Tour durch die Stadt machen. Franco, der Italiener, will nicht mehr ausgehen, sondern lieber gleich im Hotel speisen. Also ermuntern die beiden Serben Galilahi, doch mitzukommen, weil sie noch nie in Weimar, ja nie in Europa gewesen ist. Sie blickt ihren Großvater fragend an, und als er kopfschüttelnd verneint, zuckt sie nur folgsam die Achseln. Sie tut das auf entzückende Art. Man verabredet sich also für nach dem Frühstück im ehemaligen Rauchersalon neben der Lobby.
Nachdem sie sich frisch gemacht haben, machen sich die Serben, die Zimmer auf der eleganten vierten Etage mit Blick auf den Markt bezogen haben, auf in die Stadt, um etwas Leichtes zu essen und gut zu trinken. Über den Platz, auf dem nur einige Polizisten herumstehen, spazieren sie zur Crêperie du Palais, ein wenig in Sorge, ob die trotz der Corona-Hysterie, wie Sascha die Situation nennt, geöffnet sein wird. Sie ist zu.
»Dabei ist doch sonst alles normal!«, sagt Sascha.
»Das ist es nicht«, antwortet sein Sohn. »Mach dir nichts vor, Papa.«
»Ich habe das Lager jetzt schon fünfundsiebzig Jahre lang überlebt, das ist eine Tatsache, sag du mir, ob das normal ist, und du siehst ja, dass es mir hier leichter fällt, zu Fuß zu gehen als sonst in der letzten Zeit. Die Straßen sind so leer … Nun, Weimar war ja auch sonst am Abend ausgestorben, wenn nichts Besonderes los war.«
Am Morgen kommt Sascha als Erster zum Frühstück. Er wacht immer zu früh auf, dagegen ist kein Kraut gewachsen. Die Hausdame und Leiterin des Restaurants, in dem das Frühstück serviert wird, kennt er von früheren Besuchen. Sie eilt freudig auf ihn zu, macht einen kleinen Knicks, was der älteren Frau gar nicht so gut steht, bemerkt es wohl selber und sagt ein wenig verwirrt: »Die Hand darf ich Ihnen ja nicht reichen. Wegen dieser blöden Infektionsgefahr. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
»Ich mich auch.«
»Tee wie gewohnt, Earl Grey?«
Es ist schön, wenn man in einem Hotel persönlich bekannt ist und eine besondere Behandlung erfährt, es sind oft nur kleine Gesten. Das Angebot ist reichlich wie in den Vorjahren, auch Sekt gibt es auf Wunsch. Die Tische sind angenehm weit voneinander entfernt, das war hier immer so. Der Blick aus den großen Fenstern geht auf den einsamen Garten. Noch will es nicht Frühling werden hier oben im Norden. Norden? Ja, aus Belgrader Perspektive.
In der Lobby nahe an der Tür steht ein schlanker blonder junger Mann in gutem Anzug, weißem Hemd und Krawatte, ein ziemlich ungewöhnlicher Aufzug für sein Alter, Sascha schätzt ihn auf höchstens fünfundzwanzig. Er kommt sofort auf ihn zu, deutet eine knappe Verbeugung an, die hat er wahrscheinlich in Filmen bei preußischen Offizieren in Zivil gesehen: »Ich bin Patrick von der Gedenkstätte, ich wohne auch im Hotel und stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, darf ich Ihnen meine Karte geben …«
»Das ist nett. Alles schläft …«, witzelnd fährt Sascha fort, »einsam wacht, einsam wachen wir zu zweit, na ja, und die Frühstücksdame, die Küchenbrigade, die Rezeption. Wollen wir uns nicht setzen, Patrick?«
Dazu kommt es nicht. Die Tür des Aufzugs geht auf, und hustend auf seine Enkelin gestützt wankt Franco in die Halle, lässt sich zum ersten Sessel führen, fällt auf das weiche rote Leder, setzt dazu an, etwas zu sagen, winkt mit der Hand, aber es überfällt ihn ein solcher Hustenanfall, dass er schließlich ermattet und zitternd in sich zusammensinkt und Galilahi, unfrisiert, ungeschminkt und dabei noch hübscher als sonst, ruft:
»Help!«
Sie beugt sich über den alten Mann und streichelt sein weißes, aber noch volles Haar.
»Was hast du?«, fragt Sascha besorgt, aber er ahnt es, weiß es.
Patrick schreit in Richtung Rezeption:
»Wasser! Wo ist die Frau Doktor …«
»Kommt erst um acht …«
Aus der Bar läuft ein Kellner mit einem Glas Wasser auf einem silbernen Tablett. Patrick ruft die Rettung an. Franco winkt ab, dass er nicht trinken könne, der Hustenanfall geht von selbst vorüber. Schwach sagt er: »Ich scheine mich ein wenig erkältet zu haben …«
Schon hört man die Sirene der Rettung. Ein Arzt und zwei Pfleger stürzen herein.
»Zu viel Aufwand …«, versucht Franco abzuwehren, aber er muss neuerlich husten.
Die gerade noch so nette Stimmung in dem vornehmen Hotel ist in eine Horrorszenerie gekippt.
»Gehören Sie zu dem Herrn, Fräulein?«, fragt der Arzt, während er Francos Blutdruck misst, und als sie es bejaht, bohrt er weiter, »Von wo sind Sie angereist?«
»Aus Phoenix, Georgia, über die Schweiz. Auf dem Flughafen Zürich haben wir uns mit alten Freunden getroffen, die extra deswegen aus Italien gekommen sind …«
Der Arzt nickt, als hätte er so etwas geahnt.
»Ich möchte Sie sofort in die Universitätsklinik in Jena bringen lassen.« Francos Versuch, etwas einzuwenden, lässt er gar nicht zu. »Darauf muss ich bestehen …«
»Gibt es denn in Weimar kein Krankenhaus?«, fragt Sascha.
»Selbstverständlich haben wir auch hier ein Klinikum, aber für diesen Fall sind wir nicht so gut gerüstet …«
»Sie meinen das Virus, Herr Doktor?«
»Das müssen wir noch abklären …«
»Und ich?«, fragt Galilahi dem Weinen nahe.
»Sie vorerst nicht. Bitte holen Sie, was der Herr mitnehmen möchte, Schlafanzug, Toilettzeug. Es gibt natürlich alles in der Klinik, aber …«
»Muss er dortbleiben?«
»Das weiß ich nicht, das wird man dort feststellen. Aber wir sollten mit allem rechnen und möglichst wenig Zeit verlieren. Bitte, beeilen Sie sich.« Die beiden Pfleger schnauzt er an. »Habt ihr die Masken mit? Na, worauf wartet ihr, setzt sie auf …« Erst jetzt besinnt er sich, dass er selbst es unterlassen hat, und holt schnell eine chirurgische Maske aus seiner Arzttasche, stülpt sie über Nase und Mund.
Die junge Ärztin Gerda stürzt ins Hotel: »Um Himmels willen, was ist los?«
»Auf ein Wort, Frau Kollegin …«
Die beiden Ärzte flüstern miteinander. Auch Gerda holt eine Maske aus ihrer Tasche und setzt sie auf. Die Pfleger haben eine Bahre geholt, Franco wehrt sich nicht mehr und wird auf ihr festgeschnallt. Sirenenheulend saust die Rettung mit dem Patienten ab, Gerda bleibt an der Rezeption stehen. Der Aufzug surrt, die Türen gehen auf und Marko und Mila steigen fröhlich, frisch, munter, bestens gelaunt aus: »Du wieder unter den Ersten, Papa? Gestern Abend haben wir keine Palatschinken, Crêpes oder wie sich hier das Zeug nennt, bekommen …«, will er erzählen, unterbricht sich aber, als er die Ärztin mit der Maske auf dem Gesicht bemerkt. »Ist etwas passiert?«
Sascha berichtet. Marko seufzt: »Du hast gestern Abend behauptet, alles sei wie immer, Papa. Wer hat jetzt recht gehabt? Ich hoffe, wir dürfen trotzdem im Saal Anna Amalia, falls er noch so heißt, frühstücken. Womöglich für einige Zeit zum letzten Mal …«
Patrick, der näher gekommen ist, um sich vorzustellen, hat zugehört und berichtigt:
»Der Saal wird jetzt einfach AnnA genannt. Mit großem A am Ende. Übrigens, Patrick mein Name …«
Aus dem Aufzug kommen nach und nach andere ältere Herren, einige mit Damen, die wohl ihre Gattinnen sind, oder mit junger Begleitung, alle mit den Kennkarten als Gäste der Gedenkstätte. Man nickt einander zu und begibt sich zum Frühstück. Platz gibt es ja mehr als genug, Abstand halten ist kein Problem. Sascha setzt sich zu seinem Sohn und dessen Freundin, bestellt sich noch einen Espresso.
»Es ist doch alles ziemlich normal, oder?«, besteht er auf seinem Standpunkt.
Patrick stellt sich in die Mitte des Saales, hebt ein Glas hoch, jedoch nicht um zu trinken, sondern um mit einem Kaffeelöffel darauf zu schlagen.
»Meine Damen und Herren, ich hoffe, mich Ihnen allen schon vorgestellt zu haben. Ich sage Ihnen noch einmal im Namen der Gedenkstätte, wie herzlich Sie willkommen sind, wie sehr wir Ihren Mut bewundern, und dass wir natürlich alles für Sie tun wollen, was in unserer Macht steht. Die Landesregierung und die Stadt Weimar haben mich beauftragt, Sie auch in ihrem Namen zu begrüßen, Sie werden sicher verstehen, dass die meisten leitenden Verantwortlichen zurzeit mit der Bewältigung der Pandemie beschäftigt sind. Ich darf jetzt eine Liste mit den Namen aller Gäste und einigen Angaben zu ihnen austeilen, damit Sie schneller und leichter miteinander in Kontakt treten können, obwohl sich einige von Ihnen sicher nicht zuletzt von früheren Veranstaltungen hier kennen. Und dann möchte ich Sie herzlich bitten, noch ein wenig hier im Saal zu bleiben, alle ihre Bestellungen gehen selbstverständlich auf unsere Rechnung.«
Mehrere der ehemaligen Häftlinge haben die Absicht gehabt, vor die Hoteltür zu schauen, ein wenig spazieren zu gehen, sie alle kennen Weimar, waren schon zu früheren Gedenkfeiern in der Stadt, auch in dem Hotel sind sie schon gewesen, aber einige der jungen Begleitpersonen noch nie, ihnen würden sie gerne das Goethe-Schiller-Denkmal zeigen, wenn das gute Wetter halten sollte, den Park an der Ilm und wenigstens aus der Ferne das Gartenhaus Goethes. Nun nehmen sie die Bitte, im Hotel zu bleiben, achselzuckend zur Kenntnis, studieren die Liste und werfen Blicke nach allen Seiten, um festzustellen, wen sie erkennen.
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
Liste der Überlebenden und ihrer Begleitpersonen, die auf eigene Verantwortung trotz entsprechender Warnungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora am 1. und 2. April 2020 angereist und im Hotel Elephant in Weimar untergebracht sind.
Es wird das Land angeführt, aus dem die Überlebenden in ein Konzentrationslager verbracht worden sind beziehungsweise aus dem sie heute angereist sind, sowie der zuletzt ausgeübte Beruf, weil alle Pensionisten beziehungsweise Rentner sind.
Italien/USA, Franco Miculetti, Chemielaborant, in Begleitung seiner Enkelin, Galilahi Wilson, Studentin;
Jugoslawien/Serbien, Aleksandar Sascha Mihályi-Mihajlo vić, Schriftsteller, in Begleitung seines Sohnes, Marko Mihajlović, Journalist, sowie dessen Lebensgefährtin, Mila Klandić, IT-Technikerin;
Griechenland, Jorgos Vargas, Sportlehrer, in Begleitung seines Enkelsohnes, Manolis Vargas, Deutschlehrer;
Serbien/Israel/USA, Leon-Leo Gutmann, Diplomingenieur, in Begleitung seines Sohnes Amos Gutmann, Diplomingenieur;
Frankreich, Botschafter Philippe Pharoux, Diplomat, in Begleitung seiner Gattin Dominique, Tänzerin, Choreografin;
Ungarn, Hugo Braun-Barna, Journalist, in Begleitung seiner Gattin Noémi, Schauspielerin;
Tschechoslowakei/Tschechien, Viktor Weisz, Professor für Slawistik, in Begleitung seines Sohnes Perun-Peter Weisz, Professor der Komparatistik;
Deutschland, Michael Jung, Gastwirt, in Begleitung seines Enkelsohnes, David, Apotheker, und dessen Ehefrau Simonida, Blumenhändlerin;
Spanien, Rodrigo Rosales Rosales, Schriftsteller, in Begleitung von Raphael Delacroix Diaz, Journalist;
Niederlande, Stefan Seliger, Kaufmann, in Begleitung seiner Enkelin Anne, Diamantenschleiferin;
Dänemark, Nils Jensen, Polizeibeamter, in Begleitung seines Enkelsohnes, Bent Jensen, Schiffskapitän;
Sowjetunion/Russland, Oberst Igor Iwatschew, Berufsoffizier.
Der Kaffee, den die meisten bestellt haben, ist ausgetrunken, die Gäste schweigen oder tuscheln, rätseln, wie lange sie werden warten müssen, blicken aus den Fenstern. Die Wolken haben sich zurückgezogen, Sonnenschein überzieht den Garten, um diese Jahreszeit in Weimar eine Seltenheit.
Iwatschew wird es langweilig, ein hagerer, hochgewachsener, trotz seines hohen Alters gut aussehender Mann mit kahl geschorenem Kopf steht auf und geht zur Tür, aber ein Kellner stellt sich ihm in den Weg und bittet: »Wir warten auf eine wichtige Mitteilung, mein Herr, ich ersuche Sie höflichst …«
»Vorbeilassen«, knurrt der ehemalige hohe Offizier und geht an dem schmächtigen, um einen Kopf kleineren Hotelbediensteten vorbei. Er kommt jedoch nicht weit, denn vor dem Saal stehen mehrere vermummte Männer in seltsamer gelber Schutzkleidung, mit weißen Masken vor Mund und Nase und bilden eine undurchlässige Barriere.
»Was seid ihr denn?«, herrscht sie der Russe an. Er spricht ein gutes Deutsch, wenn auch mit dem unvermeidlichen slawischen Akzent. »Seid ihr eine neue SS? Seid ihr aus euren Löchern gekrochen?«
Von der Rezeption eilt ein gut gekleideter Zivilist herbei, die Maske lose um den Hals gehängt.
»Nein, ganz im Gegenteil, Herr Oberst«, er weiß augenscheinlich, mit wem er es zu tun hat. »In Ihrem und im Interesse Ihrer Kameraden bitte ich Sie, sich wieder auf Ihren Platz zu begeben, ich erkläre gern, worum es sich handelt.«
»Wenn es so ist …«, murmelt der Russe und folgt der Anweisung. Der Zivilist kommt nach und stellt sich an die Wand vor dem Tischchen mit Blumensträußen, spricht laut, aber langsam, er ist ein geübter Redner:
»Meine Damen und Herren, liebe Gäste des Landes Thüringen, der Stadt Weimar und der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Mein Name ist Kork, ich bin von der Landesregierung beauftragt, die Maßnahmen, die leider notwendig geworden sind, zu koordinieren. Sie haben alle eine Erklärung unterzeichnet, dass Sie die Verantwortung für die Lage, die durch die weltweite Epidemie, die sich auch hierher ausgebreitet hat, soweit es Sie betrifft, übernehmen. Deshalb bestehe ich darauf, dass Sie den leider notwendigen Anweisungen, die ich Ihnen bekannt geben muss, unbedingt Folge leisten. Ich muss anfangs die bedauerliche Mitteilung machen, dass Herr Franco Miculetti, der gestern hier angekommen ist, heute Morgen in die Universitätsklinik eingeliefert werden musste. Es wurde mit einer großen Wahrscheinlichkeit festgestellt, dass er sich mit dem Virus SARS-CoV-2 angesteckt hat, jedenfalls hat er schwere Atemprobleme und wird zurzeit künstlich beatmet, eine endgültige Diagnose wird hoffentlich bis zum Abend feststehen …«
Galilahi springt auf und ruft unbeherrscht: »Ich! … Mein Opa war kerngesund …«
»Ich komme gern noch auf Sie zu, Miss Wilson, sobald ich alles Notwendige für alle Gäste erläutert habe. Meine Damen und Herren, Sie alle sind nun dem medizinischen Verdacht ausgesetzt, sich ebenfalls mit dem Virus angesteckt zu haben, Sie alle könnten Träger des Erregers sein. Deshalb werden Sie aufgrund der Gesetzeslage und Ihrer Unterschriften in Quarantäne gestellt und ärztlich untersucht. Das ist keine Empfehlung, sondern eine Anordnung. Die Botschaften der Länder, aus denen Sie angereist sind und, falls es sich nicht um dasselbe Land handelt, dessen Staatsbürger Sie sind, werden noch im Laufe des Tages amtlich verständigt. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, die diplomatische Vertretung, die für Sie zuständig ist, zu kontaktieren. Lassen Sie mich jetzt, bitte, erklären, wie das für die nächste Zeit ablaufen wird …«
»Was bedeutet nächste Zeit?« Sascha ist der Neugierigste oder Vorlauteste.
»Das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen. Ich nehme jedoch an, für mindestens zwei Wochen, falls die Corona-Tests für Sie alle negativ ausfallen, was ich und wir alle sehr hoffen, allerdings …« Sein Ton ist skeptisch. Sascha und seine Angehörigen sind im selben Auto mit Franco gereist. Sie sind also besonders gefährdet. Man wird sehen.
»Allerdings muss ich Sie bitten, sich nach dieser Unterredung unverzüglich auf Ihre Zimmer zu begeben und dortzubleiben …«
Selbstverständlich könnten sie alles, was sie wünschten, über den Zimmerservice bestellen, die Menüs für die Hauptmahlzeiten würden täglich aktualisiert. Das Personal werde anklopfen und die Bestellung vor die Zimmertür stellen. Im Laufe des Tages werde eine Videoschaltung zwischen allen Teilnehmern eingerichtet, sie könnten sich über ihre mitgebrachten Laptops oder Telefone alle zusammen oder einzeln unterhalten, vorerst kostenlos. Sollte einer der Gäste kein Gerät mitgebracht haben, gebe es Leihgeräte vom Hotel. Im Laufe des Tages, wahrscheinlich am Nachmittag, würden Ärzte vorbeikommen, um jeden Gast zu untersuchen. Sollten diese Untersuchungen und Tests keine positiven Ergebnisse erbringen, die Herrschaften also nicht infiziert sein, könne man die Situation im Hotel nach und nach erleichtern. Sollte, Gott behüte, doch der eine oder andere angesteckt sein, würden die Ärzte je nach konkretem Fall entscheiden, was zu tun, ob eine Einlieferung in die Universitätsklinik unumgänglich sei. Man werde alles, aber auch wirklich alles Mögliche tun, um die Bequemlichkeit in diesem zur Quarantänestation gewordenen Hotel zu fördern, aber die Gesundheit der Anwesenden habe selbstverständlich absoluten Vorrang. Frau Doktor Meier habe sich bereit erklärt, im Hotel ein Zimmer zu beziehen, und sei daher Tag und Nacht zu erreichen. Auch der junge Kollege Patrick werde im Hotel wohnen und jederzeit zur Verfügung stehen.
Herr Kork ist augenscheinlich ein erfahrener Politiker, er hält seine Rede ohne zu stocken und ohne Zettelchen, er hat sich gut vorbereitet. Einige klatschen nach der geschickten Darstellung, ohne zu bemerken, was sie damit begrüßen. Alle Achtung, denkt Sascha, zufrieden ist er aber keineswegs: »In der langen und nicht immer glorreichen Geschichte dieses Hotels wird das eine interessante Episode sein!«
»Ich freue mich, dass Sie den Humor nicht verloren haben Herr …«, Kork muss nur kurz überlegen, »Herr Mihályi.«
Die meisten stehen verlegen und dem Schicksal ergeben auf, der Russe steuert auf Sascha zu:
»Wir sind die Einzigen, die sich bemerkbar gemacht haben, ich habe versucht, die Barrikade zu brechen, du hast dich wenigstens zu Wort gemeldet, die übrigen haben gekuscht.«
»Dir ist ja auch kein Durchbruch gelungen.« Sascha mag es nicht so stehen lassen, wie der Mann verächtlich über alle anderen spricht und ihn dabei vereinnahmt.
»Na ja, wenn ich ein besonders hartnäckiger Mensch wäre, hätten mich die Deutschen schon damals umgebracht. Vor stärkerer Gewalt muss man zurückstecken, das wissen die Klugen, die Unklugen werden Helden der Sowjetunion …«
»Ja, und du?«
»Ich wäre es um ein Haar geworden. Übrigens sind wir beide einander vor fünfundsiebzig Jahren begegnet.«
Jetzt ist Sascha doch perplex. »Was? Wieso?«
»In Langenstein-Zwieberge, im Lager in den Malachitbergen. Du warst doch mit diesem Adler zusammen, nicht wahr?«
»Ja …«
»Ich gehörte zu denen, die am 12. April als Erste das Lager verlassen haben. Wir sind mit Kaninchen zurückgekommen und haben euch eines zum Braten überlassen.«
»Ja, ich erinnere mich. Du warst das?«
»Ja.«
Sascha fasst sich: »Hat es dir nachher in der Sowjetunion eigentlich geschadet, dass du am Leben geblieben bist?«
»Gute Frage. Mir nicht. Anderen schon. Ich war jung genug, dass man es mir nicht besonders übel genommen hat, dass ich am Leben geblieben bin. Mein Onkel war ein mittelhohes Tier in der Partei. Und ich habe im GRU Karriere gemacht.«
»Deshalb sprichst du so gut Deutsch?«
»Umgekehrt, weil ich Deutsch kann, hat mich der GRU genommen. Molodjetz!«
Sie gehen auseinander. Mila, die zufällig mitgehört hat, fragt: »Wer war Adler, wieso Langenstein-Zwieberge, was ist der GRU?«
»Adler war ein deutsch-tschechisch-jüdischer Dichter und Soziologe, Langenstein ein Außenlager von Buchenwald. Erkläre ich dir später genauer …«
»Und der GRU war und ist der sowjetische, jetzt russische militärische Geheimdienst«, fügt Marko hinzu.
Die lieben Gastgeber sind also Überwachungspersonal geworden. Die ehemaligen Häftlinge stellen unwillkürlich Vergleiche mit der Lage vor fünfundsiebzig Jahren an. Das sollte man nicht tun, wirklich nicht, das ist sinnlos, aber wie kann man gegen spontane Einfälle kämpfen? Logisch müssen die nicht sein. Dieses Hotel gleicht keiner Lagerbaracke, nicht im Mindesten. Herr Kork und Patrick sind keinen SS-Offiziere und sie sind freiwillig gekommen, mussten sich durchsetzen, um überhaupt kommen zu dürfen … Und jetzt? Ist das Freiheit? Ja, was haben sie sich eigentlich vorgestellt, dass die Infektion vor ihnen zurückschwappen würde wie das Rote Meer vor Moses, der seine Leute aus der Sklaverei führte? In die Freiheit? Zunächst gerieten sie ja erst einmal in die Wüste. Das war wohl Absicht des biblischen Herrn. Aber sie, die zwölf mit ihrer Begleitung? Sind sie nicht mit der unausgesprochenen Absicht gekommen, hier zu sterben? Zumindest haben sie damit kokettiert. Ein Fanal wollten sie setzen? Ja oder nein?
Die jungen Begleiter denken anders, ärgern sich, dass sie die Alten nicht von dieser Reise abgebracht haben, sie können sich die Begrenzung auf vier Wände, auch wenn sie noch so schön mit frischen Tapeten überzogen sind, nicht vorstellen. Wochenlang? Unbegrenzt? Das wird ja fürchterlich langweilig werden. Zu Hause – je nachdem, woher sie gekommen sind – knospt schon der Frühling.
Alle gehen folgsam in die Zimmer hinauf. Nach einem kurzen Auftritt der Sonne bewölkt sich der Himmel wieder und Regen beginnt gegen die Hotelfenster zu trommeln, als wäre es ein Trost, dass jetzt ohnehin niemand durch die Straßen und Gassen schlendern könnte, ohne nass zu werden und zu frösteln. Die Unterkunft ist bequem, da von den neunundneunzig Zimmern und Suiten nur einundzwanzig für die Überlebenden und ihre Begleiter benötigt werden, haben sie die besten in den oberen Stockwerken bezogen. Betten und Sessel sind neu und komfortabel, jede Menge Hand- und Frottiertücher, Bademäntel und Pantoffeln stehen zu ihrer Verfügung, die Fernsehschirme sind groß, Schreibtischchen stehen für die Laptops bereit, in den Schränken ist viel Platz, in den kleinen Kühlschränken befindet sich eine anständige Auswahl von scharfen Getränken, Bier, Wein und Knabberzeug, auch Schalen mit Obst hat die Hoteldirektion als Gruß auf die Zimmer stellen lassen. Erst einmal wird es sich hier aushalten lassen. Muss man aushalten. Erst einmal …
Fußgetrappel auf den Fluren. Wer vor die Tür schaut, sieht mehrere hin und her huschende Gestalten, wie Astronauten gekleidet, aber auch normal gekleidete Männer und Frauen mit Masken vor Mund und Nase. Kabel werden gelegt. Bald wird es wieder still. Auch wenn sich noch kein großer Hunger eingestellt hat, bestellt jeder das Mittagessen aufs Zimmer, um die Zeit zu vertreiben. Beginnt jetzt das große Warten? Glücklicherweise wird das Warten erst einmal fast im Stundentakt unterbrochen, an eine richtige Siesta ist nicht zu denken, aber für die Abwechslung ist jeder dankbar.
Zuerst kommen Techniker, bringen nun doch allen Gästen neue Laptops, installieren sie und legen Betriebsanweisungen für die Videoschaltung dazu. Ab siebzehn Uhr werde man die Schaltung ausprobieren.
»Jetzt ist Ihr Zimmer videokonferenzfähig.«
Der Mann trägt einen bis unters Kinn zugeknöpften blauen Kittel, eine weiße Maske, über der nur seine kleinen blauen Augen und die buschigen Brauen zu sehen sind. Kann man sich so kennenlernen? Sascha fehlt es sehr, Gesichter zu sehen. Trägt dieser kräftige Techniker vielleicht einen gepflegten Schnurrbart, der jetzt verborgen bleibt? Einen kleinen wie Hitler, einen spitzen oder gar einen gezwirbelten?
Später erscheint Frau Doktor Meier in Begleitung eines Pflegers reihum in allen Zimmern, misst Temperatur, Blutdruck, nimmt Virustests ab, füllt neue Formulare aus und bittet um Unterschriften.
»So einfach ist das?«, wundert sich Noémi Barna.
»Ist ohnehin Quatsch«, meint ihr stets skeptischer Mann.
Michael Jung wehrt sich zuerst und will seinen Mund nicht aufmachen, gibt aber schließlich nach und lässt sich testen. Über so etwas steht nichts in der Heiligen Schrift.
Als die Mediziner sein Zimmer wieder verlassen haben, sagt Botschafter Pharoux: »Man erlebt allerlei in diesem Leben, Dominique. Insbesondere, wenn man lange genug lebt. Das ist jetzt auch wieder eine unerwartete neue Erfahrung.«
»Wann erhalten wir die Ergebnisse?«, fragt Sascha. Wie die Ärztin ohne Maske aussieht, weiß er glücklicherweise, sie hat ein hübsches Gesicht.
»Kann ich leider nicht sagen«, antwortet Frau Doktor Meier ein wenig ungeduldig. »Sobald wir sie bekommen, teilen wir sie Ihnen natürlich mit.«
»Könnten Sie bitte später einmal, wenn Sie mehr Zeit haben, noch einmal zu mir kommen?«
»Selbstverständlich«, die Ärztin ist an der Tür stehen geblieben. »Dafür bin ich doch da, aber wenn Sie sich unwohl fühlen, sagen Sie mir bitte sofort, worum es geht.«
»Mir geht es gut, danke. Ich wollte ein paar ziemlich allgemeine Fragen mit Ihnen besprechen, wenn Sie gestatten …«
Sie nickt und weg ist sie.
Kurz vor fünf klopft es wieder, es ist aber nicht die Ärztin, sondern Patrick.
»Darf ich?«
»Aber selbstverständlich. Nehmen Sie doch Platz. Können Sie nicht diese blöde Maske abnehmen?«
»Tut mir leid. Darf ich eigentlich nicht …«
Um sich per Videoschaltung gruppenweise miteinander oder alle gemeinsam unterhalten zu können, erklärt Patrick, müsse ein Moderator bestimmt werden. »Und da Sie, lieber Herr Mihályi, ja nicht nur einer der Initiatoren dieses Besuchs trotz der Absage sind, sondern auch bereits spontan begonnen haben, für die Gemeinschaft zu sprechen …«
Das hat man davon, wenn man zu vorlaut vorprescht, denkt Sascha: »Sie können mich Sascha nennen, ich soll Sie doch auch mit dem Vornamen ansprechen.«
»Ja, aber der Altersunterschied! Und überhaupt, Sie sind … Nun, gut, Sascha, also wir wollten Ihnen vorschlagen, dass Sie der Moderator werden.«
»Das ist keine gute Idee, ich bin ziemlich ungeschickt mit diesem Zeug, aber mein Sohn könnte das machen, er ist es als Redakteur gewöhnt, Konferenzen zu leiten, und seine Freundin ist IT-Spezialistin, sie kann ihm bei Problemen helfen.«
»Wunderbar. Welches Zimmer hat er?«