Die höchste Form des Glücks ist ein Leben
mit einem gewissen Maß an Verrücktheit.
ERASMUS VON ROTTERDAM
Das Schiff liegt im sicheren Hafen,
aber dafür wurde es nicht gebaut.
GRACE MURRAY HOPPER
Schön ist es auch anderswo, und hier bin ich sowieso.
WILHELM BUSCH
Vorwort
»Sie sind verrückt«, brüllte Angus,
der gelernt hatte, seine eigenen Beschränkungen
als sicheren Beweis geistiger Gesundheit zu werten.
PATRICK WHITE – VOSS
Tote schreiben keine Bücher. Nur wer sein Abenteuer überlebt, kann davon berichten. Daher halten Sie eine Sammlung von Geschichten in der Hand, die (fast) alle ein Happy End haben. Sie handeln von kühnen, verrückten, verschrobenen, visionären Männern, von ihren Heldentaten, Torheiten, Obsessionen, von Träumen, Willenskraft und Leidensfähigkeit. Und sie sind alle wahr.
Da es Geschichten mit glücklichem Ausgang sind, handeln sie auch von jenem Quäntchen Glück, ohne das nichts gelingt. Endet ein gewagtes Unterfangen tragisch, und sei es erst kurz vor dem Ziel, sehen die meisten Menschen in den Abenteurern keine tollkühnen Helden mehr, sondern Versager, Neurotiker, Phantasten, die in der Gefahr umkamen, in die sie sich idiotischerweise selbst begeben haben.
Diese Menschen erheben die Stimme der Vernunft: Muss man Geld verpulvern und sein Leben aufs Spiel setzen, um einen Achttausender in Nepal zu bezwingen, die Antarktis auf Skiern zu durchqueren, an etwas Naturseide oder Nylon baumelnd aus einem Flugzeug zu springen? Welche Schraube ist bei einem locker, der alles daransetzt, um mit einem Schwimmwagen über Ozeane und Staubpisten die Welt zu umrunden?
Ich bin eine solche kopfschüttelnde Stimme der Vernunft. Doch in mir ist auch eine ambivalente Faszination für Menschen, die solche eigenartigen Dinge tun (wollen). Oft – nein, beileibe nicht immer! – gefällt es mir nämlich, wenn jemand etwas sagt oder tut, was mir fremd ist. Das muss ich nicht verstehen. Ich kann es einfach nur anstaunen und mich wundern; ich erkenne mich in Sibylle Lewitscharoffs Satz, dass »Zeitgenossen, die mit ähnlichen Augen in dieselbe Welt schauen«, keine wirklichen Rätsel bergen. Und ich liebe Winston Churchills Bonmot »Wenn zwei Menschen immer dasselbe denken, ist einer von ihnen auf Dauer überflüssig.« Ich brauche sie also, diese Wagemutigen.
Dass ich mich ausgerechnet in Ozeanbegeisterte vergucken musste, bestätigt das Gesagte vermutlich: Ich habe keine Ahnung von Seefahrt, das Liebste am Meer ist mir das Ufer, Booten und Schiffen, gleich welcher Größe, begegne ich mit einem gewissen Misstrauen.
»Meine« Seefahrer hingegen legen sich auf gefährliche Weise mit dem Meer an. Sie brechen freiwillig zu Fahrten auf, die ich auf die eine oder andere Weise abwegig und ziemlich sinnfrei finde. Diese beiden Kriterien waren entscheidend, daher bleiben in meinem Buch waghalsige Unternehmungen zu Kriegszeiten ebenso ausgespart wie die Tragödien von Bootsflüchtlingen und Schiffbrüchigen.
Mit wenigen Ausnahmen waren alle Seefahrer, deren Geschichten ich hier erzähle, auf dem Meer völlig auf sich gestellt, weil sie keine modernen Navigations- und Kommunikationsgeräte an Bord hatten. Der Grund hierfür ist nicht, dass sie besonders mutig oder puristisch waren, sondern dass es diese Hilfsmittel zu ihrer Zeit nicht gab. Diese Zeit liegt gar nicht so weit zurück, wie es einem angesichts der Allgegenwart von GPS, Mobilfunk und Satellitenüberwachung manchmal vorkommt.
Die Extremsegler unserer Tage, die technisch hochgerüstet losziehen, interessieren mich wenig. Sie wissen zu genau, worauf sie sich einlassen (was bekanntermaßen nicht bedeutet, dass sie unter Kontrolle hätten, worauf sie sich hochgerüstet und gut vorbereitet einlassen!), und irgendwie kommt es mir so vor, als blieben sie dank ihrer vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten immer mit einem (Gedanken)Bein an Land. Dezidiert ausgespart bleiben auch Kinder wie die Holländerin Laura Dekker oder die Amerikanerin Abby Sunderland, die mit Billigung ihrer Eltern dazu aufgebrochen sind, allein um die Welt zu segeln, um dem Rekord der »jüngsten Einhand-Weltumseglerin« nachzujagen. Die Verantwortungslosigkeit ihrer Eltern empört mich dermaßen, dass ich darüber weder schreiben will noch kann.
Gemeinsam ist meinen Geschichten auch, dass alle von Männern handeln. Das war nicht so geplant. Es war schwierig, überhaupt eine Frau zu finden, die in mein »Beuteschema« passte, aber immerhin gab es da die wunderbare Ann Davison, die 1952 ohne nennenswerte Segelerfahrung als erste Frau allein über den Atlantik gesegelt war. Sie schien ebenso kühn (oder verrückt) wie ihre männlichen Zeitgenossen. Ich schrieb ein Kapitel über sie, schrieb es um, verwarf es, fing von vorne an, bis ich endlich begriff, warum es mir immer wieder misslang: Sie war anders kühn bzw. verrückt als die Männer. Zumindest sprach sie völlig anders über sich und ihre Fahrt, als diese es taten.
Wenn sie in ihrem Buch … und mein Schiff ist so klein von dieser Erstleistung erzählt, dann klingt das, als sei sie ihr irgendwie passiert, als habe sie sie nicht wirklich geplant und im Grunde nicht sehr viel zu ihrem Gelingen beigetragen. Sie habe mit dieser Überquerung ihre Angst bezwingen wollen, schreibt sie. Und habe gelernt, dass der Mut, den sie suchte, nicht der Mut war, physische Angst zu überwinden, nicht das, was »einen Mann dazu befähigt, Gefahren ins Auge zu sehen«. Mut sei die kämpferische Fähigkeit, »zu wissen, dass man nichts Besonderes darstellt, und diese Tatsache mit Gleichmut anzuerkennen, ohne dabei in seinen Anstrengungen nachzulassen«. Sie habe Tausende von Meilen über den Ozean segeln müssen, um zu begreifen, dass dieser Mut der Schlüssel zum Leben sei.
Sie demontiert mit jeder Seite ihres Buches das Bild einer heroischen, todesmutigen Atlantiküberquererin. Vielleicht dachten ihre männlichen Entsprechungen ähnlich. Gelesen habe ich es bei keinem. Daher wirkt sie neben ihnen wie eine Quotenfrau. Und das hat sie wahrlich nicht verdient.
Die Boote, mit denen sich die Männer dieses Buches aufs offene Meer gewagt haben, oder die Begleitumstände, unter denen das geschah, provozieren verzagtere Gemüter zu der verwirrten Frage: »Sie haben – was?« Die Bestätigung, dass sie das Unvorstellbare wirklich getan haben, zieht zwingend die Frage aller Fragen nach sich: »Warum sollte jemand das wollen?« Warum in aller Welt träumt jemand davon, sich buchstäblich bis aufs Blut zu schinden und in Lebensgefahr zu begeben?
Masochismus ist nicht die einzige mögliche Antwort. Im Gegenteil, es gibt viel mehr Gründe, als man zunächst meinen sollte: Eine Theorie beweisen. Im Kampf gegen Konkurrenten oder die Elemente siegreich bleiben. Eins mit dem Meer werden. Dem Lärm entfliehen. Selbstüberschätzung, Geltungsdrang, Eitelkeit. Eigene körperliche und psychische Grenzen überwinden. Mit einer sensationellen Leistung Geld verdienen. Berühmt werden. Als Erster erreichen, was niemand für erreichbar hielt. Und vergessen wir nicht die schlichtesten und zugleich unerklärlichsten Gründe: Abenteuerlust. Unstillbares Fernweh.
Das Fatale an dieser Liste ist, dass sie nur versteht, wer das Wagemutige schon in sich trägt, also ähnlich fühlt und denkt. Die vielen, vielen anderen nehmen diese und weitere Erklärungen interessiert zur Kenntnis, grübeln vielleicht sogar ein wenig darüber nach. Und fragen dann ratlos: »ABER WARUM?«
Warum? Warum? Warum? Die einzig vernünftige Erklärung ist die legendär gewordene Antwort des Engländers George Mallory auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle: »Because it is there.« [Das war im Sommer 1924. Mallory kam bei der Besteigung um, seine Leiche wurde erst 1999 gefunden.]
Ebba D. Drolshagen
Frankfurt am Main, im Winter 2011
1
Eine kleine Probefahrt
über den Atlantik
Ole Brude und sein Ei-Boot
Ich begab aufs hohe, weite Meer mich
Mit einem Schiff allein und mit der kleinen
Genossenschaft, die nimmer mich verlassen.
DANTE ALIGHIERI – DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE
Sie werden an dieser Geschichte mehr Freude haben, wenn Sie jetzt aufstehen, einen Zollstock holen und auf dem Fußboden fünfeinhalb Meter ausmessen. So haben Sie die Länge des Schiffs vor Augen, von dem die Rede sein wird und das im Übrigen ebenso breit wie hoch ist, nämlich zweieinhalb Meter. Runden Sie nun bitte (in Ihrer Vorstellung) diesen Würfel so ab, dass er einem Ei gleicht. Betreten Sie es und laden Sie drei erwachsene Männer ein, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Schließen Sie dann – von innen – die Tür. Und nun zur Geschichte.
Unser Held heißt Ole Martin Brude. Er kam 1880 in Ålesund zur Welt, einem Fischereihafen an der norwegischen Westküste, und wurde, wie an jenem Ort und zu jener Zeit üblich, als 16-Jähriger Schiffsjunge. Zwei Jahre später geriet sein Schiff bei Neufundland in einen Sturm, es drohte zu sinken, und das hölzerne Rettungsboot zerschellte am Schiffsrumpf. Wäre das Schiff wirklich untergegangen, hätte sich die Mannschaft nicht retten können. Dieses Erlebnis schockierte Brude zutiefst, denn er hatte gesehen, wie instabil offene Holzboote waren. Und nachdem er einmal angefangen hatte, über Rettungsboote nachzudenken, erkannte er bald, dass sie Schiffbrüchige nicht vor Sturm, Wellen, Kälte oder Hitze schützten. Danach lag er, wie er später schrieb, »viele Nächte wach und grübelte darüber nach, wie ein zuverlässiges Rettungsboot aussehen müsste, aber ich kam zu keinem Ergebnis«.
Brude hatte, wie sich zeigen sollte, viele Talente – das effektvolle Erzählen seiner eigenen Geschichte gehörte allerdings nicht dazu. Daher wissen wir nur, dass er etwa fünf Jahre lang grübelte, plante, rechnete und zeichnete, nicht aber, wann und wodurch er seinen Heureka-Moment erlebte und ihm die Idee seines Lebens kam, das Ei des Brude, sozusagen: Ein Rettungsboot, das gar kein Boot im herkömmlichen Sinne war, sondern vielmehr ein aus Stahlplatten konstruiertes Ei.
Sobald ein Schiff in Seenot geriet, mussten die Passagiere (noch bevor das Schiff sank) in dieses Ei hineinklettern und es – von innen natürlich – verschließen. Dann war Nervenstärke und Zuversicht gefragt, denn Brudes Clou war, dass man, im Boot sitzend, den Untergang des Schiffs abwarten musste. Das Ei sinke zwar zunächst mit dem Schiff in die Tiefe, wenig später aber, versicherte er, tauche es von allein wieder an die Meeresoberfläche, wo es dann bei jedem Wetter bleibe. Das erinnert stark an die unsinkbaren und unversenkbaren Plastikentchen in der Badewanne.
1903 beauftragte der Norweger die Aalesunds mekaniske Værksted AS, nach seinen Konstruktionszeichnungen den Prototyp eines solchen Rettungsbootes zu bauen. Die Fertigstellung verzögerte sich, weil am 23. Januar 1904 in Ålesund ein Feuer ausbrach. Nach 16 Stunden stand im gesamten Stadtgebiet nur noch ein einziges Haus, auch Brude war obdachlos geworden.
Das konnte ihn jedoch nicht beirren. Sein großer Plan würde an dieser Tragödie nicht scheitern. Und obwohl die Ålesunder jeden Handwerker zum Wiederaufbau brauchten, brachte er die Werft dazu, das vermutlich eigenartigste Gefährt zu bauen, das diese Anlage jemals verlassen sollte: ein rundum geschlossenes Ei aus Stahlplatten, 18 Fuß – fünfeinhalb Meter – lang, an der dicksten Stelle zweieinhalb Meter hoch. Auf der oberen Hälfte dieses »Dings« befanden sich ein U-Boot-artiger Ausguck mit vier »Glasventilen«, zwei enge Einstiegsluken und ein Mast. Es hatte ein Ruder und einen sogenannten Schwenkkiel, der in seichtem Gewässer hochgezogen werden konnte, besaß aber weder einen Motor noch Paddel.
Auf den gut 13 Quadratmetern des Prototyps würden nach Brudes Berechnungen »vierzig Personen ganz bequem« Platz finden. (Haben Sie noch den Raum vor Augen, in den Sie gerade mit drei anderen hineingestiegen sind?) Nun musste er nur noch beweisen, dass seine Erfindung auch »auf völlig zufriedenstellende Weise manövriert und navigiert« werden konnte. Er hätte diese »Probefahrt«, wie er sie nannte, in den nahen Geirangerfjord oder auch ins etwa 170 Seemeilen (gut 300 Kilometer) entfernte Bergen machen und dabei den Nachbarn im Süden zeigen können, was für knallharte und findige Kerle die Ålesunder waren. Aber Brude hatte ein viel ehrgeizigeres Ziel: Er wollte der ganzen Welt zeigen, was für ein findiger Kerl er war. Dafür musste er ins amerikanische St. Louis, wo 1904 die Weltausstellung stattfand. Denn dort hatten die französische Regierung und ein reicher Amerikaner eine Million Franc für ein »revolutionär neues Rettungsboot« ausgelobt. Berücksichtigt wurden aber nur Boote, die bis zum 26. November vor Ort waren. Brude hatte sich mit seinem Boot angekündigt, und man hatte ihm einen Platz reserviert. Er war überzeugt, dass er gewinnen würde.
Als sich sein Plan einer »größeren Reise« in Ålesund herumsprach, »meldeten sich so viele tüchtige Seeleute zu meiner Begleitung, dass mir die Wahl schwer wurde«. Er heuerte drei Mann an: Karl Thomas Hagevik Johansen und Lars Madsen Salthammer, beide Steuerleute wie er selbst, sowie Kapitän Iver Thoresen, der auch der Navigator sein würde. Thoresen hätte mit seinen 43 Jahren fast der Vater der drei anderen sein können.
Warum sie bei Brude anheuerten, ist nicht zweifelsfrei geklärt, wir können aber davon ausgehen, dass sie es aus freien Stücken taten. Der Name des Gefährts jedenfalls schreckte sie nicht: Brude hatte es auf den rührenden Namen Uræd getauft – Furchtlos.
Im Sommer 1904 gingen die vier Seeleute, die einander kaum kannten, zum Fotografen. Feierlich blickten sie in die Kamera, in Uniformen mit Goldknöpfen, an den Schildmützen eine Anstecknadel: das Brude-Ei in einem Rettungsring. Am 27. Juli 1904 verließ die Uræd, »von den brausenden Hurras einer tausendköpfigen, an der Abfahrtstelle versammelten Menge begleitet«, den Hafen. Auf dem handtuchschmalen Promenadendeck drängte sich die komplette Crew und schwenkte ihre Mützen. Acht Stunden später mussten sie wieder umkehren, weil durch die Schweißnähte Wasser drang. Auch wenn die Schuld nicht bei ihnen, sondern der Werft lag: Diese Rückkehr muss peinlich und angesichts ihrer Pläne beunruhigend gewesen sein. Wer will es Brude verdenken, dass er diese Blamage in seinem späteren Bericht über seine »Probefahrt« unter den Tisch fallen ließ.
Am 7. August ging es dann wirklich los. Das war sehr spät im Jahr, sie würden den Nordatlantik nicht nur gegen die Hauptwindrichtung, sondern auch bei schlechtem Herbstwetter überqueren müssen – und eigentlich herrscht im September schon fast Winter. Der Grund für diesen ungünstigen Zeitpunkt waren der Stadtbrand und die lecke Hülle, aber Brude wendete die Missgeschicke zu seinem Vorteil: Das sei Absicht, er wolle die Seetüchtigkeit der Uræd »nicht nur bei schönem Wetter, sondern auch in den schweren, auf dem Atlantischen Ozean herrschenden Herbststürmen« beweisen. Er ging davon aus, dass sie binnen drei Monaten in New York sein würden, von dort sollte es über Binnengewässer bis nach St. Louis gehen.
Nur zur Erinnerung: Wir sind im Jahre 1904, sie hatten selbstverständlich weder Seefunk noch satellitengestütze Orientierungs- und Überwachungstechnik. Navigiert wurde mit Kompass, Sextant und Seekarten. Sobald sie auf offener See waren, waren sie völlig auf sich gestellt, und zur Beschleunigung und Beeinflussung der Richtung gab es nur das eine Segel.
Haben Sie noch an den knapp 13 Quadratmeter großen Raum vor Augen, in den Sie sich zu Beginn hineingedacht haben? Das ist das Innere des Brude-Eis, in dem Sie mit Ihren drei Gefährten Wochen, ja Monate verbringen werden. Wie würden Sie das Ei zweckmäßig für vier Leute einrichten? Sie sind völlig frei in Ihrer Gestaltung, denn leider existiert keine Beschreibung, wie die Kajüte bei dieser Jungfernfahrt aussah.
Natürlich gab es eine Kochstelle und einen Tisch mit Sitzbänken, in denen sich unter Klappdeckeln vier Schlafplätze verbargen. Die Proviantliste umfasste »für 4 Männer für 6 Mte.« etwas über fünfzig Posten, darunter 416 Kilo Brot, 25 Kilo Mehl, 350 Kilo Kartoffeln, 100 Kilo Butter, 50 Kilo Zucker und 5 Kilo Kakao, außerdem Petroleum »zur Beleuchtung und zur Füllung des Kochapparats«. In Tanks wurden 2 000 Liter Süßwasser mitgeführt, bei ruhigem Wetter sammelte ein Trichter am Mast zusätzlich Regenwasser – ruhig musste es sein, weil bei starkem Wind in der Luft und somit im Regenwasser zu viel Salz ist. Die Vorräte lagerten in vier getrennten Stauräumen in der unteren Bootshälfte, die von den zweieinhalb Metern Höhe abgezogen werden mussten. Die Männer konnten – wenn überhaupt – vermutlich nur im Ausguck aufrecht stehen.
Nach vier Tagen näherte sich die Uræd dem äußersten Norden der Shetlandinseln. Sie wurde von einem Fischkutter gesichtet, dessen Besatzung überhaupt nicht begriff, was sie da sah: Sie hielten das bucklige Ding für ein Seeungeheuer, dann für einen Wal, aus dem eine Harpune ragte. Erst als sie Männer winken sahen, überwanden sie Furcht und Verwunderung und schleppten schließlich die Uræd in den Hafen von Baltasound.
An sich hatte Brude schon jetzt die überlegene Seetüchtigkeit seiner Wal-Nuss bewiesen. Aber er hoffte auf das Preisgeld und auf internationalen Erfolg – beides gab es nur in den USA.
Als die Uræd am 19. August wieder in See stach, war die komplette Crew an Bord, was beweist, dass die Männer nicht nur gegen Seekrankheit und Klaustrophobie immun, sondern wirklich furchtlos waren. Laut Brude waren sie überdies »in bester Laune und Verfassung«, weil sie nach der geglückten Nordseeüberquerung Vertrauen in ihr Bötchen gefasst hatten. Sie werden jedes Quäntchen Vertrauen gebraucht haben, denn nun wurde es wirklich ernst. Ihr nächstes Ziel war Neufundland. Vor ihnen lagen 1966 Seemeilen offenes Meer.
Zwei Wochen später fielen die befürchteten Stürme über sie her. Es herrschte starker Wind aus Westen, also genau von da, wohin sie wollten. Die Uræd kam kaum voran und driftete zudem immer wieder vom Kurs ab. Der Wind, schrieb Brude, wurde zum rasenden Orkan, er »peitschte die Wogen haushoch empor, sodass uns in unserer Nussschale doch etwas beklommen ums Herz wurde«.
Sie verloren beide Treibanker, die für gewöhnlich wie eine Art Notbremse wirken. Bei schwerer See verlangsamen sie ein Boot, lassen es nicht mehr so heftig schlingern und verringern somit die Gefahr des Kenterns. Kapitän Thoresen notierte in sein Tagebuch: »Die Tage sind so lang, wenn man gezwungen ist, sich zu verbarrikadieren und alles zuzuschrauben, damit das Meerwasser nicht hereinkommt. Jetzt sitzen wir wie Ratten in der Falle.« Hinzu kam die ständige Angst, von einem großen Schiff übersehen und gerammt zu werden.
Nach zwei weiteren Wochen war die halbe Strecke bis New York zurückgelegt, die Stimmung hellte sich auf. »Heute tummeln sich viele Delfine um das Schiff und bringen Leben und Bewegung. Es ist schön, einmal andere Lebewesen zu sehen als nur uns 4. Heute hatten wir ein gutes Mittagessen, Klippfisch mit geschmolzener Butter und Kartoffeln.«
Es war nur eine Atempause. Die Stürme kehrten zurück, am 2. Oktober brach der Mast. Die Besatzung konnte von innen nicht erkennen, ob er ganz verloren war: »Die Nacht war so pechschwarz, dass wir beim Blick durch die Schaulöcher des Wachturms ein Blatt schwarzes Glanzpapier vor uns zu haben glaubten.« Sobald es möglich war, stürzten alle an Deck, um »in fieberhafter Hast« den Ersatzmast zu errichten. Doch ausgerechnet da neigte sich das Schiff zur Seite, und der kippende Mast fegte Brude ins Meer. Die anderen bekamen ihn zu fassen und bugsierten ihn durch die enge Luke zurück in die Kajüte, wo sie ihm einhundert Tropfen Kampfer einflößten, damals offenbar eine Art Allheilmittel.
Wie ging es den vieren dabei? Großartig. Das jedenfalls behauptete Brude: »Wir persönlich hatten uns allerdings nicht zu beklagen, denn in unserem Ei mangelte es uns an nichts.« Thoresen notierte um diese Zeit, sie seien guten Mutes, auch wenn Proviant und Wasser rasch abnähmen, auch wenn Stürme und Gegenwind sie schnell wieder nach Hause trieben. Das war keine Übertreibung. Manchmal fuhr die Uræd ebenso schnell nach Westen, wie der Golfstrom nach Osten floss. Sie stand also immer wieder auf der Stelle. In den vier Tagen nach dem Mastbruch trieb es sie wegen des Sturms sogar 300 Seemeilen zurück.
Sie waren furchtlos, diese vier, und offenbar auch sonst hart im Nehmen. Denn sie lebten keineswegs so gemütlich wie das Dotter im Ei, im Gegenteil: Die Metallhülle war zwar dicht, aber nicht isoliert, sie nahm Ozeantemperatur an und absorbierte keine Feuchtigkeit. Der Innenraum – das Innenräumchen – war eisig kalt. Wenn die Luken nicht geöffnet werden konnten, tropfte Kondenswasser von den Wänden. Dann wurden die Kleidung sowie die in der Inventarliste aufgeführten »4 Kissen und 4 Schlafsäcke« erst klamm, dann feucht, dann nass. »Nass sind wir, und uns ist so kalt, dass wir mit den Zähnen klappern. Alles ist nass, man kann nirgendwo hin, nicht still sitzen, pechschwarz ist die Nacht draußen. Angenehm ist das nicht.«
Bei hohem Seegang war offenes Feuer zu gefährlich, dann gab es weder Licht noch Wärme oder warmes Essen. Alle Luken und Ventile mussten geschlossen bleiben, und die Luft war zum Schneiden, zumal alle pafften wie die Weltmeister. Obendrein litten sie reihum an Durchfall und Erbrechen, an den Gestank mag man nicht einmal denken. Und es gab keine Intimsphäre, keine Sekunde ohne die anderen.
Noch die geringste Welle versetzte die Metallhülle ins Schaukeln, wurde es heftiger, mussten sich die vier abstemmen und am Tisch festklammern, um nicht gegen die Wand geschleudert zu werden. Aber selbst bei schwerstem Unwetter verhielt sich die Uræd so, wie Brude es berechnet hatte: Sie »hüpfte wie ein Kork auf dem Wasser«, sie rollte, stampfte, gierte, schlingerte und torkelte. Sie tauchte unter – samt Mannschaft, Petroleumkocher, der einzigen Lampe und ja, auch der Toilette, die nur durch einen Vorhang abgetrennt war. Aber sie tauchte immer wieder auf, kenterte nicht, schwamm nie kieloben, sank nicht. Brudes spätere Behauptung, die Schiffsbewegungen seien so geschmeidig gewesen, »dass ein Glas Wasser, ohne umzufallen oder etwas von seinem Inhalte zu vergießen, auf dem Tische stehen konnte«, klingt allerdings gewagt.
Mitten in dieser Trübnis bedrohte Brude die anderen scherzhaft mit einem geladenen Revolver, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatten, und Thoresen begann zu halluzinieren. Man wundert sich, dass er offenbar der Einzige war, der – zum Glück nur vorübergehend – die innere Orientierung verlor. Historiker meinen, die Männer könnten unter einer Quecksilber- oder Bleivergiftung gelitten haben. Schauen Sie sich Ihre fünfeinhalb Meter an: Etwas Derartiges muss es gewesen sein.
Am 15. November, nach fast neunzig Tagen, erreichten sie dank großen seemännischen Könnens, einer gehörigen Portion Glück, vor allem aber, wie der tiefgläubige Thoresen notierte, dank Gottes Hilfe Petty Harbour auf Neufundland. Thoresen hatte St. John’s, wohin er eigentlich wollte, nur um zwanzig Kilometer verfehlt, weil der Wind »bei dichtem Schneegestöber nicht stark genug gewesen war«, sie dorthin zu bringen. Der Traum, bis zum 26. November nach St. Louis zu kommen, war damit ausgeträumt. Es ist allerdings denkbar, dass die Crew froh war, überhaupt irgendwo angekommen zu sein.
Die Ankunft der vier Norweger in ihrem »komischen Etwas« war eine Sensation. Von der heutigen Ruppigkeit der Boulevardpresse war man damals noch weit entfernt: Keine Zeitung erwähnte, welchen ersten Eindruck die zerzausten und stinkenden Helden auf die Bevölkerung gemacht haben müssen, als sie »wie Küken aus dem Ei krochen«. Nachdem sie sich in ihren Hotelzimmern etwas »frisch« gemacht hatten, wurden sie stürmisch gefeiert. Zehn Tage später kletterten sie wieder in ihre Uræd und klappten die Luken zu. Wenn sie schon nicht nach St. Louis kamen, wollten sie wenigstens nach New York.
Vergleicht man auf einer Karte die Distanz, die die Uræd bereits zurückgelegt hatte, mit dem letzten Wegstück entlang der amerikanischen Nordostküste, könnte man meinen, dass das Schlimmste geschafft war. Vielleicht nahm die Mannschaft nach der geglückten Überfahrt diese letzten Meilen deshalb nicht ernst genug. Jedenfalls gerieten sie sofort »in einen furchtbaren Sturm nach dem anderen«. Thoresen hatte »noch nie so etwas Schlimmes erlebt: Es hört sich an, als ob uns die furchtbaren Wellen zertrümmern wollten. Es ist erstaunlich, wie gut ›das Ei‹ jeder ausweicht.«
Es wurde Weihnachten, New York war immer noch 300 Meilen entfernt. Rigg und Mast vereisten, die Männer mussten auf das spiegelglatte Boot hinaus und das Eis abklopfen. Kurz nach Neujahr entdeckten sie, dass ihr Boot leckte, und zwar mächtig; am 5. Januar beispielsweise drangen »stündlich 24 Eimer Wasser« ein. Und der Orkan verbog den Stahlmast so sehr, dass sie »kein Segel mehr hissen konnten, sondern nur noch vor dem Winde trieben«.
Wenige Seemeilen vor New York war die Uræd praktisch manövrierunfähig. Der Sturm drohte, sie aufs offene Meer zu drücken, der Proviant ging zu Ende. Sie wurden »wie eine Handvoll Erbsen durcheinandergeschüttelt« und fürchteten ernstlich um ihr Leben. Spätestens hier war Schluss mit der »glatten und angenehmen Fahrt«, von der Brude schwärmte.
In dieser aussichtslosen Lage trafen sie kurz vor Boston auf einen Hamburger Frachtdampfer, für den Brude den Namen Cæsar notierte. Der Kapitän wollte die Männer, nicht aber ihr Schiff bergen. Keiner der vier ging von Bord, sie baten den Kapitän nur, ihnen einen Schlepper entgegenzuschicken. Es kam keiner, weil bei einem solchen Wetter niemand auszulaufen wagte.
Wenig später landeten Brude, Thoresen, Johansen und Salthammer buchstäblich Hals über Kopf in Amerika. Thoresen gelang nämlich die Meisterleistung, das Schiff so in die Brandung vor Gloucester an der Küste von Massachusetts zu manövrieren, dass es mit hochgezogenem Kiel an Land rollte. Er hatte seine Mitstreiter auf diese »Notlandung« vorbereitet: »Wir müssen uns hier unten festschnallen, denn wenn das Boot auf Grund stößt, kippt es um, bricht den Mast und rollt wie eine leere Tonne an Land. Wir rühren uns nicht, bevor wir auf dem Trockenen sind.«
Als Brude am 6. Januar 1905 kurz vor Mitternacht vorsichtig die Luke seines ziemlich ramponierten Rettungsbootes öffnete, mag er sich gefragt haben, ob nun er halluzinierte: Wenige Meter vor der Uræd ragte ein hell erleuchtetes Hotel in die Höhe.
Sie waren nicht nur lebend angekommen, sondern auch nahezu unversehrt. Keiner hatte sich in dem schlingernden und rollenden Ei ernste Verletzungen oder gar Brüche zugezogen, nur ihre Erfrierungen mussten mit warmen Bädern behandelt werden. Sie waren Helden geworden, zumal der Boston Globe am Vortag groß mit Uræds Untergang und dem Tod der Besatzung aufgemacht hatte. Nun bestürmte die Presse sie so sehr, dass Brude, wie er schrieb, »das Telefon neben die Badewanne rücken musste. Als ich das Zimmer verlassen durfte, wurde ich an der Hoteltreppe von Damen erwartet, die mir die Hemdenknöpfe abrissen. Jemand holte mich sogar mit einem Automobil ab.«
Das Brude-Ei hatte seine Probefahrt glanzvoll absolviert, es war das »revolutionär neue Rettungsboot«, auf das man in St. Louis gehofft hatte. Hätte Brude es rechtzeitig dorthin geschafft, wäre sicher vieles anders gekommen: Er hätte den Preis von einer Million Franc erhalten, er wäre berühmt geworden, das Boot wäre in Serie gegangen, es hätte vielen Seeleuten das Leben gerettet. Ein deutschsprachiges Jahrbuch für alle Gebildeten, das etwa 1910 erschien, veröffentlichte Brudes Reisebericht in Übersetzung. Nach Ansicht der Herausgeber hatte das Boot »im Prinzip seine Brauchbarkeit bewiesen, sodass hoffentlich recht bald viele Geschwister von ihm auf Dampfern und Segelschiffen anzutreffen sein werden«.
Darum kämpfte Brude nachdrücklich und lange. Er unternahm eine zweite Uræd-Reise zu bedeutenden europäischen Häfen. Große Hoffnungen knüpften sich auch an die Empfehlung des großen Polarhelden Roald Amundsen. Dieser hatte das Brude-Ei 1907 besichtigt und versichert, falls er jemals wieder eine Schiffsexpedition durchführen sollte, werde er bestimmt ein solches Boot mitnehmen. »Er halte es für das Beste, was bisher auf dem Gebiet des Rettungswesens vorgestellt wurde.«
Letztlich scheiterte Brude daran, dass das Leben auch die bestraft, die zu früh kommen. Ein herkömmliches Holzboot kostete 1905 etwa 100 Kronen, da mochten die Reedereien nicht 2 000 für ein Brude-Ei ausgeben. Und Seeleute gab es reichlich, ihr Leben war wohlfeil.
Vor dem Stadtmuseum von Brudes Heimatstadt Ålesund ist eines der wenigen Schiffe ausgestellt, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Entwurf der Uræd gebaut worden war. Drinnen im Museum können Sie überprüfen, ob Ihre Vorstellungen und die Realität zusammenpassen. Es gibt eine begehbare Rekonstruktion des Brude-Eis. Man klettert nicht von oben durch eine Luke hinein, sondern durch eine offene Schmalseite, nichts schlingert und tropft, es brennt elektrisches Licht – der Eindruck ist also verfälscht. Aber wenn man sich auf die seitlichen Bänke gequetscht hat, spürt man vor allem eines: Es ist eng. Sehr eng. Noch enger, als man es sich vorgestellt hatte.
Fünf Monate lang auf fünfeinhalb Metern. Rund um die Uhr. Ohne Rückzugsmöglichkeiten. Ohne Kontakt mit der Außenwelt. Mit der Gewissheit, dass es kein Zurück gab. Zusammengepfercht auf 13 Quadratmetern unter einer niedrigen Kuppel hatten sie nur einander.
Heute würden vier Teilnehmer mindestens ebenso viele Autobiografien schreiben. Das war damals völlig unüblich, zudem galt jener Ehrenkodex des Schweigens, der bis heute viele Männergruppen kennzeichnet: Es gibt eine offizielle Version des Geschehens, an die sich alle halten. Von dem, was man darüber hinaus miteinander erlebt hat, darf nichts nach außen dringen.
Soweit bekannt, hatten die vier Männer nach ihrer Atlantiküberquerung so gut wie keinen Kontakt mehr miteinander. Was in diesen 152 Tagen zwischen ihnen passierte, wie sie an Bord der Uræd das Eingeschlossensein, die Enge, die Eintönigkeit, die Angst, wie sie einander ertrugen – nichts ist jemals darüber an die Öffentlichkeit gedrungen. Ole Brude sagte lediglich: »Wir haben uns die Zeit sehr angenehm mit Rauchen, Lesen und Plaudern vertrieben.« Das kann nicht die ganze Wahrheit sein.
Merksatz
Es ist ja etwas Besonderes mit einer Fahrt wie dieser.
Da hat man Gelegenheit zu sehen, wie wenig man wert ist,
wenn Gott seine Hand von einem wegzieht.
Dann sind wir wahrlich nicht viel wert,
dann sind wir nur wie kleine Insekten.
Iver Thoresen
Und dann?
Nachdem sich die vier Uræd-Seeleute in Boston getrennt hatten, unternahm keiner jemals wieder etwas, was sich im Entferntesten mit ihrer Ozeanüberquerung messen konnte. Sie hatte allen mehr zugesetzt, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Lars Madsen Salthammer starb 1907, vermutlich an den Folgen der extremen Strapazen, Iver Thoresens Gesundheit blieb zeitlebens beeinträchtigt, er starb 1923, Karl Thomas Hagevik Johansen 1935. Ole Martin Brude ließ sich 1925 in den USA nieder, er wurde Bauer und betrieb ein Sägewerk. Im April 1949 kam er ein letztes Mal in seine Heimatstadt, die ihn stürmisch feierte. Er starb wenige Monate später in Seattle, seine Urne ist in Ålesund beigesetzt.
Die Original-Uræd blieb in Amerika, sie ist verschollen. Es wurden nur 23 Brude-Boote gebaut, eines kam 1917 tatsächlich bei einem Schiffsunglück zum Einsatz und bewährte sich. Es ist das Boot, das heute vor dem Aalesund Museum steht.
Erst der tiefe Schock über die etwa 1 500 Todesopfer des Titanic-Unglücks vom 14. April 1912 machte die Sicherheit auf See zu einem weltweiten Anliegen. 1914 wurde ein internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (solas) verabschiedet. Es schrieb erstmals verbindlich vor, dass ein Passagierschiff ausreichend Rettungsboote für alle an Bord mitführen muss. Vorgesehen waren ausdrücklich offene Boote. 1974, also siebzig Jahre nach der Reise der Uræd, wurde das solas-Abkommen novelliert: Seither sind vollständig geschlossene Rettungsboote auf allen Schiffen im internationalen Seeverkehr Pflicht.
Auch wenn es kein graues Stahlei mehr ist, sondern eine leuchtend orangefarbene Glasfaser-Schachtel: Das Brude-Ei unserer Tage »schwimmt wie eine Möwe auf den Wellen«.
Diese Geschichte erschien in einer kürzeren Fassung unter dem Titel »Das Ei, das den Atlantik überquerte« in der Zeitschrift mare Nr. 86, Juni 2011.
2
Sandsturm und Andenpässe
Tristan Jones und seine Berg-und-Tal-Fahrt
Du fragst mich, was soll ich tun?
Und ich sage: Lebe wild und gefährlich.
ARTHUR SCHNITZLER
Du kannst nicht aufbrechen,
ohne irgendwo ankommen zu wollen.
Du musst ankommen,
um wieder aufbrechen zu können.
HUBERT DIDON
Da sind diese vier furchtlosen Norweger, die penibel gekämmt und in goldbeknopften, makellosen Uniformen in ihr Brude-Ei kletterten, die ihr Leben wagten, um der Menschheit und den Schiffbrüchigen einen Dienst zu erweisen. Und da ist Tristan Jones. Auch er war furchtlos und wagte mehr als einmal sein Leben – allerdings nicht für andere: Er war in die Gefahr verliebt, besessen davon, was hinter dem Horizont liegen mag. Er war Individualist, Abenteurer, Exzentriker, Weltenbummler, Charmeur, Draufgänger – aber vor allem war er Segler. Seine Heimat war das Meer, sein Haus sein Boot. Darin hat er etwa zwanzig Atlantiküberquerungen absolviert, neun davon allein, und dreieinhalb Mal ist er um die Welt gesegelt. Für einige ist er komplett durchgeknallt, für andere eine große und immerwährende Inspiration.
Er hatte einen eisernen Willen, er war strubbelbärtig, ungezügelt, extrem in allem, was er tat. Seine wichtigste Regel lautete: Eine Hand fürs Boot, eine für sich selbst. Allen Berichten – den eigenen und denen anderer – zufolge hatte er außerdem immer eine Hand für eine Kippe und eine für ein Glas Rum mit etwas Cola. Was unmöglich klingt, beweist nur, dass Jones zwei herausragende Talente hatte: Er konnte segeln, und er wusste, wie man eine Geschichte erzählt.
Und seine Geschichten sind in der Tat erzählenswert: Einmal segelte er allein in der Arktis und blieb im Eis stecken. Ein anderes Mal wollte er mit einem Trimaran zum Schwarzen Meer und strandete am Main, weil er nicht mitbekommen hatte, dass im Main-Donau-Kanal noch ein Stück fehlte. Und dann war da diese Sache mit dem »Höhenrekord im Segeln«.
Höhenrekord im Segeln: Der bestand darin, mit einer hochseetüchtigen Jacht auf dem tiefst- und dem höchstgelegenen schiffbaren Gewässer der Erde zu segeln. Die Rede ist, natürlich, vom Toten Meer und dem Titicacasee – das eine 400 Meter unter, der andere fast 4 000 Meter über dem Meeresspiegel.
Jones führte für das Vorhaben ehrbare Gründe an: Auf keinem der Seen sei bislang ein hochseetüchtiges Schiff gesegelt, keiner sei ordentlich kartografiert. Diese Aufgabe wolle er – in der Güte seines Herzens – übernehmen. Das klingt zu edel, um wahr zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass er diesen Rekord aufstellen wollte, weil es noch keiner gemacht hatte. Die meisten Menschen zucken hier die Schultern. Sie sagen »Na und?« oder »Klar, warum auch?«. Womit sie nur beweisen, was wir sowieso schon wissen: Sie sind eben nicht (wie) Tristan Jones.
In direkter Luftlinie liegen etwa 12 500 Kilometer zwischen den Seen, die Segeldistanz beträgt ein Vielfaches. Faszinierend und irrwitzig ist die Idee natürlich, weil es in der Natur von Binnengewässern liegt, vom Meer durch Land getrennt zu sein. Beim Toten Meer ist das recht harmlos. Zum Mittelmeer im Westen sind es knapp 100, zum Golf von Akaba im Süden 250 Kilometer. Der Titicacasee in den südamerikanischen Anden ist dagegen ein völlig anderes Kaliber. 650 Kilometer sind es bis zum Pazifik, 3 300 Kilometer zur brasilianischen bzw. 2 500 Kilometer zur paraguayischen Atlantikküste. Auch das sind Luftlinien auf dem Atlas, haben also mit der Realität nicht das Geringste zu tun.
Man darf bezweifeln, dass außer Jones jemals jemand eine solch irrsinnige Idee hatte. Jedenfalls war er der Einzige, der die Idee in einen Plan und dann in die Tat umsetzte. Seither hat niemand versucht, das nachzumachen oder ihn gar zu übertrumpfen. Und das in einer Zeit, wo offenbar jeder Zweite so ziemlich alles tun würde, um seinen Namen im Guinness Buch der Rekorde wiederzufinden. Diese Zurückhaltung hat, wie Sie gleich merken werden, triftige Gründe.
Jones brach im Sommer 1969 mit einem geliehenen Segelboot, der 11,60 Meter langen Barbara, zu seiner großen Reise auf. Da war er 46 Jahre alt. Etwa. Es wird gemunkelt, er habe sein Geburtsjahr von 1929 auf 1923 korrigiert, weil er sonst für die Heldentaten, die er im Zweiten Weltkrieg begangen haben wollte, zu jung gewesen wäre. 1923 oder 1929? Wer weiß. Aber bestimmt nicht 1927, auch wenn das in seinem Pass stand. Geburtsjahr, Geburtsort und Name in diesem Pass waren falsch, der Pass auch. Man beginnt zu ahnen, woran es liegen könnte, dass Hafenpolizisten, Piraten, Zollbeamte und andere Leute, die es nicht schätzen, wenn man ihre Anweisungen nicht befolgt, den Abenteurer nicht so richtig mochten.
Er war keiner von denen, die die Welt möglichst schnell umrunden wollen, um möglichst wenig von ihr zu sehen. Er nahm sich grundsätzlich viel Zeit für die Gegenden und die Menschen auf seinem Weg. Den ersten Winter verbrachte er auf den Kanarischen Inseln, im Sommer 1970 war er im Mittelmeer unterwegs und gabelte dort irgendwo einen jungen Engländer auf. Dieser Conrad Jelinek war ein Hippie. Er wollte, wie es sich für einen Hippie gehörte, nach »Nepal oder weiß Gott wohin«.
Da war er bei Jones an der richtigen Adresse. Er nahm den absoluten Segelanfänger als Deckhand – Mädchen für alles – mit, womit er Menschenkenntnis bewies. Jelinek erwies sich als gelehriger und idealer Begleiter (nicht zuletzt, weil er tagelang schweigen und einen noch länger schweigenden Jones ertragen konnte). Als sie sich zwei haarsträubende Jahre und zahllose Lebensgefahren später trennten, war Jelinek mit Jones tatsächlich weiß Gott wohin gekommen (wenn auch nicht nach Nepal).
Barbara