Lyle H. Rossiter
Die liberale Agenda
Die psychologischen Ursachen von politischem Wahnsinn
Aus dem Englischen von Christine Mey und Dr. Baal Müller
j-k-fischer-verlag
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Impressum
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1. Auflage
05 /2018
ISBN 978-3-941956-15-5
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Inhalt
Einleitung
Teil I
1
Die bipolare Natur des Menschen
2
Regeln und Vernunft
3
Abhängigkeit und Kompetenz
im Gemeinschaftsleben
4
Gesellschaftspolitik und
Kindheitsentwicklung
5
Der Altruismus und
das kompetente Selbst
6
Das angeborene Wesen der Wahl
7
Kompetenz und Kollektivismus
8
Erziehung und Kultur
9
Ideale und Notwendigkeiten
der Entwicklung
10
Die Zeichen des Niedergangs
11
Zusammenfassung des ersten Teils
Teil II
Einleitung zu Teil II
12
Die Wissenschaftlichkeit
von Verhaltensbeschreibungen
13
Herausforderungen der Entwicklung
14
Die Dichotomien der Entwicklung
15
Die Entwicklung des Kindes und
der gesellschaftliche Prozess
16
Zuneigung, Abstand und Vertrauen
17
Vertrauen, Misstrauen und
gesellschaftlicher Prozess
18
Die Autonomie und
der gesellschaftliche Prozess
19
Biologie und Autonomie
20
Die Autonomie und das Selbst
21
Autonomie, Individuation
und Individualismus
22
Ursache, Wirkung und Wille
23
Die Regeln und das Kind
24
Und noch einmal: Bindung
25
Ein Überblick über die frühe Entwicklung
26
Initiative
27
Wenn Initiative scheitert
28
Die Grundlagen des Fleißes
29
Errungenschaften im Schulalter
30
Die Moral im Jugendalter
31
Adoleszenz und Identität
32
Die Adoleszenz und die Freiheit
33
Die gesunde und
die ungesunde Adoleszenz
34
Die Adoleszenz und die Sozialpathologie
35
Die Adoleszenz und die liberale Agenda
36
Junges und reifes Erwachsensein
37
Freiheit und Familie
38
Familienaufgaben und die liberale Agenda
39
Die kompetente Gesellschaft
40
Die Kraft der Regeln
Teil III
Einleitung zu Teil III
41
Der wohlwollende liberale Geist
42
Die Irrtümer positiver Rechte
43
Der radikal-liberale Geist
44
Die radikalen Defizite der Kindheit
45
Radikale Defizite in der Kindheit
46
Radikale Defizite in Schulalter
und Adoleszenz
47
Ideal und Wirklichkeit
im radikalen Liberalismus
48
Integrität und Behandlung
Literaturverzeichnis
Über den Autor
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Einleitung
Dieses Buch handelt vom menschlichen Wesen und der menschlichen Freiheit sowie von der Verbindung zwischen beiden. Sein Inhalt ist das Ergebnis meines lebenslangen Interesses daran, wie die Psyche funktioniert. Dieses Interesse, das seinen Anfang nahm, als ich etwa zwölf Jahre alt war, führte mich auf meiner Laufbahn schließlich zur klinischen und forensischen Psychiatrie und verschaffte mir jenen speziellen Zugang zur Humanpsychologie, den diese Studienfächer bieten. Persönlichkeitsstörungen haben mich dabei besonders interessiert. Zuerst in der klinischen Praxis und später in forensischen Auswertungen hatte ich die Gelegenheit, das Wesen der Persönlichkeit und die Faktoren, die ihre Entwicklung beeinflussen, zu studieren. Die Praxis der forensischen Psychiatrie gestattete mir eine deutliche Sicht auf die Art und Weise, wie alle Geisteskrankheiten – Persönlichkeitsstörungen eingeschlossen – mit den gesellschaftlichen Regeln interagieren, die vorgeben, welches Verhalten akzeptabel ist. Diese Regeln definieren, sowohl im zivilen als auch im strafrechtlichen Bereich, weitgehend den Geltungsbereich menschlicher Freiheit und die Bedingungen, die der Gesellschaftsordnung zugrunde liegen.
Historisch betrachtet, stammen westliche Vorstellungen von Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung freilich aus Bereichen, die von der Psychiatrie ziemlich weit entfernt sind: etwa aus Philosophie, Ethik, Rechtswissenschaft, Geschichte, Theologie, Ökonomie, Anthropologie, Soziologie, Kunst und Literatur, um nur einige zu nennen. Doch die Funktionsweisen des menschlichen Geistes, wie Psychiatrie und Psychologie ihn verstehen, sind für diese Wissensgebiete und die aus ihnen hervorgehenden gesellschaftlichen Institutionen zwangsläufig von Bedeutung. Dieses Buch ist ein Versuch, geistige Mechanismen mit gewissen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Konditionen, unter welchen Freiheit und Ordnung gedeihen können, zu verknüpfen. Auch wenn ich sehr darauf bedacht war, dem Weg zu folgen, auf den die Vernunft mich lenkte, habe ich dieses Buch nicht aus rein intellektuellem Interesse geschrieben. Meine Absicht dahinter ist, um es mit einem Begriff von Erik Erikson zu sagen, eher „generativ“. Im Grunde ist es aus einer großen Sorge um die Zukunft politisch geordneter Freiheit entstanden. Mit ihren Bemühungen, „eine vollkommene Union zu schaffen“, beabsichtigten die Gründerväter Amerikas, wie die Präambel uns sagt, Gerechtigkeit festzuschreiben, für die Verteidigung der Nation zu sorgen, ihr allgemeines Wohlergehen zu fördern und die Segnungen der Freiheit zu sichern. Doch das ganze zwanzigste und das beginnende einundzwanzigste Jahrhundert haben die unermüdlichen Angriffe des modernen Liberalismus auf all jene Ziele und sämtliche Prinzipien erlebt, auf denen die individuelle Freiheit und eine sinnvolle Gesellschaftsordnung beruhen. Obwohl es ihnen auffällig an politischer Substanz mangelt, nutzen diese Angriffe dennoch erfolgreich die psychische Beschaffenheit des Menschen für sozialistische Zwecke aus. Um der zerstörerischen Wirkung dieser Angriffe entgegenzuwirken, bedarf es eines klaren Verständnisses der Beziehung zwischen der Psychologie des Menschen und gesellschaftlichen Prozessen. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch zumindest einen kleinen Beitrag dazu leistet.
L. H. Rossiter Jr.
im Februar 2006
Teil I
1
Die bipolare Natur des Menschen
Der einzige Weg, der uns voranbringt, liegt darin, die menschliche Natur als Teil der Naturwissenschaften in dem Bestreben zu studieren, die Naturwissenschaften mit den Sozial- den Geisteswissenschaften zu kombinieren. Ich kann mir keine ideologische oder formalistische Verknüpfung vorstellen. Neurobiologie kann nicht zu Füßen eines Gurus gelernt werden. Die Konsequenzen der genetischen Geschichte können nicht vom Parlament gewählt werden. Vor allem darf – nicht zuletzt zu unserem eigenen körperlichen Wohlergehen – die ethische Philosophie nicht allein den lediglich Weisen überlassen werden. Obgleich sich menschlicher Fortschritt durch Intuition und Willenskraft erreichen lässt, wird uns nur das hart erarbeitete empirische Wissen über unsere biologische Natur eine optimale Auswahl unter den konkurrierenden Kriterien des Fortschritts ermöglichen.
Edward O. Wilson
Überblick
Dieses Buch bietet ein breit angelegtes Konzept von der Natur des Menschen und erforscht die daraus folgenden Konsequenzen für die individuelle Freiheit. Die Untersuchung beginnt mit der bipolaren Natur des Menschen: Ein Mensch ist einerseits eine autonome Handlungsquelle, die aber andererseits durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Prozesse fest in Beziehungen zu anderen eingebunden ist. Seine Fähigkeit, eigenständig zu handeln, folgt unweigerlich aus seiner Fähigkeit, seine Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Seine Beziehungen zu anderen resultieren mit gleicher Unvermeidlichkeit aus seiner Entwicklung als ein von Natur aus geselliges Wesen.
Innerhalb dieses bipolaren Konzepts unterscheide ich zwischen den biologischen, den psychischen und den sozialen Elementen des menschlichen Wesens. Alle drei Elemente führen zu eigenständiger Initiative und zu gemeinschaftlicher Zusammenarbeit.
Die biologische Natur des Menschen erfordert unabhängige und gemeinsame Maßnahmen, um die materiellen Bedürfnisse und die Annehmlichkeiten des Lebens hervorzubringen. Seine psychische und seine soziale Natur erfordern eigenständiges und gemeinsames Handeln, um seine persönlichen Bedürfnisse und Annehmlichkeiten sowie seine Beziehungsbedürfnisse zu befriedigen. Um die physische Sicherheit zu gewährleisten und die gesellschaftliche Ordnung in diesem Bestreben voranzubringen, erschaffen Menschen bestimmte Regeln, um ihr wirtschaftliches, soziales und politisches Verhalten zu steuern. Diese Regeln werden zur Infrastruktur der menschlichen Gesellschaft.
Mein Ziel bei dieser Arbeit ist es, eine biologische, psychologische und soziale Grundlage für eine bestimmte Form der menschlichen Gesellschaft zu schaffen: die der geordneten Freiheit. Ich suche nach einer Theorie der Freiheit, die in der Natur des Menschen und den tatsächlichen Gegebenheiten menschlicher Verfassung gründet. Aus dieser Theorie heraus greife ich das dominierende sozialistische Paradigma, das Sozialstaatsdenken der modernen liberalen Agenda und den moralischen Relativismus als pathologische Verzerrungen normaler gesellschaftlicher Instinkte an. Im Laufe dieses Bestrebens stelle ich fest, dass alle gesunden Entwicklungseinflüsse von der Kindheit bis zur Reife sowohl die individuelle Autonomie als auch die Interaktion mit anderen verstärken. Der Erwerb beruflicher und sozialer Befähigungen als Vorbereitung auf ein Erwachsenenleben in einer freien Gesellschaft ist für diese Entwicklung von zentraler Bedeutung. Die Kompetenz in diesen Bereichen ermöglicht das Erreichen individueller Selbstverantwortung als notwendige Grundlage für eine freiwillige wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenarbeit. Demgegenüber muss ich beobachten, dass die in die Privatsphäre eindringende Sozialpolitik der liberalen Agenda wirtschaftliche Verantwortungslosigkeit, krankhafte Abhängigkeit und soziale Konflikte fördert. Die Gründe für diese zerstörerischen Auswirkungen werden im gesamten vorliegenden Buch aufgezeigt.
Erste Begriffe
Mit ein paar Grundbegriffen wird der Leser sich besser orientieren können. Die Natur des Menschen, so wie der Begriff in diesem Buch verwendet wird, besteht aus den biologischen, psychischen und sozialen Merkmalen, die allen Menschen gemeinsam sind. Die Freiheit des Menschen liegt weitgehend in der Fähigkeit, so zu leben, wie er es sich aussucht, freilich unter gewissen Einschränkungen, die erforderlich sind, um Frieden und Ordnung zu bewahren. Zusammengenommen bestimmen die Eigenschaften der menschlichen Natur und die für die gesellschaftliche Ordnung notwendigen Einschränkungen die Substanz der menschlichen Freiheit. Sie sind die Grundlage für die Ansprüche auf Handlungs- und Bewegungsfreiheit, die als Naturrechte bekannt sind.
Wenn Menschen nicht psychisch gestört sind, dann erstreben sie von Natur aus Unabhängigkeit von anderen, die sich in ihr Leben einmischen wollen. Weil manche Personen andere durch kriminelles Verhalten stören oder in gefährlicher Missachtung der Sicherheit ihrer Mitmenschen handeln, bedarf die Freiheit einer Gesellschaftsordnung, die auf der Rechtsstaatlichkeit beruht – einer Ordnung, die die Sicherheit schützt und materielle Absicherung ermöglicht. Freiheit kann in der wahllosen Aggression oder in der herzlosen Gleichgültigkeit der Anarchie nicht überleben.
Die für die Freiheit erforderlichen Rechtsgrundsätze bestehen in Regeln, die die Menschen sich selbst geben. Sie werden verfasst und durchgesetzt von einer Regierung, deren Macht von den Menschen, die sie regiert, autorisiert ist. Aber die Macht, die der Regierung übertragen wird, hat einen Preis: Die Leute geben notwendigerweise einige ihrer Freiheiten auf, um andere sicherzustellen. Der Kompromiss ist unvermeidlich: Irgendeine Form von Regierung mit zumindest einer gewissen Macht über das Volk ist für eine geordnete Freiheit notwendig.
Freiheit und soziale Ordnung setzen einander Grenzen. Ohne Beschränkungen der Freiheit verfällt die Ordnung schnell zu einem Chaos. Wo Gewalt ausreicht, um Ordnung nahezu sicher zu gewährleisten, kann es keine Freiheit geben, nur Unterdrückung. Es ist eine einfache Lebenswirklichkeit, dass das menschliche Bedürfnis nach Freiheit immer mit den menschlichen Bedürfnissen nach Zuverlässigkeit und Sicherheit konkurriert. Um eine vernünftige Gesellschaft zu schaffen, muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen einer gesetzlosen Freiheit, die alles erlaubt, und einer totalitären Ordnung, die nichts zulässt außer ihrer eigenen Tyrannei.
Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems ist, wie Henry Hazlitt dargelegt hat, die gesellschaftliche Kooperation: die freiwilligen, zusammenwirkenden Anstrengungen vieler Menschen bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele zum gegenseitigen Nutzen (Hazlitt 1988). Sie ist die wesentliche integrierende Kraft bei der gleichzeitigen Suche der Menschen nach Freiheit und Ordnung. Um erfolgreich zu sein, fordert die gesellschaftliche Zusammenarbeit vom Bürger zwei große Tugenden: Autonomie und Gegenseitigkeit. Autonomie ist die Fähigkeit, durch verantwortliche Selbstausrichtung frei und unabhängig bei der Verfolgung eigener Interessen zu handeln. Gegenseitigkeit ist die Bereitschaft, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere zu überdenken und freiwillig mit ihnen zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Wer sowohl autonom als auch gegenseitig orientiert ist, der hält sich für berechtigt, bei seiner eigennützigen Suche nach persönlicher Erfüllung seine eigenen vernünftigen Ziele zu verfolgen – sein eigenes Leben zu führen. Dieser Glaube befähigt ihn, ein gutes Leben für sich selbst zu gestalten. Ohne diesen Glauben wird er weder den Wert der Freiheit vollständig verstehen noch das zu schätzen wissen, was dafür erforderlich ist. Er wird die Autorität – die persönliche Souveränität – über sein eigenes Leben, das zu Recht ihm gehört, nicht beanspruchen.
Doch das autonome und gegenseitige Individuum muss auch in der Lage sein, sich ohne einen Polizisten am Ärmel unter Kontrolle zu haben. Es muss bereit sein, die Rechte anderer zu respektieren und nach den Grundsätzen des Rechts zu leben. Um das soziale Gefüge zu schaffen, auf das Freiheit und Ordnung angewiesen sind, muss es bereit sein, mit anderen im gegenseitigen Einvernehmen zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Dieses Gefüge ist anfällig. Es kann das Chaos der Anarchie nicht überleben. Es löst sich unter der Unterdrückung des Kollektivismus auf. Die Tugenden der Autonomie und der Gegenseitigkeit sowie die Zusammenarbeit, die aus ihnen erwächst, hängen existenziell vom Schutz durch Gesetze ab. Diese Gesetze müssen in den Idealen von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Zusammenarbeit begründet sein. Regierungen, die nicht in der Lage sind, Gesetze durchzusetzen, die auf diesen Idealen beruhen, werden sich letztendlich zweier Sünden schuldig machen: sie werden die Autonomie des Einzelnen missachten und damit seine persönliche Souveränität außer Kraft setzen, und sie werden seiner Neigung zur Gegenseitigkeit zuvorkommen und damit die soziale Zusammenarbeit untergraben.
Weiterhin kommt die Frage auf: Unterstützen die Verhaltensregeln einer bestehenden Gesellschaft in menschlichen Angelegenheiten die Mittel und Zwecke einer geordneten Freiheit, oder untergraben sie diese? Die Analysen in diesem Buch beantworten die Frage nach dem vorherrschenden sozialen Paradigma in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften. Die moderne liberale Agenda mit ihrer Politik des Sozialstaatsdenkens, des moralischen Relativismus und der in die Privatsphäre eingreifenden Regulierung untergräbt die Grundlagen der Freiheit, der Ordnung und der Kooperation. In ihren Kernwerten im Wesentlichen sozialistisch/kollektivistisch, basiert die Agenda auf grundlegenden Fehlvorstellungen vom menschlichen Wesen und menschlicher Freiheit. Sie fasst die biologische, psychische und soziale Natur des Menschen falsch auf. Sie missdeutet die Entwicklung des Individuums und die Einflüsse, die die Befähigung und die persönliche Souveränität des Erwachsenen fördern. Sie hat eine falsche Auffassung von der wechselseitigen Art und Weise, wie Menschen in wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen Beziehungen untereinander anknüpfen. Diese Fehlvorstellungen führen zu einer Politik, die Freiheit und Ordnung zerstört. Im Zentrum der Defizite der liberalen Agenda steht eine Philosophie des Kollektivismus, die das Wesen des Menschen als Individuum ignoriert. Dieses Wesen kann nicht ohne schlimme Folgen ignoriert werden. Eine sorgfältige Analyse des menschlichen Wesens und der menschlichen Freiheit zeigt, dass eine Gesellschaft die individuelle Freiheit, die wirtschaftliche Sicherheit und die gesellschaftliche Stabilität nur dann aufrechterhalten kann, wenn ihre vorherrschenden Werte und Institutionen einem rationalen, wenn auch nicht radikalen Individualismus verpflichtet sind, der sich über Selbständigkeit, freiwillige Zusammenarbeit, moralischen Realismus und informierten Altruismus definiert. Diese Forderungen sind Gegenstand dieses Buches.
Grundlegende Inhalte
Zur grundlegenden Einführung in die psychische Natur des Menschen wird ein Appell an die gemeinschaftliche Erfahrung hilfreich sein. Es ist leicht zu überprüfen, dass alle gewöhnlichen Menschen folgendes tun können:
Folgende Fähigkeiten können benannt werden:
In der amerikanischen Tradition individueller Freiheit wird argumentiert, dass jeder mit diesen Fähigkeiten – Wahlfreiheit, Initiative, Handlungsfähigkeit, Autonomie und Souveränität – berechtigt sein sollte, sein Leben so zu leben, wie er es wünscht. Er sollte in der Lage sein, es im Wesentlichen ohne die Einmischung anderer zu leben, vorausgesetzt, er respektiert die Rechte anderer, dasselbe zu tun. In dieser Tradition wird die Meinung vertreten, dass dem Menschen seine Souveränität – seine Befugnis, sein eigenes Leben zu leben, indem er autonom handelt, solange er dazu in der Lage ist – nicht von irgendjemandem genommen werden sollte: nicht von irgendeiner anderen Autorität und ganz sicher nicht von einer Behörde der Regierung. Tatsächlich besteht das Argument für die geordnete Freiheit darauf, dass Regierungen die Souveränität des Einzelnen schützen und nicht bedrohen sollten. Diese Verpflichtung ist eine der grundlegendsten Aufgaben der Regierung.
Neben diesem individuellen Element der menschlichen Natur ist auch ein Beziehungselement gleichermaßen wichtig. Menschen sind von Natur aus gesellige Wesen. Sie sind durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Prozesse in Beziehungen zu anderen eingebunden. Ihre Verbundenheit miteinander taucht im Laufe ihrer Entwicklung von der Kindheit zum Erwachsenenalter naturgemäß auf. Ein einzelner Mensch wird mit dem Potential, zu einem vollständigen Menschen zu werden, geboren, aber er erkennt dieses Potential erst im Prozess seiner Beziehungen zu anderen. Diese Beziehungen finden zuerst mit seinen frühen Betreuungspersonen und später mit anderen Personen in seiner Gemeinschaft statt.
Diese Betrachtungen der individuellen und der relationalen Elemente oder Pole unserer Natur deuten darauf hin, dass die Menschen im Grunde „bipolare“ Wesen sind: Sie sind einerseits separate, unabhängige Quellen der Initiative, die in der Lage sind, autonom zu handeln. Aber sie sind auf der anderen Seite auch von Natur aus Beziehungswesen. Freilich ist klar, dass einzelne Menschen nicht in einem normalen Sinn existieren können, ohne sich mit anderen zu verbinden, obwohl sie die Fähigkeit beibehalten, unabhängig von anderen zu handeln.
Die Grundvoraussetzung
Die Fähigkeiten zum unabhängigen Handeln und zur freiwilligen Zusammenarbeit wohnen der menschlichen Natur inne. Sie sind entwickelte Funktionen mit einem adaptiven Wert. Eine genaue Untersuchung, wie diese Fähigkeiten in komplexen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereichen funktionieren, folgt im weiteren Verlauf dieses Buches. Bevor wir dieses Thema angehen, wird es jedoch sinnvoll sein, die viel einfacheren Rahmenbedingungen eines physisch isolierten Individuums zu überprüfen, um seine Beziehung zu sich selbst und seinem materiellen Umfeld hervorzuheben. Ich erinnere hier an die Geschichte von Robinson Crusoe, in der ein einsames Individuum, wie Daniel Defoe es sich vorstellte, nach einem Schiffbruch auf eine Insel gespült wurde, die von anderen Personen unbewohnt war.
Durch die spezifischen Begleitumstände muss Crusoes Handeln nur die elementarsten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen bei der Durchführung seiner Geschäfte berücksichtigen. Wirtschaftlich gesehen ist Crusoe der einzige Produzent, Händler und Konsument von Waren und Dienstleistungen. Aus gesellschaftlicher Perspektive kann er sich nur auf sich selbst beziehen, da seine Situation irgendeine Art von Beziehung zu anderen weder ermöglicht noch erfordert. Und aus politischer Sicht reagiert er nur auf sich selbst als einzige Quelle der Macht und Autorität in seinem Leben. Unter diesen Bedingungen hat Crusoe die absolute Freiheit so zu handeln, wie er es wünscht. Er erhält auch alle Vorteile und übernimmt alle Risiken bei allem, was er tut. Er kann sich, was die materiellen Bedürfnisse seiner Existenz betrifft, ganz auf sich selbst verlassen. Diese einfachen Gegebenheiten definieren Crusoes Lebensbedingungen auf einer einsamen Insel. Die hypothetische Abwesenheit anderer Personen in diesem Szenario der Einsamkeit rückt die materiellen und biologischen Tatsachen seiner Existenz in einen scharfen Fokus. Er muss sich an diese Gegebenheiten anpassen oder sterben.
Ganz abgesehen von den physischen Umständen seiner Situation wird Crusoe aber auch mit psychischen Realitäten konfrontiert, die zu ihm als menschlichem Wesen gehören. Er könnte zum Beispiel das Bedürfnis nach irgendeiner freundschaftlichen Anbindung an Tiere (vorausgesetzt, es gibt welche) verspüren, um der Einsamkeit entgegenzuwirken. Er könnte die Insel erkunden, um seine Neugier zu befriedigen. Er könnte irgendeine Art von Freizeitaktivität entwickeln, ein ästhetisch ansprechendes Objekt schaffen, etwas nur zur Befriedigung des Wissensdranges lernen oder ein paar Anbetungsrituale entwickeln.
Um unter diesen Umständen so gut wie möglich leben zu können, muss er mit einer Welt umgehen, die seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche ebenso einschließt wie die Möglichkeiten und Grenzen seiner Umgebung, sie zu befriedigen. Dieses Prinzip erweist sich für den Fall, dass sich Crusoe einer Gruppe von Personen anschließen würde, die ebenfalls mit ihren Bedürfnissen nach Überleben und Komfort beschäftigt sind, als gleichermaßen gültig.
Die Moral des Überlebens
In den meisten Fällen, wenn nicht bei allen seinen Handlungen, wird Crusoe sich ein Urteil darüber bilden müssen, ob etwas, was er in Betracht zieht, die Mühe wert ist. Er wird sorgfältig die Vorteile, den Arbeitsaufwand und die Risiken dessen abwägen, was er tut, weil er weiß, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann. Seine Urteile und Entscheidungen sind schwerwiegender, als wenn er mindestens einen Partner hätte, der ihn vor einem Unfall oder einer eigenen Torheit bewahren könnte. Seine Verantwortung für sich selbst schafft einen Wertmaßstab hinsichtlich aller nicht alltäglichen Handlungen, die er unternimmt.
Dieser Wertmaßstab spiegelt sich in Crusoes Aufbau einer Skala von guten oder vernünftigen Handlungen und schlechten oder unvernünftigen Handlungen wider. Gute Handlungen werden für Crusoe diejenigen sein, die sein Leben und seine Sicherheit schützen und seinen Komfort erhöhen. Schlechte Handlungen werden das Gegenteil bewirken. Für jeden Einzelnen unter ähnlichen Umständen schaffen diese Werteskalen eine Moral des Lebens im Hinblick auf ihn selbst. Wenn sich nicht ein sehr schmerzhafter körperlicher Zustand ausbildet, der das Leben unerträglich macht, oder eine behindernde psychische Störung auftritt, wird sich ein isolierter Mensch mit großer Mühe anstrengen, um zu überleben und sein Los zu verbessern. Er wird diese Anstrengungen als völlig gerechtfertigt ansehen, weil für ihn die Erhaltung und Verbesserung seines Lebens zweifellos eine gute Sache ist. Er wird voraussetzen, dass er ein Recht auf Glück hat. Natürlich wird das, was jeder Einzelne als Glück betrachten mag, von seinen besonderen Interessen und Fähigkeiten abhängen. Doch aufgrund gewisser Konstanten in der menschlichen Natur wird die Vorstellung eines jeden Menschen von einem guten und glücklichen Leben viel mit den Ansichten anderer, ob sie nun in der Isolation oder in der Gemeinschaft leben, gemeinsam haben.
Historisch gesehen sind die Menschen sehr lange Wege gegangen, um die Bedingungen sicherzustellen, die ihnen die größten Möglichkeiten bieten, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Jede länger währende Gleichgültigkeit gegenüber dieser Aufgabe führt bestenfalls zu einem Zustand chronischer Frustration und kann großes Leiden und sogar den Tod herbeiführen. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickeln die Menschen naturgemäß eine Moral der materiellen Absicherung und Lebensaufwertung auf der Basis der elementarsten biologischen und psychischen Tatsachen des Lebens: ihrer körperlichen Anforderungen und emotionalen Sehnsüchte, ihrer Anfälligkeiten für Krankheiten und Tod, ihrer Ängste vor Isolation und Verlust, ihres angeborenen Selbsterhaltungstriebes. Auf diesen Grundlagen nehmen die Menschen etwas letztlich als gut oder schlecht für sich selbst wahr, ob sie nun von anderen isoliert leben oder in vielfältige Beziehungen zu anderen eingebunden sind. Die instinktiv wahrgenommene Güte des Lebens und seine Aufwertung sind die rationalen Grundlagen aller moralischen Codices.
Das Leben in einer Gruppe
Als sich eine zweite Person – Freitag – zu Crusoe auf die Insel gesellt und die beiden Männer miteinander interagieren, wird das Szenario für Crusoe wie auch für Freitag viel komplizierter. Crusoe hat keine absolute Freiheit mehr, so zu handeln, wie er will. Er muss die möglichen Auswirkungen bedenken, die sein Handeln auf Freitag hat, vor allem die Möglichkeit negativer Auswirkungen, auf die Freitag mit Vergeltung reagieren könnte. Es sei denn, Crusoe kann einen Weg finden, Freitag zu beherrschen – ein Ziel mit eigenen Problemen; er muss beiderseitig annehmbare Modalitäten für die Zusammenarbeit mit ihm entwickeln.
Die neue Situation erfordert wirtschaftliche, soziale und politische Vereinbarungen für das Verhalten im Umgang zwischen Crusoe und Freitag. Um wirksam zu sein, müssen diese Vereinbarungen den Charakter von Regeln haben; sie müssen normativ sein. Sie müssen moralische und ethische Regeln sein, die bestimmen, wie sich zwei oder mehr Personen verhalten sollen, wenn sie miteinander zu tun haben. Um normative Gewalt zu haben, müssen sie Regeln darstellen, die von beiden Parteien eingehalten werden und die für Transaktionen zwischen ihnen verbindlich sind. Diese letztere Anforderung ist entscheidend: Beide Parteien müssen von der Angemessenheit der Regeln überzeugt sein und sich ihnen moralisch verpflichten. Nur diese Verpflichtung kann die Basis für eine friedliche Koordination ihrer Handlungen liefern. Andernfalls wird die Einschüchterung, die auf der Androhung von Gewalt beruht, die Moral der Mafia, zum herrschenden politischen Prinzip in ihrer Zwei-Personen-Gesellschaft.
Diese Betrachtungen gelten nicht nur für Zweiergruppen, sondern auch für größere Gruppen von Personen. Da die Transaktionen immer komplexer werden, schaffen die Gemeinschaften vieler Einzelner Regeln, um ihr Verhalten zu regulieren: die Sitten, die Ethik, die Moral und die Gesetze, die ihre Angelegenheiten lenken. Diese Regelungen schreiben vor, was richtig und was falsch an dem ist, was die Menschen tun, wenn sie Verbindungen miteinander eingehen. Sie sind Ausdruck von Werturteilen, an die sich die Personen halten, deren Leben sie anleiten und lenken. Lebensregeln können nicht per definitionem wertlos sein. Sie legen fest, welche Handlungen gut und schlecht, wünschenswert und unerwünscht, zulässig und unzulässig sind. Sie dienen dazu, das wie auch immer definierte antisoziale Verhalten einzugrenzen. Sie müssen auf einem Konzept von Recht und Unrecht beruhen, das sich in mehr oder weniger expliziten ethischen und moralischen Prinzipien ausdrückt.
Die Gefahr der Regierung
Wenn informelle Vereinbarungen das antisoziale Verhalten in der Gemeinschaft aus welchen Gründen auch immer nicht regeln können, dann müssen sich ein formales Gesetzessystem und eine Rechtsprechung irgendwelcher Art entwickeln, um die Regeln für das richtige Verhalten durchzusetzen, zivile Streitigkeiten zwischen den Bürgern zu lösen und das Verlangen der Leute nach der Bestrafung von Missetätern zu befriedigen. Doch ein System durchsetzbarer Gesetze ermächtigt eine bestimmte Untergruppe der Gemeinschaft, das Verhalten ihrer Mitglieder durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt zu kontrollieren. Mit diesem Schritt betritt jede Ansammlung von Einzelpersonen ein potentiell gefährliches Terrain gesellschaftlicher Organisation. Die Gefahr liegt in der Tatsache, dass die Macht nun in einer Behörde konzentriert ist, die zur Gewaltanwendung berechtigt ist. Die Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs dieser Macht ist stets hoch.
Wenn nur eine solche Behörde ein Monopol auf den Einsatz von Gewalt hat, um Regeln zu erzwingen, nennt man sie eine Regierung. Die Regierungen verkünden immer, dass ihre Ziele der Schutz der Rechte des Volkes und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung seien. Doch auch mit den besten Absichten verletzen die Regierungen routinemäßig die Rechte von Einzelpersonen und bringen die Ordnung durcheinander, die zu schützen ihnen aufgetragen wurde. Da diese Desorganisation durch ein Gewaltmonopol möglich gemacht wird, können die ausschlaggebenden Probleme der politischen Theorie in den folgenden Fragen ausgedrückt werden: Auf welchem Gebiet des menschlichen Handelns kann die Staatsgewalt eingesetzt werden, und wie kann sie gegen Personen angewendet werden, die gegen die Regeln des Staates verstoßen? Was ist das richtige Gleichgewicht zwischen Freiheit und Freiheitsbeschränkungen? Mit welchen Argumenten sind Bürgerinnen und Bürger in der Lage, unabhängige moralische Überlegungen anzustellen, um überzeugt zu sein, dass der Gewalteinsatz der amtierenden Regierung akzeptabel ist? Antworten auf diese Fragen bestimmen unter anderem, inwieweit die individuelle Freiheit das Leben in einer Gesellschaft kennzeichnet.
Obwohl die Stimme der individuellen Freiheit im modernen Amerika noch einigermaßen hörbar ist, wird doch deutlich, dass heute eine eindeutig kollektivistische Tendenz das gesamte politische Denken des Westens beherrscht. Diese Tendenz zerstört die Ideale der Freiheit, der gesellschaftlichen Ordnung und des Heranwachsens des Individuums zu Reife und Mündigkeit. Anstatt eine rationale Gesellschaft tüchtiger Erwachsener zu fördern, die die Probleme des Lebens durch freiwillige Zusammenarbeit lösen, schafft die moderne liberale Agenda eine irrationale Gesellschaft ewiger Kinder, die davon abhängig sind, dass Regierungen sich um sie kümmern. Durch ihre fortwährenden Bestrebungen, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse der Gesellschaft zu kollektivieren, schwächt die liberale Agenda gerade die Charakterzüge, die für die individuelle Freiheit, die materielle Sicherheit, die freiwillige Zusammenarbeit und die gesellschaftliche Ordnung von so wesentlicher Bedeutung sind.