Der neue Sonnenwinkel
– 16 –

Ein kleines Mädchen hat Heimweh

Das andere Ende der Welt ist zu weit weg!

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-421-8

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»Frau Doktor Steinfeld, wollen Sie zu mir?«

Wäre diese Frage nicht an sie gerichtet worden, und hätte Hilda Hellwig nicht im Türrahmen ihrer Haustür gestanden, dann hätte Roberta weitergeträumt.

Sie riss sich zusammen.

»Ja, genau zu Ihnen will ich«, rief Roberta fröhlich und lief durch den sehr gepflegten Vorgarten auf das Haus zu.

Ihre Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, seit Roberto Andoni ihr gesagt hatte, dass Lars Magnusson nicht verheiratet war, dass es sich bei der blonden Frau an seiner Seite um seine Schwester handelte.

Wie verrückt sie doch gewesen war. Aber jetzt war alles einfach nur schön, und am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt. Und deswegen fing sie bei der ein wenig verblüfft dreinsehenden Hilda Hellwig an.

»Frau Doktor, Sie sind heute aber ausnehmend gut gelaunt«, sagte Hilda schließlich, nachdem sie sich ein wenig von ihrer Überraschung erholt hatte. Die Frau Doktor war ja nicht wiederzukennen!

»Frau Hellwig, ich habe meinen Patienten gegenüber doch immer gute Laune.«

Hilda nickte.

»Ja, das ist wahr, aber heute … Ich weiß nicht, da ist etwas ganz anders, und wenn es nicht vermessen wäre, würde ich Sie fragen, ob Sie verliebt sind.«

Roberta spürte, wie sie rot anlief, und das war ihr jetzt wirklich peinlich, alles war ihr peinlich. Sie war eine gestandene Frau und benahm sich wie ein pubertierendes Mädchen, das sich zum ersten Male verliebt hatte.

Sie hatte sich verliebt, nicht zum ersten Male, und da sie, auf diesem Gebiet nicht die Erfahrung ihrer Freundin Nicki hatte, merkte man ihr das wohl an, wenn ihr Gemütszustand sich in dieser Hinsicht veränderte.

Roberta beschloss, diese Frage zu ignorieren. Stattdessen sagte sie, dass sie Roberto vor der Tür getroffen habe und dass es sie sehr freue, dass er sich kümmere und ihr sogar eines ihrer Lieblingsgerichte vorbeigebracht hatte.

Jetzt begann Hilda zu strahlen.

»Ja, er hat mich nicht nur mit dem Essen überrascht, sondern er ist die ganze Zeit über auch bei mir geblieben und hat sich mit mir unterhalten. Er ist ein sehr feiner Mensch, und das Essen, was aus der Küche des ›Seeblicks‹ kommt, hat mehr als nur einen Stern verdient. Aber bitte, Frau Doktor, kommen Sie herein. Es ist so schön, dass auch Sie sich Zeit für mich nehmen. Dabei haben Sie so viel zu tun.«

Roberta folgte Hilda Hellwig in ihr sehr schön eingerichtetes Wohnzimmer. Sie sah heute wieder sehr damenhaft aus. Wie immer, war sie dezent gekleidet, in dem engen grauen Rock und der grauen Seidenbluse sah sie sehr schön aus. Die Farbe harmonierte sehr gut mit den grauen sorgsam frisierten Haaren. Ja, Hilda Hellwig war genau das, was man unter einer feinen Dame verstand.

»Schade, dass Sie, wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind, keinen Alkohol trinken, sonst hätte ich Ihnen jetzt einen köstlichen Holunderlikör angeboten. Aber was halten Sie von einem Holundersirup, aufgefüllt mit Mineralwasser?«

Ein Wasser hätte es auch getan, aber Roberta wollte die alte Dame nicht enttäuschen, und deswegen stimmte sie zu und entschied sich für das angebotene Getränk.

Erstaunlich behände lief Hilda in ihre Küche und kam kurz darauf mit dem Holundersaft für Roberta, mit einem Likörchen für sich zurück.

»Nach dem köstlichen Essen eben ist es gut für die Verdauung«, sagte sie, ehe sie sich setzte.

Hilda Hellwig trug eine ein wenig altmodische goldene Kette mit einem Medaillon, eine schlichte Armbanduhr und einen außergewöhnlich schönen Brillanten am Ringfinger ihrer linken Hand. Der musste ein Vermögen wert sein.

Hilda war ihrem Blick gefolgt.

»Das ist alles, was mir geblieben ist«, sagte sie, und ihre Stimme klang bitter. »Und säße der Ring nicht so fest, dann hätte sie ihn auch genommen, und die Kette und Uhr sind nicht wertvoll genug. Aber ich hänge ganz besonders an der Kette, weil sich in dem Medaillon ein Foto meines verstorbenen Mannes befindet.«

Roberta wusste sofort, über wen Hilda sprach, ihre einzige Tochter, die alles daransetzte, um an Geld zu kommen. Und die, wie man so schön sagte, über Leichen ging.

Irritiert blickte Roberta zu der alten Dame.

Was wollte sie damit sagen?

Hilda bemerkte diesen Blick und sagte traurig: »Cornelia wollte nicht abwarten bis ich tot bin. Sie hat all meinen Schmuck gestohlen und versetzt. Und wenn ich jetzt gestohlen sage, dann klingt das vielleicht hart. Aber anders kann man es nicht bezeichnen. Warum hat sie nicht gefragt? Ich mache mir nicht viel aus Schmuck, aber da gab es so viele schöne Erinnerungen, an meinen Mann, an meine Großmutter, von der auch ein Teil des Schmuckes stammte, und von meiner Mutter auch. Ich weiß ja nicht, wohin sie ihn gebracht hat, aber sie hat ihn weit unter Wert hergegeben. Das ist doch gewiss so, oder? Ich habe keine Ahnung, wann sie ins Haus gekommen ist, um reiche Beute zu machen.«

Sie hatte Tränen in den Augen, doch Roberta ließ sie erst einmal gewähren. Sie hatte schon viele Gefühlsausbrüche dieser reizenden Dame mitbekommen, und sie würde niemals verstehen, wie die Hellwigs an ein so missratenes Kind geraten waren. An der Erziehung konnte es nicht gelegen haben. Aber vielleicht doch, und sie hatten es ihrem einzigen Kind zu einfach gemacht und waren immer für diese Cornelia eingesprungen, wenn die mal wieder Mist gebaut hatte.

»Frau Hellwig …«

Hilda unterbrach sie.

»Ich weiß, Frau Doktor, was Sie mir jetzt sagen wollen. Ich habe die Schlösser auswechseln lassen, auch wenn eine solche Maßnahme so traurig ist. Aber weiß ich, ob sie mir nicht noch das Bett, in dem ich schlafe, knallhart herausholt?«

Ihre Hand zitterte, als sie das Likörglas an den Mund führte. »An das Haus und an das sonstige Vermögen kommt Cornelia nicht. Es ist notariell festgelegt, dass sie monatlich einen gewissen Betrag bekommt, um nicht auf der Straße zu laden. Aber alles geht in eine Stiftung, und in erster Linie wird das Geld für begabte, mittellose Jugendliche verwandt, damit ihnen eine Ausbildung, ein Studium ermöglicht werden kann, was sonst nicht möglich wäre.«

Sie blickte Roberta an.

»Frau Doktor, ist es nicht schrecklich, dass ich zu so etwas gezwungen bin? Wir hätten früher die Reißleine ziehen müssen. Vielleicht wäre dann noch etwas aus Cornelia geworden.«

Daran zweifelte Roberta.

So, wie sie diese Frau kennengelernt hatte, war Hopfen und Malz verloren.

Hilda Hellwig kannte einem nur leidtun.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Frau Hellwig. Es sind nicht immer die Eltern, die schuld sind, wenn ein Kind missraten ist. Schlechte Einflüsse können dazu beitragen, dass jemand auf die schiefe Bahn gerät. Aber ich finde gut, dass Sie eine Entscheidung getroffen haben.«

Hilda wollte noch etwas loswerden, das war nicht zu übersehen.

Roberta blickte sie ermunternd an.

»Frau Doktor, da ist noch etwas …, ich …, nun …, ich hätte Sie vorher fragen müssen. Aber ich habe Sie als Testamentsvollstreckerin einsetzen lassen, und ich hätte auch gern, dass Sie ein Auge auf die Stiftung haben und festlegen, wer da den Vorstand machen soll. Sie sollen auf jeden Fall diejenige sein, die entscheidet.«

Es war eine große Ehre, aber Roberta war sich nicht sicher, was sie jetzt sagen sollte. Es war schließlich auch eine sehr große Verantwortung, die sie da übernehmen sollte.

Hilda Hellwig bemerkte Robertas Zögern.

»Bitte, Frau Doktor. Ich vertraue Ihnen so sehr, dass es mir eine Beruhigung wäre. Und Sie sind doch auch diejenige Person, die mit Cornelia fertigwerden kann. Die wird natürlich alles in Bewegung setzen, um an alles zu kommen. Und …, und …«, sie zögerte, fuhr dann mit leiser Stimme fort. »Es handelt sich um ein sehr, sehr großes Vermögen. Mein Mann und ich, wir kamen beide aus sehr vermögenden Familien und waren die Alleinerben. Und es ist uns gelungen, das Geld zu vermehren. Nach außen hin haben wir es niemals gezeigt, was wir besitzen. Deswegen ist es besonders wichtig, dass da jemand ein Auge drauf hat, dem ich voll vertraue. Cornelia weiß nicht, was wir wirklich besitzen. Wüsste sie es, dann hätte ich keine ruhige Minute mehr. Sie lässt mich ja schon wegen des Hauses keinen Schlaf finden. Und wenn sie wüsste, wen und was ich jetzt schon unterstütze …, nicht auszudenken, was dann hier geschähe.«

Jetzt war Roberta allerdings sehr erstaunt. Sie hatte Hilda Hellwig für eine vermögende Frau gehalten, aber immens reich? Nein, davon war nichts nach außen gedrungen.

Roberta fühlte sich ein wenig überfordert, aber sie wollte Hilda auch nicht enttäuschen, die Ärmste hatte wirklich nicht viel, worüber sie sich freuen konnte.

»Frau Hellwig, es ist gut, dass Sie vorgesorgt haben, und ich werde Sie nicht enttäuschen. Zum Glück erfreuen Sie sich jetzt noch guter Gesundheit, und das bleibt hoffentlich auch noch eine ganze Zeit so. Und ich verspreche Ihnen, dass wir uns zusammensetzen, und dann zeigen Sie mir alle Unterlagen, damit ich mich ein wenig informieren kann. Und Sie, warum machen Sie nicht eine schöne Reise? Es gibt bei den Reiseveranstaltern ganz wunderbare Angebote für Senioren.«

Hilda winkte ab.

»Wir sind früher sehr viel gereist, und das war auch sehr schön. Aber wissen Sie, alles hat seine Zeit. Ich fühle mich am wohlsten daheim in meinen vier Wänden. Mir reicht es, mal nach Hohenborn zu fahren oder in die Stadt. Und wenn ich aus dem Trubel zurückkomme, bin ich froh.«

Sie seufzte.

»Früher habe ich immer davon geträumt, meine Tochter in der Nähe zu haben, vielleicht auch Enkelkinder. Leider ist dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen. Aber man muss mit den Gegebenheiten leben. Und Cornelia? So, wie sie sich entwickelt hat, wäre sie eine grauenvolle Mutter geworden, und offensichtlich hält es auch kein Mann bei ihr aus. Sie wechselt ihre Liebhaber wie andere Leute ihre Wäsche.«

Das wunderte Roberta überhaupt nicht, wenngleich sie glaubte, dass es wohl eher die Männer waren, die das Weite suchten, denn Cornelia war ein durch und durch schlechter, egoistischer Mensch.

Was sollte Roberta jetzt sagen?

Es gab keine Worte. Ihr wurde nur klar, dass sie etwas für diese arme, verbitterte Frau tun musste, denn sonst wurde sie noch krank.

Sie langte über den Tisch, legte ihre Hand auf die schmale Rechte, die ein wenig kraftlos auf dem Tisch lag und drückte sie.

Als sie Hildas dankbaren Blick bemerkte, wusste Roberta, dass sie das Richtige getan hatte. Manchmal brauchte man eben keine Worte, um das Richtige zu tun.

Sie versuchte, Hilda ein wenig von ihren trüben Gedanken abzulenken, und da die eine sehr belesene, kultivierte Dame war, fand sich sehr rasch ein interessantes Gesprächsthema, und Roberta gelang es tatsächlich, sie sogar zu einem Lächeln zu bringen.

Sie hatte nicht so lange bleiben wollen, doch als sie ging, hatte sie ein gutes Gefühl, nicht, weil ihr eine so große Ehre zuteil werden sollte, sondern weil Hilda sich besser fühlte.

Hilda begleitete sie zur Tür.

»Danke, Frau Doktor«, sagte sie, »bei Ihnen weiß man wirklich nicht, ob Sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sind, oder ob der liebe Gott Sie auf die Erde geschickt hat, um jemanden wie mich aufzubauen, jemandem zu helfen, der verzweifelt ist und wieder an das Gute im Menschen glauben kann.«

Wieder wusste Roberta nicht, was sie sagen sollte, doch diesmal war es, weil sie sehr berührt war und weil es ihr fast schon peinlich war, so sehr in den Himmel gehoben zu werden.

Sie nahm Hilda einfach in ihre Arme, als sie sich von der alten Dame verabschiedete. Und als sie das Gartentor erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und winkte Hilda zu.

Die stand noch immer in der Tür.

*

Es war schon ziemlich spät geworden, doch Roberta bereute es nicht, bei Hilda gewesen und langer als beabsichtigt geblieben zu sein.

Es war ihr tatsächlich gelungen, die Ärmste aus ihrem Tief wenigstens vorübergehend herauszuholen.

Der Vollmond schien prall und kalt vom nachtgrauen Himmel, hier und da zeigten sich funkelnde Sterne.

Roberta hatte zum Glück bei Vollmond keine Schlafschwierigkeiten, worüber einige ihrer Patienten klagten. Und wenn sie ehrlich war, sie mochte dieses morbide Licht, das hell genug war, die Konturen nachzuzeichnen.

Sie gestattete es sich, wieder an Lars Magnusson zu denken, etwas, wogegen sie in Hildas Anwesenheit tapfer angekämpft hatte.

Wäre es nicht so gewesen, wer weiß, ob sie sich nicht verraten hätte. Von Hilda war da ja auch bereits eine Andeutung gekommen.

Lars …

Mondschein …

Das passte zusammen, das erweckte romantische Gefühle.

Doch galoppierten ihre Wünsche und Hoffnungen ihr nicht davon?

Noch war nichts geschehen!

Noch wusste sie nicht, ob aus ihr und Lars etwas würde, und so, wie sie sich verhalten hatte …

Musste er nicht besser einen großen Bogen um sie machen, weil er sie für wankelmütig hielt? Und das musste er, so, wie sie sich aufgeführt hatte.

Was sollte sie jetzt tun?

Einfach zum See marschieren? Sie kannte das Haus schließlich, und es war schon merkwürdig, dass es nun der zweite Mann war, an dem sie Interesse zeigte, der das individuelle Leben am See vorzog.

Sie konnte ganz unverfänglich tun, den Augenblick abpassen, an dem er aus dem Haus kam.

Beim ihren Anblick würde er es vermutlich vorziehen, sich überhaupt nicht erst blicken zu lassen.

Roberto fiel ihr ein.

Sollte sie auf ihn setzen? Darauf, dass er ein paar Bemerkungen machen würde, dass sie geglaubt hatte, diese blonde Dame sei seine Ehefrau?

Sie war ganz schön durcheinander, und wenn sie es nicht schon wüsste, würde sie spätestens jetzt kapieren, dass sie verliebt war.

Das Mondlicht, die nächtliche Stille …

Eine merkwürdige Stimmung breitete sich in Roberta aus. Sie kam sich vor, als sei sie allein auf der Welt, weil ihr kein einziges Auto entgegenkam, und in ihrem Rückspiegel entdeckte sie auch niemanden hinter sich.

Normalerweise machte sie ihr Autoradio an, aber diesmal tat sie es nicht. Sie wollte durch nichts die Stille durchbrechen.

Sie würde nicht darauf warten, dass Roberto Andoni etwas sagte.

Das entsprach so ganz ihrer in Liebesdingen eher zögerlichen Art. Und Nicki würde bei solchen Gedanken die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Roberta war fest entschlossen, jetzt nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Sie würde zum See laufen und an seiner Haustür entweder klopfen oder klingeln. Und dann, danach würde sich alles zeigen.

Ein wenig träumen konnte sie schon, oder?

Sie stellte sich ihn vor. Es waren ja nicht nur seine unglaublich blauen Augen, ein Erbe seines norwegischen Urgroßvaters, nein, er war nicht nur ihr Mr Right, sondern auch ein Mr Perfect.