Im Graben steht ein Schlehenbusch; auf dem sitzt die Goldammer und singt in einem fort: »Wie hab ich dich lieb!«
Nun bricht sie ihr Lied in der Mitte ab, sträubt das gelbe Schöpfchen, wippt aufgeregt mit dem Schwanze, hält den Kopf schräg und sieht unter sich.
Da schwanken die langen Halme hin und her, da rispelt und krispelt es im Grase, raschelt und rappelt es unter den Brombeerranken. Noch ein Weilchen ist der gelbe Vogel im unklaren darüber, ob es vielleicht nicht das Wiesel ist, das da herumstöbert: dann aber singt er beruhigt weiter, denn harmlos und ungefährlich ist das Mäuschen, das jetzt unter den Ranken erscheint.
Ein Zwergmäuschen ist es, ein allerliebstes Kerlchen, halb so groß wie eine andere Maus. Es sitzt da, sieht sich um, macht einen Sprung, faßt eine Fliege, die von dem Tau noch flügellahm ist, springt mit ihr im Mäulchen wieder unter das dornige Rankengehege zurück und macht sich daran, sie zu verspeisen. Niedlich sieht das Mäuschen aus, wie es da auf den Keulen sitzt, die Fliege zwischen den weißen Pfötchen hält, ihr mit den scharfen Zähnen Flügel und Beine abknipst und sie hastig aufknabbert. Dann leckt es sich die weißen Lippen, streicht sich die seidenen Schnurrhaare zurecht und sieht sich mit den funkelnden schwarzen Augen nach neuer Beute um.
Schon macht es einen Satz nach der Gegend hin, wo ein blanker Käfer über die Scholle krabbelt, doch da zuckt es zusammen, das Mausemännchen, denn es bekam einen großen Schreck; ein großer Schatten strich über den Boden hin, und schnell verschwindet es unter dem Schlehdornbusche. Es war zwar nur eine Wildtaube, die zu Felde fallen wollte; aber es konnte ebensogut der böse Sperber sein oder die schlimme Krähe, und weil Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist, machte das Mäuschen einen flinken Hops und sitzt geborgen wieder unter den dornigen Brombeerranken, wo so leicht kein Feind es fassen kann.
Bald aber hat es seinen Schreck vergessen und huscht wieder geschäftig zwischen dem welken Laube und dem jungen Grase umher, zerraspelt hier ein Samenkörnchen, knabbert dort eine Knospe auf, macht dann einer Motte und darauf einer Raupe den Garaus, zupft und leckt sich sorgfältig sein braunrotes Fell zurecht, überrumpelt eine fette Graseule, die just aus der Puppe gekrochen war und gerade dabei ist, ihre Flügel zu entfalten, reinigt sich abermals umständlich das Mäulchen und sitzt eine ganze Zeit still da, sich der Sonne und der lauen Luft freuend.
Auf einmal wacht es aus seinem Halbschlaf, dreht sich schnell herum und hüpft mit langen Sprüngen unter den Brombeeren her nach dem Grabenufer, denn dort klettert ein Mauseweibchen in dem Gestrüpp umher. Sofort ist das Männchen bei ihm und es gibt ein Gekletter hin und ein Gerenne her zwischen Stengeln und Halmen und ein Gepiepse hier und ein Gezwitscher dort, bis das Mauseweibchen einsieht, daß es keinen Zweck hat, länger spröde zu sein, und es mit dem Mäuserich fröhlich herumspielt, bis beide von den Springen, Rennen und Klettern hungrig geworden sind und zwischen den roten und weißen Taubnesseln nach Nahrung suchen.
Ein vergnügtes Leben führen die beiden Mäuse hier am Rain. Wenn bei Nacht das eine auch beinahe einmal von dem Käuzchen erwischt wäre und bei Tage das andere sich nur mit knapper Not vor dem Turmfalken in ein Maulwurfsloch retten konnte, ihr Gedächtnis ist kurz, sie vergessen schnell Angst und Not, leben fröhlich in den Tag hinein, bis das Mauseweibchen immer unliebenswürdiger gegen das Männchen wird, so daß dieses es schließlich allein läßt.
Das Weibchen hat nämlich Wichtigeres zu tun, als herumzuspielen und sich mit dem Männchen zu jagen. Es hat sich in dem Schlehenbusch eine Stelle ausgesucht, wo die Brombeerranken kreuz und quer die dornigen Zweige durchflechten und hohes Schilfgras emporgeschossen ist. Da schlüpft es hin und her, ein langes blondes Grasblatt vom vorigen Jahr zwischen den Zähnen haltend. Das wickelt es um einen Zweig, schlingt es um einen ändern, knotet es an eine dritten fest, holt ein neues Blatt, knüpft es neben dem ändern an, und arbeitet so lange, bis ein rundes Nestchen, so groß wie eine Männerfaust, mit einem engen Eingang an der Seite im Rohbau hergerichtet ist. Dann sucht es sich die zartesten der alten Grasblätter, zerschrotet sie mit den Zähnen, polstert damit das Nestchen aus und verbessert es noch hier und da, bis nichts mehr daran zu tun ist. Ein paar Tage später liegen schon sechs rosenrote blinde Junge in dem Nest, nicht größer als Kaffeebohnen. Doch sie wachsen schnell. Es dauert nicht lange, so bekommen sie Augen und Haare, die unförmigen Köpfe werden spitzer, die Öhrchen und Schwänzchen wachsen, und bald schon sehen die Kleinen fast so wie die Mutter aus, blinzeln ab und zu aus dem Nest heraus und beginnen mit den erste Turnversuchen an den Zweigen und Halmen, sorgfältig behütet von der Mutter, die sie in das Nest zurückjagt, sobald die Dorngrasmücke, die ebenfalls in dem Schlehenbusch baut, ihren heiseren Warnruf ertönen läßt, den Turmfalken oder den Neuntöter anmeldend.
Aber von Tag zu Tag werden die jungen Zwergmäuse sicherer und kecker. Sie klettern hinter der Alten her, wagen sich in das Rainfarngestrüpp, turnen bis auf den Boden herunter und gehen allmählich schon selbst ihrer Nahrung nach, wenn sie nicht unter den schützenden Ranken des Brombeerstrauches lustig miteinander spielen. Dabei faßte das eine der Maulwurf, der plötzlich aus seinem Loche hervortauchte, und zog es trotz seines Piepsens und Zappelns in die Erde hinunter, ein anderes greift das Wiesel und trägt es seinen Jungen hin, mit denen es unter der Brücke lebt, und ein drittes fängt der Neuntöter und spießt es neben Mistkäfern und kleinen Fröschen auf einen Dorn. Die anderen aber sind in sechs Wochen ausgewachsen und suchen sich jedes für sich im Haferfeld oder im Gebüsch eine Stätte, wo sie hausen können.
Ihre Mutter kümmert sich nicht mehr um sie. Sie baut ein neues Nest nicht allzuweit von dem alten; darüber hat eine andere Zwergmaus gebaut, unten am Boden zwischen den Brombeeren eine dritte, eine vierte zwischen den Haferhalmen, die sich dicht an den Dornbusch herandrängen, in dem Weißdorn stehen ebenfalls einige, und so ist der ganze Feldrand mit gutversteckten Mausenestern besetzt. Wenn es dämmerig wird, raschelt es überall zwischen den Halmen und raschelt es im Laub; hier klettert ein Mäuschen, da turnt eins, und dort hüpft ein anderes. Am Boden huschen sie umher und fangen Käfer und Raupen, sitzen auf den Spitzen der Halme und packen die schlafenden Fliegen, hülsen die halbreifen Körner aus und freuen sich ihres Lebens, bis auf einmal das Käuzchen lautlos herangeschwebt kommt und mit einer unvorsichtigen Maus in den Krallen davonfliegt, um sie ihren Jungen zu bringen, die auf dem hohlen Wildapfelbaum sitzen und der Alten gierig die Beute entreißen. Aber ob das Käuzchen auch Nacht für Nacht hier jagt, der Mäuse werden eher mehr als weniger, denn der Winter war mild, der Frühling trocken, und der Sommer ist warm, und so vermehren sie sich, daß es den ganzen Graben entlang von ihnen wimmelt und krimmelt und überall im Feld, wo die Klüngelwicken die Halme zusammengesponnen haben, eine Nest steht, in dem ein halbes Dutzend oder mehr Junge heranwachsen.
Doch da kommt ein Gewitter nach dem andern und bringt schwere Regengüsse, Hagelschlag und Kälte. Der Sturm entblößt die Nester, der Regen prasselt hinein und wäscht die Mäusebrut heraus. Hunderte von jungen Mäusen erstarren, und von den heranwachsenden kommt eine Unmenge um, die das Regenwasser in den Graben hineinspült oder die eine Krankheit ergriffen hat. Die übrigen führen ein trauriges Leben in den Büschen, bis endlich die Sonne wieder scheint, das Feld trocken wird und die Mäuse Leid und Not vergessen, abermals Nester bauen und Junge aufziehen und ein paar Wochen später kribbelt und krimmelt es überall wieder das ganze Feld entlang, und nachts schlüpft und hüpft es zwischen den Halmen und turnt auf den reifenden Haferrispen herum, so daß das Käuzchen mit seinen flüggen Jungen nicht lange zu suchen braucht, um satt zu werden.
Dann aber rückt der Bauer heran, und großes Elend kommt über das fröhliche Völkchen. Die Sense fällt die Halme samt den Nestern darin, und nun heißt es flüchten. Zu Hunderten rennen die Mäuse vor den Binderinnen dahin, schlüpfen unter die Büsche, verstecken sich in den Gräben, kriechen in die Gänge der Feldmäuse und in die Maulwurfslöcher hinein, denn über der Erde ist es bei Tage nicht sicher. Da rennen die Hunde hin und her und beißen die Mäuschen tot oder scharren die aus, die sich in den Erdlöchern bargen, und die Turmfalken rütteln über den Stoppeln, stoßen bald hier, bald da hinunter und greifen fast nie fehl.
Kahl ist das Feld geworden. Herbstseide zittert auf der Stoppel, und die reisenden Kraniche trompeten vom hohen Himmel herunter. Die Feldmäuse rutschen in ihren Gängen entlang; die Zwergmäuse haben fast alle das Feld verlassen. Die einen sind nach der Dieme verzogen, andere nach den Scheunen der Bauern, einige suchten im Randgebüsch des Waldes Unterkunft. Das alte Weibchen aber, das im Schlehenbusch gebaut hatte ist ihm treu geblieben. Er hat ihm in der guten Zeit Unterschlupf und Nahrung geboten, hat es geschirmt, als der Regen rauschte und der Wind pfiff, und wird es auch wintertags hüten. So bleibt es wohnen, nährt sich von Grassamen, Käfern und Puppen und alte Schlehen und Brombeeren, die im welken Laub am Boden liegen, wo es sich zwischen den dornigen Zweigen ein warmes Winternest gebaut hat.
Wenn aber der Winter vorüber ist, die Sonne wärmer scheint und der Goldammerhahn von der Spitze des Strauches den Frühling lobt, dann wird das Mäuschen im Busch wieder ein Nest aus weichen Grashalmen zwischen den Zweigen zusammenflechten und dafür sorgen, daß seine Art nicht aussterbe.
»Jetzt wird es schön,« denkt die Maus, die in dem krausen Stechpalmenbusch wohnt, der unter der breitästigen Hüteeiche steht.
Ein feines Versteck hat sie da. Die Hütejungen haben sich dort eine Moosbank gemacht, in der eine Maus schon wohnen kann, vorzüglich, weil sich dort nebenbei immer allerlei zu treffen findet, das es anderswo nicht gibt, Brotkrümchen, Wursthaut, Käsebrocken, Apfelschale, Pflaumenkerne und sonst noch allerlei.
Es ist darum kein Wunder, daß die Waldmaus so kugelrund aussieht, trotzdem der Winter hart und lang war. Es wächst ja soviel Pfeifengras auf dem Damme, am Grabenrand wuchert die Heide; beider Samen finden sich in Masse. Der Wald ist nicht weit, und da liegen die Früchte von Fichte und Erle, Kiefer und Birke und dürre Beeren alle Art, und an allerlei Geziefer ist auch kein Mangel.
»Wie schön warm es heute ist!« denkt das rote Mäuschen und macht vor Freunde einen Hopser nach dem anderen. »Sitz da nicht ein fetter Käfer? Natürlich!« Schwupp, hat sie ihn, beißt ihn tot, reißt Flügel und Beine ab und verspeist ihn, auf den Keulen sitzend und die Beute in den Vorderfüßchen haltend. »Und das da, das ist ja eine von den saftigen, bekömmlichen Raupen! Ach ja, die gute Zeit ist da!«
Genau dasselbe denkt das Ungetüm, das breit und faul unter dem Stechpalmenbusche liegt und sich von der Aprilsonne bescheinen läßt. Schon seit einer Stunde liegt die Kreuzotter da und läßt die Maus nicht aus dem Augen. So, wie sie daliegt, sieht sie wie eine braune, mit schwarzen Moospolsterchen bewachsene Kiefernwurzel aus, und nur die roten Mörderaugen und die ab und zu hervorzuckende Zunge zeigt, daß es ein Wesen von Fleisch und Blut ist.
Vom Herbste bis zum Frühling lag sie steif und starr unter der Moosbank, und über ihr wohnte die Maus. Als die Sonne wieder warm schien, im Graben frisches Grün auftauchte und die Zitronenfalter flogen, erwachte die Otter, kroch aus ihrem Verstecke, trank sich am Tau satt und wärmte sich an der Sonne, bis sie wieder geschmeidig wurde. Dann kroch sie so lange zwischen den Heidkrautstengeln umher bis ihre alte Haut als silbergraues Netzwerk darin hängen blieb, erholte sich von der Anstrengung und merkte dann, daß sie sehr hungrig war.
»Sieh da, sieh da, eine Maus!« denkt sie. Eben war sie da, jetzt ist sie dort. Mäuse sind flink, Ottern sind langsam; aber Mäuse sind unvorsichtig und Ottern haben Zeit. Die roten Augen gehen immer dahin, wo die Maus ist. Ganz langsam schiebt die Otter sich vorwärts, dahin wo die Maus eben hinsprang. Sie weiß, sie kommt denselben Weg wieder zurück. Da ist sie auch schon. Eine Fliege mit verkrüppelten Flügeln hüpft hilflos im Sande hin und her. Das lockt die Maus. Ein Sprung, und sie hat die Fliege, und die Mahlzeit beginnt.
Langsam hebt die Otter den Kopf, blitzschnell läßt sie ihn nach der Maus zucken und schlägt ihr die Giftzähne in den Nacken. Das Mäuschen piept auf, läßt die Fliege fallen, macht einen Sprung und noch einen, fällt um, zittert und verendet. Langsam kriecht die Schlange näher, bezüngelt ihre Beute, reißt den Rachen auf, umfaßt den Kopf der Maus und würgt sie hinab. Dann kriecht sie auf ihren Lauerplatz zurück. Eine Stunde liegt sie fast regungslos da, dann aber kommt wieder Leben in ihre Augen. Ein Sumpfmeisenpärchen turnt in dem Schlehenbusch umher, der an der anderen Seite der Eiche steht. Behutsam schiebt das Untier sich voran; sind auch die Meisen oben im Busch, vielleicht kommen sie tiefer.
»Sieh, sieh da, da!« ruft das Meisenmännchen und pickt ein Räupchen nach dem anderen aus den Blütenknospen. Aber da unten, dicht über der Erde, sind die Knospen schon aufgeblüht, und aus jeder dritten läßt sich ein dickes, fettes Räupchen an einem Faden in das Moos hinab. Immer tiefer turnen die beiden grauen, schwarzmützigen Vögelchen, und jetzt huscht das eine auf den Boden und pickt die Räupchen aus dem Moore. »Piep!« sagt es auf einmal, flattert in die Höhe, fällt herunter, schlägt mit den Flügeln, zittert und bleibt tot liegen. Entsetzt fliegt das Männchen näher, jammert schrecklich und flattert hin und her, und schließlich fliegt es zu dem Weibchen hin. Da schnellt der Otterkopf noch einmal aus dem welken Grase heraus, und gleich darauf liegt auch das Männchen tot da.
Zwei Tage und zwei Nächte verdaut die Otter, dann bekommt sie neuen Hunger. Eine Wasserspitzmaus, die am Grabenrande nach Raupen sucht, fällt unter den Giftzähnen, und ein Moorfrosch, der sich an der Sonne freut und auf Mücken jagt, hat dasselbe Schicksal. Auch das Zaunkönigweibchen, das in dem Schlehenbusche nach Spinnen sucht, stirbt einen schnellen Tod, und die Feldmaus, die hastig durch das alte Laub huscht, hält mitten im Laufen inne, piept auf und fällt um. Die alte Otter war gar nicht dumm, als sie sich diese Stelle hier als Stand wählte, Feld, Moor, Weide und Wald stoßen hier zusammen, und so gibt es Beute von aller Art, Feldmäuse, Waldmäuse, Zwergmäuse, Spitzmäuse, vielerlei Frösche für den Notfall und so manchen kleinen Vogel. Es läßt sich hier schon leben.
Das meinen die Hütejungen auch, die mit ihren Kühen angesungen kommen. Da ist der Wald, in dem es später allerlei Beeren und auch Nüsse gibt; hier ist der Teich, darin kann man baden, wenn es sehr heiß ist. Und dort ist die Moosbank, auf der es sich so weich sitzt, und von der aus man, ein tüchtiges Butterbrot in der Hand, so weit über die Feldmark und das Moor bis zu dem blauen Walde sehen, den Storch in der grünen Wiese und den Bussard am blauen Himmel beobachten kann. Hasen kommen an, Rehe ziehen vorüber, Kiebitze, Krähen und Elstern zeigen sich, am Graben huschen Eidechsen, quaken Frösche. Bunte Käfer rennen hastig über den Sandweg, wenn sie auffliegen, blitzen sie wie Edelsteine. Allerlei Schmetterlinge fliegen und rote Wespen, die Spinnen und Raupen in ihre Erdlöcher schleppen. Es ist sehr viel los an dieser Stelle.
Aber die Moosbank ist über Winter etwas baufällig geworden, sie muß ausgebessert werden. Konrad geht Moos holen, und Krischan räumt das alte Laub und das verwelkte Gras fort. Gerade als Konrad mit dem alten Sack, der ihm als Regenmantel dient, voller Moos zurückkommt, schreit Krischan auf und hält seinen Bruder mit kreidebleichen Gesicht die Hand entgegen. Er ist der Otter zu nahe gekommen, und sie hat ihn in den Finger gebissen. Im Sturmschritt rennen beide Jungen dem Dorfe zu. Der Vater unterbindet die Wunde, die Mutter macht einen Umschlag von dicker Milch, der Knecht spannt an, und der Vater fährt, so schnell die Pferde nur laufen können, zum Kirchdorfe, wo der Arzt wohnt. Der schneidet den Finger an und macht Einspritzungen, und nach vierzehn Tagen kann Krischan denn Arm wieder bewegen; wenn aber ein Gewitter heraufzieht, tut ihm der Arm noch sehr weh.
Es war ein schwüler Maitag gewesen, als die Otter den Jungen biß, einer von den Tagen, an denen die Ottern Heißhunger haben. Da nun die Jungen bei der Moosbank soviel Unruhe gemacht hatten, ließ sich weder Maus noch Vogel blicken, und da es mit der Anstandsjagd nichts wurde, ging die Schlange auf die Pirsche. Sie war schon dicht bei dem Waldrande, in dessen Vorbüschen sie Jungvögel nach Futter piepen hörte, da flog ein großer Vogel aus der Zitterpappel. Es war des Bussard, der hier auf Mäuse lauerte. Froh über die fette Beute, stieß er herab, faßte die Otter hinter den Kopf und über den Rücken, biß ihr den Kopf entzwei und flog gerade auf, um sie seinen Jungen zuzutragen, da kam der Jäger um die Ecke, riß das Gewehr an den Kopf und schoß den guten Vogel tot.
Als er ihn aber aufnahm, sah er, daß der eine Kreuzotter in den Fängen hielt, und da schämte er sich doppelt; denn im vorigen Sommer war ihm seine Teckelhündin an dem Bisse einer Otter eingegangen.
Über Nacht war eine Hauptneue gefallen. Weiß und weich lag sie auf der Heide.
Nirgendswo war ein Büschel Heidkraut zu sehen; die Wacholder hatten weiße Röcke angezogen; der Kiefern dunkle Locken waren weiß geworden über Nacht.
Hungrig krächzten die Krähen über die weiße Wüste, sie fanden kein Futter; hungrig rief der Kolkrabe über die verschneite Heide; er traf keinen Raub an; hungrig schnürte der Fuchs durch das pfadlose Moor, es gab nichts zu reißen.
Als die letzten Sonnenmale auf dem Schnee verblichen, als die Stämme der Kiefern ihren roten Schein verloren, als Stern auf Stern am Himmel schien, das knirschte der harte Schnee.
Große schwarze Schatten mit langen Hälsen und hohen Lauschern schoben sich aus dem Stangenort, zogen in die Heide, machten halt, sicherten, zogen weiter, verhofften wieder, wenn die aufhakende Eule im Holze einen dürren Ast aufstieß, und zogen tiefer in die Heide hinein, den Feldmarken des Dorfes zu.
Als im Westen der allerletzte Schimmer zwischen Heide und Himmel verloschen war, brach es wieder im Holze, knirschte der Schnee wieder in der Heide; dicke, schwarze Klumpen tauchten auf, bliesen laut lange Dunstwolken vor sich hin, pflügten mit den Gebrächen den Schnee auf, bliesen wieder und trollten über die Heide.
Als sie an dem alten Dietwege angelangt waren, da preschte das Leittier zurück und die alte Bache verhoffte; denn über die Heide kam etwas heran, es kam mit dem Winde und hatte keine Witterung, es ging über dem Winde und ließ sich nicht vernehmen.
Regungslos erstarrt, nur die Lauscher regend und mit den Gehören spielend, stand das Rotwild da, verhofften die Sauen, vergebens zogen sie den Wind ein, er brachte ihnen keine Kunde; das Leittier machte einen großen Bogen nach Norden, die Bache trottete im Halbkreise nach Süden, dann stob das Rudel hierhin und die Rotte trollte dahin.
Quer über die Heide aber kam ein Mann; der war lang und dünn, hatte einen roten gelbverschnürten Rock an, einen Dreispitz auf dem Kopf, weiße Lederhosen um die dürren Schenkel und umgeschlagene Krempstiefel an den Füßen; um die Schultern hing die Rüdemannspeitsche; an der Hornfessel das gelbe Horn, die kurze Feuerschloßbüchse hatte er über das Kreuz geschoben und recht bequem die weißbehandschuhten Hände über Kolben und Mündung gelegt; ein Dutzend Fixköter aller Arten schnüffelten hinter ihm her.
Der Mann und die Hunde traten den harten Schnee so leise, daß er nicht knirschte; die Hunde hatten alle nur drei Läufe, kein weißer Dunst kam aus ihren Nasen, und auch der Mann hatte keinen Sichtbaren Atem, und er ging doch so schnell und die Luft war so kalt.
Wo die Fährten des Rotwildes den Schnee narbten, da blieb er stehen; er bückte sich tief, legte die vier Finger der rechten Hand in die eine Fährte, lächelte, nickte und prüfte die andere starke Fährte ebenso, auch wo die Sauen sich fährteten, blieb er stehen und sah sich die Fährten an, und die Hunde streckten ihre Nasen hinein.
»Zwei jagdbare Hirsche, ein angehender Keiler und ein hauendes Schwein,« rief da eine Stimme. Die Hunde sträubten die Rückenhaare und knurrten, aber dann drängten sie sich winselnd und wedelnd um den Mann, der sich aus dem Schatten des breiten Wacholderbuches erhoben hatte; er trug eine Otterfellmütze, einen grünen Jagdkittel ohne Gürtel, ein Dachsholster an der Seite und hatte einen langen Vorderlader umgehängt; die Beine steckten in dicken Manchesterhosen, und der trug derbe Nagelschuhe und gelbe Knöpfgamaschen.
»Na, Eidi, schon lange da?« fragte der Mann im roten Rock und gab dem Grünkittel die Hand. Der lächelte still in seinen krausen rotbraunen Bart und nickte: »Oh ja, schon eine ganze Weile! Solange wenigstens, daß ich das Wild nicht vergrämte, wie andere Leute!« Der Rostrock lachte und meinte: »Die Luft ist mächtig kalt heute Abend; da täte ein kleiner Schluck gut,« und Grünrock lächelte wieder, holte aus seinem Holster eine dicke, runde Flasche, auf die ein feuerroter Hirsch und ein schwefelgelbes Reh, von giftgrünen Blattwerk umrankt, gemalt waren, nahm den Pfropfen ab, trank einen Schluck, setzte den Pfropfen wieder auf und reichte die Flasche dem Rostrock, der auch einen guten Zug tat.
Der Grünkittel schlug mit Stahl und Stein Funken in den Schwamm, legte ihn in seine kurze Pfeife, gab dem Rostrock glimmenden Tabak ab, der damit seine Tonpfeife in Brand setzte, und dann pfiff der Grünkittel dreimal gellend auf den Fingern. Da tauchte unten auf dem Dietwege eine Gestalt auf und kam näher. Es war ein bartloser Mann mit schlauem Fuchsgesicht, ganz in verschossenen Manchester gekleidet, trug er Kniestiefel, eine alte grüne Mütze, einem Rucksack aus Sackleinwand und eine Lesaucheuxbüchsflinte. »Nanu,« sagte der Rotrock, »was ist denn das für ein Gast?« Der Grünkittel lächelte wieder: »Der Mann aus Magenhagen, Helljäger, den vorigen Herbst der Deubel geholt hat. Hast du davon nichts gehört? Der kleine Förster aus Öbese war fixer als er. Weidewund, in einer Stunde tot. Bißchen einfacher Kerl, Pötter heißt er, aber doch besser als dritter Mann beim Solo als der Mondschäfer, der das Faulspielen nicht lassen kann. Und man kann mit ihm noch über Wild und Weidwerk reden.
»‘n Dag«, sagte der Ankömmling, zog langsam die Hand aus der Hosentasche und gab sie erst Eidi und dann dem Helljäger. »Heute Nacht müßte man ablappen: das ganze Zeug steht vor dem Dorfe im Holze. Zwei davon haben tüchtig auf.« Dann holte er ein Schwefelholz aus der Tasche, steckte sich eine Zigarre an und dampfte bedächtig.
Der Helljäger, der den Mann erst sehr von der Seite angesehen hatte, machte ein freundliches Gesicht, als er ihn so reden hörte, aber er meinte: »Ach was Jagd, ich danke; habe genug gejagt in meinem Leben; das bißchen Wild, das hier noch ist, können sich andere holen. Mich verlangt nach einem Solo und einem vernünftigen Gespräch. Man liegt sich ja krumm und dumm unter dem Rasen und weiß nicht mehr was, auf der Welt vorgeht. Holla, voran, die Nacht ist kurz!«
Da stiefelten denn die drei los, den Heidberg hinauf, den Dietweg entlang, in den alten Stangenort hinein, und wo der fünf uralten Steingräber weite Mäuler gähnten, da machten sie halt; Eidi räumte den Schnee vor dem größten Grabe fort, Pötter holte Steine zum Sitzen herbei, und der Helljäger sorgte für Brennholz.
Bald leuchteten rote Flammen aus der alten Steinkammer heraus, der Schnee taute von den Rändern der gewaltigen Steinplatten, und der Rauch zog durch die Wipfel der Kiefern; und hinter dem Feuer hockten die drei, ließen die Flaschen kreisen, dampften ihre Pfeifen und schmetterten die Karten auf dem alten Stein, daß es knallte.
Das Feuer und der Wacholderbranntwein taten bald ihre Schuldigkeit; die Köpfe glühten, die Augen glänzten; der Helljäger brüllte mit lauer Kehle das Lied: »Der Wilddieb Eidi war ein Mann von großen Geistesgaben,« und Eidi lächelte geschmeichelt. Langte aus Pötters Rucksack noch eine Steinkruke und trank dem Helljäger zu nach alter Art; lustig klang das durch den stillen Wald: »Helljäger, eck seih di!« »Eidi, dat freut mi!« »Eck sup deck to!« »Man to, man to.« »Eck hebb deck tosopen.« »Hest den richtigen dropen!« »Prost!« »Prost!« »Prost!« »Hoo-Rüd-Hoh! Wahrtoo min Hund, wahrtoo!«
Mächtig aufgekratzt waren die drei, ganz gewaltig, und als der Mondschäfer ankam, da ging das Leben erst recht los und eine Jägergeschichte nach der andern ging um; der Helljäger erzählte, wie er einmal drei Sauen hintereinander habe auf eine Feder auflaufen lassen, und Eidi beschrieb, wie er den Achtzehnender den ein hoher Prinz erlegen sollte, zehn Minuten vorher geschossen habe, ehe der hohe Herr ankam: »Junge,« sagte er und lachte, »da hieß es aber auskratzten. Ich mußte man machen, daß ich das Geweih herausschlug, und dann heidi! Es fehlte nicht viel, dann hatten sie mich. Aber ich goß mir Schnaps auf die Sohlen, und da verlor der Hund die Fährte. So ein kleiner Schnaps ist immer gut!«
Der Helljäger lachte und forderte Pötter auf, auch ein Stückchen zu erzählen, aber als der von gewilderten Böcken und Ricken anfing, da lachte der Rotrock: »Schöne Jagd das! Rehe, darauf pfiffen wir zu meiner Zeit; mit der minderen Jagd gaben wir uns nicht ab; der edle Hirsch und die ritterliche Sau, alles andere ist doch man zahme Jagd. Wenn ich noch an den Vierundzwanzigender denke, den ich meinem lieben Kameraden Bideloh hundert Schritt vor dem Hause wegschloß« hahaha! und an die andern alle! bis sie mich dann erwischten; und als sie mir den Ruß aus dem Gesicht wischten, na, die Gesichter! ›Donnerslag‹ sagte der Bideloh, ›und Haubitzen, das ist ja, unser Gehegereuter. Dacht’ ich’s doch!‹ Wäre ich nicht dot gewesen, ich hätte mich dot gelacht damals!«
Sie lachten, der Helljäger, Eidi und Pötter, die drei Heidejäger, die alle mit einer Kugel ihr Freijagen gebüßt hatten, und sogar der Mondschäfer lachte lauthals mit; denn der hatte auch keine Grenzen gekannt und immer über den Grenzgräben gehütet; und als sie mitten im hellen Lachen waren, da schoben sich zwei lange, mit Lederhosen bekleidet riemenumschnürte Beine in die Steinkammer, und hinterher ein langer Oberleib in Buntbenähter Lederjacke, und darauf saß ein schmaler, blondbärtiger Kopf, den eine Bärenfellmütze bedeckte, und der fremde Mann lachte und sagte: »Ihr machtet solchen Lärm, daß ich aufwachte in meinen Hügel. Was habt ihr denn zu trinken? und ich bin Hennecke, das Wulfes Sohn!« Die anderen sahen ihn sich genau an. Es war ein stattlicher Kerl; er hatte eine langstielige Axt aus Bronze im Gürtel und ein breites Messer und über den Knien ein kurzen dicken Speer mit handbreitem Stichblatt liegen. Der Mann lachte, als der Helljäger von den Hirschen erzählte: »Ist mir eine schöne Jagd für Männer! hohoho! Unsere Jungens jagten den Hirsch, aber die hohe Jagd auf den Bär und den wilden Ochs, das war Manneswerk; den Bären habe ich mit dem Speer kalt gemacht und den wilden Ochsen mit dem Messer; das war anders damals hier; nicht lauter Fuhren: Eiche bei Eiche! und auf der Eiche saß ich, über dem Wechsel, und wenn die wilden Ochsen kamen, dann herunter, auf den Puckel gesprungen; Messer in das herz! Das war noch eine Jagd!«
Der Helljäger machte ein langes Gesicht, als der Longobarde so prahlte, Eidi auch und Pötter erst recht. Aber da kam schon wieder ein neuer Gast, ein breitschultriger, langarmiger, kurzbeiniger, kleiner Kerl mit braungelben Gesicht, Schiefen Augen, breiten Backenknochen und öligem, schwarzen Haar, das in einem Knoten auf dem Scheitel zusammengewickelt und mit Bernsteinperlen durchflochten war; Fell umhüllten ihn, in seinem Gürtel steckten Steinbeil und Flintmesser, und seine breite Faust umspannte einen dicken Bogen und lange dünne Pfeile. Mit rauhen Kehltönen begrüßte er die Gesellschaft; Krwo hieß er, und habe hier früher auch gejagt, ehe die Longobarden im Lande saßen. »Bär und Ochs, die gab es damals auch, aber besseres Wild noch: den Riesenelefanten trieben wir in die Todesgrube, das Nashorn erschlugen wir mit dem Fallspeer, den Höhlenbären stachen wir im Lager tot, und unsere jungen Söhne erlegten den Riesenhirsch und den Schelch, den Bisamochsen und das Ren. Damals lohnte es sich noch Jäger zu sein. Unter diesen Steinen haben meine Leute meine Asche begraben, als meine Hände anfingen zu zittern und mein ältester Sohn mir mit dem Steinhammer den Ehrenhieb gab; und dreißig Gefangene gaben sie mir als Geleite mit. Ja, das waren Zeiten!«
Der Fremde saß und sann; in seinem blau tätowierten Gesicht glänzten die schwarzen Augen. Als ihm Eidi die Flasche bot, da zog er gehörig, seine Backen röteten sich und mit hohler Fistelstimme begann er zu singen: »Unsere kleinen Söhne jagen den Schelch und töten ihn in dem Moore; unsere jungen Männer jagen den Mordbären und töten ihn in dem Walde; wir Männer aber hetzen den Elefanten in die Grube, wenn unsere Weiber nach Fleisch schreien. Und alle Jahre einmal ziehen wir weit weg, ein besseres Wild zu jagen, wir Männer vom Stamme der roten Hunden; dann rauchen die Hütten der anderen Stämme, ihre Weiber weinen, unsere Hände sind rot und unsere kleinen Söhne schießen nach den Gefangenen an den Pfählen, und ihre Schwestern jubeln dabei.«
»Den Deubel auch,« sagte der Helljäger und stieß Eidi an, »das scheint ein schöner Bruder zu sein. Phui Luder! Ein Menschenjäger, hat am Ende Menschenfleisch gefressen.« Auch der Longobarde rückte von dem Kopfjäger fort, Pötter machte ein ganz verbiestertes Gesicht, und der Mondschäfer sagte, er müsse nach seinen Lämmern sehen. Der Mann mit dem Steinmesser aber höhnte die anderen, nannte ihr Jagen ein Knabenspiel und ein Kinderweidwerk, und im Handumdrehen gab es Zank und Streit, und durch den stillen Winterwald klangen Zankworte und Schimpfreden. Da trug der Wind vom Dorfe das Läuten der Neujahrsglocken heran, der Mondschäfer löste sich im Nebel auf, der Helljäger zerfloß in Dunst, der Longobarde verschwand wie ein Schatten, Eidi verblaßte zu einem Schemen und der Steinzeitmensch und Pötter, der Wilddieb, verloren sich in der grauen Luft.
Nicht viele deutsche Städte können sieh rühmen, eine eigene Luft zu haben, vorzüglich Berlin nicht, obgleich seine Spezialdichter und Lokalfeuilletonisten recht viel von Berliner Luft singen und sagen.
Die Größe und Bedeutung einer Stadt kommt hier nicht in Frage; Göttingen hat zum Beispiel eher eine Luft als Hannover, wenn auch nicht in dem Maße wie München, Leipzig, Hamburg oder Münster.
Um diese Luft hervorzubringen, gehört einmal eine eigene, durch die geographischen und politischen Verhältnisse bedingte Geschichte und eine daraus entstandene gewisse Abgeschlossenheit dazu, der wieder eine Vorherrschaft der alteingesessenen Bevölkerung und eine Stabilität der gesellschaftlichen und sozialen Einrichtungen und Formen entspricht; zeigt sich auf diesem Untergrunde noch einigermaßen selbständiges geistiges Leben, hat sich noch eine bodenwüchsige Bauweise erhalten und treten noch allerlei kleine Eigenheiten in Lebensart und Sitte hervor, dann ist die eigene Luft da, und der Name des Ortes wirkt dann nicht nur als geographischer Begriff, sondern als sinnenfälliger Gegenstand.
Das ist bei Münster in hohem Maße der Fall; wer die Stadt kennt, sieht, wenn er auf ihren Namen stößt etwas Festes vor sich: eine graue Steinarchitektur in grünem Laubwerk, in der sich ein von bunten Prozessionen und tollem Mummenschanz unterbrochenes bürgerliches Leben abspielt, ein behäbiges Leben, wie es seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sonst fast überall in Deutschland verschwunden ist, das sieht er und hört die breite gemütliche Sprache, riecht den Duft von Weihrauch und Backöl, und er empfindet den würzigen Geschmack des eigenartigen Gebräus, das man dort verzapft; auf diesem Hintergrunde tauchen dann einzelne Menschen und ganze Gruppen auf, die Wiedertäufer, Fürstbischof Bernhard von Galen, das bunte Leben bei dem Abschlüsse des westfälischen Friedens, die Gräfin Gallitzin und ihr Kreis, die feinen Züge der Dichterin vom Rüschhaus, die derben des Professors von der Tuckesburg. Man hat etwas bestimmtes vor sich, denkt man an Münster.
Schon das Land, in dem die Stadt liegt und dem sie den Namen gab, das Münsterland, hat das, hat seine Luft, allein schon in meteorologischer Beziehung : es ist auf drei Seiten von Bergen umschlossen, nur nach Westen geöffnet; so ist es überreich an feuchten Niederschlägen, hat einen sehr hohen Grundwasserstand, ein sehr gleichmäßiges, an kalten Wintern und heißen Sommern armes Klima. Auch seine geologischen Verhältnisse zeigen dieselbe Ausgeglichenheit; alle möglichen Bodenformationen kommen dicht beieinander vor, und wenn das Land es auch hier und da zu netten Hügelchen und hübschen Berglein bringt, so vermeidet es doch alle Gewagtheiten und Schroffheiten: Bäche und Flüßchen, Trümpel und Teiche sind reichlich vorhanden, ein Strom und ein See fehlt; Büschchen und Hölzchen trifft man auf Schritt und Tritt an, große Waldungen wenig; die Gegensätze zwischen Heide, Busch und Bauland werden durch die Wallhecken überall hübsch ausgeglichen; die Tier-und Pflanzenwelt ist mehr durch das Fehlen einiger weitverbreiteter, als durch das Auftreten ausgezeichnet; kurz und gut: das Münsterland zeigt in naturwissenschaftlicher Beziehung den Zug zu philisterhaft genügsamer Durchschnittlichkeit. Diese Neigung verleugnet das Land auch nicht bei seinem Volke. In körperliche Hinsicht ist es ein guter Durchschnittsschlag, der eher zur Beleibtheit als zum Gegenteil neigt; unter den Frauen finden sich viel Schönheiten, doch mehr von der bekömmlichen als von der aufregenden Art. Rede und Geste des Münsterländers ist bedächtigt, die Sprache breit und behäbig und reich an Eigenheiten, der Gesichtsausdruck von heiterer Gelassenheit : sehr erklärlich für die Bewohner eines Landes, dessen Beschaffenheit ihnen weder Not noch Sorge macht, ihnen auch keine Aufregungen beschert und keine Strapazen auferlegt, sie also nie aus dem seelischen und körperlichen Gleichgewichte bringt. Dem dadurch erzeugten Behäbigkeitsgefühle entspricht wieder eine bedächtige Wertschätzung von Speise und Trank, Ruhe und was sonst das Leben angenehm macht; man ist oft und gern und übereilt sich dabei nicht, und hält es mit dem Trinken ebenso, und obgleich dort, wie das feuchte Klima es einmal mit sich bringt, viel getrunken wird und schwere Getränke geschätzter sind als leichte, so fällt die Wirkung im Durchschnitt nicht so unangenehm auf wie in Gegenden, wo mit dem schnellen Blut der Alkohol schneller durch die Adern fließt. Auch in geistiger Beziehung ist der Münsterländer ein Erzeugnis seines Landes, er ist ein Philister im besten Sinne, das Muster eines guten Untertanen. Wie ihm die Oberflächengestaltung seines Vaterländchens keine weite Aussicht gestattet, denn überall beengen Wallhecken oder Büsche oder Hügelchen seine Blicke; so hat er auch seine geistigen Augen auf die Nähe eingestellt und kümmert sich nur um das Erreichbare und Reale, zumal für die spekulativen und mystischen Untergrundschichten seiner Seele in auskömmlicher Weise von der Kirche gesorgt wird. So kommt es, daß trotz der verhältnismäßig sehr großen Begabung und Bildung des Volkes wirklich große Menschen so selten sind, daß sie, wie der streitbare Bischof Bennatz von Galen und wie der Vorspuk der modernsten deutschen Dichtung, Annette von Droste-Hülshoff, mehr als Gegensätze zu ihrem Volke und mehr als Ausnahmeerscheinungen, denn als Verdichtungsergebnisse der latenten Volkseigenschaften aufzufassen sind; das zeigt sich schon darin, daß die beiden größten Münsterländer bei Lebzeiten in ihrem Vaterlande nicht verstanden wurden, und heute noch haßt der Münsterländer den genialen Kirchenfürsten, heute noch schätzt er von der Dichterin nicht ihr Bestes, nämlich ihren Zug zum Dämonischen. Dieser Zug fehlt ihm aber selber auch nicht, wie die unzähligen, seltsamen und oft unheimlichen, aber stets vor hoher dichterischer Anschauung durchtränkten Sagen und Märchen beweisen, die in seiner Heimat entstanden; aber nur einmal hat er diesen Zug, dessen Vorhandensein erklärlich ist bei einem Volke, dessen Leben von der Natur und der politischen und religiösen Verfassung mit engen Wallhecken umgeben wurde, in die Tat umgesetzt, hat nur einmal die politisch-religiöse Formel dafür gefunden, in der Wiedertäuferbewegung nämlich; da ihm das aber herzlich schlecht bekam, so mißtraute er seit den Tagen des Jan van Leyden diesem Zuge seine Seele und unterdrückte ihn nach Kräften, bildete den Hang zur Bequemlichkeit immer mehr aus und vermied jahrhundertelang alles, was geeignet erschien, seines Lebens Gleichmaß zu unterbrechen.
So wie seinem Lande alles Gewaltsame und Großartige fehlt, so meidet auch er es, und sogar seine Kirchenbauten verraten die Abneigung dagegen, sich über das allgemeine Niveau zu erheben: fest und wuchtig stehen sie auf dem Boden, sind reichlich mit allem versehen, was dazu gehört, aber damit hört es auch auf; ihre Türme wurden entweder nicht fertig, oder geschah es einmal, daß einer von ihnen, wie der Lambertiturm, über das durchschnittliche Maß hinauswuchs, so ging es ihm, wie es Annette von Droste-Hülshoff ging, man duckte ihn. Hochragende Türme und in das Blaue strebende Menschen verträgt die münstersche Luft nicht, und erst heute, seitdem Eisenbahn, Industrie und Fremdenzuzug ihre Ungemischheit zerstörten, brachte man es fertig, dem Lambertiturm wieder eine Spitze zu geben; aber sie wirkt ebenso unorganisch in dem Gesamtbilde der Stadt wie die elektrische Bahn, die durch die alten Straßen saust, wie die Fabrikschlote, die sich über die spitzen Ziegeldächer erheben, wie die prunkvollen Anlagen an der Stelle der alten Wälle und Stadtgräben, wie die breiten Straßen und modernen Häuser der neuen Stadtteile, vor denen die engen Heckenwege verschwinden mußten, und wie noch vieles andere, das sich eifrig bemüht, des alten Münsters Eigenart zu durchbrechen oder zu verdrängen und seine Lust zu verdünnen.
So heftig wie vor zehn Jahren ist die münstersche Luft freilich nicht mehr. Das sieht man schon aus dem Rückgang des Altbierverbrauchs. Die alten gemütlichen Kneipen, in denen freundliche, saubere, echt komplett von der Natur ausgestattete Mädchen mit hellblonden Haaren und Gesichtern wie Milch und Blut das eigentümliche Gebräu kredenzten, das dem echten Münsteraner gerade so gut schmeckte und bekam, wie dem Fremdling schlecht, verschwinden vor den banalen Bierhallen und Restaurants mit ihren banal befrackten Kellnern, die dem Gaste dieselben banalen Getränke bringen, wie überall in Deutschland. Einige dieser alten Brau-und Schankstätten haben sich aber noch erhalten, und wenn das bürgerliche Leben dort auch nicht mehr so ausschließlich zusammenfließt wie vordem, ein Teil blieb ihm noch treu. Die hastige Zeit, die viel mehr Arbeit verlangt als früher der Fall war, erlaubt dem Handwerker und Kaufmann freilich kaum mehr seinen zweistündigen Frühtrunk und sein Dämmerschöppchen von sechs bis acht Uhr, wie es vor einem Jahrzehnt noch allgemein üblich war, und zur geselligen Unterhaltung und Erholung nimmt man immer mehr die Zeit nach dem Abendessen. Auch die Reihe der langen Pfeifen an den Wänden hat sich gelichtet; man ist nicht mehr bequem genug, um sich diese Bequemlichkeit leisten zu können, und zieht mehr und mehr die Zigarre vor. So zahlreich wie früher ist die Gesellschaft an den weißgescheuerten Eichentischen der sauberen, gemütlichen Altbierküchen auch nicht mehr, und nicht mehr so bunt und gemütlich wie früher, als alle bürgerlichen Stände dort vertreten waren; der alte Zunftgeist verschwand, aber der neue, der das Volk in religiöse, politische und soziale Schichten zerschnitt, kam, und Münsters Bürgerschaft ist nicht mehr, wie ehedem, die eine große Familie, die sich, wenn auch hier und da mehr schlecht als recht, so doch leidlich vertrug. Wie man einst Königsberg die Stadt der reinen Vernunft nannte, so konnte, nein, mußte man Münster die Stadt der reinen Gemütlichkeit nennen. Was war das Leben dort früher gemütlich. Nirgendswo lebte man ein gemütlicheres Familienleben; nirgendswo, wie zu Münster unter dem Bogen, gab es ein gemütlicheres, für die jüngere Welt mit allerlei zärtlichem Beiwerk verbundenes Bummeln; nirgendswo saß man mit solcher von keinen Gedanken an das Geschäft und den Beruf getrübten Gemütlichkeit im Wirtshause, nirgendswo ging man so oft langsamen Schrittes bis zum nächsten Kaffeehaus vor dem Tore, wo es einen so herrlichen Kaffee, so prächtigen Korinthenstuten, so leckere Stippmilch und so deftige Schinkenbutterbrote gab. Ja selbst das kirchliche Leben entbehrte nicht der gemütlichen Zuge: es war zu sehr mit dem Volkstum verwachsen, um nicht ein gutes Stück irdische Sinnlichkeit daraus abzukommen. Bei ihren fröhlichen Spielen sangen die Kinder auf der Straße einen gereimten Katechismus und bettelten sich von jedem Vorübergehenden Geld zur Lambertifeier zusammen, so daß selbst der Protestant lächelnd seinen Groschen in die ausgestreckte Kinderhand legte und so sein Teil dazu beitrug, daß Sünte Lambert abends gehörig geehrt werden konnte.
Aber alle weltlichen Freuden übertraf doch das Fastnachtsfest. Damals, als jedweder jeden kannte und jedweder mit jedem in irgendeinem nahen oder entfernten Grade verwandt oder verschwägert oder intim befreundet oder noch intimer verfeindet war, da war Fastnacht noch etwas; heute aber, wo man von zehn Menschen kaum einen beim Namen kennt, ist das Beste davon fort, und wenn nicht die Fastnachtsspiele im Zoologischen Garten dem Karneval Jahr für Jahr sein echt münstersches Gepräge gäben, dann wäre es heute nur noch eine dreitägige Massenalkoholisierung, wie sie ebensogut! an anderen Orten bei Schützenfesten passiert.
Die Fastnachtsspiele der Zoologischen Abendgesellschaft aber bringen noch immer echt münsterischen Humor in das Fest, und wie seit zwanzig Jahren, so ist auch heute noch der große Saal immer voll von frohen Menschen aller Volksklassen, und mag das Stück, das Natzohme oder, wie er im bürgerlichen Leben heißt, Eli Marcus, seines Zeichens Schuhwarenbesitzer und Poet dazu, verfaßte, so oder so heißen, und mag auch des Dichters meist harmlose, oft aber auch ein bißchen bissige Satire dies oder das verspotten, das Stück zieht Abend für Abend.
Wenn auch der Mann, auf dessen Veranlassung diese Fastnachtsstücke entstanden, Hermann Landois, dessen ganzes Dasein ein Kampf gegen die Verdünnung der münsterischen Luft war, nicht mehr am Leben ist, sein Geist wirkt auch heute noch der Verflachung des Münsteranertums entgegen, und alle Jahre Fastnacht erscheint er wieder und durchdringt Münsters ganzes Leben. Wer einmal eine Fastnachtsvorstellung in dem bunt und schnurrig aufgeputzen Saale des Zoologischen Gartens miterlebte, wer einmal die tollen allgemeinen Lieder mitsang, einmal altmünstersches Leben auf der Bühne sich abspielen sah, der ist zum Verständnis für die Art des Lebensführung gekommen, wie sie einst allgemein Münster beherrschte, um sich jetzt langsam auf immer kleinere Volksbestandteile zurückzuziehen, deren Mitglieder, unfähig, sich der modernen Zeit anzupassen, langsam oder schneller samt allem, was münsterisch ist, zugrunde gehen. Manches davon muß verschwinden, weil es veraltet und überlebt ist; aber mit ihm vergeht vieles, das schön und erhaltenswert ist, und selbst in dem Verbrauchten und Unzeitgemäßen steckt ein Teil von der Macht, die dem ganzen Leben den Zug einheitlicher Kultur verlieh; der Drubbel, dieser seltsame Häuserblock, ist gewiß ein großes Hindernis für den Verkehr, aber fällt er, so fällt vielerlei mit ihm, vor allem der Sinn für die farbige Wirkung der alten Namen und für die plastische Sprache vergangener Tage, und an seine Stelle tritt der banale Geist des bureaukratischen Schematismus und sucht, was er verschlingen könne.
Alte, liebe krause, schnörklige Straßennamen, wie Tasche und Katthagen und Brink und Krummer Timpen, erregen dann mißfälliges Nasenrümpfen und werden nach der Schablone umgetauft: die vorspringenden Geschosse der Häuser entsprechen den stadtbauamtlichen Anschauungen nicht mehr und müssen zurück in Reih und Glied; so geht ein Stück münsterschen Lebens, ein Teil münsterscher Luft nach dem ändern fort, Münster wird eine Stadt wie jede andere, in der die alten Kirchen und Adelshöfe ebenso anachronistisch und unorganisch wirken, wie es die lächerlich hohe Mariensäule, deren fabrikschornsteinartige Gestalt die wuchtige Dachlinie der Ludgerikirche so rücksichtslos überschneidet, heute schon tut… Aber der Sinn für das deftige und Einfache schwindet immer mehr; man sieht es an der Jugend. Vor zwanzig Jahren vermied der münsterische Gymnasiast ängstlich alles, was an Komiseleganz erinnerte; der grüne Jagdhut; der derbe Eichenstock dunklen ihm nach dem Spruche: »Feine Kerls brauchen keine feinen Sachen«, standesgemäß. Heute trägt er den schwarzen Geschäftshelm, den Kragen mit Rückantwort und das bleistiftdünne Flanierhölzchen, als wäre er ein angehender Börsianer; er ist nicht mehr so vierschrötig und setzt nicht mehr allen Ehrgeiz auf die unregelmäßigen griechischen Verba, er hat Formen bekommen, kann Tennis spielen und flirten, verkehrt im Café und in der Konditorei, von Altbier wird ihm schlecht, die lange Pfeife erscheint ihm pöbelhaft, was ein Töttchen ist, weiß er nicht, und den Glauben an das Dasein des Wurstbrötchens hat er längst eingebüßt.
Der Jugend gehört die Welt, und darum wird die Welt so, wie die Jugend es wünscht, und da Münster seit einiger Zeit auch in der Welt liegt, so wird auch Münster so. Schon weiß die hübsche junge Wirtin in der altbekanntesten Altbierwirtschaft nicht mehr, was ein Bennätzken ist; schon gibt es in Münster Menschen die noch niemals Stockfisch und Buchweizenstruwen aßen, eine Wallhecke nach der anderen fällt unter der Axt, durch die stille Heide geht der Kanal, und wo einst Dokter Longinus noch allerlei Tierzeug für das Museum jagte, da fiedelt jetzt polnisches Volk. Ach ja, es wird alles anders, oder ward es schon. An Stelle der alten Kaffeehäuser aus Fachwerk treten prunkvolle steinerne Restaurants mit zwei Stockwerken, kein Mensch mag mehr Knabbein, Studenten mit geflickten Hosen gibt’s es nicht mehr, sechzehnjärige Mädchen, spricht man ihnen von Liebe, kriegen schon Heiratsgedanken. Aus Adelshöfen wurden Bierbrauereien und stilvolle Weinstuben, die Verkäuferin im Laden fragt: »Sie wünschen?« anstatt des alten trauten »‘s che-fällig?« Das schöne Tanzlied »hopp Marjänchen« sank in des Vergessens Nacht, kein Dienstwicht mag mehr Holsken tragen, schlechter Kognak ersetzt den guten alten Klaren, im Zoologischen Garten fügen sich selbst die Tiere dem Reglement und brüten dort, wo es die Direktion befiehlt, und selbst die Appeltiewen unter dem Bogen zwingen sich zu einer gewissen Freundlichkeit gegen ihre Abnehmer.
So schwindet dies, so schwindet das, und weicht vor der neuen Zeit, die langsam, aber sicher aufräumt mit der münsterschen Luft.
Auf der Heide vor dem Dorfe lagen Zigeuner; ihre Weiber waren fett, ihre Pferde mager. Und mager waren auch die Hunde, die unter den einen Wagen gebunden waren.
Es waren drei schottische Schäferhunde, ein gelber Weimaraner Vorstehhund, ein weißer Setter, ein eisengrauer Wolfspitz und ein schwarzer, rotgebrannter Teckel. Sie balgten sich um Knochen und trockne Brotrinden und sahen dem feinsten Zigeuner, der an dem Wagen vorüberging, mit haßerfüllten Augen nach; denn sie waren überall zusammengestohlen.
Einzig und allein ein junger Terrier war nicht unter dem Wagen, sondern drei Bengels und zwei Mädchen spielten mit ihm nach Zigeunerart. Sie zerrten ihn an einem Stricke hin und her, fingen Bienen, die sie ihm ansetzten, um sich an seiner Angst zu weiden, steckten ihm eine nackte schwarze Schnecke in das Maul und wollten sich totlachen, als er das Tier herauswürgte und die Nase im Grase rieb, um den üblen Geruch loszuwerden, und schließlich warfen sie ihn so lange in den Teich, bis er zuletzt halb ertrunken herauskam und vor Todesangst hübsch machte.