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Buch

Eine grausame Mordserie erschüttert die Londoner Öffentlichkeit: Bereits drei junge Frauen sind tot aufgefunden worden. Und der Täter behält von seinen Opfern immer einen besonderen persönlichen Gegenstand – offenbar als Souvenir. Als sich bei einer der Ermordeten eine Bisswunde im Nackenbereich findet, hat die Boulevardpresse endlich ihre Schlagzeile: Ab sofort nennt man den unheimlichen Mörder nur noch »den Rottweiler«.

In Inez‘ Londoner Antiquitätenladen spielen besondere Gegenstände ebenfalls eine große Rolle: Hier findet man einen ausgestopften Jaguar ebenso wie eine griechische Götterstudie oder einen raffinierten Blumenständer. Und mit den teils verrückten, teils verliebten, teils steinreichen Kunden trudeln immer wieder neue Informationen zu den Morden ein. Doch dann berührt sich Inez’ Leben mit dem Treiben des Mörders plötzlich auf eine Art und Weise, die ihr nicht geheuer sein kann …

Autorin

Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Zunächst arbeitete sie als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Dreimal bereits erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den Golden Dagger Award. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Award der Crime Writer’s Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt ist, lebt in London.

Die Reihenfolge der Inspector-Wexford-Romane
sowie weitere Romane finden Sie hier.

Ruth Rendell

Der Duft des Bösen

Roman

Aus dem Englischen
von Eva L. Wahser

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Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel
The Rottweiler bei Hutchinson, London.

E-Book-Ausgabe 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2003
by Kingsmarkham Enterprises Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: plainpicture/Goto-Foto

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15135-5

www.blanvalet.de

Für Jeanette Winterson
von ganzem Herzen

1
______

Der Jaguar stand in einer Ladenecke zwischen der Statue einer unbedeutenden griechischen Gottheit und einem Blumenständer. Dass die meisten Leute beim Wort »Jaguar« automatisch an ein Auto dachten und nicht an ein Tier, sprach nach Inez’ Ansicht wahre Bände über unsere heutige Welt. Einst hatte der schwarze Bursche, der ungefähr so groß war wie ein riesiger Hund, im Dschungel gehaust, wo ihn der Großvater eines unbekannten Kunden, ein Großwildjäger, geschossen hatte und ausstopfen ließ. Besagter Unbekannte hatte ihn gestern in den Laden gebracht und Inez angeboten. Zuerst für zehn Pfund, schließlich umsonst. Dieses Ding im Haus zu haben, sei peinlich, hatte er gemeint, schlimmer noch, als sich in einem Pelzmantel sehen zu lassen.

Inez nahm ihn nur, um den Typen loszuwerden. Sie hatte sich eingebildet, der Jaguar habe sie aus gelben Glasaugen vorwurfsvoll angesehen. Sentimentaler Blödsinn, schalt sie sich insgeheim. Wer sollte so etwas kaufen? Vielleicht würde das Ding am nächsten Morgen um Viertel vor neun attraktiver aussehen, hatte sie gedacht, aber es hatte sich nicht verändert. Sein Pelz fühlte sich struppig an, es wirkte steif und schaute bedrohlich. Sie drehte ihm den Rücken zu und setzte in der kleinen Küche hinter dem Laden den Wasserkessel für den Tee auf, den sie immer für sich kochte und in der letzten Zeit stets gemeinsam mit Jeremy Quick aus dem Dachgeschoss trank.

Pünktlich wie immer klopfte er an die hintere Tür und kam herein, während sie das Tablett in den Laden zurücktrug. »Inez, wie geht es Ihnen heute?«

Er – und nur er – sprach ihren Namen so aus, wie man es in Spanien tat: Iiineth. Außerdem hatte er ihr erzählt, warum der Name in Spanien, anders als in Südamerika, so ausgesprochen wurde: Einer der spanischen Könige habe gelispelt, und das habe man aus Hochachtung vor ihm nachgeahmt. Obwohl dies für sie nach reiner Erfindung klang, war sie zu höflich, um es laut zu sagen. Sie reichte ihm seine Teetasse mit einer Süßstofftablette auf dem Löffel. Er spazierte immer mit seiner Tasse herum.

»Um Himmels willen, was ist denn das?«

Sie hatte seine Frage kommen sehen. »Ein Jaguar.«

»Wird den einer kaufen?«

»Vermutlich wird es ihm so gehen wie dem grauen Lehnstuhl und der Chelsea-Porzellanuhr. Sie werden mir bis ans Ende meiner Tage bleiben.«

Er tätschelte den Tierschädel. »Zeinab noch nicht da?«

»Ach, woher! Sie behauptet, sie hätte kein Zeitgefühl. Wenn das so ist, habe ich gesagt, wenn du schon kein Zeitgefühl hast, warum kommst du dann nie zu früh?«

Er lachte. Er ist ziemlich attraktiv, dachte Inez nicht zum ersten Mal. Selbstverständlich war er für sie viel zu jung, oder nicht? Heutzutage vielleicht nicht mehr, da sich die Ansichten über solche Dinge allmählich änderten. Er schien höchstens sieben oder acht Jahre jünger als sie zu sein. »Ich mache mich dann besser auf den Weg. Manchmal denke ich, dass ich überpünktlich bin.« Vorsichtig stellte er seine Tasse samt Untertasse wieder aufs Tablett. »Offensichtlich hat es einen weiteren Mord gegeben.«

»Oh, nein.«

»Es kam in den Acht-Uhr-Nachrichten. Und gar nicht weit von hier. Ich muss los.«

Er erwartete nicht, dass sie die Ladentür aufsperrte, um ihn hinauszulassen, sondern nahm denselben Weg, den er gekommen war, und betrat die Star Street durch den Mietereingang. Inez hatte keine Ahnung, wo er arbeitete, vermutlich irgendwo am nördlichen Stadtrand. Wahrscheinlich hatte seine Tätigkeit irgendetwas mit Computern zu tun, wie bei so vielen Leuten heutzutage. Er hatte eine Mutter, an der er hing, und eine Freundin, doch über seine Gefühle zu ihr ließ er nie ein Wort fallen. Nur ein einziges Mal hatte er Inez in seine Dachwohnung eingeladen, wo sie die minimalistische Einrichtung und seinen Dachgarten bewundert hatte.

Um neun Uhr öffnete sie die Tür und trug den Bücherständer auf den Gehsteig hinaus. Hier hinein kamen nur uralte Taschenbücher von längst vergessenen Autoren, aber ab und zu verkaufte sich doch eines für 50 Pence. Am Randstein hatte jemand einen total verdreckten weißen Van geparkt. Inez entzifferte einen Zettel, der an der Heckscheibe angebracht war: Nicht waschen. Fahrzeug nimmt an einer wissenschaftlichen Schmutzanalyse teil. Sie musste lachen.

Schönes Wetter kündigte sich an. Hinter der niedrigen Reihenhauszeile mit den hohen dreistöckigen Geschäftshäusern am Eck ging eben die Sonne am zartblauen Himmel auf. Noch schöner wäre es gewesen, wenn auch die Luft frisch gewesen wäre, statt nach Diesel, Abgasen, grünem Curry und den Hinterlassenschaften von Männern zu stinken, die sich zu nächtlicher Stunde an den Plakatwänden erleichtert hatten. Aber so war es eben, das moderne Leben. Sie wünschte Mr. Khoury, der gerade – vielleicht etwas zu optimistisch – die Markise des Juweliergeschäfts nebenan hervordrehte, einen guten Morgen.

»Guten Morgen, gnädige Frau.« Wie immer klang er düster und verdrossen.

»Ich hätte da einen Ohrring, bei dem fehlt der – wie heißt das? – der Stecker«, sagte sie. »Könnten Sie den reparieren, wenn ich ihn später vorbeibringe?«

»Wollen mal sehen.« Das sagte er immer. Als würde er einem einen Gefallen erweisen. Dabei reparierte er die Dinge immer. Zeinab kam atemlos die Star Street heruntergelaufen. »Hi, Mr. Khoury. Hi, Inez. Tschuldigung, bin spät dran. Sie wissen doch, ich habe kein Zeitgefühl.«

Inez seufzte. »Jedenfalls erzählst du mir das immer.«

Ehrlicherweise – und ehrlich war Inez meistens – musste sie sich eingestehen, dass Zeinab ihren Job nur aus einem einzigen Grund behielt: Ihre Mitarbeiterin war eine besse-
re Verkäuferin als sie selbst. Wie hatte Jeremy einmal ge-
sagt? Zeinab könnte einem Tierschützer einen Elefantentöter verkaufen. Selbstverständlich hatte sie das teilweise ihrem Aussehen zu verdanken. Zeinabs Schönheit war der Grund, warum so viele Männer hereinkamen. Inez machte sich nichts vor; sie besaß genügend Selbstbewusstsein, aber
ihr war klar, dass sie schon bessere Tage gesehen hatte.
Mit fünfundfünfzig war sie zwangsläufig keine Konkurrenz mehr, auch wenn sie früher einmal genauso gut ausgese-
hen hatte wie Zeinab. Welten lagen zwischen ihr und der Frau, die sie gewesen war, als Martin sie vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Heute würde kein Kerl von der anderen Straßenseite herüberkommen, um ihr ein Keramikei oder einen viktorianischen Kerzenständer abzukaufen.

Zeinab glich dem weiblichen Star aus einem jener Bollywood-Filme. Ihre schwarzen Haare reichten nicht nur bis zur Taille, sondern sogar noch bis auf ihre schlanken Oberschenkel. Mit dieser Haarpracht hätte sie splitterfasernackt auf einem Pferd die Star Street entlang reiten können und wäre dabei doch nach allen Regeln des Anstands gekleidet gewesen. Ihr Gesicht sah aus, als hätte man die besten Details aus einem halben Dutzend moderner Filmstargesichter genommen und zu einem einzigen verschmolzen. Wenn sie lächelte, wurde jedes Männerherz schwach und sämtliche Männerknie wurden weich. Ihre Hände glichen den zarten Blütenkelchen eines Tropenbaumes und ihr Teint einem Lilienblatt, das die Abendsonne streift. Immer trug sie superkurze Röcke und ultrahohe High-Heels, dazu im Sommer strahlend weiße T-Shirts und ebenso weiße flauschige Pullover im Winter. In einem ihrer perfekten Nasenflügel prangte ein einzelner Diamant oder sonst ein Glitzerstein.

Ihre Stimme war weniger attraktiv. Merkwürdigerweise hatte ihr Akzent nichts vom liebenswert-musikalischen Tonfall der Oberschicht aus Karatschi an sich, sondern erinnerte mehr an Eliza Doolittles Cockney aus Lisson Grove. Und das, obwohl ihre Eltern in Hampstead wohnten und sie, laut eigener Aussage, praktisch eine Prinzessin war. Heute trug sie einen schwarzen Lederrock, eine blickdichte schwarze Strumpfhose und einen Pulli, der an das Fell eines Angorakaninchens erinnerte: schneeweiß und flauschig wie Schwanendaunen. Mit ihrer Teetasse in der einen Hand schwebte sie anmutig durch den Laden, in der anderen hielt sie einen regenbogenfarbenen Staubwedel, mit dem sie Silbermenagen, uralte Musikinstrumente, Zigarettenetuis, Broschen mit Obstmotiven aus den dreißiger Jahren, Clarice-Cliffe-Teller und das Buddelschiff, einen Viermastschoner, von Staubflocken befreite. Die Kunden ahnten ja gar nicht, was es hieß, ein solches Geschäft sauber zu halten. Unter einer Staubschicht wirkte es im Handumdrehen so schäbig, als würden sich nur selten Besucher hereinverirren. Vor dem Jaguar blieb sie stehen. »Wo kommt denn das her?«

»Den hat mir ein Kunde geschenkt. Nachdem du gestern gegangen warst.«

»Geschenkt

»Vermutlich wusste er, dass das arme Ding nichts wert ist.«

»Man hat schon wieder ein Mädchen ermordet«, sagte Zeinab. »Drunten in Boston.« Jeder Außenstehende hätte glauben mögen, damit habe sie Boston in Massachusetts gemeint oder wenigstens Boston in Lincs, doch in Wahrheit sprach sie von der Boston Street in London NW1, direkt neben der U-Bahn-Station Marylebone.

»Wie viele sind es nun?«

»Drei. Sobald die Abendausgaben herauskommen, hole ich uns eine.«

Inez beobachtete durch das Schaufenster, wie hinter dem weißen Van ein Auto am Randstein anhielt. Der grelltürkisfarbene Jaguar gehörte Morton Phibling, der vormittags meistens nur aus einem einzigen Grund vorbeikam: um Zeinab zu treffen. Dabei benötigte er nicht einmal eine freie Parkuhr, denn im Wagen saß sein Chauffeur und wartete auf ihn. Falls eine Politesse auftauchte, würde er einfach eine Runde um den Block drehen. Mr. Khoury schüttelte den Kopf, wobei er mit der Rechten seinen üppigen Bart fest hielt, und begab sich nach drinnen.

Morton Phibling stieg aus dem Jaguar, las, ohne eine Miene zu verziehen, den Zettel hinten an dem schmutzigen Van und rauschte mit wehendem Kamelhaarmantel in den Laden, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Noch nie hatte er irgendeinen Gruß hören lassen. »Wie ich sehe, wurde erneut eine junge Dame hingemeuchelt.«

»Wenn Sie es so bezeichnen wollen.«

»Ich kam herein, um meine Augen am Mond meines Entzückens zu weiden.«

»Das tun Sie doch immer«, sagte Inez.

Morton war leicht über sechzig und klein von Wuchs. Der Kopf auf seinem gedrungenen Körper musste schon immer viel zu groß gewirkt haben, es sei denn, Morton wäre kräftig geschrumpft. Er trug eine Brille, deren dunkelviolette Gläser fast an eine Sonnenbrille erinnerten. Eine Schönheit war er nicht und auch nicht, soweit Inez das beurteilen konnte, ungewöhnlich nett oder amüsant. Er war nur eines: stinkreich. Drei Häuser gehörten ihm und fünf weitere Autos, allesamt in grellen Sonderlackierungen: quietschgelb, orange, knallrot und limettengrün. Er war in Zeinab verliebt. Anders konnte man es nicht nennen.

Zeinab, die gerade darin vertieft war, unten auf einen Wedgwood-Krug ein Preisschild zu kleben, schaute auf und schenkte ihm ein Lächeln, wie nur sie es konnte.

»Wie geht es dir heute, mein Liebling?«

»Ganz okay, aber nenn mich nicht immer Liebling.«

»So sehe ich dich aber nun mal. Zeinab, Tag und Nacht denke ich an dich, das weißt du, in der Abenddämmerung und im Morgengrauen.«

»Vergessen Sie einfach, dass ich da bin«, sagte Inez.

»Ich schäme mich meiner Liebe nicht. Von den Dächern der Häuser verkündige ich sie. Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, die meine Seele liebet. Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!« So salbaderte er stets vor sich hin, obwohl keine der beiden Frauen Notiz davon nahm. »Wie prächtig ist des Morgens die Lilie!«

»Möchten Sie ’ne Tasse Tee?«, fragte Inez. Sie verspürte das dringende Bedürfnis nach einer zweiten Tasse, aber für sich allein hätte sie keinen mehr gemacht.

»Ach, lassen Sie mal. Liebling, heute Abend führe ich dich zum Essen ins Le Caprice aus. Hoffentlich hast du das nicht vergessen.«

»Natürlich habe ich’s nicht vergessen, und nenn mich nicht Liebling.«

»Ich werde dich zu Hause abholen, ja? Ist dir neunzehn Uhr dreißig angenehm?«

»Nein, das ist mir nicht angenehm. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass mein Paps durchdreht, wenn du mich daheim abholst! Du weißt doch, was er mit meiner Schwester gemacht hat. Willst du, dass er mich mit ’nem Messer absticht?«

»Aber ich habe doch ehrenwerte Absichten, mein Herzensschatz. Ich bin nicht mehr verheiratet, ich will dich ehelichen, ich achte dich zutiefst.«

»Das macht nichts – ich meine, das ändert nichts daran«, sagte Zeinab. »Ich darf einfach mit keinem Kerl allein sein. Niemals. Wenn mein Paps weiß, dass ich mit dir allein in einem Lokal war, geht er durch die Decke.«

»Liebend gerne hätte ich dein reizendes Zuhause erblickt«, sagte Morton Phibling wehmütig. »Es wäre mir ein großes Vergnügen, dich in deiner wahren Umgebung zu sehen.« Obwohl Inez außer Hörweite war, dämpfte er sei-
ne Stimme. »Anstatt in diesem Loch. Wie ein prächtiger Schmetterling auf einem Misthaufen.«

»Lässt sich nicht ändern. Ich sehe dich dann in diesem Le-Dingsbums.«

Beim Gedanken an Zeinabs schrecklichen Vater zitterte Inez, während sie kochendes Wasser über drei Teebeutel goss. Ein Jahr vor Zeinabs Arbeitsantritt bei »Star Antiquitäten« hatte er ihre Schwester Nasreen beinahe umgebracht. Sie hatte sein Haus entehrt, weil sie in der Wohnung ihres Freundes übernachtet hatte. »Und dabei haben sie nicht mal was angestellt«, sagte Zeinab. Nasreen hatte überlebt, obwohl er sie fünfmal in die Brust gestochen hatte. Monatelang hatte sie im Krankenhaus gelegen, ehe sie wieder genesen war. Einiges an der Geschichte war garantiert übertrieben, trotzdem war sich Inez in einem Punkt ziemlich sicher: Ihre Verkäuferin begab sich in
Lebensgefahr, sobald sie sich ohne Zustimmung und Aufsicht ihrer Eltern einen Verehrer zulegte. Sie trug den Tee zurück in den Laden. Zeinab meinte, Morton Phibling sei die Straße hinuntergegangen, um ihnen einen »Standard« zu kaufen.

»Dann können wir alles über den Mord nachlesen. Schauen Sie, was er mir diesmal geschenkt hat.«

Zeinab präsentierte ihr auf einem dunkelblauen Satinbett eine große Anstecknadel aus zwei Rosen und einer Knospe an einem Zweig.

»Sind das echte Diamanten?«

»Er schenkt mir immer echte Diamanten. Muss ein paar Tausender wert sein. Hab versprochen, sie heute Abend zu tragen.«

»Sollte dir nicht schwer fallen«, sagte Inez. »Achte trotzdem darauf, wie du ausgehst. Wenn du so etwas Auffälli-
ges trägst, riskierst du einen Überfall. Außerdem – vergiss nicht, dass da draußen ein Killer herumläuft. Wie man weiß, nimmt er jedem Mädchen, das er umbringt, einen Gegenstand ab. Da ist er ja. Schon zurück.«

Doch statt Morton Phibling stand da eine ältliche Frau, die als Geburtstagsgeschenk nach einem Stück Crown Derby suchte. Vor dem Betreten hatte sie sich ein Taschenbuch ausgesucht, einen Krimi von Peter Cheyney mit einem erwürgten Mädchen auf dem Umschlag. Wie passend, dachte Inez, während sie dafür 50 Pence kassierte und einen rot-blau-goldenen Teller einwickelte. Morton kam zurück und hielt ihr höflich die Tür auf. Zeinab weidete sich noch immer an ihrer Diamantrose. Dabei ähnelte sie einem in eine selige Vision versunkenen Engel, dachte Morton.

»Liebling, ich bin so froh, dass sie dir gefällt.«

»Wegen dem – deswegen hast du immer noch nicht das Recht, mich Liebling zu nennen. Dann wollen wir mal einen Blick in die Zeitung werfen.«

Sie teilte sich das Blatt mit Inez. »Da steht, dass es ziemlich früh gestern Abend passiert ist, gegen neun«, las Zeinab. »Irgendeiner hörte sie schreien, tat aber nichts dagegen, ganze fünf Minuten lang. Dann hat er diese Gestalt wegrennen sehen, an der U-Bahn-Station vorbei. Eine schemenhafte Gestalt, steht da, männlich oder weiblich, weiß er nicht, nur, dass sie Hosen anhatte. Dann hat er sie gefunden – man hat sie noch nicht identifiziert, sie lag tot auf dem Gehsteig, ermordet. Hier steht nicht, wie es geschah, nur dass sie ganz blau im Gesicht war. Sicher wieder eine von diesen Garrotten. Von einem Biss steht da nichts.«

»Die Sache mit dem Biss ist doch völliger Blödsinn«, sagte Inez. »Das erste Mädchen hatte zwar eine Bissspur am Hals, aber die DNS daraus stammte von ihrem Freund. Was die Leute im Namen der Liebe alles anstellen! Natürlich nannte man ihn daraufhin den ›Rottweiler‹, und der Name ist dann hängen geblieben.«

»Hat er ihr diesmal was geklaut? Lassen Sie mich mal sehen.« Zeinab überflog den Artikel bis zum Ende. »Weiß man vermutlich nicht, schließlich weiß man ja noch gar nicht, wer sie ist. Was hat er letztes Mal mitgenommen?«

»Von der Ersten ein silbernes Feuerzeug, in das mit Granat ihre Initialen eingelassen waren«, sagte Morton, womit er sein beträchtliches Wissen in Sachen Schmuck kundtat, »und von der Zweiten eine goldene Uhrbrosche.«

»Nicole Nimms und Rebecca Milsom, so hießen die beiden. Was wohl diesmal fehlt? Ich schätze, bestimmt nie ein Handy. Die ganzen kleinen Scheißer auf der Straße klauen doch Handys. Sein Markenzeichen wäre das nicht, oder?«

»Sei jedenfalls vorsichtig, Liebling, wenn du heute Abend ins Le Caprice kommst«, sagte Morton. Der Jaguar schien ihm entgangen zu sein. »Ich habe gute Lust, dir eine Limousine zu schicken.«

»Wenn du das machst, komme ich nicht«, sagte Zeinab, »und außerdem hast du schon wieder Liebling zu mir gesagt.«

»Hast du vor, ihn zu heiraten?«, fragte Inez, als er fort war. »Er ist zwar ein bisschen alt für dich, aber er hat eine Menge Geld und ist nicht so übel.«

»Ein bisschen zu alt! Sie wissen doch, dann müsste ich von zu Hause weglaufen, und das wär’ bitter. Von meiner armen Mami würd’ ich mich nicht gern trennen.«

An der Ladentür klingelte es. Ein Mann kam herein, auf der Suche nach einem Blumenständer, vorzugsweise in Schmiedeeisen. Zeinab schenkte ihm ihr typisches Lächeln. »Wir hätten da eine reizende Jardinière, die ich Ihnen gern zeigen würde. Sie kam erst gestern aus Frankreich herüber.«

In Wahrheit stammte sie vom Ausverkauf eines Trödelladens in der Church Street. Verzückt starrte der Kunde Zeinab an, die neben dem Jaguar in die Hocke ging, um das dreibeinige Objekt unter einem Stapel indischer Tagesdecken hervorzuholen. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und strich dabei wie jemand, der ein wunderschönes Bild enthüllt, ihre gescheitelte schwarze Haarpracht zurück.

»Sehr hübsch«, nuschelte er. »Wie viel kostet das?« Obwohl Zeinab auf den vereinbarten Preis zwanzig Pfund aufgeschlagen hatte, erhob er keinen Widerspruch. Männer versuchten selten zu handeln, wenn sie ihnen etwas verkaufte. »Sie brauchen es nicht einzuwickeln.«

Man hielt ihm die Ladentür auf, während er sich mit seinem Fundstück hinausmühte. Draußen auf dem Gehsteig fasste sich der scheue Mensch, dem es beinahe die Sprache verschlagen hatte, endlich ein Herz und sagte: »Auf Wiedersehen. Es war sehr nett, Sie zu treffen.«

Inez musste lachen, sie konnte nicht anders. Seit Zeinab für sie arbeitete, hatte sich das Geschäft positiv entwickelt, das musste sie zugeben. Sie sah ihm auf seinem Weg Richtung Bahnhof Paddington nach. Er hatte doch nicht etwa vor, dieses Teil im Abteil zu befördern? Es war fast so groß wie er. Dabei fiel ihr auf, dass sich der Himmel zugezogen hatte. Warum nur gab es offenbar keine schönen Tage mehr, sondern nur noch solche mit einem schönen Auftakt? Der schmutzige weiße Van war fort. An seiner Stelle parkte ein anderer, ein saubererer. Heraus stieg Will Cobbett und danach auch der Fahrer. Inez und Zeinab beobachteten es durchs Schaufenster. Sie sahen alles, was in der Star Street vor sich ging, und normalerweise gab eine von beiden fortlaufend einen Kommentar dazu ab.

»Der da, der da ausgestiegen ist, der heißt Keith. Ist der, für den Will arbeitet«, sagte Zeinab. »Der geht jetzt runter zur Edgware Road, zum Baumarkt. Er kommt immer hier rüber, weil’s hier billiger ist. Was macht denn Will um die Zeit daheim? Er kommt rein.«

»Wahrscheinlich hat er sein Werkzeug vergessen. Passiert ihm oft.«

Will Cobbett war der einzige Mieter, der fast nie durch den Laden kam. Er ging seitlich durch den Mietereingang. Die beiden Frauen hörten seine Schritte auf der Treppe beim Hinaufgehen.

»Was ist denn mit dem los?«, sagte Zeinab. »Wissen Sie, was Freddy über ihn sagt? Er sagt, der hätte nicht alle Tassen im Schrank.«

Inez war schockiert. »Das ist fies. Freddy überrascht mich. Will ist das, was man früher mal als lernbehindert bezeichnet hat, aber heute spricht man von ›Lernschwierigkeiten‹. Gut aussehen tut er aber, das muss ich schon sagen, Lernschwierigkeiten hin oder her.«

»Gutes Aussehen ist nicht alles«, sagte Zeinab, der es gerade darauf ankam. »Ich schätze es, wenn ein Mann in-
telligent ist. Kultiviert und intelligent. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mal für eine Stunde Pause mache, oder? Ich soll mich mit Rowley Woodhouse zum Lunch treffen.«

Inez schaute auf ihre Uhr. Es war eben erst kurz nach halb zwölf. »Dann wirst du gegen halb drei wieder da sein«, sagte sie.

»Wer ist jetzt fies? Ich kann doch nichts dafür, wenn ich kein Zeitgefühl habe. Ob man Zeiteinteilung in einem Kurs lernen kann? An einen Kurs für Sprechtechnik habe ich schon gedacht. Mein Paps meint, ich soll mal richtig sprechen lernen, obwohl er und Mami einen Akzent haben, der mitten aus Islamabad stammt. Ich geh jetzt besser, sonst flippt Rowley aus.«

Inez musste daran denken, wie Martin eine Zeit lang Sprechtechnik unterrichtet hatte. Natürlich war das vor »Forsyth« und dem großen Durchbruch gewesen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er unterrichtet und Nebenrollen angenommen. Er hatte eine wunderschöne Stimme gehabt. Heutzutage wäre sie für einen Fernsehkommissar zu vornehm, in den Achtzigern aber nicht. Sie lauschte, während Will die Treppe hinunterpolterte. Mit seiner Werkzeugtasche in der Hand sauste er zum Van hinaus. In dem Moment kam die Politesse hinzu. Dann tauchte aus der anderen Richtung Keith auf. Unter Inez’ wachsamen Augen entwickelte sich eine lebhafte Auseinandersetzung. Ständig beobachten Zuschauer die Konfrontationen zwischen Politessen und Auto fahrenden Pechvögeln, wobei sie sehnsüchtig auf ein Handgemenge hoffen. So weit wollte Inez nun doch nicht gehen. Trotzdem fand sie, Keith solle ruhig bezah-
len. Die Bedeutung einer durchgezogenen gelben Doppellinie sollte ihm schließlich bekannt sein.

Sie wartete, während zwei stark geschminkte Blondinen durch den Laden spazierten und gläsernes Obst und Figürchen hoch nahmen, bei denen es sich vielleicht um Netsukes handelte, vielleicht auch nicht. Sie wollten sich »nur umsehen«, meinten sie. Kaum waren sie fort, prüfte sie, ob die Ladenglocke noch richtig funktionierte, und ging dann nach hinten in die Küche, wo sie für die Ein-Uhr-Nachrichten den Fernseher einschaltete. Der Nachrichtensprecher trug eine Miene zur Schau, die man vermutlich Moderatoren seiner Art antrainierte, sobald es sich beim Aufmacher um eine deprimierende Schreckensmeldung handelte, wie das bei dem Mädchen, das man letzte Nacht am Boston Place ermordet hatte, der Fall war. Man hatte sie als Caroline Dansk aus der Park Road identifiziert. Sie muss die Park Road hinuntergegangen sein, dachte Inez. Danach hatte sie auf ihrem Weg – vielleicht zur U-Bahn-Station – die Rossmore überquert und war dann in den Boston Place eingebogen. Armes kleines Ding, erst einundzwanzig Jahre.

Das Bild schwenkte zu den Gleisen, die aus Marylebone herausführten, und zu der parallel dazu verlaufenden Straße mit den hohen Ziegelmauern. Ziemlich gehobene Gegend mit hübsch renovierten Häusern und Baumpflanzungen im Gehsteig. Überall sah man Polizisten und Polizeiautos und Absperrbänder, hinter denen sich wie üblich ein kleiner Menschenauflauf angesammelt hatte, der förmlich nach Neuigkeiten gierte. Bisher noch kein Foto von Caroline Dansk und kein Fernsehauftritt ihrer verzweifelten Eltern. Beides würde in kurzer Zeit folgen, wie auch eine Beschreibung jenes Gegenstands, den ihr der Killer entwendet hatte, nachdem er ihr mit dem Würgeseil den Hals zugeschnürt hatte.

Wenn es denn derselbe Mann gewesen war. Nachdem sich inzwischen die Sache mit dem Biss als Unsinn und damit auch der Spitzname als unpassend erwiesen hatte, könnte man so etwas lediglich dann behaupten, wenn eines der kleinen Objekte gestohlen worden wäre. Diese jungen Leute besitzen so viel, dachte Inez, jeder einen Computer, eine Digitalkamera und ein Handy. Ganz anders als zu ihrer Zeit. Ein bedrückender Ausdruck: als hätte jeder seine Zeit, und wenn sie vorbei wäre, begänne ein langer Abstieg in die Nacht. Zuerst käme das Zwielicht, dann die Dämmerung und schließlich die Dunkelheit. Ihre eigentliche Zeit hatte erst ziemlich spät im Leben stattgefunden und erst bei der Begegnung mit Martin richtig begonnen. Nach dessen Tod war das Tageslicht nach und nach matter geworden. Also wirklich, Inez, schalt sie sich selbst, das führt doch zu nichts. Mach dir was zu essen, du hast ja keinen Rowley Woodhouse oder einen Morton Phibling, die dich damit versorgen, und wende dich etwas Heitererem zu. Sie machte sich ein Schinkenbrot und holte das Glas Branston-Gurken heraus. Nach noch mehr Tee stand ihr nicht der Sinn. Eine Diät-Cola käme gerade richtig, und das Koffein würde sie für den Nachmittag aufputschen.

Was er wohl diesem Mädchen entwendet hat? Wer ist er, und wo lebt er? Hat er eine Frau? Kinder, Freunde? Warum tut er das, und wann wird er es wieder tun? Das Spekulieren über solche Dinge hatte etwas Entwürdigendes an sich. Entziehen konnte man sich ihm trotzdem kaum. Gegen ihre Neugier war sie machtlos, ganz im Gegensatz zu Martin, der über dem Hang zu genüsslich ausgebreiteten, hässlichen Details gestanden hatte. Vielleicht wollte er nichts mit der Realität zu tun haben, weil er sich mit jedem Auftritt in einer »Forsyth«-Folge zwangsläufig mit fiktiven Verbrechen befassen musste.

Die Türglocke läutete. Inez wischte sich die Lippen ab und begab sich wieder in den Laden.

2
______

Die Samstage schätzte sie besonders. Mit den Sonntagen war das anders, denn dann rückte schon der Montag gefährlich nahe, überschattete den ganzen Tag und erinnerte einen daran, dass nur noch eine einzige Nacht vor der nächsten Runde in der Tretmühle lag. Nein, Becky Cobbett hatte nichts gegen ihren Job, ganz im Gegenteil. Hatte er sie nicht auf der Gesellschaftsleiter nach oben gebracht und ihr das alles gegeben? Mit »dem allen« meinte sie – und machte dabei eine vage Handbewegung – die große bequeme Wohnung in der Gloucester Avenue, die Ringe an ihren Fingern und den kleinen Mercedes unten am Straßenrand. All das hatte sie ohne das Zutun auch nur eines einzigen Mannes erreicht. Männer hatte es wohl gegeben, aber alle weniger erfolgreich als sie, keiner von ihnen mit einem nennenswerten Verdienst und nicht einer darunter, der wertvolle Geschenke gemacht hätte.

Einer der Höhepunkte ihrer Woche waren jene Sekunden nach dem Aufwachen, in denen sie sich bewusst wurde, dass Samstag war. Wenn sie nicht irgendwohin fuhr oder ihr Neffe herüberkam, verlief der Vormittag immer nach demselben Muster – und der halbe Nachmittag auch, da sie dann auswärts zu Mittag aß. Nicht immer ging sie ins West End, manchmal auch nach Knightsbridge und dann wieder nach Covent Garden. Heute hatte sie sich für die Oxford Street und die Bond Street entschieden. Etwas würde sie sicher einkaufen, wenn auch nicht unbedingt etwas Großes, Kleinigkeiten eher, eigentlich Spielereien. Einen Lippenstift, eine CD, einen Schal, eine Flasche Badeöl oder einen Roman von den ersten zehn Plätzen der Bestsellerliste. Alles wurde ausgekostet: der Schaufensterbummel, das Herumschlendern und Schauen in den Geschäften, der Rundgang durch bisher nie besuchte Abteilungen, die langen Überlegungen, die dem Kauf von Kosmetika vorangingen, damit sie auch ja die zusätzliche Gratisprobe bekam. Ihr Badezimmerschränkchen quoll über von den Kosmetiktäschchen aller Größen und Farben, in denen die jeweiligen Pröbchen enthalten gewesen waren. Große Kleidungsstücke waren etwas ganz anderes. Bereits das Aussuchen war eine ernsthafte Angelegenheit, mit der sie sich schon im Voraus intensiv befasste.

»Reich bin ich nicht«, pflegte sie zu sagen, »aber wohlhabend. Das kann ich behaupten.«

Nur selten kaufte sie Kleidung, und wenn doch, handelte es sich um sehr gute und ebenso teure Stücke. Allerdings hatte die Suche danach und das Bezahlen nichts mit den erwähnten samstäglichen Ausflügen zu tun. Letztere waren reiner Übermut. Die Suche nach einem neuen schwarzen Kostüm fürs Büro oder nach einem hautengen Kleid für das Jahresabschlussessen der Firma war etwas ganz anderes. Alles, was mit Samstag zu tun hatte, war purer, unbeschwerter Genuss, vom ersten Augenblick, wenn sie das Haus verließ, um in Camden Town in die U-Bahn einzusteigen, bis zur Rückfahrt mit dem Taxi fünf oder sechs Stunden später.

Für eine Tasse Kaffee wurde nie Zeit verschwendet. Stattdessen begab sie sich bis kurz vor ein Uhr auf ihren vorab festgelegten Rundgang. Dann war es Zeit, sich ein Restaurant, eine Cafeteria oder eine Austernbar in einem Geschäft zu suchen und eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen. Anschließend warteten noch einige Geschäfte auf ihren Besuch, ja, manchmal wanderten ihre Gedanken sogar zu jenen Einkäufen, bei denen es um wichtige Kleidungsstücke ging, allerdings nur vorsichtig und abwartend. Tatsächlich etwas zu kaufen, kam für sie jetzt nicht in Frage, nicht einmal der Entschluss, es zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu tun. Zwar fände auch ein Kleiderkauf dieser Größenordnung an einem Samstag statt, allerdings wäre der dann gänzlich für diesen Zweck reserviert, ohne die übliche Leichtigkeit und den Genuss.

Sie kannte alle guten Taxistandplätze. Im Gegensatz zu Leuten, die den Fahrer im Befehlston anschnauzten, war sie stets höflich.

»Würden Sie mich bitte zur Gloucester Avenue fahren?«

Nicht immer wussten die Fahrer, wo diese Straße lag, und verwechselten sie mit Gloucester Terrace, Gloucester Place oder Gloucester Road.

»Nördlich von Regent’s Park«, pflegte sie zu sagen. »Sie fahren Richtung Camden Town und biegen an der Ampel links ab.«

Sie bat den Fahrer zu warten, während sie eine »Daily Mail« kaufte. Wieder daheim, machte sie sich Tee und vertiefte sich für zehn Minuten in die Zeitung. Das arme Mädchen, das man gestern Abend am Boston Place erdrosselt hatte, prangte mit einem Riesenfoto auf der Titelseite. »Caroline Dansk, 21«, lautete die Überschrift. Das jüngste Opfer des Rottweilers.

»Der Polizei liegen keine neuen Informationen bezüglich der Identität jener Gestalt vor, die man als Schatten vom Tatort wegrennen sah«, las Becky. »›Es lasse sich nicht feststellen‹, meinte ein Sprecher, ›ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt habe.‹« Zwei Dinge kennzeichneten den Würger: seine Gewohnheit, der Leiche seines Opfers einen kleinen Gegenstand zu entwenden, und ein eher makabres Detail – ein Biss. Offensichtlich handle es sich bei dem gestohlenen Gegenstand diesmal um einen Schlüsselring. Die Schlüssel seien abgenommen und in
Ms. Dansks Handtasche gelegt worden. Für eine Bisswunde gebe es keinerlei Anzeichen, ließen Quellen aus der näheren familiären Umgebung verlauten.

»›Carolines Schlüssel hingen an einem goldenen Schlüsselring, zusammen mit einem Anhänger in Form eines Scotchterriers‹, sagte ihr Stiefvater, Mr. Colin Ponti, 47. ›Ein Freund hatte ihn ihr zu Weihnachten geschenkt. Ohne den ist sie nie weggegangen.‹

Noreen Ponti, Carolines Mutter, war für ein Gespräch mit den Medien zu verzweifelt…«

Kopfschüttelnd faltete Becky die Zeitung zusammen und widmete sich ihren Einkäufen. Handelte es sich um Musik, legte sie sie auf und kuschelte sich in ihren Sessel. Das Täschchen mit den Gratisproben musste geöffnet und jedes Tütchen beziehungsweise Fläschchen genau untersucht werden. Heute hatte sie eine CD erstanden. Sie legte sie in ihren Walkman, lehnte den Kopf auf ein Kissen und schloss die Augen. Den heutigen Abend würde sie mit Fernsehen verbringen oder die Videokassette ansehen, die sie ebenfalls während ihres Bummels gekauft hatte.

Alles in allem handelte es sich um ein ausgedehntes genussreiches Vergnügen, um unschuldigen oberflächlichen Luxus. Leider war er nicht ungetrübt. Wie hieß der Satz, den sie in der Oxford Street aufgeschnappt hatte? In jedem Kebab steckt ein Knorpel. Der Knorpel in ihrem Kebab waren überwältigende Schuldgefühle, die sich samstags überdeutlich bemerkbar machten, besonders an diesem Samstag. Sie hatte Will seit einer Woche nicht gesehen, und anstatt die South Molton Street hinunterzuschlendern, hätte sie ihn eigentlich anrufen und zum Mittagessen einladen sollen, zum Mittag-, nicht zum Abendessen. Damals im Kinderheim hatte es die Hauptmahlzeit immer mittags gegeben. Daran hatte er sich gewöhnt, und genau so war es ihm am liebsten.

Während Becky die Nachtcreme und die hautstraffende Körperlotion ausgesucht hatte, die sie zu der kostenlosen Dreingabe berechtigten, war es ihr gelungen, die Gedanken an ihren Neffen aus dem Kopf zu verbannen. Auch während ihres Mittagessens bei »Selfridges« hatte sie sich diese vom Leib gehalten, aber nun war sie daheim, und die CD war abgespielt. Jetzt kamen sie auf den dunklen Schwingen der Schuld zurückgeflogen. Will war ganz allein gewesen. Obwohl er wie ein etwas schwerfälligerer und kräftigerer David Beckham aussah, hatte er ein zu schlichtes und naives Gemüt, um Freunde zu finden. Um allein ins Kino oder zu einer Sportveranstaltung zu gehen, war er zu schüchtern. Mit viel Glück würde ihn der Mann, den er seinen Freund nannte – er war einer von den Sozialarbeitern im Heim gewesen –, heute Abend auf einen Drink hinüber ins Mon-
key Puzzle mitnehmen, aber auch das geschah nicht jeden Samstag, nicht einmal jeden zweiten. Doch egal, ob sich ein Fremder um ihn kümmerte oder nicht, letztlich trug nichts dazu bei, ihr inneres Gefühl zu vertreiben, sie habe bei Will versagt, und das seit zwanzig Jahren. Bei dem Gedanken, wie sie ihren Tag verbracht und wie sehr sie ihn genossen hatte, überfiel sie Ekel vor sich selbst. Ihr wurde ziemlich schlecht.

Beckys Schwester Anne war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der Wagen hatte einem Mann gehört, der sie nach Cambridge gefahren hatte, zu einem Treffen mit seinen Eltern. Seit Wills Geburt war er der erste Mann gewesen, mit dem Anne ausgegangen war, wenn auch nicht gerade häufig. Seit Monaten war es das erste Mal gewesen. Auf der M11 war ein Laster frontal mit dem Wagen zusammengestoßen. Der Fahrer war am Steuer eingeschlafen und hatte mit dem LKW die Leitplanken auf dem Mittelstreifen durchbrochen. Er und Anne waren gestorben, während der Mann, den sie beinahe hatte heiraten wollen, beide Beine verlor.

Zwei Polizisten waren in Annes Wohnung erschienen, um Becky über den Unfall zu informieren. Sie hatte auf den dreijährigen Will aufgepasst. Selbstverständlich war sie bei ihm geblieben und hatte sich vierzehn Tage freigenommen. Sie hatte Anne sehr nahe gestanden und war mit Will fast so vertraut wie seine eigene Mutter. Wie hatte sie immer gesagt? Sie genieße alle Annehmlichkeiten einer Mutterschaft ohne die dazugehörige Verantwortung. In den Tagen nach Annes Tod kam ihr diese Bemerkung wieder in den Sinn. Würde man von ihr erwarten, Annes Rolle einzunehmen, bei Will zu bleiben und für ihn Mutter zu sein? Würde man erwarten, dass sie ihn adoptierte?

Jetzt fiel ihr wieder ein, wie oft sie Anne erklärt hatte, sie liebe ihn wie ihren eigenen Sohn. War das wahr? Damals arbeitete sie für ein Reisebüro und bildete sich im Abendstudium zur Betriebswirtin aus. Damit wäre es vorbei, sobald sie Wills Stiefmutter wäre. Abende gäbe es dann keine mehr. Schon das Arbeiten an und für sich wäre schwierig genug. Doch was malte sie sich nur alles aus? Natürlich hatte er einen Vater. Sie spürte ihn auf und rief ihn an. Obwohl er nie irgendeinen Unterhalt für das Kind gezahlt und Will auch nur selten besucht hatte, versprach er jetzt zu kommen.

Becky nahm noch einmal zwei Wochen frei, worüber ihr Chef nicht sonderlich erbaut war. Während sie zu Hause war, gelang es ihr, Will in einer Kinderkrippe unterzubringen. Gleichzeitig brachte sie nach einiger Vorbereitungszeit den Mut auf, beim Jugendamt anzurufen, um die Leute dort auf die Situation vorzubereiten. Wills Vater kam tatsächlich. Will, der zu allen freundlich und vertrauensselig war – zu freundlich und zu vertrauensselig –, saß auf seinen Knien, während der Mann Becky erklärte, dass der kleine Junge unmöglich bei ihm leben könne. Seine Frau sei erst neunzehn und schwanger. Von ihr könne man nicht erwarten, sich auch noch um einen Dreijährigen zu kümmern.

Will wurde in Pflege gegeben. Bevor das Jugendamt ihn abholen kam, weinte Becky fast die ganze Nacht, aber behalten konnte sie ihn nicht. Sie konnte es einfach nicht. Wenigstens war es ein kleiner Trost, wie er auf seine fröhlich-unschuldige Art die Sozialarbeiterin an der Hand nahm und sie anlächelte. Alles wird gut mit ihm werden, redete sie sich ständig ein, alles wird gut. Es wird ihm besser gehen als bei mir. Er wird zu guten Pflegeeltern kommen. Vielleicht werden ihn auch Leute adoptieren, die sich unbedingt ein Kind wünschen. Doch das tat keiner. Obwohl er hübsch war und von Natur aus lieb und brav – zu brav –, wollte niemand ein Kind, bei dem »etwas nicht stimmte«. Am meisten quälte Becky die Frage, ob er so geworden war, weil sie zugelassen hatte, dass man ihn in Pflege gab. Hatte sie es etwa aus Egoismus getan? Stundenlang versuchte sie, sich an Momente vor dem Tod seiner Mutter zu erinnern, in denen er anders als andere Kinder gewesen war. Tatsächlich fiel ihr wieder ein, wie Anne gesagt hatte, er sei zu still, zu brav und nicht so wild und rebellisch, wie ein kleiner Junge eben sein sollte. Trotzdem plagten sie Schuldgefühle.

Diese kompensierte sie – besser gesagt, sie versuchte es – durch Besuche im Kinderheim, was mit Missbilligung aufgenommen wurde. Auch ihre Ausflüge mit ihm fanden nur begrenzt Zustimmung. Als es ihr finanziell besser ging und ihr Geschäft blühte, fing sie an, ihm Geschenke zu kaufen, die sie bei sich zu Hause aufbewahren musste, damit die anderen Kinder nicht neidisch würden. Als er zwölf war, erbot sie sich, die Kosten für eine Privatschule in Neuengland zu übernehmen, wo man Schüler seiner Art einzeln betreute. Dies unterband das Jugendamt. Man war dort sehr progressiv und äußerst links eingestellt und erinnerte Becky daran, dass ihr keinerlei Kontrolle über Wills Schicksal oder seine Zukunft zustand. Schließlich sei sie nur seine Tante. Was seinen Vater betraf – der hatte sich nach Australien verdrückt und noch eine Frau mit Kind hinterlassen.

»Wir sind es, die diese Angelegenheit zu regeln haben,
Ms. Cobbett«, sagte Wills Sozialarbeiterin. »Die Entscheidung liegt bei uns.«

Also ging Will auf eine Sonderschule, wo alle Kinder Lernschwierigkeiten hatten. Eine Schule ohne ausreichend Personal, wo die wenigen vorhandenen Lehrer bereits vom umfangreichen Papierkram erschöpft waren, den sie erledigen mussten. Allein dass er irgendwann lesen konnte, fand Becky schon bemerkenswert, auch wenn er es nur schaffte, wenn es sich um kurze, einfache Wörter handelte. Nur im Rechnen war er ziemlich gut. Vielleicht wäre es ihm auf der Privatschule in Vermont auch nicht besser ergangen. Was würde aus ihm werden, wenn er sechzehn war und die Schule verlassen musste? Wie würde er seinen Lebensunterhalt verdienen?

Das Jugendamt fand für ihn einen Platz in einem Vorbereitungskurs fürs College. Zu allen war er nett und höflich und lernwillig, aber die Diagramme, die er anschauen sollte, und die Inhalte der technischen Handbücher, die er lesen sollte, ergaben für ihn keinen Sinn. Hier ging es nicht um einfaches Rechnen, sondern um Gewichte und Maße und Berechnungen, die seinen Horizont allesamt überstiegen. Damals wohnte er mit sechs eigens dafür ausgewählten, jungen Leuten in einem Haus. Alle waren Pflegekinder gewesen. Obwohl er sich nie beklagte, spürte Becky, dass man ihn hänselte oder drangsalierte. – Was würde er denn gerne machen wollen?

»Bei dir wohnen«, sagte er.

Der Boden unter ihren Füßen erbebte, ihre Welt brach zusammen. Später hielt sie dies für den schlimmsten Moment ihres Lebens. Sie hatte damals einen Freund, der samstags und sonntags nachts bei ihr schlief und gelegentlich auch unter der Woche. Wenn er nicht da war, brauchte sie ihre Ruhe, ihren ganz speziellen Samstagvormittag. Leider hatte sie einen schwachen Punkt: Sie konnte nicht sagen, was sie sagen musste.

»Will, diese Wohnung ist für zwei Leute zu klein. Du weißt doch, es gibt nur ein Schlafzimmer. Wie wär’s, wenn du allein wohnen würdest und wir uns öfter träfen? Wenn du oft herüberkommen und wir ausgehen würden?«

Er lächelte nett wie immer. »Hab nichts dagegen.«

Die für den Kurs verantwortliche städtische Behörde besorgte ihm einen Job als ungelernter Hilfsarbeiter bei Keith Beatty. Nach einer Weile hatte er sich Grundkenntnisse angeeignet. Becky war es, die für ihn die Wohnung über den »Star Antiquitäten« fand. Sie lag günstig für seinen Job in Lisson Grove und nicht so weit weg von ihr und hatte für ihn genau die richtige Größe: ein Ein-Zimmer-Appartement mit Küche und Dusche. Außerdem waren die übri-
gen Hausbewohner nett: Inez und ein ungemein fröhlicher Typ aus der Karibik namens Freddy und ein weiterer an-
genehmer Mann im obersten Stock. Nur Ludmilla hatte
sie nie getroffen. Anfangs befürchtete Becky, Will würde nicht wissen, wie man eine Wohnung sauber hielt. Sie machte sich schon darauf gefasst, für ihn das leidige Put-
zen zu übernehmen, aber diesbezüglich überraschte er sie. Er hielt nicht nur sein Appartement makellos sauber, sondern er erweiterte die von Inez zur Verfügung gestellte Grundausstattung um jede Menge hübscher Sachen. Einige hatte ihm vermutlich Inez geschenkt: eine grüne Glasvase, eine Porzellankatze, eine Lampe mit einem chinesischen Abakus als Fuß. Andere hatte Becky besorgt, doch ein paar Stücke kaufte er selbst: die rosa-grauen Kissen, die weißen Tassen und Teller mit den bunten Tupfen. Und er musste unbedingt ein Telefon haben. Ohne dass Will telefonisch erreichbar wäre, hätte Becky keine ruhige Minute mehr gehabt, obwohl sie bezweifelte, dass er richtig zu telefonieren verstand.

Zoobesuche liebte er, also ging sie mit ihm dorthin. Sie fuhren mit dem Schleppkahn nach Camden Lock und weiter auf dem Fluss bis zur Themse-Sperre. Ein, zwei Mal gingen sie ins Kino, aber diese Besuche verunsicherten sie, weil er alles, was er auf der Leinwand sah, für echt hielt. Sex verwirrte ihn, während ihn Gewalt zu Tode erschreckte. Wimmernd klammerte er sich an sie, bis sie mit ihm das Kino verlassen musste. Die Geschichte von Harry Potter hatte auf sie eindeutig harmlos gewirkt, er hingegen war davon so tief bewegt, dass er ihr beim nächsten Treffen gestand, er sei auf dem Bahnhof King’s Cross gewesen und habe nach Gleis 93/4 gesucht. Warum es das nicht gab, könne er einfach nicht verstehen. Meistens lud sie ihn in die Gloucester Avenue ein. Allerdings redete sie sich ein, dies geschehe nicht oft genug. Eigentlich sollte sie das mindestens einmal pro Woche tun, besser noch öfter. Was er wohl machte, wenn er in der Star Street allein war? Sie hatte ihm einen Fernseher gekauft, angesichts seiner Reaktion im Kino allerdings voller Zweifel und banger Vorahnungen. Er jedoch liebte
dieses Gerät. Sie hatte keine Ahnung, wie er mit Gewalt und Sex im Fernsehen fertig wurde, fürchtete sich aber davor, ihn zu fragen. Jede Lektüre jenseits der einfachsten Kinderbücher überstieg seinen Horizont, Musik interessierte ihn keinen Deut. Vermutlich putzte er die Wohnung und ordnete seine Accessoires neu. Und dann gab es immer noch ab und zu das große Ereignis, wenn ihn der Jugendsozialarbeiter auf ein Bier in den Pub mitnahm.

Während sie ein neues Video in ihren Recorder schob, fiel ihr das wirklich einzig Wünschenswerte ein: Wenn er eine Freundin fände! Ein nettes, vernünftiges und möglichst ein bisschen altmodisches Mädchen, das ihn bemuttern und umsorgen würde. Eine Partnerschaftsvermittlung? Für Menschen wie Will das Schlimmste auf der Welt. Vielleicht würde Inez jemanden kennen. Becky entschloss sich zu einem baldigen Gespräch mit Inez. Bevor sie das Video startete, wählte sie Wills Nummer. Als er sich wie immer mit einem ängstlich-fragenden »Hallo?« meldete, lud sie ihn für den nächsten Tag zum Mittag- und zum Abendessen ein.

Voller Begeisterung und Enthusiasmus sagte er zu. So hätte vermutlich ein anderer junger Mann auf das Angebot einer Weltreise reagiert.