Inhaltsverzeichnis
Der Mensch ist weder gut noch böse, nur beschränkt und träge. Alles fällt immer wieder zurück in den pedantischen, sanften Böschungswinkel der allzu menschlichen Ohnmacht.
Hans Jürgen von der Wense (→Zylinder)
in einem Brief an Herbert Jäger
Weihnachten 1962
Die Provinz um uns und die Provinz in uns
Provinz – ein Wort, das viele Assoziationen weckt und mit fast genauso vielen Klischees behaftet ist. Der altbekannte Antagonismus von Stadt und Land; die Verachtung, die man der Provinz entgegengebracht hat; ihre Idealisierung durch nationalistische bzw. rechtsgerichtete Kräfte; der Bauer als tumber Tor oder als Verkörperung schlichter und edler Tugenden; die Natur als unzivilisierte Einöde oder als Zufluchtsort für Zivilisationsmüde; Kleinstadt und Dorf als Hort der Spießigkeit oder beschaulicher Rückzugsraum; dazu all die düsteren Geheimnisse, die sich auf dem ach so biederen Land angeblich hinter den Fassaden verbergen, eine Mär, von der zwar so mancher Roman zehrt, die sich letzten Endes aber auch dem Klischee von Idylle und heiler Welt verdankt.
Die Wahrheit ist – wen wundert’s? – vielschichtiger, zumal in der heutigen Zeit, und dieses Buch stellt den Versuch dar, sie zu umreißen.
Die erste Frage lautet: Wie grenzt man das Projekt ein? Die Antwort fällt zunächst nicht schwer, denn im Gegensatz zum«Land», das nur Dorf und Natur umfasst, beinhaltet der Begriff«Provinz»auch die Kleinstadt. Vielleicht sogar die kleinere Großstadt, aber hier wird es heikel, denn eine Stadt wie Hannover, für manche Provinz, ist für andere, z. B. für Ex-Kanzler Schröder, eine Metropole. Und da er auch Putin so trefflich eingeschätzt hat, vertraue ich seinem Urteil und lasse die kleinere Großstadt außen vor.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich «Provinz»auf zwei Arten definieren lässt – sowohl geographisch als auch geistig. Im ersten Fall sind die Grenzen geklärt; im zweiten Fall sind sie weniger leicht zu bestimmen, denn der geistige Provinzialismus bzw. die Provinz in uns ist auf keine bestimmte Region beschränkt, sondern überall zu finden, auch in der Großstadt. Niemand, der in einer solchen lebt, ist automatisch frei von Provinz, ob als Herkunft oder Geisteshaltung. Und diese sollte, meiner Ansicht nach, unbedingt in diesem Lexikon enthalten sein.
Selbstverständlich soll die Provinz nicht verrissen werden, jedenfalls nicht die geographische. Im Falle des geistigen Provinzialismus liegt die Sache anders, denn dieser kann viel Unheil anrichten, vor allem, wenn er an der Macht ist. Das war in Deutschland der Fall, und obwohl es sich nicht um die angepeilten tausend, sondern«nur»um zwölf Jahre gehandelt hat, ist während dieser Zeit so viel Schaden angerichtet worden, dass die Nachbeben noch heute spürbar sind. Der geistige Provinzialismus, egal, an welchem Ort, in welcher Potenz oder Gestalt, hat deshalb so viele Breitseiten verdient, wie man ihm nur verpassen kann.
Wie jedes Lexikon soll auch dieses informieren, und daher enthält es unter anderem Stichwörter zu historischen Themen und Objekten. Aber da es kein herkömmliches Lexikon ist, findet man nicht nur Definitionen, sondern auch Erinnerungen und Erlebnisberichte darin; außerdem einige fiktive Einträge sowie solche, in denen bestimmte Themen in Brief-, Tagebuch- oder Interviewform abgehandelt werden. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt dieses Lexikon nicht, denn als geographisches Phänomen ist die Provinz allein in sprachlicher und begrifflicher Hinsicht zu vielfältig. Dieser Vielfalt konnte und wollte das vorliegende Lexikon nicht gerecht werden, weshalb es sich vor allem auf die norddeutsche Provinz bezieht. Für jemanden, der Lyrik und Prosa schreibt, ist ein solches Buch natürlich ein kleines Wagnis und ungefähr so, wie wenn ein Musiker«unplugged»spielt; hoffen wir, dass die Töne harmonieren, die hier angeschlagen werden.
Dieses Lexikon widme ich meiner Mutter und meinem 1989 verstorbenen Vater. Man hadert natürlich, aber irgendwann merkt man, dass man den Eltern einiges verdankt.
H. A., Handorf, Sommer 2008
A
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Aas Als Schimpfwort («Du Aas!») aus der Mode gekommen, in natura aber selbstverständlich immer noch anzutreffen. Beim A. handelt es sich entweder um nach einer Krankheit verendete oder von Autos überfahrene Tiere. Diese sind meist Kleinvieh wie Ratten, Igel, Hasen oder (leider) Katzen. Der Versuch, größere Tiere zu überfahren, z. B. Wildschwein oder Hirsch, endet meist damit, dass der Fahrzeugführer das A. und sein Auto Schrott ist. Schriftsteller mit zu wilder Phantasie wollen ihren Lesern einreden das A. an den Straßenrändern werde von Menschen beseitigt; das ist falsch. Stattdessen kümmert sich die Tierwelt selbst um ihre Opfer. Zu den wichtigsten Konsumenten von A. gehören hierzulande Krähe und Fuchs, aber auch Menschen, die – meist ahnungslos – Gammelfleisch verspeisen; sie leisten wie Fuchs oder Krähe einen wichtigen Beitrag zur Hygiene der Natur. Mein größtes A. war ein von Raureif überzogener Rehbock, den ich an einem Wintertag im hiesigen Bruch auf einer Weide entdeckte; ich beließ es dabei, ein paar Photos zu knipsen. Später, als nur noch das Gerippe übrig war, löste ich den Schädel und nahm ihn als Deko mit nach Hause. Menschliches A. (metaphorisch verstanden) gibt es leider im Überfluss, man muss sich immer wieder damit herumplagen.
Aberglaube In Peter Huchels Gedicht«Kindheit in Alt-Langerwisch»liest man die folgende Strophe:«Hörten den Knecht beschwören die Kuh, / Kranke von Schierling und Klee: / Milch, blaue Milch, Satansmilch du, / im Namen des Vaters vergeh!»
Gut möglich, dass es solche Sprüche, die heidnische und christliche Elemente in sich vereinen, zu Beginn des 20. Jhs. noch gab, aber heute ruft man lieber beim Tierarzt an, und wenn man davon absieht, dass manch einer Hindernisse bevorzugt links umkurvt, weil dies Glück bringen soll – in Supermärkten fordert man das Schicksal geradezu heraus, weil man sich darin meist gegen den Uhrzeigersinn bewegen muss -, scheint der A., der niemals nur auf die Provinz beschränkt war, in der alten Hasenpfotenform fast passé zu sein. Oder? Gut möglich, dass es von A. zeugt, wenn man einen Lieblingsgegenstand an den Rückspiegel seines Autos hängt oder Initialen und Schnapszahl auf sein Nummernschild prägen lässt, zumal man heute weite Strecken seines Lebenswegs auf vier Rädern zurücklegt; auf Holz wird immer noch geklopft, und sei es, wenn man durch das Versagen seines Glücksbringers einen Baum rammt. Der wahre A. dürfte jedoch in den kleinen, zwanghaften Ticks, Ritualen und Angewohnheiten bestehen, die unseren Alltag beherrschen. Gehen Sie auch erst aus dem Haus, nachdem Sie noch einmal in die Küche gerannt sind und überprüft haben, ob der Herd auch wirklich aus ist? Steigen auch Sie noch einmal kurz aus dem Auto, um nachzuschauen, ob Sie die Haustür tatsächlich abgeschlossen haben? Achten auch Sie bei Abwasch, Körperpflege, Hausputz oder Mahlzeiten penibel auf eine bestimmte Abfolge der Handgriffe? Sollte dies der Fall sein, dann hängen Sie dem A.n an, denn alle diese Angewohnheiten, die man nach einer Weile so automatisch ausführt, dass man ihren Sinn aus den Augen verliert, bekommen etwas Beschwörendes, und wenn man sie vergisst oder durcheinanderbringt, hat man umgehend das Gefühl, dass etwas Furchtbares passieren wird. Voilà! Das ist der A. in modernen Zeiten! (Von dem Glauben an die Kräfte des freien Marktes und den Fortschritt einmal abgesehen.)
Acker (a. Feld) Metaphorisch das, von dem man sich macht, wenn es brenzlig wird. Im handfesten Sinn der wertvollste Besitz sowie die Existenzgrundlage des →Landwirts, der auf dem A. Raps, Getreide, Kartoffeln, Spargel u. a. anbaut → Feldfrucht. Die Kulturlandschaft des A.s dominiert weite Teile der Provinz, denn zur Gewinnung von A.-Land rodete man jahrhundertelang die Wälder (außerdem für den Schiffbau; die Heide, auch eine künstliche Landschaft, verdankt sich dem Holzbedarf der Lüneburger Salinen). Wie in den Tropen ging es auch bei diesem Raubbau an der Natur um Überleben und Profit; heute fragt man sich, welche Folgen dieser Kahlschlag für das Klima in Mitteleuropa hatte. Die Humusschicht des A.s, die uns ernährt, ist dünn. Deshalb muss man sie pfleglich behandeln, anständig düngen und gelegentlich zart durch die Finger rieseln lassen, damit sie uns erhalten und gewogen bleibt.
Ackerrain (a. Feldrain)«Heute wieder Ackerraine photographiert. Allerliebst, was auf diesen schmalen Grünstreifen vor den Feldern wächst: Hirtentäschel, Kamille, Klatschmohn, Hahnenfuß u. vieles mehr; auf Acker alles totgespritzt. Sogar seltene Bockshechel entdeckt – u. gepflückt, um sie zu pressen. Oh, Frl. Gründel wird mich schelten wegen dieser Schandtat! Sicher wieder Albträume von Pflanzenmonstern – Rache der Flora!!! Aber ich konnte nicht anders …»(Aus dem Tagebuch von Karl K., Dorf D., Eintrag vom 02.05.2004)
Adel Es gibt ihn noch, den A., doch seiner heutigen gesellschaftlichen Rolle gemäß hält er sich im Hintergrund, und seine Herrenhäuser sind oft genauso gut versteckt wie die →M oscheen. So fuhr ich jahrelang an einem Gehölz vorbei, ohne zu ahnen, dass sich darin das neogotische Herrenhaus derer von Schütz samt eines schönen Parks verbirgt. Am«Tag des offenen Denkmals»hat man Zugang zu dem einen oder anderen Adelsgrundstück, meist ein →G ut mit Herrenhaus. Der A. an sich ist dezent; lästig sind die Parvenüs, die entweder eingeheiratet haben oder ein Gut bewirtschaften, ohne einen Titel zu führen. Ihr Minderwertigkeitskomplex sorgt für Prahlerei und herrisches Auftreten, was unangenehm, vor allem aber unzeitgemäß und daher lächerlich ist. Einmal durfte ich beobachten, wie einer solchen Person rasant die Luft entwich, als sie von einem Landarbeiter angepampt wurde; das war entlarvend. Außerdem gibt es den Künstleradel vom Schlage eines Baselitz, der im nahen Derneburg ein Schloss besaß, vielleicht als Erfüllung eines Kindheitstraums. Die Zeiten, als der A., dem die Bauern Hand- und Spanndienste leisten mussten, in seinen Dörfern durch einen Vogt die Gerichtsbarkeit ausübte, sind lange vorbei. Der A. ist zwar immer noch eine weitgehend hermetische Kaste mit dem entsprechenden Traditionsbewusstsein, passt sich aber fast nahtlos in die Gesellschaft ein. Viel präsenter als der klassische A. sind seine bürgerlichen Pendants wie der Schützenkönig (→ Schützenfest), die Spargelkönigin, die Weinkönigin, die Rapskönigin, die Kaiserin der Schweinetröge und die Regentin der Rinderställe – fast immer hübsche, dralle Frauen, die ihr Zepter zu Werbezwecken führen und mit ihrem Liebreiz Konsumenten und Touristen anlocken sollen; auf Photos haben sie gern einen Ministerpräsidenten (d. h. Landesfürsten) im Arm, der wiederum eine Flasche Wein, eine Spargelstange, einen Rapsstängel, ein Rind oder Schwein in der Hand hält. Das soll die Wiederwahl sichern. Die Königin dagegen trägt ihre Krone nur für eine Saison – schließlich leben wir in einer parlamentarischen Demokratie.
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Allergie Allergiker haben es in der Provinz schwerer als in der Großstadt. Auf bestimmte Nahrungsmittel kann man verzichten, aber gegen den Pollenflug ist so leicht kein Kraut gewachsen. Früher nannte man das«Heuschnupfen», und relativ wenige Menschen litten darunter. Heute ist die A. eine Volkskrankheit, die sich nicht zuletzt übermäßiger Behütung verdankt. Nicht nur die Freiheit kann man zu Tode schützen, sondern auch die Gesundheit.
Allmende (→Realgemeinde) Im Mittelalter eine von allen Bauern gemeinsam genutzte Weidefläche, manchmal auch ein Waldstück, dieses zur Versorgung mit Brennholz und zur Schweinemast mit Eicheln. Die A. ist längst Vergangenheit, hat sich aber zum Teil in → Flurnamen wie«Schweineweide»oder«Bullenwiese»erhalten.
Alteisen Dank des großen Bedarfs an Stahl, vor allem im asiatischen Raum, hört man in deutschen Dörfern nach langen Jahren der Stille wieder das Gebimmel der A.-Sammler. Diese sind nicht auf Edelmetalle aus, sondern versuchen, dem Dorfbewohner ganz profanen Schrott abzuluchsen, dessen Wert in letzter Zeit stark gestiegen ist, weil er zu breitflanschigen Stahlträgern veredelt wird; aus diesem Grund wurde, wie man mit Erstaunen vernimmt, in Tschechien eine komplette, mehrere Tonnen schwere Eisenbahnbrücke geklaut. Da Bofrost nicht bimmelt, kann man nur hoffen, dass auch Lumpensammler und Eiswagen bald eine Renaissance erleben.
Altenheim«Liebe Otti, noch sind wir in den besten Jahren! Gottlob! Du ahnst ja nicht, was hier los ist: Als ich auf der B 999 in meinem Thunderbird eine Spritztour durch die Provinz machte, stellte ich fest, dass die Altenheime überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Warum stehen sie immer so dicht an der Straße? Weil die Alten taub sind? Weil die Straße eine Metapher für den Lebensweg ist? Weil Bauland dort wenig kostet? Warum sehen sie aus wie bessere Gefängnisse? Vier Mal musste ich rechts ranfahren, weil Rettungswagen mit heulender Sirene zu einem dieser Heime rasten. ‹Da wird ein Bett frei›, dachte ich – schwuppdiwupp wird man zum Zyniker. Grauenhafte Vorstellung, sein Leben in einer solchen Gruft zu beschließen; da geht man doch lieber in den Wald, um zu sterben. (Kommst Du mit, liebe Otti?) Unselige Investoren, die sich mit dem Bau dieser Heime den Arsch vergolden – schwuppdiwupp wird man vulgär, verzeih, liebe Otti. Gut, wenn ich an Oma denke, die in ihrer Demenz die ganze Familie tyrannisiert hat, verstehe ich, dass manch einer seine Alten zu Lagerhaft verurteilt; aber auch Siechtum und Tod gehören dazu. Erst entfernt man Obdachlose und Bettler aus der Innenstadt, dann die Alten aus der Familie: zu hässlich, zu schrecklich; auf keinen Fall ein Memento mori mit Rollator! Ach, Otti, wie werden wir wohl enden? In einer Luxusvilla wie die Altenheiminvestoren, umhegt von hübschen, jungen Pflegerinnen, die uns füttern und unseren Goldhintern abwischen? Bestimmt nicht. Weißt Du was? Ich werde später in meinem Thunderbird über eine Klippe in der Bretagne fahren und den Tod in der schäumenden Gischt suchen. Denn man findet ihn immer. Leichter als das Glück. Findest Du nicht auch?»(Brief von Thomas T., Oldtimerfan, an Otti O., seine große Schwester.)
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Anglizismus Aus dem Englischen entlehnter und im Deutschen benutzter Begriff. Der A. ist aufgesetzt, oft falsch, aber inflationär in Gebrauch. An einer Ampel stand einmal das Auto eines Pflegedienstes namens«Critical Care»neben mir,«Riskante Pflege». Eine Zustandsbeschreibung des Pflegesystems, wohl wahr, vor allem jedoch ein glänzendes Beispiel für den absurden Gebrauch des A., der in Wirtschaftsund Geschäftsleben Weltläufigkeit, Lässigkeit, Schwung sowie modernes Lebensgefühl suggerieren soll – und muss, weil all dies nicht wirklich vorhanden ist. Der A. ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Provinzialismus, der sich durch englische Etiketten aufzuwerten versucht, und somit die Lebenslüge einer ganzen Nation. Ein weiteres Beispiel für diesen ins Kraut schießenden Unsinn ist die Deutsche Bahn mit dem«Hotspot»,«Servicepoint»,«Touchpoint»und dem«Counter nebenan». Den Zugführer, der tout le monde draußen auf dem Perron oder in den Kupees seines ICE auf Englisch begrüßen muss, kann man nur bemitleiden, zumal er sich dabei häufig die Zunge verrenkt und gerade dadurch weder hip noch hop, sondern zutiefst provinziell klingt. Im Bereich der Fachsprachen hat der A. seine volle Berechtigung, doch in vielen anderen Fällen ist er so überflüssig wie ein Kropf. (Weiß noch jemand, was ein Kropf ist?)
Apotheke Eines der häufigsten Geschäfte in der Provinz. In manchen Kleinstädten gibt es Straßen mit mindestens drei fußläufig voneinander entfernten A.n, was entweder darauf hindeutet, dass das Leben in der Provinz ungesund ist, oder beweist, dass wir ein Volk von Hypochondern sind. (Wohl eher Letzteres.) Dazu kommen die privaten, von Globuli und anderen Medikamenten überquellenden Arzneischränke. Diese zeugen von einer zwanghaften Sorge um die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers. Man rüstet sich mit Vorräten zur Abwehr und Bekämpfung von Krankheiten und Gebrechen, mit einem Schutzschild, nicht unähnlich der →A ußenjalousie, der von außen kommende Störfaktoren abwehren soll. Angst vor dem Tod und Furcht vor dem Leben fließen hier ineinander. Zudem dürfte sich hinter diesem Übermaß an Arzneimitteln ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper verbergen – man traut ihm nicht. Man traut sich selbst nicht mehr. Oder liegt es daran, dass Krankheiten so nützlich sind, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu erheischen und anderen seinen Willen aufzuzwingen? Denn eines darf man nicht vergessen: Allem Anschein zum Trotz hat der Kranke stets Macht über den Gesunden.
Asylbewerberheim Das A., aus Wohncontainern oder Fertigbauteilen errichtet, liegt meist auf halbem Weg zwischen den Dörfern im Niemandsland, oft am Rand von Fabrikgeländen oder verödeten Gasthöfen, immer jedoch an einer größeren Straße (→A ltenheim). Busse halten dort selten oder gar nicht. Der Asylbewerber kann deshalb ausgiebige, der Gesundheit förderliche Fußmärsche unternehmen und dabei die hiesige Flora und Fauna bestaunen, darunter Vertrautes, denn die Zugvögel sind ihm vorausgeeilt. Das A. ist ein Fremdkörper in der Landschaft, ein Stolperstein für den Blick, und man darf vermuten, dass genau dies bezweckt ist: ein unschönes UFO, das mitsamt seinen Außerirdischen möglichst schnell abheben und auf seinen unwirtlichen Planeten zurückkehren soll, bevor das Immunsystem der Einheimischen Antikörper zu bilden beginnt. Diese Ausgrenzung ist, wie man weiß, kontraproduktiv. Hierzulande müsste es so viele Nichteuropäer geben, ganz gleich welcher Hautfarbe und Herkunft, dass sie im Straßenbild gar nicht mehr auffallen. Der Status quo ist ohnehin ein Konstrukt; in Wahrheit ist immer alles in Bewegung, und alles wird von den Prinzipien von Vermischung und Austausch beherrscht – inklusive der Kultur. Deshalb ist auch die von Konservativen beschworene«Leitkultur»nur ein Trugbild. Das A. erinnert ungut an die Situation der Juden, die draußen vor der Stadt leben mussten, bevor sie Bürgerrechte erhielten und Wirtschaft und Kultur bereichern konnten.
Außenjalousie In der Provinz kündigt sich der Abend durch das Herunterlassen der A. an. Onomatopoetisch umschrieben klingt das etwa so: ratter-ratter-ratter-KLACK!, und ist überall im Dorf zu hören. Die meist graue A. ist eine Verbündete der →Wärmedämmung und riegelt die Häuser hermetisch ab. Was, fragt man sich, geht in diesen Bunkern vor? Die Antwort dürfte ebenso banal sein wie das Leben der Insassen: Die A. blockt das fremde Auge ab, das einen frischen Blick auf das eigene Dasein bieten könnte. Hinter der A., einem Bollwerk der Privatsphäre, schmort man im eigenen Saft. Nebenbei suggeriert sie Sicherheit und Schutz vor Einbrechern und hält die Schrecken und Versuchungen der Nacht fern. Daher steht sie für die Angst vor dem Leben draußen, das den Alltag stören könnte. Doch Abschottung hat Unfruchtbarkeit zur Folge, eine Faustregel, die im Großen wie im Kleinen gilt.
Auto In der Provinz mag das Leben günstiger sein, doch man braucht ein A., besonders, wenn man auf dem Dorf wohnt. Im Gegensatz zur mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln reichlich gesegneten Großstadt fahren die Busse selten und während der Schulferien fast gar nicht, und →G eschäfte sind kaum noch vorhanden. Daher muss man sich in die nächste Provinzmetropole begeben, was, vor allem bei einem Großeinkauf, mit dem A. am einfachsten ist. Davon abgesehen gibt es keinen Unterschied zwischen dem A. in der Provinz und dem in der Großstadt. Da wie dort ist zu beobachten, dass man die verfallende Hülle des Körpers durch eine aus Alu-Blech-Plastik verjüngt; der alte Herr erwirbt zu diesem Zweck einen Geländewagen, die Dame in den Wechseljahren einen Roadster. (Wie viele solcher A.s, natürlich auch bei jüngeren Leuten, zu einer Privatinsolvenz beitragen, möchte man nicht wissen.) Die Eitelkeit, in diesem Falle in Gestalt des Potenzund Statussymbols A., ist daher einer der größten Umweltverschmutzer, und weil sie unausrottbar ist, muss man hinsichtlich des →Klimawandels pessimistisch sein.
B
Bäckerei Einer der wenigen Läden, die es auf dem Dorf noch gibt. Auf ihren Tüten wirbt eine hiesige B. mit dem Slogan«Handwerklicher Brotgenuss». Was immer das bedeuten mag – ob man das Brot vor dem Verzehr aufschrauben, die Brötchen mit der Säge halbieren oder die Torte gemäß beigefügter Anleitung erst zusammenleimen muss -, die Hervorhebung des Handwerks tut not, weil von diesem angesichts des Trends, die Rohlinge der Produkte im Elektroofen des Ladens von Verkäuferinnen backen zu lassen, nicht viel übrig ist. Natürlich sind sie warm, die Brötchen, die direkt im Laden und somit kurz vor dem Verkauf gebacken werden, und da die heutige B. meist mehrere Filialen hat und die Kundschaft verwöhnt ist, geht es vermutlich nicht mehr anders. Trotzdem hat diese Methode den Ruch der Fabrikproduktion, und warum sollte man seine Brötchen noch in einer B. kaufen, wenn die Tanke das Gleiche in Grün macht? Da kann man sich ebenso gut Aufbackbrötchen aus dem Supermarkt besorgen. Wenn ich mich recht erinnere, waren Brötchen einmal etwas Besonderes, das man nur am Wochenende aß; und wenn ich am Samstag in aller Frühe zur B. radelte, um die bestellte Tüte voll zu holen, musste ich in die Backstube, wo der Meister mit seinen Gesellen schwitzte. Nüchtern betrachtet war das wahrscheinlich nicht besser, doch das Handwerk, das heute extra (und in nebulösem Deutsch) beschworen werden muss, weil es offenbar nicht mehr wirklich existiert, war greifbarer und individueller. Na, Hauptsache, es schmeckt, und wie produziert wird, ist dem Magen sowieso egal. Immerhin gibt es hierzulande so viele Brotsorten wie nirgendwo sonst auf der Welt – was will man mehr?
Baggersee Wird gelegentlich von arglistigen Nixen bewohnt, die den Mann mit sich auf den Grund zu ziehen versuchen, wo er elendig ertrinkt. Doch im B. leben nicht nur solche Ungeheuer, sondern auch Fische, ausgesetzt von Anglern, die sie am Haken wieder herausholen (dazu später mehr). Der B. dient natürlich vor allem dem Kiesabbau und heißt deshalb auch Kiesgrube. Man findet ihn, oft in Verbindung mit einem Zementwerk, überall dort, wo sich während der Eiszeit in Moränenlandschaften und Urstromtälern Kies abgelagert hat. Da man bei dessen Abbau tief ins Erdreich eindringt, füllt sich die Grube bald mit Grundwasser, und so entsteht der B. Ein Saugbagger schürft den Kies vom Grund und pumpt ihn durch Rohre an Land, wo er gesiebt und nach Körnung sortiert gelagert wird. Man verarbeitet ihn zu Zement oder verwendet ihn beim Straßenbau. Solange der B. in Betrieb ist, lässt seine von Baggerschaufeln zerfurchte Landschaft an die bizarre Szenerie eines fremden Planeten denken – bunte, freigeschaufelte Erdschichten, von Humus über Lehm bis zu Sand, riesengroße, rostige Gerätschaften und Gestänge, von Unkraut überwucherte Hänge, dazu das unwirklich grüne oder blaue Wasser. Mein Vater fand als Kind Donnerkeile in den hiesigen B.n, manchmal gibt es auch archäologische Funde, z. B. Urnenfelder aus der Bronzezeit, die von den Baggern freigelegt werden. Da die Betreiber verpflichtet sind, die Ufer zu begrünen, wirken viele B.n nach ihrer Stilllegung fast wie natürliche Seen. Man würde liebend gern darin baden, doch sie werden leider meist an Angelvereine verpachtet, deren Mitglieder jeden Schwimmer vertreiben, indem sie ihre Ruten wie Peitschen schwingen. Ob die Fische durch den Anblick tauchender Kinder oder durch das Wasser pflügender Bierbäuche traumatisiert werden? Der B. stellt auf jeden Fall einen gravierenden Eingriff in die Landschaft dar, weil der Mensch dort Seen schafft, wo es zuvor keine gab; was kein Übel ist, sondern im Gegenteil eine Bereicherung darstellt. Im Umkreis dieses Dorfes gibt es ein halbes Dutzend Kiesgruben, manche stillgelegt, die man eine Zeit lang in eine Erholungslandschaft umzuwandeln und durch die Benennung«Seenplatte»zu adeln gedachte, ein Plan, der im Sand der B.n verlief. Warum nicht mehr Seen zum Baden freigegeben werden, ist unverständlich, denn es würde die Lebensqualität erhöhen.
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Bahnübergang«Im Prinzip habe ich nichts gegen Bahnübergänge. Doch es strapaziert meine Nerven über Gebühr, mitten in der Pampa vor geschlossenen Schranken zu stehen und zwanzig Minuten Lebenszeit damit zu verplempern, auf einen Güterzug zu warten, der im Schneckentempo aus der grünen Ferne angezuckelt kommt. Ich empfinde das als Nötigung, vor allem, wenn ich einen Termin habe, und bei diesen Gelegenheiten habe ich fast immer einen Termin! Wirklich: Im Prinzip habe ich nichts gegen Bahnübergänge, wirklich nicht, zumal es im Sommer durchaus angenehm sein kann, frische Luft ins überheizte Auto zu lassen; ich lausche auch gern den Grillen, betrachte gern die Luft, die auf dem Asphalt flirrt, bestimme gern die über den Feldern kreisenden Greifvögel (ich habe während dieser Wartezeiten oft Falken und Milane, gelegentlich sogar liebestolle Hasenpärchen gesehen). Doch um offen zu sein, treibt mich diese Warterei zur Weißglut, zumal die Güterzüge, wenn sie endlich kommen, so lang sind, dass das Vorbeifahren weitere zwanzig Minuten dauert. In meiner Jugend gab es am Bahnübergang zu den Wiesen eine Sprechanlage, mittels derer man den Herrn im Stellwerk bitten konnte, die Schranken zu öffnen. (Falls es überhaupt Schranken oder Signale gibt; manchmal laden die Übergänge ja regelrecht dazu ein, sich vom Zug mitschleifen zu lassen.) Wäre so etwas nicht bei allen ländlichen Bahnübergängen denkbar? Ich wäre froh, wenn Sie diesen Vorschlag ernsthaft erwägen würden.»(Beschwerdebrief von Horst H., Studienrat a. D., an die Deutsche Bahn.)
Bauer Trotz abnehmender Zahl hat der B. immer noch eine wichtige Stellung inne, was schon anhand der in die Landwirtschaft fließenden Subventionen deutlich wird. Dies dürfte der uralten Tradition seines Berufes sowie der Tatsache geschuldet sein, dass der B. über Jahrhunderte für die Ernährung der Bevölkerung zuständig war. Heute heißt er →Landwirt, und viele Nahrungsmittel werden importiert. In den Zeiten der Leibeigenschaft bestand die Landbevölkerung, von Handwerkern und einigen Händlern abgesehen, fast nur aus dem B. und dem Landarbeiter. Den →A del gab es natürlich auch, aber zahlenmäßig war er weit unterlegen. Deshalb spielte der B. im Dorf die beherrschende Rolle; seine Arbeiten und Festtage, die sich am Lauf der Jahreszeiten (und selbstverständlich auch an kirchlichen Festtagen) orientierten, prägten den Alltag des Dorfes. Trotz seiner wichtigen Rolle als Nahrungsmittelerzeuger wurde der B. jedoch lange gesellschaftlich nicht akzeptiert, was natürlich vor allem für die Klein-B.n galt – die großen Höfe und vor allem die Güter, die sich im Besitz des Adels befanden, waren etwas anderes. Um ihre Herkunft bei Ausflügen in die Stadt nicht durch gebräunte Haut zu verraten – heute nicht nur modisch und sexy, sondern ein auf teure Fernreisen hinweisendes Statussymbol -, trugen meine Großmütter bei der Arbeit auf dem Feld noch den breitkrempigen sog. Schlunterhut, die Männer ein Leinenhemd mit langen Ärmeln, dazu oft Weste und Hut; die typische olivgrüne Arbeitskluft des modernen Landwirts war zu jener Zeit unbekannt. Damals hatte der B. Land, hielt Rinder, Hühner, Gänse, Schweine, Ziegen und andere Nutztiere, war weitgehend Selbstversorger und entsprach in etwa dem Klischee, das sich auch heute noch hält, obwohl es längst veraltet ist. Durch Urbarmachung, Rodung und die jahrhundertelange Bewirtschaftung des Bodens hat der B. unsere Landschaften maßgeblich geprägt; das, was wir heute Natur nennen, ist ja oft nicht natürlich, sondern das Ergebnis eines ständigen Wandels durch Menschenhand. Ob man nun auf ihn herabsah oder ihn auf gefährliche Weise idealisierte, aus unserer Kulturgeschichte ist der B. jedenfalls nicht wegzudenken: Am Anfang war das Bauerndorf; dort ist der Ursprung der Zivilisation zu suchen, die dann in der Stadt verfeinert und zu dem entwickelt wurde, was sie heutzutage ist. Den B. hat sie zwar weitgehend hinter sich gelassen, aber da wir alle essen müssen, wird es ihn als Landwirt noch lange geben, wahrscheinlich, bis die Sonne für immer erlischt.
Bauer, Hierarchie Die bäuerliche H. sah aus wie folgt: Oben stand der Ackermann, dessen Hof zu den ältesten im Dorf zählte und über Generationen in der Hand einer Familie blieb; Zins sowie Hand- und Spanndienste für den Grundherrn hielten sich in Maßen. Danach kam der Kothsasse (o. Köther); diese Klasse entstand im 16. Jh. durch Rodung von Wald bzw. Urbarmachung von Ödland und die damit einhergehende Ansiedlung neuer Bauern. Zuletzt kam der Brinksitzer, der wenig Land und kaum Vieh hatte und deshalb oft einen handwerklichen Nebenjob ausübte. Diese H. war den Bauern zu Beginn des 20. Jhs. noch gewärtig; heute spielt sie keine Rolle mehr.
Bauernfänger Wie man weiß, ist die Landmaus mit ebenso viel Dummheit gesegnet wie die Kartoffel mit Stärke; daher wurde sie immer wieder von gewieften Stadtmäusen abgezockt. Diese kauften auf dem Land in den 50er- und 60er-Jahren für einen Appel und ein Ei Antiquitäten wie Sekretäre und Bauernschränke (→H ausverkleidung) und nahmen die Landmäuse nach Strich und Faden aus. Heute sind Aktionsfeld und Möglichkeiten des B.s durch Internet sowie moderne Kommunikationsmittel ins Unermessliche gewachsen. Häufig lässt er sich über ein Callcenter anmelden, und wenn er eintrifft, um dem Arglosen günstige Kredite, Konsumglück oder Rentenparadiese anzudrehen, zückt er eine cremefarbene Visitenkarte mit Wappen, Prägedruck und Schnörkelschrift. Diese Pseudo-Seriosität macht stutzig, doch man sollte spätestens Lunte riechen, wenn der B. in einem klapprigen Golf Zwo davonrattert, der im schroffen Gegensatz zum Pomp der Visitenkarte steht. Deren Angaben (Mail-Adresse, Telefonnummer etc.) erweisen sich oft als fiktiv, was die Geprellten mit Verzweiflung, Wut und Ohnmacht erfüllt. Bei jeder Belästigung durch ein Callcenter sollte man sofort auflegen, vor allem, wenn eine Blechstimme verkündet, man hänge jetzt in ihrer«Warteschleife»- denn diese Schleife erweist sich meist als Strick.
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Baulücke Der Umriss eines Dorfes muss quadratisch, praktisch, gut sein. Daher gilt es, die B. zu schließen. Ein Acker, der in das Dorf hineinragt? Eine Weide, auf der die Rinder zwischen Neubauten wiederkäuen? Her mit dem Bebauungsplan, denn so etwas darf nicht geduldet werden! Die gerade und geschlossene Linie ist das Nonplusultra, auch im Falle von Bach, →Fluss und Waldrand, ein Ordnungsungeist, der Ortschaften und Landschaften viel von ihrem Reiz geraubt hat. Das Widerspenstige muss gezähmt, das Ungerade begradigt werden, damit die liebe Seele Ruhe hat – brav, brav! Und außerdem eine Ästhetik steriler Reibungslosigkeit. Falls das himmlische Jerusalem auch so aussieht, sollte man lieber eine Fahrkarte in die Hölle lösen.
Baumarkt«Hochverehrtes Fräulein Gründel, letzten Samstag habe ich eine Expedition in den Baumarkt unternommen. Haben Sie früher je einen gebraucht? Ich nicht. Trotzdem scheint man ohne ihn nicht mehr leben zu können. Diese Hallen im Germania-Format! Diese Softpop-Berieselung! Diese erschlagende Fülle von Dingen! Alle korrekt benannt, gewiss, doch die Bezeichnungen klingen so bizarr wie Juristendeutsch oder Texte auf Packungsbeilagen von Medikamenten: Aufsitzmäher, Gerüstbock, Rollrasen, Feinsteinzeug, Feuerpyramide und Zäune mit Namen – Lüneburg, Freiburg, Köln -, die an Fregatten der Bundesmarine erinnern (Sie wissen ja, ich war beim Bund). Die Zahl der Mitarbeiter verhält sich allerdings umgekehrt proportional zu der der Artikel. Nicht, dass man nicht nett und kundig bedient werden würde, aber man irrt oft durch diese Märkte wie Hänsel durch den Hexenwald. Trotzdem kehrt man immer wieder dorthin zurück! Warum tut man sich das an, liebes Fräulein? Weil der Baumarkt für die Illusion sorgt, alles, aber auch alles zu bieten, was man für die Aufhübschung seines Heims braucht? Vielleicht. Aber genau hier liegt der Hase im Pfeffer, wenn ich so sagen darf, denn diese Märkte bedienen einen Durchschnittsgeschmack, der zu Kitsch und Pseudo-Pomp neigt. Oh, natürlich, jeder will individuell sein, doch im Grunde herrscht Einförmigkeit; einzigartig ist nur der Grad an Planlosigkeit, mit dem man seine Einkäufe daheim zusammenwürfelt. Und was ist die Folge, hochverehrtes Fräulein? Die Folge sind absurd aufgebrezelte Anwesen, deren ‹Individualität› in Wahrheit aus Allerweltseinzelteilen besteht – drehen Sie mal eine Runde durch Ihr Dorf, dann werden Sie schon sehen: ‹Uniforme Vielfalt› nennt man das. Und diese liegt vor allem am Konzentrationsprozess der Wirtschaft, in jeder Sparte! Wir alle, liebes Fräulein, werden täglich hinters Licht geführt; wir lassen uns zum Zwecke des Konsums Freiheit und Individualität vorgaukeln, obwohl es beides gar nicht wirklich gibt. Tja, das hätten Sie nicht gedacht, wie? Übrigens habe ich mir im Baumarkt einen Spielzeugtrecker gekauft.»(Brief von Edgar E., Hobbyethnologe, Dorf D., an seine Verehrerin, die Bankangestellte G. Gründel.)
Beinamen Früher, als es in den Dörfern noch keine Straßennamen gab, weil eine Nummerierung reichte (z. T. bis in die 60er-Jahre des 20. Jhs.), hatten die Leute zur besseren Unterscheidung B. Im Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es den«schnellen Ebeling»und den«kurzen Ebeling»; weil es mehrere Ahrens’ gab, wurde mein Vater der«lange Ahrens»und mein Großvater, da er sich gern herrschaftlich gebärdete,«der General»genannt (er sah angeblich noch im Sarg wie ein solcher aus). Sein Vater wiederum hieß«der Geplättete», weil er immer nur gut gebügelt aus dem Haus ging. Solche B., die sowohl von Spott als auch von Herzlichkeit zeugen, sind mit der Abnahme der Bedeutung und der Zahl der Bauern weitgehend verschwunden.
Bemeiern Bauernfamilien wurden vom Grundherrn mit Höfen bemeiert, d. h. belehnt. Das B. war eine Art Erbpacht. Der Grundherr konnte den Hof nur im Falle von Misswirtschaft oder Ungehorsam abmeiern, d. h. der damit belehnten Familie entziehen.