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Zum Buch

Albert Einstein war eines der größten Genies des 20. Jahrhunderts, er formulierte die Gleichung E=mc², die den Zusammenhang von Masse und Energie definierte, und entwickelte bahnbrechende Gedanken zu Raum und Zeit. So sagte er voraus, dass das Universum expandiert. Und doch stand der von der ganzen Welt gefeierte Wissenschaftler am Ende seines Lebens unter seinen Kollegen ziemlich isoliert da.

David Bodanis schildert die Geschichte von Einsteins größtem Irrtum, der letztlich dazu führte, dass er sich mit den aufregenden Erkenntnissen seiner Nachfolger zur Quantenmechanik nicht mehr anzufreunden vermochte und die Idee der Unschärferelation verwarf. Bodanis verbindet elegant das persönliche Drama mit der faszinierenden Geschichte der Physik und schafft es, komplizierte Sachverhalte auch für Laien verständlich und spannend zu erzählen.

Zum Autor

David Bodanis wuchs in Chicago auf und studierte an der University of Chicago Mathematik, Physik und Geschichte. Er hat als Journalist gearbeitet und u. a. an der Universität Oxford unterrichtet. Er ist Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Sachbücher, darunter des auch in Deutschland sehr erfolgreichen Buchs über die Vorgeschichte der Gleichung E=mc², Bis Einstein kam, ebenfalls bei DVA.

David Bodanis

Einsteins
Irrtum

Das Drama eines
Jahrhundertgenies

Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Einstein’s Greatest Mistake. A Biography bei Houghton Mifflin Harcourt, Boston / New York.

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Auszüge aus den Collected Papers of Albert Einstein drucken wir mit freundlicher Genehmigung von Princeton University Press ab.

1. Auflage

Copyright © 2016 David Bodanis

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Manuela Knetsch, Göttingen

Umschlag: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: Albert Einstein in Princeton, 1944 © Popperfoto/Getty Images

Typografie und Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Minion

ISBN 978-3-641-20159-3
V001

www.dva.de

Für meinen Sohn Sam

Inhalt

Prolog

Teil I
Die Ursprünge eines Genies

Kapitel 1
Eine Kindheit im späten 19. Jahrhundert

Kapitel 2
Erwachsen werden

Kapitel 3
Annus mirabilis

Kapitel 4
Erst der Anfang

Teil II
»Der glücklichste Gedanke meines Lebens«

Zwischenspiel 1: Von beschränkten Linien, neugierigen Quadraten und allwissenden Kugeln

Kapitel 5
Eine Ahnung von der Lösung

Kapitel 6
Zeit zum Denken

Kapitel 7
Die Werkzeuge werden geschärft

Kapitel 8
Die größte Idee

Teil III
Ruhm

Kapitel 9
Richtig oder falsch?

Kapitel 10
Totalität

Zwischenspiel 2: Zukunft und Vergangenheit

Kapitel 11
Risse im Fundament

Teil IV
Berechnungen

Kapitel 12
Wachsende Spannungen

Zwischenspiel 3: Kerzen am Himmel

Kapitel 13
Die Herzkönigin ist schwarz

Kapitel 14
Endlich entspannt

Teil V
Der größte Fehler

Kapitel 15
Der Emporkömmling wird zermalmt

Kapitel 16
Die Unschärfe der modernen Zeit

Kapitel 17
Diskussion mit dem Dänen

Zwischenspiel 4: Musik und Unausweichlichkeit

Teil VI
Der letzte Akt

Kapitel 18
Streuungen

Kapitel 19
Isolation in Princeton

Kapitel 20
Das Ende

Prolog

Einstein auf dem Nachhauseweg in Princeton, 1953

Esther Bubley, The LIFE Images Collection / Getty Images

Princeton, 1953. Die Touristen blieben meistens auf dem Bürgersteig gegenüber dem Haus mit den weißen Schindeln in der Mercer Street stehen. Dennoch konnten sie kaum ihre Aufregung im Zaum halten, wenn sie den alten Mann ausmachten, der langsam vom Universitätsgelände zurück nach Hause ging. Oft trug er einen langen Stoffmantel und – wenn in New Jersey gerade ein besonders schneidender Wind wehte – eine dunkle Strickmütze über den berühmten, widerspenstigen Haaren.

Manchmal überquerten besonders mutige Touristen die Straße und sagten ihm, wie sehr sie ihn bewunderten, oder baten um ein Autogramm. Aber die meisten waren zu schüchtern oder ehrfürchtig, sprachen ihn nicht an und hielten respektvoll Abstand. Der alte Mann war nämlich Albert Einstein, das größte Genie aller Zeiten, und er war nur ein paar Meter von ihnen entfernt; sein weises, runzeliges Gesicht ließ darauf schließen, dass er zu tieferen Einsichten gelangt war, als es anderen Menschen möglich schien.

Einstein war der berühmteste lebende Wissenschaftler, aber trotz seiner Bekanntheit ging er in der Regel allein spazieren, manchmal auch gemeinsam mit einem alten Freund. Zwar wurde er öffentlich gefeiert und ständig zu hochoffiziellen Empfängen, ja sogar zu Filmpremieren eingeladen – vor allem Hollywoodstars waren erpicht darauf, sich mit ihm fotografieren zu lassen –, aber die in jenen Tagen aktiven Wissenschaftler hatten kaum noch etwas mit ihm zu tun, schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Dass man ihn so behandelte, lag nicht an seinem Alter. Der große dänische Physiker Niels Bohr war zwar noch keine 74, wie Einstein, aber mit seinen immerhin 68 Jahren neuen Ideen gegenüber nach wie vor so aufgeschlossen, dass schlaue Doktoranden nichts lieber taten, als an seinem vor Geist sprühenden Institut in Kopenhagen in seiner Nähe zu sein. Einstein dagegen war schon seit Jahrzehnten von den Hauptströmungen der Wissenschaft abgeschnitten. Natürlich spendete man höflichen Applaus, wenn er, was selten vorkam, am Institute for Advanced Study – in dem unwirtlichen Gebäude am Rand des Universitätsgeländes von Princeton – einen Vortrag hielt, aber es war ein Applaus, wie ihn auch ein älterer Soldat erhalten hätte, den man im Rollstuhl aufs Podium schob. Für Einsteins Kollegen war er ein Mann von gestern. Selbst viele seiner engsten Freunde nahmen seine Gedanken nicht mehr ernst.

Einstein spürte, wie isoliert er war. Früher war sein Haus voller Kollegen gewesen, voller jugendlicher Energie, voller angeregter Gespräche. In letzter Zeit war es ruhig geworden. Seine zweite Ehefrau, die immer pummeliger und geschwätziger gewordene Elsa, war vor einigen Jahren gestorben, genau wie seine geliebte jüngere Schwester Maja.

Insbesondere der Tod der Schwester war für Einstein sehr schmerzlich gewesen. Damals, im München der 1880er-Jahre, waren Maja und Albert treue Spielkameraden gewesen, hatten einander geneckt und gemeinsam Kartenhäuser gebaut.1 Wenn ein besonders raffiniert konstruiertes Haus in einem Lufthauch zusammenstürzte, so erinnerte Maja sich, ging ihr Bruder hartnäckig daran, es wieder aufzubauen. »Ich bin wahrscheinlich nicht begabter als andere Wissenschaftler«, pflegte er zu sagen, »aber ich habe die Halsstarrigkeit eines Maulesels.«2

Seine jugendliche Hartnäckigkeit besaß Einstein immer noch, aber seine Gesundheit war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Sein Arbeitszimmer, in dem er seine Bücher und Papiere aufbewahrte, lag im ersten Stock seines Hauses in Princeton, auf dem gleichen Flur, auf dem sich auch Majas früheres Schlafzimmer befand. In seinem Alter konnte Einstein die Treppe nur noch langsam hochsteigen, und er musste zwischendurch stehenbleiben und Luft holen. Aber vielleicht spielte das keine Rolle für ihn. Wenn er sich in seinem Arbeitszimmer niederließ, hatte er alle Zeit der Welt.

Er war der klügste Kopf der Neuzeit. Warum war er am Ende so allein?

Kriegszeit, Berlin 1915. Einstein hatte gerade eine großartige Gleichung aufgestellt. Es war nicht das berühmte E = mc2 – darauf war er schon 1905 gekommen, also zehn Jahre früher –, sondern etwas noch Wichtigeres: die Gleichung, die das Kernstück der sogenannten allgemeinen Relativitätstheorie bildet. Sie ist eine der größten Errungenschaften aller Zeiten und ebenso großartig wie die Werke von Bach oder Shakespeare. In Einsteins Gleichung von 1915 gibt es nur zwei zentrale Ausdrücke, und doch sollte sie unvorstellbare Eigenschaften von Raum und Zeit offenbaren; sie sollte erklären, warum es Schwarze Löcher gibt, sollte zeigen, wie das Universum begann und wie es wahrscheinlich enden wird, und sogar das Fundament für revolutionäre technische Neuerungen wie die GPS-Navigation legen. Einstein war von seiner eigenen Entdeckung überwältigt. »Die kühnsten Träume sind nun in Erfüllung gegangen«3, schrieb er noch im gleichen Jahr an seinen besten Freund.

Aber schon bald darauf kam die Ernüchterung. Zwei Jahre später, 1917, wurde Einstein klar, dass die astronomischen Erkenntnisse über die Form des Universums seiner allgemeinen Relativitätstheorie zu widersprechen schienen. Da er die Diskrepanz nicht erklären konnte, wandelte er die neue Gleichung pflichtschuldigst ab und fügte ihr einen weiteren Ausdruck hinzu, der ihre Einfachheit zunichtemachte.

Wie sich herausstellen sollte, war es nur ein vorübergehender Kompromiss. Einige Jahre später bewiesen neue Befunde, dass seine ursprüngliche, wunderschöne Idee richtig gewesen war, und Einstein setzte seine frühere Gleichung wieder in Kraft. Später bezeichnete er die vorübergehende Abwandlung als »größten Unsinn meines Lebens«4, hatte sie doch die Schönheit seiner ursprünglichen Gleichung von 1915 zerstört. Diese Abwandlung war Einsteins erster großer Fehler gewesen, aber sein größter Irrtum stand ihm noch bevor.

Einstein spürte, dass es falsch gewesen war, sich auf derart fehlerhafte experimentelle Befunde zu verlassen; er glaubte, er hätte nur die Nerven behalten müssen, bis die Astronomen eingesehen hätten, dass sie Unrecht hatten. Daraus zog er die allgemeinere Schlussfolgerung, er dürfe sich in den wichtigsten Fragen nie wieder an experimentellen Befunden orientieren. Als Kritiker dann Belege gegen seine späteren Überzeugungen vorbrachten, ignorierte er sie und vertraute darauf, dass er eines Tages bestätigt würde.

Es war eine zutiefst menschliche Reaktion, aber sie hatte katastrophale Folgen. Sie untergrub immer mehr von dem, womit Einstein sich als Nächstes beschäftigte, darunter insbesondere die aufblühende Erforschung des Allerkleinsten, die Quantenmechanik. Freunde wie Niels Bohr baten ihn, Vernunft anzunehmen. Sie wussten, dass Einsteins herausragender Verstand die Welt auch dieses Mal verändern konnte, wenn er nur die – stichhaltig begründeten – neuen Befunde anerkennen würde, die eine neue Generation von Experimentalphysikern gerade gewann. Aber dazu war Einstein nicht in der Lage.

In einigen privaten Augenblicken hatte er Zweifel, aber er unterdrückte sie. In seiner Theorie von 1915 hatte er die Grundstruktur des Universums enthüllt und gegenüber allen anderen recht behalten. Er würde sich nicht noch einmal in die Irre führen lassen.

Diese Haltung isolierte ihn von den spannenden Arbeiten der jüngeren Generation im Bereich der Quantenmechanik und zerstörte seinen Ruf unter ernsthaften Wissenschaftlern; und so blieb er in seinem Arbeitszimmer in der Mercer Street allein.

Wie es dazu kam – wie Genialität ihren Höhepunkt erreicht und dann dahinschwindet, und wie wir unser gewohnheitsmäßiges Vertrauen verlieren und wiedergewinnen können –, davon handelt dieses Buch. Es handelt auch von Einsteins – richtigen und falschen – Ideen selbst und von den Schritten, durch die er zu ihnen gelangte. So gesehen, ist es eine doppelte Biografie: Es ist die Geschichte eines fehlbaren Genies, aber auch die Geschichte seiner Fehler – wie sie entstanden, wuchsen und so tief Wurzeln schlugen, dass selbst ein so kluger Mann wie Einstein sich nicht mehr davon befreien konnte.

Genie und Überheblichkeit, Triumph und Scheitern sind oft untrennbar verknüpft. Einsteins Gleichung von 1915 und die Theorie, zu deren Grundlage sie wurde, waren die vielleicht größte Leistung seines Lebens, und doch legten sie auch den Samen für sein höchst erstaunliches Versagen. Um zu verstehen, was Einstein 1915 leistete und wie er in die Irre ging, müssen wir noch weiter in die Vergangenheit reisen: zurück zu Einsteins frühen Jahren und zu den Rätseln, die ihn schon damals faszinierten.

Teil I
Die Ursprünge eines Genies

Kapitel 1
Eine Kindheit im späten 19. Jahrhundert

Einstein an der Universität, um 1900

SPL / Science Source®

Zwei Grundgedanken beherrschten 1879, im Jahr von Einsteins Geburt, die europäische Wissenschaft, und beide bildeten den Hintergrund für viele seiner wichtigsten Arbeiten. Der erste war die Erkenntnis, dass die Kräfte, die auf der ganzen Welt die industrielle Zivilisation ermöglichten – das Verfeuern von Kohle in Dampflokomotiven, die Explosion von Schießpulver in den Geschütztürmen der Kriegsschiffe, mit denen man unterdrückte Völker unter Kontrolle hielt, und selbst die schwachen elektrischen Impulse in den Unterseekabeln, die telegrafische Nachrichten um den gesamten Globus schickten –, nur unterschiedliche Ausprägungsformen eines grundlegenden Phänomens namens Energie waren.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wusste man, dass Energie sich nach ganz bestimmten unveränderlichen Prinzipien verhält. Bergleute konnten Kohle aus dem Boden hacken, und Techniker konnten diese Kohle erhitzen, das frei werdende Gas in Röhren leiten und damit die Londoner Straßenbeleuchtung speisen. Aber wenn dabei etwas schiefging und das Gas explodierte, war die Energie der Explosion – die Energie der fliegenden Glasscherben plus die akustische Energie des Knalls in der Luft und sogar die potentielle Energie der verirrten Bruchstücke der Straßenlampe, die auf die umliegenden Dächer katapultiert wurden – genauso groß wie die Energie, die im Gas selbst steckte. Und wenn ein Metallstück der Lampe auf das Straßenpflaster fiel, waren das Geräusch und die Energie, mit der es auf den Boden traf, plus die Energie der Windstöße beim Fallen des Fragments zusammen genauso groß wie die Energie, die es anfangs in die Höhe gehoben hatte.

Energie kann also nicht erschaffen oder zerstört, sondern nur umgewandelt werden. Das hört sich nach einer einfachen Erkenntnis an, aber aus ihr ergaben sich weitreichende Folgerungen. Wenn beispielsweise ein Bediensteter von Königin Victoria den Schlag ihrer Kutsche öffnete, nachdem diese vor dem Buckingham Palace im Zentrum Londons angekommen war, verließ die Energie, die bisher in seiner Schulter gesteckt hatte, seinen Körper … und genau der gleiche Energiebetrag tauchte in der Drehbewegung der verzierten Kutschentür auf, aber auch in der geringfügig ansteigenden Temperatur des Türscharniers, das sich unter Reibung bewegte. Wenn die Monarchin auf den Boden trat, ging die kinetische Energie, die in ihrer herabsteigenden Gestalt steckte, auf die Erde zu ihren Füßen über: Die Königin blieb stehen, ließ aber unseren Planeten auf seinem Weg um die Sonne ein wenig erzittern.

Alle Formen der Energie sind verknüpft. Alle Formen der Energie stehen fein säuberlich im Gleichgewicht. Diese einfache Wahrheit wurde unter dem Namen Energieerhaltungsgesetz bekannt und war Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein anerkannt. Das Vertrauen in die Religion war ins Wanken geraten, nachdem Charles Darwin gezeigt hatte, dass kein traditioneller Schöpfergott erforderlich ist, um die Entstehung der biologischen Vielfalt auf der Erde zu erklären. Da war die Vorstellung von einer unveränderlichen Gesamtenergiemenge eine tröstliche Alternative. Die auf magische Weise ausbalancierte Energie schien zu beweisen, dass eine göttliche Hand unsere Welt berührt hat und auch heute noch unter uns wirkt.

Zu der Zeit, als man über die Energieerhaltung Bescheid wusste, war den Wissenschaftlern Europas auch die zweite große Idee geläufig, die in der Physik des 19. Jahrhunderts dominierte: Auch die Materie verschwindet nie. Nehmen wir den großen Brand von London 1666 als Beispiel: Damals wurde Europas größte Stadt durch Flammen verwüstet, die von dem explodierenden Teer und Holz einer Bäckerei ausgingen; sie sprangen von einem Holzdach zum nächsten, produzierten riesige Mengen an beißendem Rauch und verwandelten Wohnungen, Kontore, Ställe und sogar die Ratten, die die Pest übertrugen, in Asche.

Im 17. Jahrhundert hätte niemand etwas anderes darin gesehen als ein verheerendes Chaos, aber um 1800, hundert Jahre vor Einstein, wurde den Wissenschaftlern etwas Wichtiges klar: Hätte man vor dem Brand alles in London wiegen können – alle Holzdielen in allen Häusern, alle Backsteine und Möbel, alle Bierfässer und sogar die umherstreifenden Ratten –, und hätte man dann, nach dem Feuer, unter noch größerer Anstrengung allen Rauch, alle Asche und die zerbröckelnden Backsteine gewogen, so hätte sich herausgestellt, dass das Gesamtgewicht vor und nach dem Brand genau das Gleiche gewesen wäre.

Das Prinzip, das als Materieerhaltungssatz bekannt wurde, hatte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher herauskristallisiert. Zu verschiedenen Zeiten verwendete man dafür unterschiedliche Namen, aber die Quintessenz war immer dieselbe: Verbrennt man Holz in einem Kamin, erhält man Asche und Rauch. Könnte man aber einen undurchlässigen Sack über den Kamin und alle zugigen Fenster stülpen und dann die Menge des eingefangenen Rauches und der Asche messen – wobei man auch den Sauerstoff berücksichtigt, der während der Verbrennung aus der Luft gesogen wurde –, so stellt man fest, dass das Gesamtgewicht wiederum genauso groß ist wie das Gewicht des Brennholzes. Materie kann ihre Form verändern und sich beispielsweise von Holz in Asche verwandeln, aber verschwinden wird sie in unserem Universum nie.

Diese beiden Grundgedanken – die Erhaltung der Materie und die Erhaltung der Energie – waren von zentraler Bedeutung für die Ausbildung und die spektakulären Leistungen des jungen Einstein.

Als Einstein 1879 in Ulm geboren wurde, war das Leben im jüdischen Ghetto für seine Familie erst seit wenigen Generationen vorbei. Für viele deutsche Christen des 19. Jahrhunderts waren die Juden in ihrer Mitte seltsame Eindringlinge. Den Juden dagegen, die fast ausnahmslos orthodox waren, erschien die Welt außerhalb ihrer Gemeinschaft als bedrohlich und beunruhigend; das galt besonders in einer Zeit, als das Christentum selbst schwächer wurde, denn dadurch sanken die Schranken zwischen den beiden Religionen. Die Folge war, dass Ideen aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – Vorstellungen von freier Forschung und Wissenschaft sowie die Überzeugung, dass man Weisheit nur gewinnen kann, wenn man das Universum um sich herum studiert – zuerst allmählich und dann immer schneller Eingang in die jüdische Gemeinschaft fanden.

In der Generation von Einsteins Eltern leisteten solche Ideen den deutschen Juden offenbar gute Dienste. Sein Vater Hermann und sein Onkel Jakob, zwei im Wesentlichen autodidaktisch ausgebildete Elektroingenieure, arbeiteten an der neuesten Technik ihrer Zeit: Sie bauten Motoren und Beleuchtungssysteme. Im Jahr 1880 – Albert war noch ein Säugling – zogen Hermann und Jakob nach München und gründeten auf den Namen des Onkels die gemeinsame Firma Elektrotechnische Fabrik J. Einstein & Cie. Mit ihr wollten sie den wachsenden Bedarf der Stadt nach Elektrizität bedienen. Einsteins Onkel war der praktischer veranlagte Partner. Der eher verträumte Vater Hermann war der Mathematik zugetan gewesen, hatte aber die Schule schon frühzeitig verlassen müssen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen.

Die Einsteins waren eine warmherzige Familie und passten gut auf ihren heranwachsenden Sohn auf. Ungefähr mit vier Jahren durfte er erstmals allein durch die Straßen Münchens streifen – jedenfalls ließen seine Eltern ihn in dem Glauben. Zumindest ein Elternteil – vermutlich seine Mutter Pauline – folgte ihm unbemerkt, behielt den kleinen Albert im Auge, als er die von Pferden frequentierten Straßen überquerte, und achtete auf seine Sicherheit.

Als Albert alt und verständig genug war, erklärten ihm sein Vater, der Onkel und die regelmäßigen Gäste des Hauses, wie Motoren und Glühbirnen funktionieren – und wie sich das Universum in Materie und Energie unterteilt. Albert nahm solche Ideen in sich auf, genau wie er sich die Ansicht seiner Angehörigen zum Judentum zu eigen machte. Für sie war es ein Erbe, auf das man stolz sein konnte, auch wenn sie den Eindruck hatten, dass vieles in der Bibel und auch die Gebräuche in der Synagoge kaum mehr waren als Aberglaube. Wenn sie diesen hinter sich ließen, so glaubten sie, würde die moderne Welt sie als gute Staatsbürger anerkennen.

Aber schon als Teenager erkannte Einstein, dass München ein abweisender Ort war, so sehr seine Familie sich auch bemüht hatte, sich anzupassen. Als er sechs Jahre alt gewesen war, hatte die Firma seines Vaters sich noch einen Vertrag für die erste elektrische Beleuchtung des Oktoberfestes gesichert. Im Laufe der Jahre jedoch gingen immer mehr Verträge für die neue elektrische Beleuchtung und die Generatoren in der Stadt an nichtjüdische Unternehmen, obwohl deren Produkte denen der Gebrüder Einstein qualitativ unterlegen waren. Gerüchten zufolge sollten die Geschäftsaussichten in der norditalienischen Stadt Pavia nicht weit von Mailand besser sein. Im Jahr 1894 zogen seine Eltern mit seiner Schwester Maja und dem Onkel dorthin und versuchten, das Unternehmen neu aufzubauen. Der 15-jährige Albert blieb in München, wohnte bei einer anderen Familie und sollte dort das Gymnasium beenden.

Es war keine glückliche Zeit. Die Warmherzigkeit der Familie Einstein stand in krassem Gegensatz zur Strenge der Schulen, die Albert besuchte. Jahrzehnte später erinnerte sich Einstein, die Lehrer seien ihm vorgekommen »wie Feldwebel«1. Sie bestanden auf sturem Auswendiglernen und hatten es darauf abgesehen, verängstigte, gehorsame Schüler hervorzubringen. Als Einstein mit ungefähr 15 Jahren des Unterrichts überdrüssig war, ließ sein Griechischlehrer Dr. Degenhart verlauten: »Einstein, aus Ihnen wird nie etwas Rechtes werden.« Der Kommentar ermunterte später seine stets loyale Schwester Maja, die sich an die Anekdote erinnerte, zu der scherzhaften Aussage: »Wirklich hat Albert Einstein es nie zur Professur für griechische Formenlehre gebracht.«2

Mit 16 Jahren brach Einstein die Schule ab. Hätte man ihn hinausgeworfen, hätte er darin vielleicht ein Versagen gesehen, aber da es seine eigene Entscheidung war, empfand er sogar Stolz und betrachtete es als einen Akt der Auflehnung. Er reiste allein zu seiner Familie nach Italien, arbeitete eine Zeit lang in der Fabrik von Vater und Onkel und versicherte schließlich seinen Eltern, er habe eine deutschsprachige Universität gefunden, die weder ein Abitur verlangte noch ein Mindestalter voraussetzte. Es handelte sich um die eidgenössische polytechnische Schule in Zürich, und er bewarb sich umgehend. In Mathematik und Physik hatte er zwar hervorragende Noten – in dieser Hinsicht waren die Gespräche in der Familie nicht umsonst gewesen –, aber er hätte trotzdem besser auf Degenhart gehört: Wie Einstein später berichtete, unternahm er keine Anstrengungen, um sich vorzubereiten, und seine Leistungen in Französisch und Chemie waren enttäuschend. Das Polytechnikum wies ihn ab.

Seine Eltern waren nicht allzu überrascht. Sein Vater schrieb, er habe sich schon längst daran gewöhnt, neben sehr guten auch weniger gute Noten präsentiert zu bekommen.3 Einstein sah ein, dass es ein Fehler gewesen war, sich so frühzeitig zu bewerben. In einem Tal in der Nordschweiz, nicht weit von Zürich, fand er eine Familie, bei der er das folgende Jahr über wohnen konnte, während er sich in Förderklassen auf den zweiten Versuch vorbereitete.

Für Einsteins Schweizer Wirtsleute, die Familie Winteler, war es selbstverständlich, dass er mit ihnen die Mahlzeiten einnahm und sich an Gesprächen und Vorleserunden beteiligte. Sie veranstalteten Hausmusikabende – Einstein war ein begabter Geiger, dem die Lehrer schon in Deutschland gute Noten gegeben hatten –, aber noch wichtiger war Marie, die Tochter der Familie, die etwas älter war als er. Offensichtlich hielt Einstein es für ein Zeichen der Zuneigung, dass er vorschlug, Marie solle seine Wäsche waschen, wie seine Mutter es früher für ihn getan hatte. Wenig später lernte er raffiniertere Methoden der Werbung, und so begann seine erste Liebesbeziehung. Diese löste bei seiner Mutter einen ersten Anfall von Neugier aus. Als er in den Ferien zu Hause bei seiner Familie war und an Marie schrieb: »Geliebtes Schätzchen … Sie sind meiner Seele mehr als früher die ganze Welt«4, hinterließ seine Mutter auf dem Umschlag die wenig überzeugende Versicherung, sie habe den Inhalt nicht gelesen.

Im Jahr 1896, mit 17 Jahren, bewarb Einstein sich zum zweiten Mal am Polytechnikum, und dieses Mal wurde er für einen Studiengang zur Ausbildung zukünftiger Gymnasiallehrer zugelassen. Seine bisherige Bildung reichte gerade aus, um dem Unterricht folgen zu können, gleichzeitig hatte er durch sein bereits von Reisen geprägtes Leben aber auch eine so vorsichtige Einstellung, dass er ihn kritisch beurteilen konnte. Es war genau das richtige Umfeld, um einen unabhängigen Blick auf den von den Dozenten angebotenen Stoff zu gewinnen.

Das Züricher Polytechnikum galt zwar allgemein als erstklassige Lehranstalt, einige Professoren waren aber nicht auf dem neuesten Stand, und es gelang Einstein, sie zu irritieren. Der Physikprofessor Heinrich Weber zum Beispiel war Einstein anfangs eine Hilfe gewesen, aber wie sich herausstellte, hatte er kein Interesse an den Theorien der Zeit und lehnte es ab, die bahnbrechenden Erkenntnisse des Schotten James Clerk Maxwell über die Zusammenhänge zwischen elektrischen und magnetischen Feldern in seinen Physikvorlesungen zu behandeln. Das ärgerte Einstein, denn der hatte sofort erkannt, wie wichtig Maxwells Arbeiten werden könnten. Wie viele Physiker der 1890er-Jahre, so glaubte auch Weber, es gebe kaum noch etwas grundsätzlich Neues zu erforschen, und seine Aufgabe sei nur, Details zu ergänzen. Allgemein herrschte die Ansicht, die Aufklärung der Gesetze des Universums sei im Wesentlichen abgeschlossen, und zukünftige Physikergenerationen könnten zwar ihre Instrumente verbessern und damit die bekannten Gesetzmäßigkeiten noch genauer beschreiben, aber grundlegend neue Erkenntnisse werde es nicht mehr geben.

Außerdem war Weber ungeheuer pedantisch. Einmal ließ er Einstein einen ganzen Forschungsbericht zum zweiten Mal abschreiben, weil das erste eingereichte Exemplar auf Papier verfasst worden war, das nicht exakt die richtige Größe gehabt hatte. Einstein machte sich über den Professor lustig, indem er ihn ausdrücklich mit Herr Weber anstelle von Professor Weber anredete; gegen seine Unterrichtsweise hegte er während der ganzen folgenden Jahre einen Groll. »Es ist eigentlich wie ein Wunder, dass der moderne Lehrbetrieb die heilige Neugier des Forschens noch nicht ganz erdrosselt hat«5, schrieb Einstein ein halbes Jahrhundert später über seine Universitätsausbildung.

Da es ziemlich witzlos war, Webers Vorlesungen zu besuchen, verwendete Einstein viel Zeit darauf, die Cafés und Kneipen Zürichs kennenzulernen. Er schlürfte Eiskaffee, rauchte seine Pfeife, las und plauderte, während die Stunden vergingen. Darüber hinaus fand er die Zeit, auf eigene Faust die Werke von Helmholtz, Boltzmann und anderen Meistern der Physik seiner Zeit zu studieren. Aber seine Lektüre blieb unsystematisch, und als die Jahresabschlussprüfung bevorstand, merkte er, dass ihm jemand helfen musste, Herrn Webers Lehrplan nachzuholen.

Eigentlich brauchte Einstein einen Kommilitonen, an den er sich wenden konnte. Sein bester Freund war Michele Angelo Besso, ein jüdischer Italiener, der ein paar Jahre älter war als Einstein und kürzlich das Polytechnikum abgeschlossen hatte. Besso war freundlich und kultiviert – die beiden hatten sich bei einem Hausmusikabend kennengelernt, bei dem sie beide Geige gespielt hatten –, aber im Studium war er fast ebenso verträumt gewesen wie Einstein. Wenn dieser eine Chance haben wollte, die Prüfung zu bestehen, musste er also einen anderen finden, der ihm seine Vorlesungsmitschriften lieh – ohnehin enthielt eines seiner akademischen Zeugnisse der polytechnischen Hochschule bereits eine handschriftliche Bemerkung, die nichts Gutes erahnen ließ: »Verweis durch den Direktor wegen Unfleiss im physik. Praktikum.«6

Einsteins bester Freund Michele Besso, 1898. »Einstein der Adler hat Besso den Spatz unter seinen Flügeln in die Höhe mitgenommen«, sagte Besso einmal über ihre intellektuelle Beziehung, »und dann ist der Spatz noch ein wenig weiter nach oben geflattert.«7

Besso-Family, American Institute of Physics, Emilio Segrè Visual Archives

Glücklicherweise war Marcel Grossmann, ein anderer Bekannter Einsteins, genau der Typ, den sich jeder undisziplinierte Studienanfänger als Freund wünscht. Wie Einstein und Besso, so war auch Grossmann Jude und erst vor Kurzem ins Land gekommen. An den Schweizer Universitäten gab es eine halboffizielle antisemitische Strategie: Juden und andere Außenseiter wurden in Fachgebiete wie die theoretische Physik gedrängt, die damals als zweitrangig gegenüber Ingenieurwissenschaft, angewandter Physik und anderen Disziplinen mit ihren meist höheren Gehältern galten. (Für Einstein war das nicht schlecht, denn er bekam erst durch die theoretische Physik einen Begriff von Konzepten wie Energie und Materie, die ihn so faszinierten.) Das Wissen darüber, dass sie auf die gleiche Weise voreingenommen behandelt wurden, dürfte die Verbindung zwischen Einstein und Grossman begünstigt haben.

Grossmann und Einstein einige Jahre nach dem Studium, nach 1910.

American Institute of Physics, Emilio Segrè Visual Archives / Science Source®

Als die Abschlussprüfung näher rückte, wirkten Grossmanns Vorlesungsmitschriften – in denen alle Diagramme sauber gezeichnet waren – für Einstein wahre Wunder (»Ich möchte lieber nicht darüber spekulieren, was ohne sie aus mir geworden wäre8«, schrieb Einstein viel später an Grossmanns Frau.) So bestand er beispielsweise in Geometrie mit einer passablen 4,25 von 6. Natürlich hatte er keine so gute Note wie Grossmann, der wie allseits erwartet eine glatte 6,0 schaffte. Seine Freunde jedoch wunderte das nicht, denn Einstein war noch anderweitig beschäftigt gewesen.

Neben Besso und Grossmann war Einstein auch häufig mit einer Studentin zusammen, die eine noch stärkere Außenseiterin war als er: Sie war serbisch-orthodoxe Christin und die einzige Frau im Studiengang. Mit ihrer Mischung aus hoher Intelligenz und dunkel-sinnlichem Äußeren weckte Mileva Marić das Interesse von mehr als einem Studenten des Polytechnikums. Sie war ein paar Jahre älter als die übrigen Studierenden, eine talentierte Musikerin und Malerin, sprachbegabt und sie hatte Medizin studiert, bevor sie zur Physik gewechselt war. Einstein hatte sich längst von Marie Winteler, der Tochter seiner Gastfamilie, getrennt und war bereit für Neues.

Einstein war in seinen jungen Jahren ein gut aussehender Mann mit schwarzen Locken und einem zuversichtlichen, lockeren Lächeln. Seine enge Beziehung zu seiner Schwester Maja hatte ihm den Umgang mit Frauen erleichtert und wirkte sich jetzt, als er um Marić zu werben begann, zu seinem Vorteil aus. Im Laufe ihrer ersten Studiensemester vertiefte sich die Beziehung. »Ohne Dich«, schrieb er ihr 1900, »fehlt mirs an Selbstgefühl, Arbeitslust, Lebensfreude«9; wenn sie aber erst einmal zusammenlebten, so versprach er ihr, »wären wir die glücklichsten Menschen auf Erden zusammen, das ist sicher«10. Er schlug alle Mahnungen in den Wind und schickte ihr einmal sogar einen Brief mit einer Zeichnung seines Fußes, damit sie ihm Socken stricken konnte.

Einstein und Marić blieben eine Zeit lang zurückhaltend, bevor sie ihren Freunden erzählten, wie eng ihre Beziehung geworden war, aber sie führten niemanden hinters Licht. Als Einstein im Jahr 1900 seine Eltern in Italien besuchte, schrieb er ihr: »Der Michele hats schon gemerkt, dass ich Dich mag, denn … als ich sagte, ich müsse jetzt wieder nach Zürich, sagte er: ›Er wird halt zu seiner Kollegin wollen, was sollt ihn sonst schon nach Zürich locken!‹«11 Ja, in der Tat: Was sonst außer Marić?

Mileva Marić, Ende der 1890er-Jahre. Im Jahr 1900 schrieb ihr Einstein: »Wir wären die glücklichsten Menschen auf Erden zusammen, das ist sicher.«

ullstein bild / Pictures from History

In den Jahren, bevor ein neues Jahrhundert beginnt, liegt etwas Bedeutungsschweres, und in Einsteins Bekanntenkreis spürte man wahrscheinlich eine gewisse Aufregung. Die vier Freunde – Besso, Grossmann, Einstein und Marić – teilten die Einstellung vieler Studierender: Sie hielten die Mehrheit ihrer Professoren für Überbleibsel früherer Zeiten, die man nicht ernst nehmen konnte, vom heraufziehenden 20. Jahrhundert erwarteten sie wahre Wunder. Es wäre die jüngere Generation, die Zeuge dieser Wunder werden würde. Daran hatte offenbar keiner von ihnen auch nur den geringsten Zweifel.

Für diese Zuversicht hatte jeder seine eigenen Gründe. Bessos Familie besaß in Italien ein florierendes Ingenieurunternehmen, das nur auf ihn wartete, und er hatte dort auch schon einige Zeit verbracht. Er kam gut mit Menschen zurecht und war überzeugt, dass er an die Erfolge seiner Familie anknüpfen würde, wenn er erst einmal in der Branche heimisch war. Grossmann besaß eine herausragende mathematische Begabung, die an der polytechnischen Schule allgemein anerkannt war. Mileva Marić war schon an ihrer technischen Oberschule in Budapest eine hervorragende Schülerin gewesen und hatte sogar als eine der ersten Frauen im österreichisch-ungarischen Kaiserreich überhaupt eine solche Schule besucht. Auch in der Schweiz war sie eine von nur wenigen Studentinnen. In einem Land, in dem bis zur Einführung des Frauenwahlrechts noch 70 Jahre vergehen sollten, war das für sie eine umso größere Auszeichnung.

Die vier Freunde waren erpicht darauf, dass Wissen der Welt voranzutreiben; für Einstein galt das vielleicht noch mehr als für die anderen. Mit seinem studentischen Lernpensum quälte er sich nach wie vor herum, aber seine privaten intellektuellen Bestrebungen nahmen Fahrt auf. Neben den langen Stunden in den Züricher Cafés, wo er Zeitungen las und den Witzbold spielte, hatte er weiterhin die Schriften der größten Physiker Europas studiert und in Eigenregie alles gelernt, was Professor Weber, der Ewiggestrige, ihm vorenthalten hatte.

Einstein begeisterte sich für die Ideen von Michael Faraday und James Clerk Maxwell, wonach es unsichtbare Felder geben konnte, in denen sich Elektrizität und Magnetismus vermischten und die sich durch den Raum erstreckten und alles in ihrer Reichweite beeinflussten. Auch neuere Erkenntnisse faszinierten ihn: In Cambridge maß J. J. Thomson die Details der Elektronen, winziger Teilchen, die sich offensichtlich innerhalb der Atome aller Substanzen befanden; Wilhelm Röntgen entdeckte Strahlen, mit denen man durch lebende Organismen hindurchsehen konnte; Guglielmo Marconi schickte Funksignale über den Ärmelkanal. Wie, so fragte sich Einstein, kommt es zu allen diesen Phänomenen, und warum? Darüber hatte er schon in dem Jahr vor seinem Umzug in die Schweiz nachgegrübelt, als er bei seiner Familie in Italien gewohnt hatte, aber damals war er nicht in der Lage gewesen, seine Nachforschungen weiterzuverfolgen.

Jetzt war er erpicht darauf, nicht nur seine eigenen Kenntnisse weiter voranzubringen, sondern auch das Fachgebiet der Physik als Ganzes. Zum Teil verdankte er den neu gewonnenen Elan seinem Wunsch, dem Vater zu helfen: Dessen Unternehmen in Pavia und Mailand waren nicht erfolgreicher als seine frühere Firmenbeteiligung in München, und das, obwohl es hier relativ wenig Antisemitismus gab. Das Geld, das seine Eltern ihm für den Lebensunterhalt schickten, bedeutete für sie eine große Ausgabe, und das wusste er auch. Zum Teil bezog Einstein seinen Elan aber auch aus dem, was er aus seinem religiösen Erbe mitgenommen hatte. Zwar hatte er die formelle Religionsausübung schon mit zwölf Jahren aufgegeben, war aber überzeugt, dass es im Universum große Wahrheiten gibt, die nur darauf warten, gefunden zu werden, und von denen die Menschheit erst eine schwache Ahnung hat. Dass er solche Bestrebungen verfolgte, gelobte er 1897 in einem Brief an Marie Wintelers Mutter. »Die angestrengte geistige Arbeit«, schrieb er, »und das Anschauen von Gottes Natur sind die Engel, welche mich … durch alle Wirren dieses Lebens führen werden … Und doch, welch seltsame Art ist das … Man schafft sich da selbst so ein Weltchen, wie kläglich und unbedeutend es auch immer sei gegen die ewig wechselnde Größe des wahren Seins, und fühlt sich doch wunder wie groß und wichtig dabei …«12

Für einen Großteil von Einsteins Freunden hatten solche Gefühle kommender Größe ihre Grenzen. Er jedoch dachte jetzt viel über die Synthese der wichtigsten Gedanken des 19. Jahrhunderts nach und stellte die große Vision, die ihm überliefert worden war, immer stärker infrage. Das Universum war in zwei große Bereiche unterteilt. Auf der einen Seite gab es die Energie, wie sie in den ihm wohlbekannten Straßen Zürichs von böigen Winden transportiert wurde. Und auf der anderen stand die Materie, etwa die Glasfenster seiner geliebten Cafés und das Bier oder der Mokka, die er schlürfte, während er über alle diese Dinge nachgrübelte. Musste die Einheit wirklich an dieser Stelle zu Ende sein?

Vorerst kam der junge Einstein mit solchen Gedanken nicht weiter. Er war intelligent, aber die Fragen zu beantworten, die er sich selbst stellte, schien unmöglich zu sein. Und er war jung genug, sich einfach mit der herrschenden Vorstellung von den zwei nicht verbundenen Bereichen des Universums abzufinden – allerdings mit der Zuversicht, dass er später darauf zurückkommen würde.